Die Beste Zeit Nr. 9

Page 1

DIE BESTE ZEIT Das Magazin für Lebensart Wuppertal und Bergisches Land

Ausgabe 9, 2011 - 3,50 Euro

Sisley kommt! Von der Heydt-Museum

Die Dummheit Johanna Hilbrandt Schauspiel von Rafael Spregelburd Über die Altersgrenze

Klaus Armbruster Die Städte sind für dich gebaut

Zwei Paare - zwei Schwestern Verlag Edition 52 Georg Köhl inszeniert „Arabella“ Literatur in graphischer Gestaltung

Von der Heydt-Museum Zeichnungssammlung Klüser

Schloss Lüntenbeck Textilmarkt erleben

Andreas Steffens Höflichkeit - Essay

Unausgesprochene Dinge Hochschule für Tanz und Musik

Nico Ueberholz Baumeister der Kommunikation

Ulrich Land Fundsache

1


Bezugsquellen: „Die Beste Zeit – Das Magazin für Lebensart“ erhalten Sie ab sofort:

Friedrich-Ebert-Str. / Ecke Laurentiusstr. 12 42103 Wuppertal Telefon (0202) 30 40 01 www.mackensen.de

Bürobedarf Illert Grabenstraße 4 · 42103 Wuppertal Telefon (0202) 97 65 808 www.buero-illert.de

Bücher Köndgen Werth 79 · 42103 Wuppertal Telefon (0202) 24 800-50 www.koendgen.de

Bahnhofsbuchhandlung im Barmer Bahnhof Winklerstraße 2 · 42283 Wuppertal Telefon (0202) 59 53 85

Museums-Shop Turmhof 8 42103 Wuppertal Telefon (0202) 563-6231 www.von-der-heydt-museum.de

Hirschstraße 12 · 42285 Wuppertal Telefon (0202) 31 72 98 9 www.skulpturenpark-waldfrieden.de

Galerie

Karlstraße 37 · 42105 Wuppertal Telefon (0202) 2 44 34 40 www.lichtbogen-wuppertal.de

epikur

Wohn- und Objektbeleuchtung

epikur

Friedrich-Ebert-Straße 152a 42117 Wuppertal · Tel.: 4 26 52 62 www.galerie-epikur.de

Bücherladen Jutta Lücke

Hünefeldstraße 83 42285 Wuppertal Telefon (0202) 88 353

Druckservice HP Nacke KG Mediapartner · Druck · Verlag

Friedrich-Engels-Allee 122 42285 Wuppertal Telefon (0202) 28 10 40 www.hpnackekg.de

Hauptstraße 17 42349 Wuppertal Telefon (0202) 47 28 70 www.nettesheim.com

Impressum „Die beste Zeit“ erscheint in Wuppertal und im Bergischen Land Erscheinungsweise: 5 – 6 mal pro Jahr Verlag HP Nacke KG - Die beste Zeit Friedrich-Engels-Allee 122, 42285 Wuppertal Telefon 02 02 - 28 10 40 E-Mail: verlag@hpnackekg.de V. i. S. d. P.: HansPeter Nacke und Frank Becker Erfüllungsort und Gerichtsstand Wuppertal

Bildnachweise/Textquellen sind unter den Beiträgen vermerkt. Gastbeiträge durch Autoren spiegeln nicht immer die Meinung des Verlages und der Herausgeber wider. Für den Inhalt dieser Beiträge zeichnen die jeweiligen Autoren verantwortlich. Umschlagabbildung: La rade de Cardiff, (Bateaux dans la Baie de Cardiff), 1897 Reims, Musée des Beaux-Arts de Reims Copyright Foto: C. Devleeschauwer /Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims

Kürzungen bzw Textänderungen, sofern nicht sinnentstellend, liegen im Ermessen der Redaktion. Für unverlangt eingesandte Beiträge kann keine Gewähr übernommen werden. Nachdruck – auch auszugsweise – von Beiträgen innerhalb der gesetzlichen Schutzfrist nur mit der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Trotz journalistischer Sorgfalt wird für Verzögerung, Irrtümer oder Unterlassungen keine Haftung übernommen.


Editorial Liebe Leserinnen und Leser, auch Sie werden es bemerkt haben: Mitleid ist in Verruf geraten. Kranke, Behinderte, Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben, versichern meist vehement: ‚Wir wollen kein Mitleid‘. Vielleicht, weil dieser Begriff mittelalterliche Bilder von barmherzigen Spendern heraufdämmern lässt, die dem elenden Bettler vor der Kirchentür von der Höhe ihres Wohlergehens ihr ‚Mitleid‘ in Gestalt einer kleinen Münze hinabreichen. An die Stelle des Mitleids hat man heute die Empathie gestellt, die Fähigkeit, sich in Situation und Lage eines Anderen hineinzuversetzen. Das Fremdwort klingt sachlicher, scheint irgendwie cooler als das sentimentalitätsverdächtige Mitleid. Leider fehlt es in unsrer Gesellschaft an allen Ecken an Empathie, etwa wenn jugendliche Gewalttäter ihre wehrlosen Oper immer grausamer zurichten, oder wenn ein Mann ein Kind umbringt, weil er sich über seinen Chef geärgert hat. Der Andere, in den hineinzuversetzen Empathie ermöglichen sollte, bleibt in solchen Fällen ausgeblendet, wird zum bloßen Objekt. Aber vielleicht ist es gerade auch unsere Weigerung, in diesem Bereich Gefühle zuzulassen, vielleicht sogar die Ablehnung des Mitleids, wodurch etwas wie Empathie bei uns immer seltener wird. Denn eine auf das rein Verstandesmäßige beschränkte Empathie ist ein Papiertiger. Wo mangelnde Phantasie und Trägheit des Herzens die gefühlsmäßige Reaktion verhindern, die auf das verstandesmäßige Erfassen einer Situation erfolgen müsste, kann Empathie keine positiven Folgen haben. Was unsere Gesellschaft wieder braucht, ist Mitfühlen mit dem andern und Mitleiden – denn nicht anderes bedeutet Mitleid. Kein Almosengeben, das die Distanz zum Leidenden, zu all den Armen, Vertriebenen, Kranken und Verletzten in aller Welt und in unserer Nähe aufrechterhalten soll. Sondern Mitleiden fremder Schmerzen: ‚Fac me vere tecum flere‘, wie es im Stabat mater heißt – ‚Lass mich wahrhaft mit dir weinen‘. Es ist nicht den Christen vorbehalten. Wir sollten es wieder zulassen – es würde unsere Welt zu einem weniger kalten Ort machen. Überall und hier.

Dorothea Renckhoff

3


Barbara Neusel-Munkenbeck und die Urne “moi“

Keine Angst vor Berührung

seit 1813

Alles hat seine Zeit. Berliner Straße 49 + 52-54 · 42275 Wuppertal · www.neusel-bestattungen.de Tag

4

und Nacht 66 36 74


Inhalt Ausgabe 9, 2. Jahrgang, Mai 2011

Sisley kommt!

Seite 6

wenn man die über die Altersgrenze spaziert von Johanna Hilbrandt

Von der Heydt-Museum Wuppertal von Frank Becker

Geld oder Wahrheit

Wo man ankommt,

Seite 10

„Die Dummheit“ – Schauspiel von Rafael Spregelburd von Daniel Diekhans

Seite 36

Literatur in hochwertiger graphischer Gestaltung Der Wuppertaler Verlag Edition 52 von Frank Becker

Zettels Traum

Höflichkeit

Die Zeichnungssammlung Bernd und Verena Klüser im Von der Heydt-Museum von Dr. B. Eickhoff und F. Becker Seite 13

Eine historische Abhandlung von Andreas Steffens

Die unausgesprochenen Dinge

Fundsache

Begegnungen in der Hochschule für Musik und Tanz – Variation IV von Marlene Baum

von Ulrich Land

Seite 40

Seite 43

Seite 46

Seite 16

Zwei Paare, zwei Schwestern

Neue Kunstbücher

Georg Köhl inszeniert in Wuppertal „Arabella“ von Richard Strauss von Martin Hagemeyer

Alte Meister vorgestellt von Thomas Hirsch

Seite 48

Seite 20

Schloss Lüntenbeck stofflich erlebt

Zwischen den Fronten

Textilmarkt Schloss Lüntenbeck 2. – 5. Juni 2011 von Antonia Dinnebier

Die Kriegstagebücher Gerhard Nebels, wiederentdeckt von Michael Zeller von Johannes Vesper

Seite 50

Baumeister der Kommunikation

Kulturnotizen

Seite 52

Nico Ueberholz setzt Meilensteine in der temporären Architektur von Andrea Weiß

vom Frank Becker und Andreas Rehnolt

Seite 22

Seite 25

Die Städte sind für Dich gebaut Tafelbildmontage von Klaus Armbruster auf Zollverein von Frank Becker

Seite 30

5


Als hätten Sie einen Sommertag im Arm Von der Heydt-Museum Wuppertal Sisley kommt! Im September öffnet die große Wuppertaler Sisley-Ausstellung ihr Pforten

Man merkt Dr. Gerhard Finckh neben der hellen Begeisterung des Kunstfreundes die große persönliche Freude an, wenn er von der kommenden Impressionisten-Ausstellung berichtet, mit der er die Erfolgslinie Barbizon – Renoir – Monet – Bonnard fortschreibt. Der Direktor des Städtischen Wuppertaler Von der Heydt-Museums holt nämlich für die erste Einzel-Ausstellung Alfred Sisleys in Deutschland überhaupt weltweit Werke des wohl zartesten, feinsten, „impressionistischsten“ Malers des französischen Impressionismus in sein Haus, das sich durch sein Engagement längst einen Ruf als Tempel dieser Epoche gesichert hat. Als Franzose darf Sisley (1839-1899) durchaus gelten, wenn er auch aus einem englischen Elternhaus stammte und seine erste Erziehung in London bekommen hat, wo er schon als junger Mann Interesse für englische Vorläufer der Kunstrichtung zeigte, als deren Vertreter er posthum Weltruhm erlangen sollte. Richard Parkes Bonnington, William Turner und John Constable waren damit quasi seine künstlerischen Taufpaten, denen alsbald in Frankreich sein Lehrer Charles Gleyere folgte, bei dem er von 1860 bis 1863 studierte. Aus dieser Zeit rührt auch Sisleys Freundschaft zu Auguste Renoir und Claude Monet her, die wie er zu den Begründern der Schule wurden, die auch Camille Pissarro, Edgar Degas und Edouard Manet unter dem 1874 durchaus zunächst von der Kunstkritik nicht positiv gemeinten Dach des „Impressionismus“ vereinte. Als legitime Erben der Schule von Barbizon führten diese Maler ihren wundervoll lebensnahen, Licht und Leichtigkeit atmenden Stil zu der Blüte, die dessen Bilder heute zu den begehrtesten Objekten auf dem Kunstmarkt macht.

Kanal – Le canal du Loing, 1884 Von der Heydt-Museum Wuppertal

6


7


Les Champs, 1874 Leeds, City Art Galleries Copyright Foto: Leeds Museums and Galleries (City ArtGallery) U.K./Bridgeman Berlin Die Leihgaben u.a. aus Paris, New York, Toronto, Wien, London, München, Köln, Madrid, Zürich, Hamburg, Lille und Denver werden in „10-11 Kapiteln“ nach Lebensabschnitten gehängt, vom 13. September 2011 bis zum 29. Januar 2012 also in Wuppertal Alfred Sisleys Werden und Wirken zeigen. Die Vorarbeiten begannen bereits 2009 – erste Bilder der Leihgeber werden etwa drei Wochen vor Ausstellungsbeginn erwartet. Immerhin bisher 80 Bilder des 884 Gemälde umfassenden Œuvres Sisleys konnte Dr. Finckh bis heute zusammentragen, wobei unter diesen zehn Prozent des Gesamtwerks sicher einige der Kernstücke vertreten sein werden. Man kann in Wuppertal dabei auch auf eigene Bestände zurückgreifen, denn das Bild „Le canal du Loing“ (1884) gehört der Städtischen Galerie. Die

8

Bereitschaft der Museen, sich gegenseitig mit Leihgaben zu unterstützen, macht eine solche Ausstellung erst möglich. Gefragt, was denn andere Häuser sich in Gegenzug aus Wuppertal erbitten, kann Gerhard Finckh spontan Paus Cézanne nennen und Edvard Munchs „Sternennacht“. Was wird in Wuppertal zu sehen sein? Natürlich die Flußlandschaften, für die Alfred Sisley so berühmt war, die Kirche von Moret-sur Loing, die er in vielen Variationen gemalt hat, ländliche Szenen aus der Umgebung von Paris und Lille, seine dokumentarische Serie „Überschwemmung in Pont-Marly“ aber auch Motive aus England, die er während späterer Aufenthalte gemalt hat. Gerhard Finckh umreißt Sisleys Œuvre mit einer treffen-

den Bemerkung: „Zauberhaft, duftig, bewegt – als hätten Sie einen Sommertag im Arm.“ Möglich gemacht wurde auch diese Ausstellung, wie schon andere zuvor, von der Jäckstädt Stiftung. Nun wird die Werbetrommel gerührt – mit guten Ideen und einer Kompanie von 100 Pappkameraden, besser gesagt: 100 Sisleys in Lebensgröße, die überall da Reklame für die Ausstellung machen sollen, wo Organisationen, Firmen, Geschäftsleuten das durch das Aufstellen gerne im Interesse des Museums tun möchten. 30 von den Herren sind schon vergeben, Anfragen können an das Von der Heydt-Museum gerichtet werden. Was auch schon jetzt ins Auge gefaßt werden sollte, sind Anmeldungen zu Führungen durch die Ausstellung. Die


Erfahrungen der früheren Impressionisten-Ausstellungen haben gelehrt, daß man gut daran tut, sich rechtzeitig eine solche kundige Führung zu sichern. Alle Informationen über Kosten, Öffnungszeiten und Anreise bekommen Sie in einem Faltblatt des Museums und im Internet: Kontakt: von-der-heydt-museum@stadt.wuppertal.de Informationen unter: www.sisley-ausstellung.de und www.von-der-heydt-museum.de Telefon: 0202-563-2626 Frank Becker

La rade de Cardiff, (Bateaux dans la Baie de Cardiff ), 1897 Reims, Musée des Beaux-Arts de Reims Copyright Foto: C. Devleeschauwer /Musée des Beaux-Arts de la Ville de Reims

Sparkassen-Finanzgruppe

Unsere Kulturförderung ist gut für die Sinne.

Kunst und Kultur prägen die gesellschaftliche Entwicklung. Die Sparkassen-Finanzgruppe ist der größte nicht-staatliche Kulturförderer Deutschlands. Auch die Stadtsparkasse Wuppertal ist ein wichtiger Partner für Kunst und Kultur in unserer Stadt. Das ist gut für die Kultur und gut für Wuppertal. www.sparkasse-wuppertal.de

Sparkasse. Gut für Wuppertal.

S 9


Geld oder Wahrheit ! „Die Dummheit. Teil IV der Heptalogie des Hieronymus Bosch“. Schauspiel von Rafael Spregelburd Inszenierung: Christian von Treskow Ausstattung: Kristina Böcher Musik: Jens-Uwe Beyer Fotos: Uwe Stratmann Die Besetzung: Laetitia Hanon, Emma Toogood, Jane Pockett, Berta Wilkinson (Sophie Basse) Veronica Aldgate, Ivy Posgate, Maggie Dorset, Flo Cohen, Susan Price (Maresa Lühle) Robert Finnegan, Martin Stacey-Waddy, Officer Zielinsky, Lee Okazu Buckley, Carlo Bonelli (Lutz Wessel) Brad Finnegan, Ken Lemon, Officer Wilcox, John Posgate, Mr. Bancroft (Hendrik Vogt) Richard Troy, Ralph Dorset, Officer Davis, Donnie Crabtree, Lino Venutti (Holger Kraft)

v. l. n. r. Maresa Lühle, Hendrik Vogt

10

Christian von Treskow setzt für „Die Dummheit“ auf fünf Verwandlungskünstler und gewinnt. Maresa Lühle sieht schrecklich aus. Erschöpft sitzt sie im Rollstuhl, das Gesicht mit Kunstblut verschmiert, die Perücke zerzaust. Als Ivy Posgate erleidet sie in der Wuppertaler Inszenierung der Komödie „Die Dummheit“ eine Demütigung nach der anderen. Gelähmt und stumm, ist sie den Schikanen ihres sadistischen Bruders John hilflos ausgeliefert. Von den skrupellosen Kunsthändlern Troy und Toogood, die auf der Suche nach ergaunertem Geld sind, wird sie überfallen und mißhandelt. Die größte Demütigung steht Ivy freilich noch bevor. Als einzige könnte sie den Millionenbetrug der beiden Kunsthändler ans Licht bringen und dadurch endlich aus ihrem Schattendasein heraustreten. Doch die Polizisten, die sie befragen, können oder wollen ihre Gebärdenspra-

che nicht verstehen. Schlimmer noch, am Ende machen sie sich lustig über Ivys verzweifelte Verständigungsversuche. Was aber macht das Publikum? Es lacht aus vollem Halse. Erst wenn das Gelächter verebbt, wird sich mancher Zuschauer fragen, ob er eher über die dummen Polizisten oder über das Opfer ihrer Dummheit lacht. Und vielleicht wird er sich ertappt fühlen und erkennen, wie nahe ihm die Figuren des Stücks tatsächlich stehen. Im amerikanischen Nirgendwo Das Geschehen um Ivy Posgate ist nur einer von mehreren Handlungssträngen, die in „Die Dummheit“ zunächst parallel laufen und sich dann – in Anlehnung an Robert Altmans „Short Cuts“ – virtuos miteinander verknüpfen. Alle Handlungen sind in den tristen Vorstädten von Las Vegas mit ihren anonymen Highway-


motels situiert. Dieser Gesichtslosigkeit entspricht das einheitlich weiße Hotelzimmer mit kleinem Bad und Minibar, das Bühnenbildnerin Kristina Böcher auf die Bühne des Kleinen Schauspielhauses stellt. Eine ideale Projektionsfläche im doppelten Sinn, denn einerseits wechselt die Handlung tatsächlich nur von einem Motel zum nächsten und andererseits lassen sich auf den kleinen weißen Raum weite Wüstenlandschaften projizieren – zum Schluß des Stücks sogar ein Abspann in Schwarz-Weiß als Hommage an den Hollywoodfilm. Der Tanz ums Goldene Kalb Natürlich ist die räumliche Nähe zum amerikanischen Mekka der Glücksspieler vom Autor Spregelburd bewußt gewählt. Sein Stück illustriert auf ebenso anschauliche wie komische Weise das Sprichwort “Money talks, truth only whispers!”.

Mit Ausnahme von Ivy, die durch ihre zweifache Behinderung außen vor bleibt, sind alle Figuren eifrig darum bemüht, entweder an Geld zu kommen oder es zu behalten. Da sind die drei korrupten Polizisten, die unterschlagenes Geld geradezu zwanghaft ausgeben müssen. Da ist die skurrile Spielergemeinschaft, die beim Roulette statt dem großen Geld jeden Abend nur 151 Dollar gewinnt. Den Kunsthändlern Troy und Toogood geht es ganz so wie ihren Kunden nicht um Kunst, sondern um das Kapital, das man daraus schlagen kann. Ihr fast vollständig verblichenes Gemälde, das sie als „neo-modernes“ Meisterwerk ausgeben, erinnert an das monochrome Bild in Yasmina Rezas „Kunst“. Selbst der idealistische Wissenschaftler Robert Finnegan kann sich dem hektischen Tanz um das Goldene Kalb nicht entziehen, obwohl er deutlich vor Augen hat, wohin die große Gier führt: „Wir

leben in Zeiten enormer Dummheit!“ So will er denn auch ursprünglich seine Lösung der berühmten Lorenz’schen Gleichung um keinen Preis veröffentlichen, weil er die Welt noch nicht reif dafür hält. Doch die prekäre Lage seines Sohnes, der ebenso gefährlichen wie falschen Mafiosi Geld schuldet, zwingt ihn zum Umdenken. Als er seine Erkenntnisse schließlich in die Öffentlichkeit bringt, ist diesen ein ähnliches Schicksal beschieden wie Ivys Wahrheiten. Denn das Geld hat das große Wort … Verwandlungskünstler Rafael Spregelburd hat seinen Bilderbogen nach Hieronymus Bosch mit einem wunderbar bunten Figurenensemble bevölkert. Christian von Treskow vertraut die zwei dutzend Rollen zwei Schauspielerinnen und drei Schauspielern an. Das Ergebnis ist großartig. Dank der Professi-

v. l. n. r. Holger Kraft, Lutz Wessel, Maresa Lühle, Sophie Basse

11


onalität von Maresa Lühle, Sophie Basse, Lutz Wessel, Holger Kraft, Hendrik Vogt gelingt noch der schnellste Kostüm- und Rollenwechsel. Selbst wenn gegen Ende der fast dreistündigen Inszenierung die eine oder andere Perücke schief sitzt oder ein Schnurrbart halb von der Oberlippe absteht, stört dies kein bißchen die Illusion, es hier mit weit mehr als fünf Spielern zu tun zu haben. Neben Maresa Lühle glänzt besonders Lutz Wessel

Sophie Basse, Holger Kraft, Lutz Wessel

12

durch seine Darstellung des japanischen Geschäftmanns Lee Okazu Buckley, die das Romanklischee des geheimnisvollen Asiaten auf die groteske Spitze treibt. Mit „Die Dummheit“ hat Regisseur von Treskow nach „Eine Billion Dollar“ und „Der Kirschgarten“ dem großen Thema „Geld“ eine weitere gelungene Inszenierung gewidmet. Gelungen auch deshalb, weil das Stück Wahrheiten ausspricht, die

bei Diskussionen ökonomischer Natur keinen Platz haben – auch auf das Risiko hin, daß dem Zuschauer mitunter das Lachen im Halse stecken bleibt.

Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de Daniel Diekhans Fotos: Uwe Stratmann


Zettels Traum Die Zeichnungssammlung Bernd und Verena Klüser 15. März – 19. Juni 2011

„Zeichnung ist Kammermusik und keine große Oper.“ (Bernd Klüser)

Taddeo Zuccaro (1529-66), Satyr Feder, laviert, 25,9 x 20,1 cm Sammlung Bernd und Verena Klüser,

Das Hauchartige wahrnehmen Das „Hauchartige wahrzunehmen als ästhetisches Konzept“ empfahl Joseph Beuys dem Betrachter von Arbeiten seines Schülers Blinky Palermo. Unschwer läßt sich diese Idee auch auf die Kunst der Zeichnung früherer Jahrhunderte beziehen: Anrührend feine Federzeichnungen italienischer Künstler des 16. Jahrhunderts wie Giovanni Francesco Barbieri, Stefano della Bella oder Fra Bartollomeo bilden den chronologischen Auftakt zu der überaus reichen Sammlung von Zeichnungen aus fünf Jahrhunderten, die Bernd und Verena Klüser über vierzig Jahre hinweg zusammen getragen haben. Ihre ersten Blätter von Joseph Beuys erwarben die Klüsers bereits Ende der 60er Jahre – mittlerweile ist alleine ihr Bestand an Beuys-Arbeiten auf 130 angewachsen. Unter dem Titel „Zettels Traum“ stellt das Von der Heydt-Museum die Sammlung des aus Wuppertal stammenden Galeristenpaars Bernd und Verena Klüser erstmalig der Öffentlichkeit in diesem Umfang vor. Die Parallele zu Arno Schmidts hochkomplexem Meisterwerk „Zettels Traum“ liegt auf der Hand: Wie dem Schriftsteller, so genügt oft auch dem bildenden Künstler ein einfacher Papiergrund und ein Stift oder eine Feder, um spontan und unmittelbar Ideen und Notate festzuhalten. Und im Verlaufe der fünf Jahrhunderte, in der sich die Sammlung Klüser bewegt, sind die technischen Mittel erstaunlich gleich geblieben. Ein Bogen von 500 Jahren

Salvator Rosa (1615-73), Studie eines jungen Mannes, Feder und Kreide, laviert 14,5 x 9,2 cm, Zeichnungssammlung Bernd und Verena Klüser, München

Ein Schädel, von unbekannter italienischer Hand im 17. Jahrhundert mit Rötel skizziert, zauberhafte Landschafts- und Naturdarstellungen und Reminiszenzen an die Antike eröffnen den Reigen der ausgestellten Arbeiten. Anthonys van Dyck und Rembrandt van Rijn gehören zu den Meistern, die hier vertreten sind, ebenso wie Jean-Honoré Fragonard, Johann-Heinrich Füssli, Jean-Auguste-Dominique Ingres oder Wilhelm Leibl. Zu den jüngeren zeitgenössischen Künstlern der genau 220 Werke, die in Wuppertal bis zum 19. Juni zu sehen und nur ein Auszug aus der umfangreichen Sammlung

sind, gehören Sean Scully, Jan Fabre und David Godbold. Die Berliner Künstlerin Jorinde Voigt, der innerhalb der Ausstellung ein eigener Raum gewidmet ist und deren Werk von Julia Klüser betreut wird, ist mit ihren zarten, federleicht wirkenden graphischen Großformaten sicherlich eine der spannendsten Neuentdeckungen. Hier begegnen sich in fesselnder Phantasie Musik, Poesie und Zeichenfeder. Mit umfangreicheren Werkkomplexen sind neben Beuys und Palermo so unterschiedliche Künstler wie Andy Warhol (Lenin) oder Alberto Giacometti in der Sammlung vertreten. Zur Kunst der klassischen Moderne zählen des weiteren Henri Matisse, Francis Picabia, Ernst Ludwig Kirchner, Julio Gonzales (Junges Mädchen, lesend) oder Giorgio Morandi, von denen ebenfalls Blätter von ausgesuchter Qualität zu sehen sind. Weitere Höhepunkte der Zeichnungskunst stammen von den Malern der italienischen Transavanguardia, Enzo Cucchi und Mimmo Paladino. Ein Blatt von Max Beckmann zeigt mit dem „Frauenraub“ eine kraftvolle Studie, Ernst Wilhelm Nays Aquarell 1964 erinnert zart an Emil Nolde, während Nay Otto Freundlichs „Komposition“ (1938) wie einen Impuls empfunden haben könnte. Schwerpunkt 20. Jahrhundert „Munch … war der Auslöser meines Interesses an der Moderne. Vor 50 Jahren schrieb ich über ihn die ersten unbeholfenen Zeilen im Kunstkontext – in der Schülerzeitung meines Wuppertaler Gymnasiums“, erzählt Bernd Klüser im Interview des zweibändigen Katalogs. Munchs lithographiertes Selbstportrait aus dem Jahr 1895 (sein erstes) zeigt in reifer Klarheit den nachdenklichen, in sich gekehrten Blick des expressionistischen Künstlers, dessen zwei Jahre zuvor gemalter „Schrei“ ein Manifest des Expressionismus ist. Jannis Kounellis (4 – o.T.), Tony Cragg oder Olaf Metzel sind nur einige weitere Künstler, die in den folgenden Jahren als brillante Zeichner und Grafiker die Aufmerksamkeit des Sammlerpaares auf sich zogen. Aber auch Außenseiter wie der taubstumme amerikanische Autodidakt James Castle oder bekannte Größen wie

13


Sean Scully, Ohne Titel, 4.28.97, Aquarell auf B端tten, 76 x 57,2 cm, 息 Sean Scully Zeichnungssammlung Bernd und Verena Kl端ser, M端nchen

14


Victor Hugo, Louise-Adolphe Soutter oder John Cage, deren grafische Arbeiten noch zu entdecken sind, entgingen dem Kennerblick nicht. Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf der Kunst des 20. Jahrhunderts. Es ist die selbst gestellte Herausforderung, Neues kennen zu lernen und zu vertiefen, die Bernd und Verena Klüser - als Galeristen ausgewiesene Spezialisten im Bereich der modernen Kunst – weiter dazu veranlaßten, für die eigene Sammlung auch alte Kunst zu erwerben. Ihnen geht es um die Zeichnung als Medium, nicht um die historische Einordnung. Der Bezug zu heutigen modernen Ansätzen leitet den Blick auf die vorangegangenen Jahrhunderte und sucht nach Parallelen, wie an einem prominenten Beispiel deutlich wird: etwa der nervös suchenden Linie, die sich bei Palma Il Giovane genauso wie im graphischen Oeuvre Alberto Giacomettis nachverfolgen läßt. Die Zeichnung als autonomes Kunstwerk Auch die Themen verbinden historische und aktuelle Kunst, wobei es sich eher um philosophische und poetische Sentenzen handelt, als um das repräsentative Motiv oder die große Erzählung. Die Sammlungstätigkeit orientiert sich folglich nicht an Bildmotiven; relevant ist einzig die individuelle, künstlerische Umsetzung einer Bildidee in das Medium der Zeichnung.

Eine grundlegende Eigenschaft der Zeichnung über die Jahrhunderte hinweg, die in dieser Sammlungsausstellung deutlich wird, ist, daß Künstler hier oftmals experimentelle Gestaltungsansätze wagen, die der Malerei oder Skulptur den Weg zu neuen Methoden weisen. Die „intime Nähe zum Arbeitsprozeß“ wird zwar erst in der aktuellen Kunst zum Programm, das Ringen um Idealform und persönlichem Stil wird jedoch bei Künstlern aller Jahrhunderte gerade in der Zeichnung offenbar. Deshalb ist das Faszinierende so vieler älterer Zeichnungen, daß sie, wie Bernd Klüser sagt, bereits vor dem Beginn der eigentlichen Moderne im 19. Jahrhundert erstaunlich modern sind. Die Zeichnung wird in dieser Sammlung als autonomes Kunstwerk begriffen, nicht als Beiwerk, etwa als Vorstufe zum elaborierten Gemälde. Sie ist eine intime, private, eine sehr persönliche Zwiesprache des Künstlers mit sich selbst, mit seiner Beobachtungsgabe, mit seinen künstlerischen Möglichkeiten und seinem technischen Können, mit seinen Ideen und Zielen, und mit einem eher zufällig in diesen Prozeß eintretenden Betrachter. „Eine Zeichnungsausstellung ist keine große Oper, sondern eher ein Kammerkonzert“, folgert Bernd Klüser. Weder spektakulär noch populistisch, lädt die Zeichnung zum ästhetischen Kunstgenuß, zum Nachdenken, zum kritischen Vergleichen und Erkenntnisgewinn ein.

Opulentes Katalogwerk Zur Ausstellung erscheint im Verlag des Museums ein opulenter, zwei Bände umfassender Katalog, herausgegeben von Bernd Klüser, mit insgesamt 642 Seiten und zahlreichen Abbildungen, einem Interview mit dem Herausgeber, einem Einführungstext von Michael Semff, Leiter der Staatlichen Graphischen Sammlung München und ausführlichen Werktexten von Christian Quaeitzsch. Provenienzen und Indexe erschließen die Bände mustergültig. Der Preis von nur 50,- ist angesichts der hohen Qualität und des Umfanges der in Ganzleinen gebundenen und mit Schutzumschlägen versehenen beiden Katalogbände gering. Ein zusätzlicher großformatiger Einzelband im Softcover zum Werk Jorinde Voigts gibt hervorragend Einblick in deren humorvolle Arbeits- und Gedankenwelt, die spontan an den Federstrich Paul Floras erinnert. Der Band von 144 Seiten ist im Verlag Hatje Cantz erschienen und kostet 25,– Euro. Dr. Beate Eickhoff und Frank Becker Weitere Informationen unter: www.von-der-heydt-museum.de und www.hatjecantz.de

Anton van Dyck (1599-1641), Diana und Acteon, circa 1618/20, Feder und Kreide, laviert, 9,5 x 22,3 cm, Sammlung Bernd und Verena Klüser

15


Es geht um die unausgesprochenen Begegnungen in der Hochschule für Musik und Tanz Köln / Standort Wuppertal „Günter Wand-Haus“ Variation IV: Musikalische Außenseiter

16

Manchen Musikinstrumenten gegenüber haben manche Menschen Vorurteile – dazu gehörte auch ich. Bei Gitarre, Mandoline und Akkordeon assoziierte ich Folklore und war eher skeptisch. Bei der Gitarre noch am wenigsten, da mir bekannt war, dass sie eine lange Tradition als Soloinstrument in der Konzertmusik besitzt und auch im Flamenco eine bedeutende Rolle spielt. Unnötig zu sagen, dass meine Vorurteile durch den Besuch so mancher Konzerte in der Musikhochschule verschwunden sind.

Erst recht eines Besseren belehrt wurde ich durch Gespräche und Hospitationen im Unterricht. Professor Gerhard Reichenbach spielt ausschließlich Konzertgitarre. Ihn faszinieren der Obertonreichtum und der individuelle Klang dieses Instrumentes. E-Gitarre lehrt er nicht. „Bei der klassischen Gitarre ist der Spieler mit seiner Seele und mit seinem Körper dem Instrument so nah wie sonst nur Sänger und Harfinisten, denn beide Hände berühren unmittelbar


Dinge, die nie geschrieben stehen das schwingende Medium. Daher entsteht ein sehr persönlicher Ton.“ Reichenbachs Vater war Amateurmusiker. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, hat er seine Gitarre zur Hand genommen und gesungen und gespielt. Dabei wirkte er so entspannt, dass der Sohn es dem Vater nachtat. Schnell erkannten die Eltern das Talent des Kindes, und bereits nach vier Jahren Musikschule durfte der junge Reichenbach sein Studium an der hiesigen Musikhochschule fortsetzen. Bei Professor Kreidler wusste er, dass er

„exellent unterrichtet und motiviert wurde, denn der Dozent hat es verstanden, die Lust am Instrument zu wecken.“ Alle bisherigen Hochschulleiter, die Reichenbach kennen gelernt hat – Ingo Schmidt, Karlheinz Zarius, Dieter Kreidler und Lutz-Werner Hesse sind in seinen Augen Persönlichkeiten mit Visionen, die alle kraft einer Fülle von kulturellem Wissen und Erfahrung der Phase ihrer jeweiligen Tätigkeit ihren persönlichen Stempel aufzudrücken wussten und vor allem stets offen waren und sind.

So arbeiten auch alle Dozenten für Gitarre wie in einer großen Familie miteinander im gegenseitigen Austausch. Die Studenten dürfen überall hospitieren, Bewertungskriterien liegen offen, und man macht gemeinsam Pläne. Reichenbach ist seit 16 Jahren Hochschullehrer und gehört darüber hinaus zu den international erfolgreichsten Konzertgitarristen mit zahlreichen Einladungen zu Gitarrenfestivals an großen Konzerthäusern. Bei Schnupperkursen und bei Anmeldungen zur Aufnahmeprüfung ist die Gitarre das weitaus beliebteste Instrument, und Studierende aus Wuppertal sind bei Wettbewerben häufig unter den Preisträgern zu finden. Die Gitarre ist äußerst vielseitig, man kann ebenso melodisch wie akkordisch spielen, und als Begleitinstrument ist sie recht einfach zu lernen. Man kann sie schlagen oder zupfen und homophon und polyphon spielen. Sie hat ihren Platz ebenso in der Folklore wie in der Kunstmusik. Die Melodiegestaltung ist allerdings technisch äußerst anspruchsvoll und subtil. Das Publikum muss sich jeweils in den sehr persönlichen Ausdruck des Interpreten einhören, „denn jeder gezupfte Ton verzaubert, weil er seinen eigenen Mikrokosmos hat.“ Deshalb bleiben Konzerte für die akustische Gitarre den Kennern und Liebhabern vorbehalten. Um den optimalen Klang zu erwirken, braucht der Spieler eine bestimmte Körperhaltung und eine Körperspannung, die besonders für ein Kind schwer durchzuhalten ist und in der Ausbildung zu Krisen führen kann. Zum Beispiel ändert sich die Körperhaltung, je nachdem ob die Saite von Innen oder von Außen gezupft wird. Bei Flamencospielern kann man beobachten, dass sie entsprechend den klanglichen Erfordernissen alle möglichen Körperbewegungen vollführen, deshalb ist Flamenco ein guter Ausgleich. Allerdings - „um ihn richtig zu spielen, muss man ihn mit der Muttermilch eingesogen haben.“ Wie werden die Absolventen der Hochschule ihr Hauptfachinstrument beruflich nutzen können? Überall gibt es Konzertreihen für klassische Gitarre, sie ist das meist gefragte Instrument im Privatunterricht, an Musikschulen und an Musikhochschulen, nicht nur an der hiesigen. Auch bei Festivals und bei Wettbewerben sind Gitarristen

17


beliebt. In Wuppertal gibt es sogar einen Lehrauftrag für Gitarrenkorrepetition: Rupert Gehrmann begleitet die Mandolinenspieler auf der Gitarre, je nach Bedarf ist die Gitarre dann Akkord- oder Melodieinstrument. Wahrscheinlich ist die Gitarre im 13. Jahrhundert aus dem Orient über Spanien nach Europa gelangt. Im 18. Jahrhundert wurde sie ein beliebtes höfisches Instrument, bis sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend von der Jugendbewegung vereinnahmt wurde. Im Jazz verdrängte sie das Banjo, und in der Rock- und Popmusik wird sie elektronisch verstärkt, aber das ist eine andere Welt.

Die Mandoline kommt aus Italien und ist wie die Gitarre ein Saiten- und Zupfinstrument. In der klassischen europäischen Musik erklingt sie hauptsächlich als Melodieinstrument; ihre Hochblüte erlebte sie im 17./18. Jahrhundert in Paris, als zahlreiche Mandolinisten aus Italien dorthin ausgewandert sind. Die Literatur für Mandoline ist weniger zahlreich als die für Gitarre, aber sie erfreut sich zunehmender Beliebtheit in der Neuen Musik. Schon Gustav Mahler hat das leuchtend hell klingende Instrument in seiner 8. Sinfonie eingesetzt, aber auch Respighi, Schönberg, Webern und Henze und viele andere verwendeten es in ihren sinfonischen Werken. Frau Professor Lichtenberg hat mindestens europaweit die einzige Professur für Mandoline inne. Sie probt für ein Konzert ein Stück von Alessandro Rolla, einem Komponisten der Wiener Klassik, mit einem Quartett aus Querflöte, zwei Mandolinen und Gitarre. Die Studierenden haben das Stück bereits vorbereitet, und nun geht es um die musikalische Gestaltung: „Wir müssen den Reiz herauskitzeln.“ Die Dozentin bittet um „ein wenig mehr Schmelz, ein bisschen Wiener Schmäh, schließlich liegt Österreich

18

zwischen Deutschland und Italien.“ Jeder Spieler soll die Stimme der anderen so gut kennen, dass man bewusst miteinander kommunizieren kann und sich die Leichtigkeit der Musik im gegenseitigen Zulächeln spiegelt. „Alles muss genießerisch vorgetragen werden, mit Charme! Die Gitarre mit der scheinbar langweiligsten Stimme hat die größte Herausforderung. Sie muss sich an entsprechenden Stellen hervortun, sich wichtig machen und so zelebriert werden, dass sie die Mitspieler wie auf einem Tablett tragen kann. Alles soll galant klingen, nicht preußisch.“ So anschaulich teilt sich die Dozentin mit. Immer wieder zieht sie Parallelen zur

Sprache. Dazu gibt es Tricks für die Tongestaltung: Bereits die Art des Fingeraufsatzes auf die Saite kann dem Ton eine bestimmte Farbe geben: „Der Ton muss noch einen Bauch kriegen nach dem Anschlag.“ Wichtig sind die Phrasierungen. Damit die einzelnen Teile des Stückes ineinander übergehen, müssen Übergänge musikalisch „abgefangen“ werden. Wiederholungen dürfen niemals gleich gespielt werden, „sonst klingt es so langweilig wie bei der Telefonansage.“ Frau Lichtenberg hat bereits mit 6 Jahren mit dem Mandolinenspiel begonnen und damals als Kind in Magdeburg in einem Mandolinenorchester mitgewirkt. Ihr


ist es sehr wichtig, dass ihre Studenten beizeiten mehrere Standbeine finden. Sie sollen möglichst konzertieren, an Musikschulen arbeiten, unterrichten und Lehrgänge abhalten, um frühzeitig ihre beruflichen Möglichkeiten zu finden. Ihre Klasse ist international – neben den deutschen Studenten kommen auch einige aus Osteuropa, Kolumbien oder Asien, sie selbst konzertiert in der ganzen Welt. Inzwischen interessieren sich immer mehr Komponisten für die Reize dieses kleinen Instrumentes. Sogar Lutz-Werner Hesse, Geschäftsführender Direktor der Hochschule, hat Werke für Mandoline Solo und für Mandolinenorchester geschrieben.

Auch das Akkordeon ist ein Instrument, das bei zeitgenössischen Komponisten zunehmend an Beliebtheit gewinnt. Beim Akkordeon wird der Ton durch eine Metallzunge erzeugt, die mittels eines luftgefüllten Balges in Schwingung versetzt wird. Akkordeon heißt es, weil die linke Hand durch Drücken von Knöpfen feststehende Akkorde spielen kann. Die Anfänge dieses Instrumentes liegen fast 3000 Jahre zurück in Ostasien; in China war es als Mundorgel bekannt. Um 1821 verwendete Friedrich Buschmann Metallzungen auf Holzbrettchen zum einfacheren Stimmen von Orgeln. Von ihm stammt die Idee, mehrere solcher Zungen auf einem Klangholz so anzuordnen, dass man sie mit dem Mund anblasen und in Schwingung versetzen konnte, daraus wurde dann die Mundharmonika. Bis zur hochkomplizierten Konstruktion des modernen Akkordeons sollten noch hundert Jahre vergehen.

Helmut Quakernack, Lehrbeauftragter für Akkordeon an der Musikhochschule, erzählt von der Entwicklung des Instrumentes. Das Schifferklavier galt als Instrument des kleinen Mannes, es gab weder Literatur noch Ästhetik, der Spieler war in der Regel Autodidakt. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als durch technische Neuerungen polyphones Spiel möglich wurde. Vorher konnte man lediglich mit der rechten Hand auf der Tastatur Melodien spielen und mit der linken Akkorde. „Erst als die technische Entwicklung es ermöglichte, dass auch die linke Hand Melodien spielen konnte, weckte das Instrument allmählich das Interesse der Komponisten. Inzwischen haben unter anderen bedeutenden Komponisten der Neuen Musik wie Luciano Berio, Mauricio Kagel und Sofia Gubaidulina eine Reihe von anspruchsvollen Stücken für das Akkordeon geschrieben. Auch Werke des BandoneonInterpreten und Komponisten Astor Piazolla werden gern von Akkordeonisten in Konzertprogramme aufgenommen.“ Das „Bajan“ ist eine weitere Form des Akkordeons. Es hat einen ebenso großen Tonumfang wie das Klavier und besitzt für beide Hände ausschließlich Knöpfe. Der Klang ist etwas wärmer und voller als der des Akkordeons. Der Spieler muss beide Varianten beherrschen. In Wuppertal kann man im Haupt- und Nebenfach Akkordeon studieren. In der Unterrichtsstunde wird intensiv an einem schwierigen Stück des Japaners Maki Ishii von 1987 gearbeitet. Es heißt „Tango. Prism“ und ist zum einen eine Persiflage auf den Rhythmus des Tango, zum anderen auf die verschiedenen Emotionen, die dieser Tanz evozieren kann. Daher besteht das Stück aus mehreren Teilen. Helmut Quakernack sieht die Schwierigkeit darin, es nicht „patchworkartig“ zu spielen, sondern den großen Zusammenhang hörbar zu machen. Peter Lohmer, der im ersten Semester Akkordeon studiert, rät er, innerlich mitzuatmen und die Abschnitte ausschwingen zu lassen, indem unmerklich Lautstärke und Tempo reduziert werden: „Es geht um die unausgesprochenen Dinge, die nie geschrieben stehen. Du musst Dir Dein inneres Dirigat geben. Als Solist ist man sein eigener Dirigent.“ Eine besondere Schwierigkeit ist der Registerwechsel, der durch das Drücken von Knöpfen mit dem Kinn auf der Oberseite

des Instrumentes erfolgt . Auch das muss mitgeübt werden. Das Akkordeon kann theoretisch endlos lange Töne halten, doch irgendwann muss der ausgezogene Balg wieder zusammengedrückt werden. Auch dieser Balgwechsel muss mitgeübt werden, denn er soll möglichst unhörbar erfolgen. Das ist besonders diffizil bei den tiefen Tönen, da die größeren Zungen schwerer ansprechen. Hört man in das Instrument hinein, wird schnell deutlich, welche besonderen klanglichen Möglichkeiten es bietet. „Tango.Prism“ beginnt z.B. mit einem Tangorhythmus, der fast tonlos, nur durch ruckartiges Bewegen des Balges erzeugt wird. Besondere Prüfsteine sind für Quakernack polyphone Klangwerke der Barockmusik und der Klassik. „Durch sehr variables und differenziertes Artikulieren des Tones durch jeden einzelnen Finger wird versucht, diese Musik äußerst transparent zu spielen. Im Gegensatz zum Klavier, dessen Ton sofort nach dem Anschlag leiser wird und damit nachfolgenden Tönen Raum zur Entfaltung lässt, erklingt beim Akkordeon ein Dauerton. Dies führt besonders bei vielstimmigen Fugen häufig zu einem zu dichten Klangbild.“ Für Helmut Quakernack ist das Studium von Bachs polyphonen Stücken ein unbedingtes „Muss“, um sich in der Spieltechnik weiter zu entwickeln. Das Akkordeon hat nicht nur unglaublich vielfältige Klangmöglichkeiten, sondern es lässt sich problemlos mit zahlreichen anderen Musikinstrumenten oder mit Gesang kombinieren. Das war besonders gut bei den Konzerten zum Ende des Wintersemesters zu hören. Im Zusammenspiel wird deutlich, wie der vergleichsweise warme Ton der Gitarre die silbrig hell klingende Mandoline kontrastiert. Gerade die zeitgenössischen Komponisten entlocken allen drei Instrumenten ungeahnte Klangmöglichkeiten. So ist der „Rail Road Song“ von Yasuo Kuwahra eine witzige musikalische Eisenbahnfahrt zweier duettierender Mandolinen. Das Akkordeon erscheint geradezu beseelt, wenn das Atmen des Balges in die Musik einbezogen wird. Man darf gespannt sein, wie sich die einstigen Außenseiter in den verschiedenen Ensembles moderner Musik behaupten werden.

Marlene Baum

19


Zwei Paare, zwei Schwestern Georg Köhl inszeniert in Wuppertal „Arabella“ von Richard Strauss Musikalische Leitung: Hilary Griffiths Inszenierung: Georg Köhl Bühnenbild: Peter Werner Kostüme: Claus Stump Dramaturgie: Ulrike Olbrich Fotos: Sonja Rothweiler Die Besetzung: Arabella: Banu Böke Mandryka: Kay Stiefermann Zdenka: Dorothea Brandt Graf Waldner: Michael Tews Gräfin Adelaide: Joslyn Rechter Matteo: Oliver Ringelhahn Elemer: Boris Leisenheimer Dominik: Miljan Milovi´c - Lamoral: Thomas Schobert - Fiaker-Milli: Elena Fink Kartenaufschlägerin: Marina Edelhagen Welko: Philipp Werner Zimmerkellner: Mario Trelles Diaz Chor der Wuppertaler Bühnen Sinfonieorchester Wuppertal

Fink, Böke, Chor - Foto: Sonja Rothweiler

20

Für die Oper „Arabella“ von Richard Strauss steuerte der Dichter Hugo von Hofmannsthal zum letzten Mal vor seinem unerwarteten Tod 1929 das Libretto bei. Die Wuppertaler Bühnen bringen das Werk nun in der Regie von Georg Köhl und unter der musikalischen Leitung von Hilary Griffiths heraus. Die Titelheldin ist Tochter des Grafen Waldner, der das Familienvermögen beim Glücksspiel durchgebracht hat und jetzt nach einer guten Partie für sie sucht. Es fehlt nicht an passenden Kandidaten; aber die eigensinnige Arabella (raumgreifend: Banu Böke) ist für einen unbekannten Fremden entbrannt. Schon ihr Wechselbad der Gefühle spiegelt sich deutlich in der Musik: Ihr Gesangspart vor dem Faschingsball, von dem sie sich ein Treffen mit dem Geliebten erhofft, drückt bald Zuversicht aus, bald Zweifel, und schließlich mischen sich schon die ersten Walzerklänge hinein.

Wie es der Zufall des Textes will, hat ihr Vater (Michael Tews als komische Figur) Arabellas heimliche Liebe, den Grafen Mandryka, durch einen Irrtum bereits auf seine Tochter aufmerksam gemacht; und der wohlhabende Kroate schwärmt zu Beginn des Balls auch gleich: „Das ist ein Engel, der vom Himmel niedersteigt“ (Bariton Kay Stiefermann eröffnet kraftvoll den zweiten Akt). Kaum einander vorgestellt, folgt schon Arabellas Versprechen: „Und du wirst mein Gebieter sein und ich dir untertan“ – trotz der heute womöglich befremdlich anmutenden Unterwerfungsrhetorik eine der bekanntesten Strauss-Arien. Doch dann drängt der andere Handlungsstrang in den Vordergrund, der der Oper den nötigen Konfliktstoff verleiht: Arabellas Schwester Zdenka (zart: Dorothea Brandt) wurde gezwungen, als Junge herumzulaufen, und hat sich in den Kopf gesetzt, ihre privilegierte Schwester


mit deren verzweifeltem Verehrer Matteo (Tenor Oliver Ringelhahn) zusammenzubringen, den eigentlich Zdenka selbst liebt. Wenn sie diesem dann den Schlüssel zu Arabellas Zimmer übergibt, um ihn dort selbst zu empfangen, übernimmt ihre ehrliche Sorge für Matteo die Funktion, für die es sonst in vielen Stücken eine Intrige gibt: Irritation und (hier vorübergehende) Trübung des Liebesglücks. Ihr doppeltes Spiel aus besten Motiven weckt Mandrykas Eifersucht, der den Schlüssel mißversteht und Untreue Arabellas vermutet; es verwirrt aber auch den unglücklichen Matteo, der nicht verstehen kann, wieso die Angebetete ihm nur mit Kühle begegnet – trotz mehrerer verliebter Briefe (die in Wahrheit von Zdenka stammen). „Mir graut vor so viel Virtuosität“, läßt das Libretto ihn ironisch klagen, und die Partitur macht die Konfusion mit gehetztem Tempo hörbar. Zwischendurch sorgt die frivole Fiaker-Milli (Elena Fink) mit schrillen Intervallen für Bewegung.

Am Ende löst sich alles in (auch musikalische) Harmonie auf, und Arabella bekennt durchaus selbstkritisch: „Zdenkerl, du bist die Bessre von uns zweien: Du hast das liebevollere Herz.“ Übrigens ist die Kontrastierung der beiden ungleichen Schwestern vielleicht sogar interessanter als die Haupthandlung, und das Duett Zdenkas und Arabellas im ersten Akt gehört zu den rührendsten Momenten des Abends. Fazit: Starke Charaktere, sichere Stimmen, sinnfällige Musik – und eine Regie, die eine eher handlungsarme Geschichte mit einem Augenzwinkern zum Vergnügen macht. Weitere Informationen unter: www.wuppertaler-buehnen.de Martin Hagemeyer Brandt, Ringelhahn Foto: Sonja Rothweiler

Böke, Ringelhahn - Foto: Sonja Rothweiler

21


Schloss Lüntenbeck stofflich erlebt Textil in Wuppertal steht für eine erfolgreiche Vergangenheit, von der in der Stadt nur wenige Spuren geblieben sind. Im Verborgenen aber ist das Thema ganz gegenwärtig. Zu den herausragenden Traditionsbetrieben zählt die Bandweberei Kafka, in der Frauke Kafka der Spagat gelungen ist, historische Technik und modernes Design zu verbinden. Die dort entstehenden Bänder sind schon lange kein Geheimtipp mehr. Vor einigen Jahren hatte Frau Kafka die schöne Idee, die Gegenwart textiler Produkte und Techniken auf einem Markt in Schloss Lüntenbeck zu zeigen und damit ein sehr lebendiges Lebenszeichen der nur anscheinend ausgestorbenen Branche im Tal zu setzen.

Textilmarkt Schloss Lüntenbeck Fotos Jörg Lange

22

Immer wieder Himmelfahrt - nun öffnet der Textilmarkt Schloss Lüntenbeck schon zum sechsten Mal seine Pforten. In der stimmungsvollen Schlossatmosphäre von Hof und Garten bieten 50 Aussteller ein vielseitiges Angebot. Die unterschiedlichen Gestaltungsweisen und stilistischen Aussagen der angebotenen Kollektionen zeigen eine Varietät, wie sie selten in einem solchen Rahmen zu finden ist. Die breite

Palette der Anbieter überzeugt durchweg mit anspruchsvollem Design in qualitativ hochwertiger und modisch aktueller Ausführung. In und um Wuppertal sind auch heute noch mehr im besten Wortsinne eigenwillige Kreative tätig, als man vermuten würde. Frau Niehage, die neue Besitzerin der Bandweberei Kafka, wirft ihre alten Jacquard-Webstühle an, um die Eintrittskarten für den Textilmarkt zu weben. Mit der Karte hält man ein handwerkliches Andenken und schon die erste Aufforderung zu nähen in Händen. Natürlich wird Kafka auch an ihrem Stand viele „Wuppertaler Originale“ aus ihrer großen Bänderkollektion präsentieren. In den Wuppertaler Westen kommen Aussteller aber auch aus der ganzen Republik, und die Besucher halten es ebenso. Kenner wissen schließlich die qualifizierte Mischung von Mode und Material zu schätzen, die einmal im Jahr in Schloss Lüntenbeck zu sehen ist. Den an Mode interessierten Damen ist die Arbeit unseres lokalen Aushängeschilds


Ölberger Taschenmanufaktur (oben) – Biergarten (unten)

23


Nicola Tigges sicher schon ein Begriff. Ihre eleganten Kleider, Oberteile und Mäntel begeistern durch eine ganz eigene Formensprache. Echte Gegenstücke sind die zarten Feenkleider von Isabella’s Art oder die robusteren, aber dennoch sehr weiblichen Strickstücke von Sabine Hofius. Vilma zeigt legere, naturnahe Mode aus unbehandeltem Flachsfaden. Junge Schneiderkunst von Monika Eisele, ragaga couture, COMO YOKi oder Sisie kommt bunt und frech daher. Dagegen beeindruckt die eigenwillige Mode von Bao Bao durch raffinierte Schlichtheit. Die Herren geben eher der kernigen, irischen Country Ware von Out of Ireland den Vorzug. Oder werden sie doch eher bei dem afrikanisch inspirierten Label Djahstone fündig? Die süßen Kleinen bekommen bei den „liebhabsachen“ von Kalajoki oder den originellen Shirts und Kleidchen von Merle Design leuchtende Augen. Für die ganz kleinen, aber auch die großen Füße bietet Lederstrumpf eine Auswahl handgefertigter Hausschuhe aus hochwertigem handverlesenem Rindsleder. Ein nach wie vor großes Thema ist das Material Filz. Beim Textilmarkt Schloss Lüntenbeck verblüfft die Vielfalt der vorgestellten professionellen Verarbeitungsmethoden. Feste Industriefilze, zarte Gespinste, ganze Outfits aus einem Stück, Perlen, Knöpfe und Hüte belegen, welche Kreativität die Technik freisetzt. Filzfrieda, Filzwerk, FilzWoll-Lust, Filzware Handfilz oder Linner FilzArt etwa zeigen unterschiedliche Versionen des kunstvollen Umgangs mit dem wolligen Material. Margret Riedel wendet sich vollends ins Künstlerische und fertigt beeindruckende Wandobjekte aus Filz. Das Kleid allein macht nicht die Mode. Interessierte wissen, dass der individuelle Stil auch die passenden Accessoires braucht. Hüte, Tücher und Taschen werden in unterschiedlichen Ausführungen und Stilrichtungen angeboten. Die Bandbreite geht von den eher klassischen Arbeiten des Hutsalons bis zu den trendigen Taschen der Ölberger Taschenmanufaktur. Einen Höhepunkt ganz eigener Art bieten die Schmuckstücke der Wuppertaler Designerin Fiona Fischer. Sie weiß biegsame Drähte, textil zu verarbeiten. Edle Ringe und Ketten gestrickt oder gehäkelt - wirklich ausgefallen. Einen ganz anderen Schwerpunkt setzt Rocailles

24

Schmuck und zeigt bunten Schmuck aus böhmischen Glasperlen. Der Textilmarkt bietet auch ausgefallenes Material und Zubehör für die Gestaltung der eigenen Entwürfe. Schöne französische Stoffe in warmen Farben etwa bietet Marie Lind. In der breiten Auswahl an verführerischen Spitzen bei Fine French Laces oder Roosenrausch lohnt es sich, genauer hinzusehen. Am K(n)opfstand der Schwestern Burrow gehen begeisterte Sachensucher in geheimnisvollen Kisten auf die Jagd. Sehr ausgefallen sind auch die mit Gold oder Platin bemalten Kristallglasknöpfe sowie der daraus gefertigte Schmuck. Bei My Königskind finden sich eher verspielte Stoffe, Knöpfe und alle Zutaten, die es braucht, um selber zu nähen. Wer lieber stickt, findet bei Der feine Faden, Kreatives und Sticken und der MWI Stickgalerie eine breite Auswahl an Material und Vorlagen. Deutlich voluminösere Fäden für die strickende Zunft bietet das Sortiment von Wolle im Atelier oder die handgefärbte Multicolorwolle von Kaschka. Auf der Suche nach Nützlichem und Schönem für Haus und Garten stößt man auf dem Lüntenbecker Textilmarkt auf einige Besonderheiten. Pottlappen fertigt kultige Produkte aus Grubenhandtüchern nicht nur für Ruhrpott-Fans. Die Tuchmacherin bietet handgewebte Tischwäsche und Handtücher aus eigener Produktion. Shalimar Garden entführt uns in die verzauberte Welt von Kashmir und Rajasthan, bestehend aus Uni-

katen und Lieblingsstücken, die nach traditioneller Handwerkskunst aus hochwertigen natürlichen Materialien gefertigt wurden. Wem vom Gucken, Fühlen und Probieren der Kopf schwirrt, der gönnt sich zwischendurch mal eine Pause. Die entspannte Atmosphäre rund um die Hofwiese oder ein stiller Platz im Garten lädt zu besinnlichen Momenten ein. Das im Schloss ansässige Restaurant Küchenmeisterei bietet mit seiner Innen- und Außengastronomie einen kultivierten Rahmen, um sich kulinarisch verwöhnen zu lassen. Hier kann man in aller Ruhe genießen, plaudern und Pläne schmieden. In Sichtweite des Restaurants warten auf den Nachwuchs täglich wechselnde Angebote zum textilen Gestalten. Hier dürfen die Kleinen selbst Hand anlegen. Als Höhepunkt für die Großen bietet Schloss Lüntenbeck in diesem Jahr eine Modenschau. Wenn Donnerstag und Samstag der rote Teppich entrollt wird, schlüpfen die ausgestellten Kleider vom Bügel und stellen in lebhafter Bewegung ihre Tragbarkeit an echten Menschen unter Beweis. Derart inspiriert geht es dann wieder an den Ständen mit der auf dem Laufsteg präsentierten Mode auf Tuchfühlung. Antonia Dinnebier Textilmarkt Schloss Lüntenbeck 2. – 5. Juni 2011, 11 – 18 Uhr Eintritt 3 Euro, Dauerkarte 5 Euro Kinder bis 12 Jahre frei Modenschau Do + Sa 14 Uhr


Baumeister der Kommunikation Nico Ueberholz setzt Meilensteine in der temporären Architektur

In Wuppertal zu Hause, international als temporärer Architekt erfolgreich: Nico Ueberholz

Andere bauen für die Ewigkeit, Nico Ueberholz für den Moment. Denn was der 52-Jährige gestaltet, ist per Definition meist vergänglich - egal, ob es um Messe-, Museums-, Veranstaltungsarchitektur oder den Ladenbau geht. Zusammengefasst nennt sich das „temporäre Architektur“, ein weites Feld, über das Nico Ueberholz in einem Büro nachdenkt, das in Wuppertal kaum schöner liegen könnte: Die Schwebebahn scheint fast durch das Dachgeschoss der Cleffschen Kornmühle zu gleiten, in dem sein Schreibtisch steht. Der ideale Platz für einen echten „Jungen aus dem Tal“, der als Kreativer längst internationalen Ruf hat. Davon erzählt eine stattliche Trophäensammlung, für die der Glastisch im Entrée der außergewöhnli-

chen Arbeitsstätte inzwischen zu klein geworden ist: Ein „Who is Who“ sämtlicher deutscher Design-Auszeichnungen, dazu die wichtigsten Awards aus den USA. Allesamt verliehen für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der temporären Architektur. Und erwachsen aus der Philosophie, die fast alle Ueberholz-Projekte verbindet: „Ich will Orte der Begegnung schaffen, die eine Bühne für die Kommunikation zwischen Menschen bieten.“ Beim „Bühnenbildner“ Ueberholz nehmen diese Orte anfangs ganz klassisch mit Hilfe von Papier und Bleistift Kontur an. Ein kreativer Prozess, der auf seine Vita verweist: Nico Ueberholz schloss parallel zum Architektur-Studium Anfang der

25


80er Jahre auch als einer der ersten Absolventen den damals neuen Studiengang Diplom-Kommunikationsdesign an der Bergischen Universität ab. Nach der Mitarbeit im Architekturbüro seines Vaters wagte er früh den Sprung in die Selbständigkeit: unter anderem mit der Gründung der Firma „artlight“, die individuelle Leucht- und Lichtobjekte entwarf. Licht war und ist für Nico Ueberholz immer ein ganz besonderer Stoff. Und es spielte eine wichtige Rolle bei der Umsetzung seiner Ideen für den weiten Bereich des Designs im Raum, den er 1987 mit der Gründung seines „Büros für temporäre Architektur“ erschloss. Seitdem liegt er international auf Erfolgskurs - natürlich auch Ausdruck für die Qualität der in Wuppertal ausgebildeten Kommunikationsdesigner. Dass dieser Studiengang jetzt zerschlagen wurde, hält (nicht nur) Nico Ueberholz für eine Katastrophe... Aber zurück zur temporären Architektur - und dem scheinbaren Widerspruch, der Nico Ueberholz so sehr daran reizt: „Ob-

26

wohl temporäre Architektur dem Betrachter nur für einen gewissen Zeitraum zur Verfügung steht, soll sie sich in seinen Kopf brennen und für lange Zeit in Erinnerung bleiben.“ Und die Mittel dazu? „Eine interessante Architektur zeichnet sich aus durch die spannungsvolle Auseinandersetzung mit Material, Form, Farbe, Größe, Proportionen und der Lichtgestaltung.“ In der richtigen Kombination ist das alles dann nicht Selbstzweck, sondern die Plattform um Kommunikation in Gang zu setzen. Wie so etwas ideal funktioniert, führte Ueberholz mit einem auch für Insider verblüffenden Messeauftritt in eigener Sache auf dem Branchen-Marktplatz „EuroShop“ in Düsseldorf vor: Riesige „Klangsteine“ luden Besucher dazu ein, die Macht der Musik als Urform der non-verbalen Kommunikation zu entdecken. Die mystischen Töne, die Gäste auf dem Stand selbst mit Hämmern unter anderem einem symbolhaft in Form einer Stimmgabel der Länge nach gespaltenen, fünf Meter hohen Monolithen entlockten, wurden an einer

36 Quadratmeter großen LED-Wand vor Kopf in Bildwellen umgesetzt. Angeleitet vom eng mit der „documenta“ verbundenen Klang-Künstler Olaf Pyras und von Zeit zu Zeit durch Spontan-Auftritte der Tänzerin Nusara Mai-ngarm begleitet wurde das Publikum zum Bestandteil einer Inszenierung, die jedem Besucher tatsächlich weit über den Moment hinaus in Erinnerung blieb. Für Ueberholz eine Art Grundlagenexperiment: „Wir haben einen Raum für die Demonstration erinnerbarer Kommunikation geschaffen, der beispielhaft zeigt, wie man sich durch den kreativen Umgang mit den Teildisziplinen temporärer Architektur völlig jenseits des Messe-Mainstreams positionieren kann.“ Aus dieser Philosophie heraus sind im Lauf der Jahre ganz unterschiedliche „Bühnen“ entstanden: Sehr große und ganz kleine Messestände, verblüffende Ausstellungskonzepte und neuerdings sogar Unternehmensauftritte „out of the box“ - mobile Container, die ein einziger Mensch in nur 25 Minuten zu einem vollwertigen


Mit diesem Stand rund um einen 250 Jahre alten Olivenbaum machte Ueberholz auf der Euroshop 2005 Eigenwerbung. Der Wuppertal wurde dafür als erster Deutscher überhaupt mit dem amerikanischen „Edge Award“ für herausragende Leistungen im Bereich des internationalen Messe-Designs ausgezeichnet.

Die leuchtenden Lichtwände waren über Jahre hinweg das von Ueberholz geprägte Markenzeichen der Messeauftritte des Haustechnik-Spezialisten GIRA.

Tonnenschwere Steine, auf denen Besuchern mit Hämmern Urklänge erzeugen, die im Hintergrund in Bilder umgesetzt werden: Mit diesem KommunikationsExperiment überraschte Ueberholz auf der Euroshop 2008. Der vielfach prämierte Stand gilt als Musterbeispiel dafür, wie sich temporäre Architektur in die Erinnerung brennt...

Realisiert mit kleinem Budget und doch prämiert im Wettbewerb „Gute Gestaltung“ des Deutschen Designer-Clubs: Der Ueberholz-Stand für den LichttechnikHersteller BOCOM auf der Light & Building 2010.

27


Präsentationsraum entfalten kann. Was sie alle verbindet, ist der besondere Anspruch an ihre Gestaltung. Und zwar ganz egal, ob es um einen zweistöckigen Messestand mit über 1.000 Quadratmetern Fläche oder den winzigen Auftritt eines Nischenunternehmens geht. „Design“, findet Ueberholz, „ist keine Frage des Budgets. Ein guter Designer kann für jeden Etat kreative Lösungen finden!“ Wie ein Uebeholz-Beitrag zum renommierten Wettbewerb „Gute Gestaltung“ des Deutschen Designer-Clubs eindrucksvoll bewies: Dessen Jury hatte den von Ueberholz entworfenen Auftritt eines Fachunternehmens für Farblichtsteuerungen auf der Messe „Light & Buidling“ prämiert - und den ganze 60 Quadratmeter großen Stand in der Kategorie „Raum/Architektur“ damit eine Stufe mit einem Mega-Prestigeobjekt wie dem Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Shanghai gestellt! In Asien wurde dafür ein Millionetat verbaut, hier dagegen mit einem Gesamtbudget von gerade einmal 14.000 Euro große Wirkung entfaltet.

Apropos Etats: Dass viele Unternehmen in Zeiten der Wirtschaftskrise gerne an der Außendarstellung sparen, hält Nico Ueberholz für einen gefährlichen Irrweg. Nicht aus Eigennutz, sondern aus der Überzeugung heraus, dass Konjunktur ebenso wie Kreativität im Kopf entsteht. In einem Editorial für die Fachzeitschrift „wörkshop“ brachte der Wuppertaler das 2009 mit Blick auf die Hannover-Messe zu Papier, bei der zahlreiche Unternehmen bis zuletzt über einen Teilnahmeverzicht nachdachten. „Ein fatales Signal im Hinblick auf die wirtschaftliche Gemütslage, die durch die Unsicherheit weiter negativ befeuert wurde“, so seine Überzeugung. Gegen die Depression setzte er die Aufforderung, die Krise als Chance zu begreifen - auch für die eigene Branche: „Wer es schafft, innerhalb eines für die Aussteller machbaren wirtschaftlichen Rahmens kreative Sonderlösungen zu finden und dabei aufregend anders zu sein, wird sich durchsetzen.“

Wenn Nico Ueberholz von solchen aufregend anderen Ideen erzählt, hört man gerne zu und staunt. Zum Beispiel darüber, wie ein profanes Rohr vom Weltmarktführer für Kupfererzeugnisse wirkt, wenn man es als „Werkkunststück“ begreift und im Stile eines Juwels auf tiefschwarzem Grund präsentiert. Oder über die Herausforderung, in der temporären Architektur absolut plane Wand- und Deckenflächen herzustellen, bei denen kein unerwünschter Schattenwurf die Lichtkomposition stört. Und natürlich über ein Vorzeige-Objekt wie den soeben eröffneten Info-Pavillon für die Großbaustelle am Düsseldorfer Kö-Bogen, den der Wuppertaler in Zusammenarbeit mit dem Designer-Kollegen Lutz Menze realisierte. Dass ein international beachteter Designer wie Nico Ueberholz ausgerechnet in seiner Heimatstadt bisher kaum Spuren hinterlassen hat, erinnert an den alten Spruch vom Propheten, der im eigenen Land nichts gilt. Den Satz „Wir haben eigentlich nur Auftraggeber von außerhalb“ streut er

Für den Marktführer KME setzte Ueberholz auf der Bau 2007 Kupfer als Werkkunststück in Szene.

28


deshalb in Gesprächen gerne ein. Nicht um der Aufträge willen, sondern weil Wuppertal dem bodenständigen Barmer sehr am Herzen liegt. Und weil kaum etwas kann seine Diskussionsfreude so befeuern kann wie manches Beispiel für gelinde gesagt merkwürdige lokale Stadtplanung. Umso größer ist seine Freude, wenn er sich einmischen darf. So wie bei der Planung für die Nordbahntrasse, wo Nico Ueberholz kräftig zu dem ausgeklügelten Beleuchtungskonzept beitrug, mit dem im großen Stil Fördermittel für das wegweisende Projekt gewonnen wurden. Wieder ein Fall von „aufregend anders“. Genau wie die drei neuen Kundencenter der Wuppertaler Stadtwerke, deren Innenausstattungen die Ueberholz-Handschrift tragen. Sie wurden dadurch zu einladenden ServiceLandschaften, in denen sich Besucher und Mitarbeiter von intelligenten Lichtsystemen gelenkt vor vertikal mit Pflanzen begrünten Wänden treffen. Hightech und Natur prägen hier Hand in Hand die einladende Atmosphäre. Die Sache mit dem Propheten scheint sich also langsam zu verbessern. Ob man sich im WSW-Kundencenter am Wall, auf einem Messestand des Haustechnik-Spezialisten „GIRA“ oder auf der viel beachteten Wanderausstellung des NRW-Fachverbandes der Tischler umsieht - überall wird man die unverkennbare Ueberholz-Handschrift wiederentdecken: klare Linien, das geschickte Spiel mit Gegensätzen und Licht als prägendes Element einer überraschenden Inszenierung. Ein Stil, mit dem Ueberholz speziell den Messeauftritten vieler Unternehmen über Jahrzehnte hinweg bei aller Wandlung der Stände ein unverwechselbares Gesicht gegeben hat. Das amerikanische Fachblatt „Exhibitor“ vergibt genau dafür bei seinen jährlichen „Exibition Design Awards“ sogar Preise in einer eigenen Wettbewerbskategorie: Die heißt „Design Consistency“ und hebt auf das Problem ab, bei immer neuen Präsentationsideen doch die Markenidentität erkennbar zu wahren - Ueberholz durfte sich jenseits des Atlantik bereits über mehrere dieser Awards freuen. Und mehr noch: Erstmals in der mehr als zwei Jahrzehnte langen Geschichte der „Exhibition Design“-Prämierungen holte der Wuppertaler 2006 den „Edgde Award“ nach Deutschland! Mit die-

Nico Ueberholz und Mitarbeiter André Füsser mit zwei von vielen Awards aus dem In- und Ausland, die sich mittlerweile im Büro in der Cleff‘schen Kornmühle angesammelt haben.

Dem WSW-Anspruch auf Nachhaltigkeit und perfekten Service hat Nico Ueberholz in den neuen WSW-Kundencentern ein eigenes Gesicht gegeben. ser Auszeichnung würdigt eine hochkarätig besetzte Jury herausragende Leistungen im Bereich des internationalen Messe-Designs. Prämiert wurde ein Aufsehen erregender Messestand, den Ueberholz zur Euroshop 2005 in Düsseldorf als Werbung in eigener Sache entworfen hatte: Er zeigt exemplarisch die Umsetzung des UnternehmensLeitsatzes „Wir bauen Atmosphäre“ – unter anderem durch die spektakuläre Integration eines 250 Jahre alten Olivenbaums in ein High-Tech-Umfeld. Bei der Preisverleihung im deYoung-Museum von San Francisco schwärmte Design-Nestorin Deborah Sussman – unter anderem verantwortlich für das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele in Los Angeles – dazu: „Es ist so weit

entfernt von allem, was wir sonst gesehen haben. Ich wünschte mir, ich hätte es gemacht!“ Nach dem Edge-Award holte Ueberholz dieses Jahr übrigens erneut einen Sonderpreis: Mit dem schon beschriebenen „Einklang“-Stand gewann Ueberholz Gold in der zum Jubiläum der US-Awards ausgeschriebenen Wettbewerbs-Kategorie „Best of 25 Years“. Die beiden „Amerikaner“ stehen demnächst einträchtig nebeneinander auf dem Glastisch in der Kornmühle. Die Erinnerung ist also nicht das Einzige, was den Moment überdauert... Andrea Weiß

29


Die Städte sind für Dich gebaut Tafelbildmontage von Klaus Armbruster auf Zollverein: Eine Hommage an das Ruhrgebiet

30

Große Bilder einer großen Geschichte präsentiert die Stiftung Zollverein vom 14. April bis 27. Mai 2011 mit der Tafelbildmontage DIE STÄDTE SIND FÜR DICH GEBAUT von Klaus Armbruster. Damit setzt sie das Programm des vergangenen Kulturhauptstadtjahres fort und zeigt die Werkschau eines Künstlers, der das Ruhrgebiet und seine Menschen zum Thema seines Schaffens machte.

wand. Bevor er das Ruhrgebiet zum Ende des Jahres wieder verläßt, widmet er ihm jetzt ein monumentales Werk.

25 Jahre lang hat sich Armbruster als Film- und Medienkünstler immer wieder mit der Region auseinandergesetzt. Inzwischen zu seiner ursprünglichen Profession als Maler zurückgekehrt, bringt er ihre Geschichte und Gegenwart seit nunmehr vier Jahren mit dem Pinsel auf die Lein-

existenzieller Menschheitsfragen aufgreift und sich den hier lebenden Menschen widmet. DIE STÄDTE SIND FÜR DICH GEBAUT reflektiert die Entwicklung vom Industriezeitalter bis zum gegenwärtigen Strukturwandel, die ihren Ausdruck in alltäglichen Szenen, in dra-

Hinter dem Ausstellungstitel DIE STÄDTE SIND FÜR DICH GEBAUT aus Bertolt Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“ steckt ein vielschichtiges künstlerisches Gesamtwerk, das die Grundthemen des Ruhrgebiets als Brennpunkt


matischen Ereignissen und in den Gesichtern der Menschen findet. 81 Tafelbilder sind in 27 Triptychen unterschiedlicher Formate miteinander verbunden und in fünf Sequenzen übereinander zu einem groß dimensionierten Gesamt-Triptychon zusammengefaßt. Es wird auf einem 18 Meter breiten und 6 Meter hohen Tableau in der ehemaligen Zentralwerkstatt, Halle 5, auf Zollverein gezeigt.

transformiert. Durch die von ihm aus seiner Medienarbeit entwickelte, in dieser Form einzigartige Montage der Tafelbilder entstehen vielfältige Beziehungen zwischen den einzelnen Motiven, vom Maler thematisch und kompositorisch strukturiert und zugleich offen gelassen für die individuelle Rezeption des Publikums.

Für die Besucher bietet sich so die Möglichkeit, die Herkunft der Bildmotive in ihrem szenischen Zusammenhang aufzuspüren und den von Hufschmidt geschaffenen Klangraum auch beim Betrachten der Tafelbildmontage als Kommentar und emotionale Basis in das eigene Sehen, Erinnern und Assoziieren hineinzunehmen. In Armbrusters Tafelbildmontage werden die von ihm selbst in die Welt gebrachten, viel-

Klaus Armbruster hat zentrale VideoEinzelbilder aus seinem letzten großen Multimedia-Projekt, dem 1998 in der Bochumer Jahrhunderthalle uraufgeführten RUHRWERK, ausgewählt und ihr flüchtiges Aufscheinen in die dauerhafte Materialität des Tafelbildes

Das bildmächtige Triptychon wird als Raum-Installation in die Architektur der Halle eingefügt. Auch das mit dem Komponisten Wolfgang Hufschmidt erarbeitete RUHRWERK wird in einem Projektionsraum zu sehen und in der Ausstellung zu hören sein.

schichtig gestalteten, immateriellen Film-/ Video-Einzelbilder Pinselstrich um Pinselstrich in eine reale Tafelbild-Existenz überführt und inhaltlich wie formal noch weiter verdichtet. Gleichzeitig werden sie in der Montage aus dem linearen Fluss der FilmZeit und der ausformulierten Film-Erzäh-

31


32


33


lung herausgelöst und in eine zeitunabhängige, fortwährende Gegenwart still gestellt. Die einzelnen Bildmotive folgen, ihrem Ursprung als Filmkameraeinstellungen entsprechend, der Bewegung der Handlung und drängen dabei im Unterschied zu fotografischen Abbildungen über den Bildausschnitt hinaus. In der Tafelbildmontage nehmen sie mit den danebenstehenden, aber auch mit darüber-, darunter- oder weiter entfernt montierten Bildern Kontakt auf. So entstehen formale und inhaltliche Bezüge und Verbindungen, die jeder Betrachter, seiner persönlichen Resonanz und Assoziation folgend, entdecken und darin eigene Erlebnisse und Erzählungen einweben kann. Mehrteilige Bildmontagen spielten auch in Armbrusters multimedialen BühnenInstallationen eine wesentliche Rolle, bei denen er mit Choreographen wie Pina Bausch, Bühnenregisseuren wie Ruth Berghaus und Hansgünther Heyme und Komponisten wie Wolfgang Hufschmidt, Nikolaus A. Huber und Gerhard Stäbler zusammenarbeitete. Trotz eines komplexen theoretischen und konzeptionellen Hintergrundes kommt Armbrusters erstes Tafelbildmontage-Projekt sehr einfach und bescheiden aus dem Atelier. Dem Leben, Arbeiten, existenziellen und oft vergeblichen Kämpfen der Menschen im Ruhrgebiet gewidmet, in Anteil nehmender, fast demütiger Haltung Schicht um Schicht sehr sorgfältig gemalt und jedem, auch dem Laien, in seinem malerischen und erzählerischen Reichtum unmittelbar zugänglich. Drei Konzerte in der Ausstellung (am 14. April, 19. und 27. Mai 2011, jeweils um 20.00 Uhr), darunter eine Uraufführung aus Wolfgang Hufschmidts Zyklus „Engel der Geschichte“, machen diese für das Welterbe wie geschaffene Malerei-Inszenierung zum Erlebnis eines Gesamtkunstwerkes. DIE STÄDTE SIND FÜR DICH GEBAUT Tafelbildmontage von Klaus Armbruster 14. April bis 27. Mai 2011 Welterbe Zollverein, Halle 5, Schacht XII [A5] Gelsenkirchener Str. 181 – 45309 Essen Öffnungszeiten: Di bis Do 12.00 Uhr bis 18.00 Uhr, Fr bis So 11.00 Uhr bis 20.00 Uhr Weitere Informationen unter Tel. 0201-246810 und im Internet unter www.zollverein.de Redaktion Frank Becker

34


35


Wo man ankommt wenn man über die Altersgrenze spaziert

Johanna Hilbrandt geboren 19. Dezember 1950 in Lahr, verheiratet, zwei Kinder 1973 – 1984 Lehrtätigkeit an einer Förderschule in Baden-Württemberg Tätigkeit im parlamentarischen Beratungsdienst im Landtag von Baden-Württemberg 1986 – 1989 Lehrtätigkeit an verschiedenen Schulen in Niedersachsen 10/2010 Studium im Masterstudiengang Literarisches Schreiben an der IB Hochschule Berlin-Stuttgart

36

Charlottenburg ist ein bürgerlicher Bezirk im Westen der Hauptstadt. Ehemals königliche Residenz, war der Ort zu dieser Zeit bekannt für das Vergnügungslokal FLORA, wo, zur Belustigung des Berliner Publikums, anthropologische Ausstellungen stattfanden. In der FLORA wurden Angehörige fremder Völker in möglichst naturgetreuer Kulisse präsentiert. So ist in der Ortschronik eine Kalmücken- und Irokesen – Schau unter dem Titel „WildAfrika“ dokumentiert. Obwohl in den Medien enthemmender Unterhaltung alle möglichen freak shows gezeigt werden, verbietet sich doch heute die Reproduktion kolonialer Blickverhältnisse. Dass es aber in Charlottenburg noch immer Schauplätze

der besonderen Art gibt, erfahre ich auf dem Weg durch eine Grünanlage. Es ist einer der ersten, schon an den Sommer erinnernden Frühlingstage, als ich auf der Suche nach Ruhe und Ordnung zum Lietzensee spaziere, einem Gewässer mit Park nicht weit vom Schloss. Keine Bolz-, keine Bier-, keine Kindergärten und wenn ich Glück habe, entdecke ich hier einen Fleck ohne Hunde. Es gibt Dinge im Alltag, die verhindern, dass Städte auseinander fallen. Dazu gehören Parks. Es sind stabile verlässliche Flächen. In einem Park zu spazieren scheint mir ein wirksames Mittel gegen die Reizüberflutung in der Hauptstadt, deren schiere Größe mich als Neubewohnerin überfordert. Die Ein-


heimischen gewinnen Abstand mit dem Rückzug in die Datsche; ich folge dem Rat Robert Walsers, der in das „obrigkeitliche Ohr“ seines Steuerbeamten spricht, um das fortlaufende Spazierengehen zu erklären: „Ohne Spazieren wäre ich tot. Auf weitschweifigem Spaziergang fallen mir tausend brauchbare Gedanken ein. Ein Spaziergang tröstet, freut, erquickt mich, ist mir ein Genuss, hat aber zugleich die Eigenschaft, dass er mich spornt und zu fernerem Schaffen reizt, indem er mir zahlreiche mehr oder minder bedeutende Gegenständlichkeiten darbietet. Jeder Spaziergang ist voll von sehenswerten, fühlenswerten Erscheinungen. Von Gebilden, lebendigen Gedichten, anziehenden Dingen, die sich reiz- und anmutvoll vor den Sinnen und Augen des aufmerksamen Spaziergängers öffnen.“ Mit diesem „edlen Gedanken des Spazierganges“ im Kopf setze ich mich auf eine Bank vor dem Teich mit der Aufschrift: Voll daneben das Leben und lasse mich von nutzlosen Gefühlen überfallen, als mein Blick auf ein Hinweisschild knallt und - von dessen Inschrift benommen - irritiert zurückweicht. Was ihn verstört ist das Paradoxon auf einer Tafel, aufgestellt von einem Verein ‚Lebenskunst` mit folgender Beschriftung: Senioren- Spielplatz Litzenseepark, Vital in Deutschland (vid), Deutscher Spielraum – Preis 2009. Darunter, als Gebot adressiert an die herkömmlichen Benutzer eines Spielplatzes: Aktionsspielplatz ab 60 Jahre. Nun weiß ich, seit der Philosoph Sloterdijk seine Regeln für den Menschenpark aufgestellt hat, dass Menschen „sich selbst hegende, selbst hütende Wesen sind, die – wo auch immer sie leben – einen Parkraum um sich erzeugen. In Stadtparks, Nationalparks, Kantonalparks, Ökoparks – überall müssen Menschen sich eine Meinung darüber bilden, wie ihre Selbsterhaltung zu regeln sei.“ Hier im Lietzenseepark geschieht sie zum Nulltarif, wie das amtliche Schild, das sich am Eingang der Anlage für die politischen Fördermittel bedankt, vermerkt. Es prahlt mit der Aufschrift: Fit zum Nulltarif ! SENIOREN – SPIELPLATZ ? Wo bin ich? Alogische Räume, fiktionale Gespinste, fremde Welten?! Paradox sind Phänomene, die einen Widerspruch in sich enthalten, dem menschlichen Verstand widersprechen. Auf diesem Platz

sollen also alle, die sechzig und drüber sind spielen dürfen. Ich überlege, noch sieben Monate, bis ich mitspielen darf und in den Gedanken drängen sich die Bilder von Eimer, Schaufel, Sand und Förmchen. Gereizt von dieser Vorstellung dämpfe ich jedoch meinen Ingrimm mit Robert Walser, der mich ermahnt „höchst aufmerksam und liebevoll jedes kleinste Ding...ob hoch oder niedrig, ernst oder lustig zu studieren und zu betrachten.“ Ich soll, so trägt er mir auf, meinen „Blick überallhin schweifen, herumstreifen“ lassen und meine eigenen Klagen gering achten oder völlig vergessen. Geht aber nicht! Ich stehe vor dem Schild und ärgere mich. Was empört mich? Das Schild, das Wort, die Anlage? Der Blick auf eine Spielwiese ist mir unter gewöhnlichen Umständen sehr angenehm. Hier aber sind es die Umstände, die vor der Wiese stehende Tafel mit den hüpfenden Buchstaben und die auf der Wiese platzierten Gerätschaften mit ihrem Bedienungspersonal, um die sich meine Empfindungen erregt bewegen. Sie müssen sich bewegen, denn so fordert es die Aufschrift: AKTIONSSPIELPLATZ! Der Zorn beim Anblick des Spielplatzes fährt in meine Muskeln und mein Fuß wird zu einem Produkt aus Kraft und Dauer. Ich trete zu. Es geschieht mir und hätte ich den Mut der alten Berliner Stadtindianer und die Fitness, die der Platz vorzugeben verspricht, würde ich das Licht der Öffentlichkeit nicht scheuen und das Schild jetzt sofort umhauen. Spielplätze sind Freiräume zum Spielen. Kinder lernen dort geschützt das Hineinwachsen in die Welt. Sie erleben ihren Körper und erwerben motorische Fähigkeiten. Auf dem Spielplatz machen sie die ersten Erfahrungen mit elementaren Naturgesetzen und entwickeln sich im Spiel mit anderen Kindern zu sozialen Wesen. Sie verrichten dort wichtige Tätigkeiten wie Klettern, Krabbeln, Buddeln, Rutschen und Bauen. Und nicht zuletzt ermöglichen Spielplätze den Eltern eine kurze Pause, in dem sie ihre Kinder für eine gewisse Zeit in dieses geschlossene Terrarium stecken und sicher sein können, es dort meist unbeschädigt, wenn auch nicht sauber wieder raus zu holen War es der Notschrei einer fitnesssüchtigen Gesellschaft? oder was hat die Berliner Kommunalverwaltung dazu angeregt für ihre beschäftigungslosen und bewegungsscheu-

en Mitbürger über sechzig diese Spielwiese anzulegen? Auf dem eingezäunten Gelände stehen überall abstrakte, rätselhafte Objekte. Zur Interaktion mit diesen sehen sich ältere Mitbürger veranlasst, gekleidet in Funktionslaufhose, Fleece Weste und BaseCap. Obwohl die Bewegungs – und Wahrnehmungsentwicklung in diesem Alter längst abgeschlossen ist, drücken sie ihre Füße gegen Federwiderstände, bewegen Stangen, kreisen auf dem Stehkarrussell, balancieren auf der Pendelscheibe und bemühen sich so, den Kindern die Illusion zu nehmen, es sei ihr Spielplatz. Diese verstehen zwar nicht, warum das Happy Big Wheel nur für den Opa sein soll, überlassen es ihm aber großzügig und erobern die Seniorenschaukel. Um die Bewegungen richtig ausführen zu können, beschreiben die Infoschilder altersgerechte Übungen und sind mit dem Hinweis versehen: „ Führen Sie ein Vorgespräch mit ihrem Hausarzt, bevor sie sich an die Geräte trauen.“ Hallo? Habe ich was verpasst? Gibt es ergänzend zum Kinderfördergesetz ein Altenfördergesetz mit dem Inhalt Ausbau von Fitnessangeboten für Übersechzigjährige? Sind hier Baumaßnahmen beschlossen, die den Körper, dessen Markenzeichen der Verfall ist, durch permanente Vollbeschäftigung in einem Menschenpark am Altern hindern sollen? Das Konzept GIRO VITALE, das der Gerätehersteller play fit gemeinsam mit Ingenieuren entwickelt hat, entstand nach einer China Reise der Firmeninhaberin. Dort sah sie viele Menschen, die sich morgens in den Parks der Städte trafen, um gemeinsam rituelle Bewegungen auszuführen, die auch als „Schattenboxen“ bekannt sind. Nach dem chinesischen Glauben verspricht Tai Chi dem Übenden die Geschmeidigkeit eines Kindes. Unter dem Motto: 50 + Eine Generation fordert einen neuen Ansatz - möbliert play fit öffentliche Anlagen mit Balancebalken, Pendelbrettern, Schaukeln, Wippen u.v.m. für einen Preis in der Spanne von 25000 bis 430000 Euro. „Wir bieten Ihnen an frischer Luft in Park-Atmosphäre die Möglichkeit einer kleinen Radtour, aber in bequemer Sitzhaltung, ohne auf das entspannte Gespräch zu verzichten. Ohne großen Aufwand trainieren Sie an den Geräten Bewegungsabläufe, Muskulatur, Kondition, Gleichgewicht. Im ‚Twister’ lassen Sie schwungvoll Ihre Hüfte Kreisen“.

37


An dieser Stelle müsste die ‚Machtfrage’ gestellt werden: Welche Mächte prägen den öffentlichen Raum und welche Bedeutung hat er für die eigene Identität? Diese Fragen aber bringen mich von den Dingen ab, die ich vor mir sehe, und so lasse ich sie fallen. „Je kürzer die Zeit, die mir zu leben verbleibt, desto tiefer und reicher muss ich sie gestalten“ trägt uns Montaigne auf. Meint er Spielzeit im Aktiv-Park, um dort die Reste von Agilität zu demonstrieren? Ich behaupte, dass jedes Alter die ihm gemäße Bewegungsgestalt hat, ein Bewegungsverhalten, das sich in seine Erscheinungsweise fügt: Ein Baby strampelt, Kinder hüpfen, springen, Jugendliche schleppen ihren Körper mit sich herum wie eine voll gestopfte Alditüte und idealtypisch geht ein Erwachsener möglichst aufrecht und gerade bei gleichzeitiger Gelöstheit. Da der Körper eine vom Leben bearbeitete Masse ist, weist er im Laufe der Jahre Beschädigungen auf oder wie Montaigne in seinem letzten Essai sinniert: „An einer schadhaften Stelle zu kranken ist normal für Gebäude dieses Alters.“ Die Beeinträchtigungen am Körper – Bau verändern auch die Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten eines Menschen. Sein Gang ist weniger dynamisch, die Schultern hängen, der Rücken ist gebeugt, die Bewegungen langsamer. Jetzt soll also so ein gut abgehangener Schöngeist auf den Spielplatz, um sich dort zu rühren. Er soll wippen, schaukeln, balancieren, hüpfen, schwingen und mit kindischem Gebaren aus sich eine lächerliche Erscheinung machen. Die peinliche Zurschaustellung eines alternden Körpers in grotesken Positionen macht aus seinem Inhaber eine komische Figur. Der Anblick eines zappelnden Seniors lässt ihn würdelos erscheinen. Ist dieses Bild beabsichtigt? Oder steckt hinter der ganzen Aktion das schwungvolle Bemühen unserer Gesundheitspolitiker den Verfall der Kosten verursachenden Körpers aufzuhalten? Ich beginne mich in den wirren Gedanken anderer zu verfangen. Alte, eine Population, die für ein Bündel schwerwiegender, ökonomischer, sozialer und ethischer Probleme steht, Bewohner einer kauzigen Welt, die Schrecken und Abwehrreflexe auslöst, werden mit GIRO VITALE in die Pflicht genommen. Damit sie sich nicht störrisch verweigern, lockt

38

man sie mit Schmeicheleien und bastelt an der Kreation einer neuen Sozialfigur den „jungen Alten“. Eine vitale, dynamische, aktive, je nach Einkommen konsumfreudige und daher wirtschaftlich interessante Gruppe, die wegen ihrer zunehmenden Größe für Politiker und Gesundheitsökonomen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Diese „jungen Alten“ sind die primäre Zielgruppe von gesundheitspolitischen Präventionsprogrammen, die einen wichtigen Baustein für „kompetentes Altern“ bilden. Das Krisenszenario einer drohenden Überalterung, das die Alten zu einer, das soziale System strapazierenden, Problemgruppe macht und die regelmäßige Konfrontation mit entsprechenden Bildern und Debatten bleiben nicht ohne Folgen. Es drängt die ‚jungen Alten’ zu vielfältigen Praktiken der Arbeit am Körper: Sport, Diät, Kosmetik, physiologische Eingriffe, Gehirnjogging. Alter ist ein Virus, dem nur mit rigider Körper- und Bedürfniskontrolle beizukommen ist. Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit, Siechtum fungieren als Negativvision vom Leben im Alter, die eine biotechnologische Abhilfe nachgerade zur moralischen Pflicht erhebt. Der alternde Körper wird als Baustelle gesehen für deren Zustand man selbst Verantwortung zu tragen hat. Trainieren Sie! Unterstützende Bausteine liefert eine gesamtgesellschaftliche anti-ageing-Strategie. In Turnhallen, Fitness-Studios, Sportparks und auf „Aktionsspielplätzen“ sollen die Individuen für den kollektiven Kampf gegen die alternde Gesellschaft mobilisiert werden. Dort wird das korporale Kapital bearbeitet, um erfolgreich – nämlich gar nicht – zu altern. Dieser inszenierte Diskurs behauptet, dass es kein Alter gibt, sondern nur ein den Ideen des einzelnen überlassenes Gestaltungsprojekt. Der Provokation des Menschen durch das Unumgängliche – das Altern – das zugleich das Nichtbewältigbare scheint, stellt sich seit Jahren die Sport – bzw. Biomedizin. Ausgehend von einem Verständnis des Alterns als „behandelbare, molekularbiologische Metakrankheit“ entwirft sie ein medizinisches Programm zur ‚Maximierung der Physiologie’ alternder Körper. Schauen wir uns um! Alte werden als erstes durch ihre Körper bzw. bestimmte, sinnlich wahrnehmbare körperliche Zeichen identifiziert: Welke Haut, verknitterte Züge, blasse Augen, müder Blick, brüchige Stimme, eingesunkener Brustkorb, unsicherer Gang. Friederike

Mayröcker schaut an einem Geburtstag erbarmungslos auf ihren Körper und beklagt: „nämlich dass hineingegriffen worden war in dieses Gesicht, in dieses mein Altersgesicht, ich glaube die Zeit habe hineingegriffen und ihre Spuren in ihm zurückgelassen, die düsteren Nischen der eingesunkenen Augen, die schlaffen Wangen: senile Bäckchen: Beutelchen eines Kleinkindes, aber heruntergerutscht in die untere Hälfte des Gesichtes, greisenhaft, hässlich, clownesk, die vertrackten Nervenbahnen, die gemergelten Füße, der faltenverschnürte Leib.“ Schauen wir uns um! Wo sehen wir das so gezeichnete Alter? Der junge Körper, der zugleich als Idealbild des Körpers kodiert ist, wird zur Norm erhoben und ist überall, wo es etwas zu verkaufen gibt präsent. Der alternde Körper dagegen wird als problematisch wahrgenommen, er ist ein außer - ordentlicher Körper, der aus dem Rahmen fällt und als solcher eine ästhetische Zumutung. Bei Medizinern weckt er das Reparaturbedürfnis, bei Angehörigen Überforderungs – oder Abschiebungsgedanken und bei Gesundheitspolitikern Vernichtungsimpulse. Der alte, hinfällige Körper ist nahezu unsichtbar faktisch und medial. Man sehe sich dazu die in der kommerziellen Werbung genutzte Darstellung von Alter an, z.B. die Werbeanzeige des Schweizer Uhrenfabrikanten Patek Philippe, 2009, aus der Serie „Timeless Portraits“, wo ein smarter Eidgenosse um die 50+ mit vollem Haupthaar und faltenlos dem Sohn seinen Chronometer und demnächst die Firma vererbt. Hat also die Biomedizin ihr Programm erfolgreich umgesetzt? Oder hat der auf sich selbst gerichtete Blick die Alten so verstört, dass sie sich vor der Welt verbergen? In einem seiner fotografisch inspirierten „snapshots“ Selbstbildnis im Supermarkt beschreibt Rolf Dieter Brinkmann wie eine solche Begegnung verlaufen sein könnte: In einer großen Fensterscheibe des Supermarkts komme ich mir selbst entgegen, wie ich bin. Der Schlag, der trifft, ist nicht der erwartete Schlag aber der Schlag trifft mich trotzdem. Und ich geh weiter bis ich vor einer kahlen Wand steh und nicht weiter weiß. Gerade der Blick auf sich selbst ist der grausame, weil es der Blick der anderen ist. Wir sehen uns mit den Augen der anderen. Wenn also das Alter nahezu unsichtbar ist, wenn das Bekannte in etwas absichtlich Verborgenes verwandelt wird, etwas Öffentli-


ches in etwas Nicht-Öffentliches, ist es dann ein Geheimnis? Eine Heimlichkeit aufs beste ge- und behütet in Seniorenanlagen, Seniorenresidenzen, oder Domizilen für Senioren, wie KURSANA, einer Tochter der DUSSMANN-GRUPPE ihre Einrichtung nennt. Natürlich heißt heute kein Haus für die Alten mehr Altenheim. Dieser Begriff klingt nach Abschiebehaft und ist Angst besetzt. Er erregt Schauder und sofort fallen jedem Gruselgeschichten ein, die man gelesen hat. Ich würde – bei Seite gesprochen - mein Alter von der DUSSMANN - Gruppe managen lassen, denn die sind Management-Profis, die neben Energie, Sicherheit, Gebäude, Büros, Catering auch noch Kultur managen und demnächst vielleicht Seniorensiedlungen mit integrierten Entsorgungsparks, wo die Jungalten vom Seniorenspielplatz - inzwischen zu Altalten geworden – als endzeitliche Pflegeobjekte auf dem Rasen – über kurz oder lang – unterm Rasen Platz nehmen. Die Anti-Aging-Religion hat das Alter zu einem Mysterium gemacht. Sie, die lautstark das gesunde, positive, fröhliche, im Erscheinungsbild schöne Dasein propagiert, lässt die Körpervielfalt nicht mehr zu. Die ungebrochene Idealisierung von Jugendlichkeit und Schönheit bewirkt die Ausgrenzung des alternden und sterblichen Körpers. Während der asketische oder technisch (auf)gerüstete Körper so seine ästhetisch-erotisch Attraktivität maximiert und an das tradierte Ideal der klassischen

Skulptur erinnert, erscheint der ‚gebrechliche Mensch’ aufgrund seines Alters, seiner Behinderung, seiner chronischen Erkrankung „als verkörperte Negation der Normen physischer und psychischer Fitness, Jugendlichkeit und Schönheit“ so problematisiert der Rehabilitationswissenschaftler Markus Dederich diese Sicht auf das Alter. Altern wird nach dem Verständnis dieser Religion nicht mehr als natürlicher Prozess betrachtet sondern als ein nichtwünschenswerter Zustand des menschlichen Lebens, den es zu vermeiden gilt. Die Anti-Aging-Religion stellt mich vor ihr höchstes Gericht und meine Körperteile sagen gegen mich aus. Ein Albtraum gegen den nur die Nervenkekse der Hildegard von Bingen helfen. Ich trage sie immer bei mir, wenn ich spazieren gehe. Sie enthalten 50 Gramm Muskat, das in dieser Menge halluzinogen wirkt. Auf Spaziergängen beschäftigen mich immer allerlei Gedanken und weil es heute kaum noch eine Debattenkultur gibt, spreche ich beim Spazierengehen mit mir selbst – auch eine Marotte des Alters. Früher konnte man jederzeit einen diskutierfreudigen Kreis zusammen trommeln, der ein hingeworfenes Thema mit Gedanken bombardierte, heute….das ist ein weites Feld, über das ich jetzt nicht mit Fontane spaziere. Beim Spazierengehen halte ich mich an Robert Walser. Der geht spazieren, währenddessen ihn „allerlei Gedanken stark beschäftigen, weil sich beim Spazieren Einfälle, Lichtblitze und Blitzlich-

ter ganz von selbst einmengen und einfinden um sorgsam verarbeitet zu werden“. Man muss dem Blitzlichtgewitter standhalten, das sich im Kopf entlädt, während man über die Altersgrenze geht. Der Gang über Grenzen kann riskant sein. Man weiß nicht, was einen jenseits der Grenze erwartet und die Quälgeister, die man diesseits der Grenze zurückgelassen hat, können einem auch jenseits davon wieder auflauern. Eine Grenze bedeutet Trennung, Ausschluss, Ende. Über die Altersgrenze zu gehen, ist kein Spaziergang, auch wenn das Flanieren im Park den Anschein hat. Zur Vorbereitung empfehle ich: Warm anziehen! Nervenkekse! Und gutes Schuhwerk mit Stahlkappen, wegen der Schilder! Literatur Aristoteles: De anima (II 3, 414b4-6), S.29) Bovenschen Silvia: Älter werden, 2006 Dederich Markus, Zur medialen repräsentation alter behinderter Körper in der Gegenwart, in : Mehlmann Sabine, Ruby Sigrid « Für Dein Alter siehst Du gut aus ! », 20010 De Montaigne, Michel: Essais De Montaigne, Michel: Letzter Essai, Von der Erfahrung Kursbuch 151, Das Alter, 2003 Mayröcker, Friederike: Und ich schüttelte einen Liebling, 2005 Walser, Robert: Der Spaziergang, 1978

39


Literatur in hochwertiger graphischer Gestaltung Der Wuppertaler Verlag Edition 52 hat das Genre der Graphic Novel zur Hochblüte gebracht

Schon lange bevor große Buchverlage auf den mittlerweile unaufhaltsam rollenden Zug aufgesprungen sind, nämlich vor bereits 15 Jahren, haben der Sozialwissenschaftler Uwe Garske und der Buchhändler Thomas Schützinger mit der Gründung ihres Verlages „Edition 52“ die Bedeutung des Genres der Graphic Novel erkannt, einen entscheidenden Schritt in einen neues Kapitel der Literatur gemacht und damit anderen die später kamen, den Weg geebnet. Zitieren wir aus einem Faltblatt, das von einer Interessengemeinschaft der Verlage Edition 52, Avant-Verlag, Reprodukt, Carlsen und Fischer herausgegeben wurde, um dem Publikum das neue Medi-

Ully Arndt, Cartoons aus dem Playboy-Magazin

40

um näherzubringen: „Graphic Novels sind Comics mit Themen, die sich nicht mehr nur an Kinder und Jugendliche, sondern an erwachsene Leser richten. (…) Erzählt wird eine Geschichte mit Bildern, die zu Sequenzen angeordnet sind. Den Themen sind wie im Film, der Literatur und dem Theater keine Grenzen gesetzt. (…)“ Und es ist in der Tat so, daß die Themenpalette unerschöpflich ist, da der Zeichner der Graphic Novel nicht der Beschränkung auf einzig effektvoll lustige Plots unterliegt, sondern graphisch und technisch höchst anspruchsvoll Literatur umsetzt, die durchaus ernste und literarisch seriöse Stoffe aus Geschichte und Alltag, Poesie und Musik aufgreift. Mit beachtlichen 70 Titeln unterschied-


„Wut im Bauch“ und „Elende Helden“, von Baru, sozialkritisch graphische Erzählungen, die in Frankreich mehrfach prämiert wurden, gehören ebenso zum Verlagsprogramm wie „Ausgetrickst“ von Alex Robinson, der bei den Harvey Awards 2006 den Preis als bestes Album / „Best Graphic Novel“ erhielt, Rich Koslowskis mysteriöse Story „The King“ und das grandiose Highlight „Wimbledon Green“ von Seth. Auch die Werke von Joe Matt (Peepshow) und Michel Rabagliati (Pauls Ferienjob) werden in der Edition 52 verlegt, eine Auswahl also, die sich durchaus mit internationalen Konkurrenten messen kann. Comics, Graphic Novels und Portfolios deutscher Künstler wie Ulf K. (Silence, Floralia, Sternennächte, Hieronymus B.), Reinhard Kleist (Johnny Cash, Luxus-Edition), Boris Kiselicki, Uli Oesterle (Der halbautomatische Wahnsinn, Frass), Calle Claus (Findrella), Tim Dinter, Frank Schmolke (Die Schuld von Moby Dick), Ully Arndt (Playboy-Cartoons), Jule K. (Cherry Blossom Girl, Love Rehab) - um nur einige zu nennen – haben ebenfalls eine Heimat bei der Edition 52 gefunden.

Rich Koslowski „The King“ lichster Inhalte in höchster Qualität und von namhaften Zeichnern hat die Edition 52 mittlerweile ein Programm aufgelegt, das den Verlag in die Spitzengruppe des Genres stellt. Uwe Garske: „Wir veröffentlichen ambitionierte ComicRomane von anerkannten Autoren wie z.B. Seth, Jeff Lemire (Geschichten vom Land) oder Jamiri (Arsenic Album, Kamikaze d´Amour) und möchten daneben begabte Autoren/Zeichner fördern.“ Die Edition 52 publiziert gleichermaßen deutsche wie internationale Zeichner und Autoren, die mit besonderem künstlerischem Anspruch an ihre graphische und literarische Arbeit herangehen. „Mo-

derne Autoren-Comics, Graphic Novels mit internationalem Renommee und verschiedenster Herkunft finden bei uns eine publizistische Heimat“. Hierzu zählen u.a. die Künstler der „Nouvelle Ligne Claire“ - ein Schwerpunkt der Edition 52, „deren Autoren wir auch zukünftig bevorzugt mitpublizieren werden.“ Daniel Torres (Der dunkle Wald), der Poet unter den Zeichnern und GeschichtenErzählern Ulf K., Joost Swarte oder beispielsweise auch Jean Claude Floc´h sind neben den bereits oben Genannten Künstler, die international eine hohe Reputation haben und als Vertreter einer „modernen“ Ligne Claire international sehr bewundert werden.

Wer bislang vielleicht etwas geringschätzig die Stirn gerunzelt hat, wenn das Gespräch auf den Begriff „Comics“ kam, wird umdenken müssen. Hier ist ein anspruchsvolles neuen Medium entstanden, das vielleicht sogar in der Lage sein wird, die leseunlustig gewordene junge Generation mit den Mitteln des brillant gezeichneten Comics, besser und richtiger: der Graphic Novel wieder an die Literatur heranzuführen. Denken wir nur daran, daß es etwas verwandtes auch schon vor über 50 Jahren gegeben hat, die „Illustrierten Klassiker“ die von 1956–1972 vor allem der Jugend literarische, historische und populäre Stoffe vermittelten. So wie sie sich bewährt haben, wird auch die Graphic Novel ihren festen Platz erobern – und dank der besseren beteiligten Künstler ihn auch über die Zeitläufe behaupten.

41


Silence Ulf K. macht die Stille sichtbar

Die zehn verzauberten und bezaubernden Szenen zeigen berührende Momente der Stille, die Sprachlosigkeit eines zerstrittenen Paares, die Zufriedenheit im Einklang mit sich selbst, die leise, tiefe Trauer, zarte Mutterliebe, den Kummer des Unverstandenen, die Behaglichkeit des Heims mit Buch und Katze oder einem Goldfischglas und die Erfüllung in körperlicher Liebe. Ulf K. versteht die in grau-oliv weich abgetönten Schwarz-Weiß-Kontrasten gezeichneten Situationen mit einer Form von Stille auszustatten, die man glaubt mit den Fingerspitzen fühlen, beim Atmen einsaugen, ja sogar hören zu können. Die Faszination, die den Betrachter einfängt, wiederholt sich Mal um Mal. Die Stimmungen der Bilder stecken an. Mit sensiblem Gefühl für den Moment, den leisen Augenblick läßt Ulf K. uns an intimsten Situationen teilnehmen. Edition 52 Hofaue 55, 42103 Wuppertal Kontakt: Tel. 0202-735772 und info@Edition52.de Web-Seite: www.Edition52.de Weitere interessante Web-Seiten sind: www.fantagraphics.com www.grafik-novel.info Silence 1, 2 und 10 (von oben nach unten)

42

Frank Becker

Andreas Niemeyer WP/StB

Thomas Pintzke StB

Katrin Schoenian WP/StB

Dr. Jörg Steckhan RA/WP/StB

Peter Temmert WP/StB

Anke Jagau RA/StB

Susanne Schäfer StB

Stephan Schmacks StB

VIEL MEHR ALS NUR STEUERN

www.rinke.eu Unternehmensberatung – Steuerberatung – Wirtschaftsprüfung

Selten bekommt man die Gelegenheit, so zarte und aussagekräftige Sujets der Stille zu sehen, wie sie der in Oberhausen geborene und jetzt in Düsseldorf lebende Zeichner und Cartoonist Ulf K. für sein Portfolio „Silence“ geschaffen hat. Aus dem Jahr 2001, also seiner Pariser Zeit stammend, sind die 10+1 auf feinem 240 Gramm Papier Rivoli exzellent gedruckten Blätter im Format 12,4 x 16,4 cm eine Delikatesse, zeichnerisch wie drucktechnisch. 444 Exemplare, begleitet von einem Büchlein gleichen Formats und Inhalts und in eine gediegene Schachtel gelegt, brachte der spezialisierte Pariser Verlag Éditions Le 9ème Monde damals in den Verkauf. Die Schachtel trägt auf dem Deckel eine Vignette von Ulf K., die als Deckblatt des Portfolio wiederkehrt.

Peter Krämer WP/StB

RINKE TREUHAND GmbH Wirtschaftsprüfungs-/Steuerberatungsgesellschaft Wall 39 – 42103 Wuppertal – 0202 2496-0

Ulf K.’s „Silence“ gehört zum Berührendsten, was mir je in die Finger gekommen und mir intensiv unter die Haut gegangen ist.


Höflichkeit Ich bin der höflichste Mensch von der Welt. Ich tue mir was darauf zu Gute, niemals grob gewesen zu sein auf dieser Erde (1). Wer könnte dies heute noch uneingeschränkt von sich behaupten wie Heinrich Heine zu Beginn seiner Schilderung einer Italienreise im Jahr 1828? Ja, wer empfände es noch als erstrebenswert, gar als ein Ideal, dies von sich sagen zu können? Das liegt nicht nur am historischen Abstand. Die Gesellschaft, in der Höflichkeit ein Wert selbstverständlicher Verbindlichkeit war, gibt es nicht mehr. Daraus zu schließen, Höflichkeit sei gesellschaftlich bedeutungslos geworden, hieße, die Grundbedingungen jedes gesellschaftlichen Lebens verkennen. Ihre Beziehung zur Höflichkeit und deren Geltung in ihr, sind vielmehr ein Zeichen dafür, wie gut oder schlecht eine gegebene Gesellschaft ihre elementaren menschlichen Pflichten erfüllt. Eine Gesellschaft, die Höflichkeit nicht mehr kennen wollte, wäre eine, die es aufgegeben hätte, eine menschliche sein zu wollen. Bei Hofe ging es grob zu, aber nach feinen Regeln. Sie hatten die tatsächlichen Feindschaften hinter der Maske des Höflings zu verstecken. Die offenen zu verbergen, und die verborgenen verborgen zu halten. Das gesprochene freundliche Wort war Tarnung so sehr wie Puder, Parfum und Perücke. Es verbarg den feindlichen Gedanken. Da der Höfling nicht weiß, wer tatsächlich Freund, wer Feind ist, muß er jeden behandeln, als wäre er Freund, und vor jedem als möglichem Feind auf der Hut sein (2).

Andreas Steffens, Schriftsteller und Philosoph; lebt in Wuppertal; 2009 Träger des SpringmannPreises; 2010 erschienen von ihm im NordPark Verlag „Gerade genug. Essays und Miniaturen“ und „Vorübergehend. Miniaturen zur Weltaufmerksamkeit“. Soeben erschien dort: „Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren“, sowie im Athena-Verlag die kunstphilosophische Studie „Selbst-Bildung. Die Perspektive der Anthropoästhetik“

43


Als Erbe des Höflings, der ein Heuchler sein musste, um zu überleben, blieb Höflichkeit lange ein Synonym für Verstellung. Es dauerte einige Generationen, bis auch die bürgerliche Gesellschaft, die die aristokratische verdrängt hatte, sie als einen eigenen Wert entdeckte, und übernahm. Denn in ihr trat an die Stelle des Kampfes der Höflinge um die Gunst des Fürsten, von der ihre Stellung abhing, die Konkurrenz der Wirtschaftsbürger, deren ökonomischer Erfolg am Markt über ihr gesellschaftliches Sein entschied. Gegenwärtig also bezeichnet das Wort Höflichkeit nicht mehr die courtoisie, oder streng höfische Sitte, sondern die Gewohnheit und Kunst in jeglicher Beziehung von Menschen zu Menschen, im Reden, wie im Handeln, stets den zu treffenden Ton zu finden und anzuschlagen. Ihr sind die Begriffe Behaglichkeit, Unbefangenheit, Behendigkeit, Anstand, Freundlichkeit, Bereitwilligkeit, Dienstwilligkeit, Ehrerbietung und jener allgemeine Ton untergeordnet, welcher alle vorangenannten Eigenschaften, gleich einem musikalischen Grundtone, mit einander verknüpft und harmonisirt. Ihr Prinzip ist stets dasselbe: der gütige, der positive Wille (3). Als der Baron von Rumohr diese Bestimmung 1834 formulierte, gab es noch Höfe, und die sich gerade ausbildende bürgerliche Gesellschaft hatte noch nicht ihre endgültige Form gefunden, die erst mit der Industrialisierung der Ökonomie ausgeprägt werden sollte. Ein spätes Echo jener Fragwürdigkeit des ‚Höfischen’ als Ursprung der Höflichkeit ist das Unbehagen, mit dem man noch heute einen Zeitgenossen als „ausgesucht höflich“ gekennzeichnet findet: als verstecke sich im Lob eine Warnung vor Arroganz und Verstellung, die Unehrlichkeit und Bosheit verhüllen. Der Kleinbürger, zu dem die Nutznießer der Weltwirtschaftsgesellschaft wurden, seitdem der liberale Kapitalismus verschwand, dessen gesellschaftliche Stellung das ökonomische System für ihn festlegt, ohne seinen individuellen Einsatz dabei mehr zu berücksichtigen, darf in ihr nur noch eine unverbindliche Altertümlichkeit sehen: Rentnernostalgie. Niemand wirft einem mehr einen Handschuh vor die Füße, niemand schickt mehr einen Fehdebrief. Die Codes

44

der Auseinandersetzung haben sich nicht nur geändert, sie sind bei gleichzeitiger Abnahme von Subtilität und symbolischer Präzision verborgener geworden, als sie es in den Zeiten einer streng geordneten Gesellschaft waren und sein mußten, da jeder seine klar bestimmte Position, seinen Rang und seine Funktion besaß. Im Zeitalter des universalen Kleinbürgertums, in dem Rang als symbolischer Wert ebenso verloren gegangen ist wie Ehre, gibt es nur noch den einen, auf alles angewandten Wert der ökonomischen Potenz, über die von der eigenen Stellung im Verwertungssystem der monetarisierten Ökonomie entschieden wird: Besitz an, oder Verfügungsgewalt über, Geld weist nun jedem seinen Ort in der Gesellschaft an. Nun wird auch der ‚Wert’ des einzelnen Menschen zum Posten betriebswirtschaftlicher Kosten-NutzenKalkulationen. Nur der, der in einer solchen Kalkulation einen Platz auf der Nutzen-Seite einnimmt, verfügt über gesellschaftlichen Wert. Der ‚menschliche Faktor’ ersetzt den Menschen (4). In der Folge verschwinden die konkreten Menschen. Wer nicht nachweislich Teil einer Bilanzoptimierung ist, dessen Existenz hat keinen gesellschaftlichen Ort mehr: er wird zur Last des Überflüssigen. Der Mensch ist zum Störfaktor der Bereicherungsökonomie geworden. Sie kennt nur noch eine Regel, deren erfolgreiche Befolgung das Recht auf gesellschaftliches Dasein garantiert: setz dich durch, mit allen Mitteln, und erhöhe den Profit dessen, für den du deine Arbeitskraft einsetzen darfst, und verzichte auf deinen Anteil an deren Ertrag. Nichts könnte dazu in größerem Gegensatz stehen als die Grundlage der Höflichkeit: die bedingungslose Anerkennung des Seinsrechts des Anderen. Wer sich höflich verhält, übt Toleranz in der direkten Begegnung mit einem Andersartigen. Höflichkeit als Daseinsanerkennung wird zur Grundlage gesellschaftlichen Miteinanderlebens, wenn sie in allgemeiner Gegenseitigkeit praktiziert wird. Ihr Gegenteil, hat die Gleichgültigkeit zum Wesenskern, deren äußerste Konsequenz das Einverständnis mit dem Nichtsein des Anderen ist: mit seinem Tod. Die Unhöflichkeit ist dem Faustrecht im Bürgerkrieg aller gegen alle so nah, wie die

Höflichkeit dem Recht der zivilisierten Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder das Recht auf Leben gewährleistet. Da alle füreinander ausschließlich Konkurrenten sind, begegnen sie einander unablässig mit heimlichen Schlichen einer informellen Gegnerschaft, die nicht offengelegt werden darf. Das letzte Tabu nach der Enterotisierung der Sexualität in einem allgegenwärtigen Körperkult ist die tatsächliche Unverträglichkeit aller füreinander, deren Beziehungen vom ökonomischen Grundsatz der ausnahmslosen Konkurrenz bestimmt werden. Niemand muß der verborgenen Feindschaft auf Schritt und Tritt so gewärtig sein wie der ‚Parteifreund’, nach dessen Funktionärsposten unablässig mehr Konkurrenten gieren, als er kennen kann, vor deren heimlicher Illoyalität keine gemeinsamen ‚Grundüberzeugungen’, kein Einstehen für eine ‚gemeinsame Sache’ mehr schützen, seit das ‚Gemeinwohl’ zum Spielball des Postenkungelns einer Gemeinheit aller gegen alle zum Zweck der Optimierung des Wohles einiger gegen das der vielen verkam. Die Verweigerung der Höflichkeit, die kalkulierte Geste der Unhöflichkeit ist gleichbedeutend der Erfindung eines Feindes. Der herausfordernde Blick, der Blick, der übersieht, wo gesehen werden sollte, die ironische oder höhnische Bemerkung, das Schweigen, das die schuldige Antwort versagt, die gezielte Ignoranz gegenüber der Leistung aller, die keiner ‚pressuregroup’ angehören, entwerten nicht nur, sondern entwirklichen den, dem sie gelten. Jede Feindschaft ist in ihrem Kern Todfeindschaft: ihr Gegenstand soll nicht sein. Der Feind ist der Andere, der nicht sein soll, weil er das eigene Sein in Frage stellt. Wie sehr die Stimmung in der Gesellschaft der Bereicherungsökonomie unterschwellig von der Sehnsucht nach Feindschaft beherrscht ist, verrät der nicht mehr nur unter Teilnehmern wochenendlicher Management-Seminare beliebte ‚killer’-Instinkt, der zu ‚Führungspositionen’ angeblich besonders geeignet macht. Unhöflichkeit ist die latente Aggression, die auf den Anlaß lauert, hervorzutreten. Sie signalisiert die Bereitschaft zur Feindseligkeit. Sie warnt: sieh dich vor, ich beobachte dich, und warte auf


deinen Fehler, der mir ermöglichen wird, dich offen als den Feind zu behandeln, als den ich dich sehen will. Unhöflichkeit ist Herausforderung zum Konflikt durch den, der davon überzeugt ist, aus ihm als Sieger hervorzugehen. Höflichkeit dagegen ist Freundschaft auf Distanz zwischen Fremden. Auf Gegenseitigkeit geübt, macht sie die gemeinsame Welt für ihre Angehörigen freundlich. Ihre Gesten signalisieren den Verzicht auf Feindseligkeit. Höflichkeit kann nur üben und erfahren, wer den anderen als Person wahrnimmt, und von ihm als Person wahrgenommen wird. In der Gesellschaft des totalen ‚homo oeconomicus’ jedoch darf jeder alle nur noch in ihrer SystemFunktion wahrnehmen. In ihrer Ausdehnung auf alle Lebensbereiche hat die Totalisierung der ökonomischen ‚Werte’ die alte humane Trennung von gesellschaftlichem und privatem Leben aufgehoben. Privatleben wurde tendenziell aozial. Wer auf seiner Privatsphäre besteht, gibt zu erkennen, dass er sich dem Anspruch der totalen Verwertung seiner Person widersetzt. Der medial existierende Mensch ist der öffentliche Mensch, sein Modell der ‚Prominente’, dessen Intimsphäre unablässig veröffentlicht wird. Höflichkeit dagegen ist Achtung für die Sphäre des Privaten, in der einer unabhängig von seiner gesellschaftlichen Funktion sein kann, was er als Person ist. Der höfliche Mensch, der sich nicht nur höflich verhält, sondern höflich ist, nimmt den anderen, mit dem er in Beziehung steht, vor der Blöße seiner Wahrheit in Schutz. Gegenseitig geübt, ist die Höflichkeit eine Rückversicherung gegen Enttarnung unverzichtbarer ‚Lebenslügen’. Die Wahrheit zu verbergen, sie hinter Vorhängen zu halten (5), ist eine Geste der Humanität als gegenseitige Schonung. Der Höfliche übersieht, was

sein Gegenüber in Verlegenheit setzen müsste, würde es bemerkt; der tüchtige Funktionär der totalen Ökonomie nutzt es im allumfassenden, nie ausgesetzten und keine Lebenssituation auslassenden Konkurrenzkampf gezielt für seine Zwecke aus. So verkehrt der Unhöfliche die Aufmerksamkeit, mit der Höflichkeit verwirklicht wird, in ihr Gegenteil. Die Aufmerksamkeit ist keine Regel, die man kennt und einhält oder verletzt; sie gehört zum Fundament der Person. Aufmerksamkeit ist eine Grundhaltung des Menschen der Welt gegenüber. Der Aufmerksame hat sich entschlossen, nicht sich selber, sondern die ihn umgebenden Phänomene zu betrachten, man könnte auch sagen, sich selbst ausschließlich im Spiegel der anderen wahrzunehmen. Er blickt die Menschen, die ihm begegnen, an. Diese Menschen sind ihm wichtig. (…). Nur, dass der Aufmerksame von ihnen nicht profitieren möchte. Seine Aufmerksamkeit ist seine Natur. Es ist wichtig, Menschen zu erkennen, sie haben ein Recht darauf. (…). Der Aufmerksame hat nicht vergessen, wer eine Fischallergie hatte; er wird dem Elternpaar, das Kummer mit seinen Kindern hat, nicht von den Erfolgen der eigenen berichten; er kennt die Stellen im Zimmer, an denen am wenigsten Zug herrscht, und weiß, wen er dorthin platzieren wird (6). Nur dort, wo die Aufmerksamkeit am wichtigsten ist, in der exklusiven Liebesbeziehung, die die Welt ausschließt, gibt es keine Höflichkeit, weil sie verhinderte, ihr größtes Bedürfnis nach größtmöglicher körperlicher Nähe zu befriedigen. Hier kann das grobe Wort die letzte Distanz zum Verschwinden bringen, das im gesellschaftlichen Umgang die Distanz herstellt, die der, dem es gilt, nicht einzuhalten bereit ist. In einer Welt, die durch unablässige Zunahme der Bevölkerung für jeden Einzelnen immer enger wird, muß die

Fähigkeit, sich die anderen im Umgang mit ihnen vom Leib zu halten, wie sie sich in der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft als Selbstbildung des Individuums ausprägte und einen neuen gesellschaftlichen Kodex akzeptierter Umgangsformen entstehen ließ, aufs neue zu einer Grundfähigkeit all derer werden, die sich die Lebensform des Individuums bewahren wollen. Abstand zu halten, wird zum Handgriff einer neuen Kunst gesellschaftlicher Virtuosität, Nähe so zu dosieren, dass sie einen nicht von sich selbst fern rückt, ohne dabei ins Hintertreffen im totalen Konkurrenzspiel zu geraten, dessen Erfolg oder Mißerfolg darüber entscheidet, welche Lebensform man sich leisten kann. Das Verschwinden der Höflichkeit als selbstverständliche Umgangsform signalisiert ein Verblassen des Gemeinsinns, dessen Schwäche nichts anderes ist als eine Erscheinungsform der Lebensschwäche. Aber auch die Lebensklugheit gebietet uns höflich zu sein, und nicht verdrießlich zu schweigen, oder gar Verdrießliches zu erwidern, wenn irgend ein schwammiger Kommerzienrat oder dürrer Käsekrämer sich zu uns setzt, und ein allgemein europäisches Gespräch anfängt mit den Worten: „Es ist heute eine schöne Witterung.“ Man kann nicht wissen, wie man mit einem solchen Philister wieder zusammentrifft, und er kann es uns dann bitter eintränken, dass wir nicht höflich geantwortet: „Die Witterung ist sehr schön.“ (7). Der grenzenlose Egoismus muß diese ‚Lebensklugheit’ verlieren, die auf dem einfachen Bewußtsein der Unmöglichkeit beruht, alleine zu leben. Wer die anderen aus seiner Gesellschaft ausschließt, schließt sich selbst aus der Gesellschaftlichkeit aus, die darauf beruht, dass der Mensch ein Lebewesen der Selbstbehauptung auf Gegenseitigkeit ist.

(1)

Heinrich Heine, Italien (1828), in: ders., Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 3, Ffm-Berlin-Wien 1981, 311-389; 315 Gracian, Balthasar, Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647), dt. von Arthur Schopenhauer, Stuttgart 1978 (3) Carl Friedrich von Rumohr, Schule der Höflichkeit für Alt und Jung, 2 Bde., Stuttgart-Tübingen 1834/35; 51 f.; 53 (4) François Emmanuel, Der Wert des Menschen. Roman, München-Zürich 2002 (5) Andreas Steffens, Hinter Vorhängen oder Von der Wahrheit, in: ders., Gerade genug. Essays und Miniaturen, Wuppertal 2010, 13-18 (6) Asfa-Wossen Asserate, Manieren, Ffm 2003, 39 f. (7) Heine, Italien, 315 (2)

45


Fundsache Na ja, ich bitte Sie! Fahren Sie mal jeden Tag – Wochen, Monate, Jahre, ein halbes Leben, jeden Tag – immer die gleiche Strecke. Gut, da gibt‘s jetzt bei der Schwebebahn nicht viel Auswahl. Wupper rauf Wupper runter. Jedenfalls wär Ihnen auch anders geworden. Ganz anders. Es war: Wupper runter. Wie jeden Tag um die Zeit – und plötzlich – plötzlich ist alles anders! Dieser Handschuh. Der musste einem einfach ins Auge springen. Leuchtend weiß, wie er war. Aber keiner außer mir schien diese Kirschblüte im Ständerwerk bemerkt zu haben. Hoch droben – ich meine, von der Schwebebahn aus natürlich: unten – hoch im Gestängegestakse. Irgendwie anrührend. Hätte Sie auch mitgenommen, der einsame Handschuh. Wie er sich da mit flachen Fingern festklammerte. Mit dreien seiner Finger. Daumen und Zeigefinger hingen schlaff faltig herab und beteiligten sich nicht an der Mühe, diese halsbrecherische Position zu wahren. Wenn‘s nach ihnen gegangen wär, wäre die Reise abwärts in die Wupper einfach fortgesetzt worden. Wurde sie aber nicht. Die drei andern Kollegen Handschuhfinger hatten das Gestänge gut im Griff. Diese irrsinnige, tagelang, wochenlang anhaltende Anstrengung dieser drei verlorenen Handschuhfinger, das war‘s, was mich so schwermütig stimmte. Von nun an wurde ich jeden Tag, an dem ich da vorbeiruckelte, magisch angezogen von diesem flügellahmen weißen Schmetterling da oben und seinem Geheimnis. Stand für mich außer Frage, dass das jungfräuliche Stück einer jungen Dame gehörte. Nein, ich kenne sie nicht. Sie kämmt ihr goldenes Haar, sie kämmt es mit goldenem Kamme und singt ein Lied dabei, das hat eine wundersame, gewaltige Melodei. Ausgeschlossen, dass die bildschöne Besitzerin ihren Handschuh so hoch hätte hinauf werfen können. Bei diesen schmalen Fingern, dieser zierlichen Statur, diesem eleganten Mantel. Und wozu auch? Wozu hätte sie das Ding da rauf katapultieren, das Frieren der einen Hand in Kauf nehmen sollen! Und es war hier auch weit und breit kein Haus, aus dessen Fenster jemand dieses flatterhafte Corpus Delicti hätte pfeffern können. Irgendwann nach Tagen und Tagen des Vorbeifahrens einigte ich mich mit mir – nein nein, nicht weil ich davon total überzeugt Ulrich Land Geboren 1956 in Köln. Freier Autor seit 1987. Romandebüt: „Der Letzte macht das Licht aus“, Münster 2008. Jüngste Romanveröffentlichung: „Einstürzende Gedankengänge“, Münster 2010. Im Übrigen Lyrik, Prosa, Essays und fast hundert Hörspiele und Radiofeatures. Herausgeber von Anthologien und mehrfach von Literaturzeitschriften. Dozent für „creative writing“ an der Uni Witten/Herdecke. Mehrere Auszeichnungen, u. a. Kölner Medienpreis; Hörspiel-Stipendien der Filmstiftung NRW und des nordrheinwestfälischen Kulturministeriums.

Ulrich Land Höhenweg 60 45529 Hattingen Tel.: 02052 / 807 22 Email: ulrichland@gmx.de Web: www.ulrichland.de

46


gewesen wäre, sondern damit ich diese bohrende Frage loswurde, mich freischwimmen konnte aus dem Strudel dieser klaffenden Erklärungslücke – einigte ich mich mit mir darauf, dass diese weiße Fünffingermöwe direkt aus der Schwebebahn zum Sinkflug angesetzt haben musste. Der Schönen in der Schwebe aus der Handtasche gefallen. Oder aus der Manteltasche. Auf dem Boden von unachtsamen Füßen hin- und hergeschoben und schließlich durch die Gummilippen der Wagentür gequetscht – aus den Augen aus dem Sinn. Stimmt, Sie haben recht. Dann hätte der Handschuh nicht in diesem Gestänge landen können, bei dem Winkel, mit dem sich die Ständer schräg unter der Schwebebahn zum Flussufer spreizen, da hätte er nur schnurstracks bei den Fischen landen können. Also muss ihn irgendein jugendlicher Übeltäter der Goldblonden stibitzt und mit kraftvollem Schwung aus dem Handgelenk durch einen der Klappfensterschlitze der Schwebebahn geworfen haben. Ja. So war‘s. Die Frage nach dem Wer, nach dem Namen des armen Opfers interessierte mich nicht im Entferntesten. Mitnichten. Ich hatte sie ohnedies genau vor Augen. Nein, die Frage, die mir jetzt nach der Klärung des Entwendungsdeliktes das Hirn zermarterte, war die, wie sich das Drama weiter gestalten würde. Der traurige Anblick würde sich ja nicht einfach so aufheitern. Im Gegenteil. Jeden Tag, den das schneeweiße Geschöpf in seinem kalten Gestänge Wind und Wetter ausgesetzt war, bedeutete beträchtliche Einbußen an jungfräulicher Reinheit. Wurde Tag für Tag unansehnlicher. Schon nach kurzer Zeit hatte es den Charakter schmuddliger Novembermontagnachmittage angenommen. Fahlgelb, dreckig. Tat einem in der Seele weh. Es musste gehandelt werden. Das werden Sie als Hüter von Recht und Ordnung verstehn! Ich gab der unglücklichen Schönen noch fünf Tage, den verlustig gegangenen Handschuh aus seiner misslichen Lage zu befreien. Als sie auch diese Frist trauernd womöglich, doch tatenlos verstreichen ließ, war meine Stunde gekommen. Nachts um zwei. Ja, sicher. Und zwar nicht weil ich wie ein Strauchdieb die Dunkelheit

gesucht hätte, sondern um Störungen des Schwebebahnbetriebsablaufes einerseits und meines höchste Konzentration erfordernden Unterfangens andererseits vorzubauen. Ich meine, immerhin galt es, die staksigen Ständer in stockfinstrer Nacht aufzuentern. Stirnlampe und Klettersteigausrüstung hatte ich mir beim Alpenverein Sektion Unterbarmen Nordwest ausgeliehen. Aber womit ich nicht gerechnet hatte, dass die Füße sich bei jedem Schritt in den gekreuzten Streben verkanteten. Stechender Schmerz. Können Sie mir glauben, und ich bin nicht grade zimperlich. Aber immerhin, auf meine Hände konnte ich mich verlassen. Klammerten sich so fest um die schräggestellten Streben wie die Finger dieses ehedem so hübschen, gottverlassenen Handschuhs, den ich jetzt – fehlten noch zwölf, sieben, drei Zentimeter – den ich jetzt in Händen hielt! Endlich in Händen hielt. Und jetzt runter damit und rein damit in die Jackeninnentasche, dass das arm weiß Vögelein mit dem einen, dem gefingerten Flügel sofort ins Trockene kommt! Raus aus dem Schmuddel. Ja nein, wusste ich natürlich nicht, nicht zu dem Zeitpunkt, wohin mit dem geborgenen Schatz, wenn ich erst mal zu Hause angelangt sein würde. Jetzt, verdammt, hatte ich erst mal hier runter zu kommen. Ohne mir Nacken und Knochen zu brechen. Bei dem Herzrasen! Das weniger der Angst vorm Abstieg geschuldet war als vielmehr dem Schatz, den ich am Herzen trug und der mir einen Kreislauftaumel nach dem andern durch die Gefäße jagte. Ich kam jedenfalls heil zu Hause an und auch das Objekt, das jetzt unter meinem Schutz, unter meinem persönlichen Schutz stand. Wie weggeblasen das Problem: wohin damit. Ich räumte ein Regalbrett hinter den Glastüren des von alten Küchenschrank meiner Großtante frei und gewährte dem Kleinod auf diese Weise einen staub- und feuchtigkeitssicheren, wiewohl stets einsehbaren Ehrenplatz. Ich war glücklich. Überglücklich. Zusätzlich beseelt von dem Gedanken – das ist auch der Grund, weshalb ich von da an nicht mehr nur zur Arbeit und wieder nach Haus fuhr, sondern auch etliche Stunden meiner durchaus knapp bemesse-

nen Freizeit im ratternden Schwebezustand verbrachte, weshalb ich nicht selten bis Fahrplanende zwischen Oberbarmen und Vohwinkel hin- und herpendelte – zusätzlich beseelt also von der Hoffnung, eines Tages die traumschöne Goldblonde mit der zierlichen Figur unter elegantem Mantel zu treffen! Würde ich sie doch ohne jede Frage sofort an ihrem unruhigen Blick erkennen, mit dem sie die Bänke und den Boden des Schwebebahnwagens abtasten mochte auf der Suchen nach der verlorenen Preziose. Aber sie kommt nicht, sucht nicht, fährt nicht Schwebebahn. Vermutlich will sie den zweiten Handschuh nicht auch noch verlieren. Auch mein Gang zum Fundbüro trug keine Früchte. Erstens hat keine Dame einen weißen Handschuh vermisst gemeldet, und wenn, dann würde man mir zweitens aus Datenschutzgründen keinesfalls die Personalien zur Kenntnis geben. Ja nun, ich meine, ist ja doch sonnenklar, dass mir irgendwann etwas fehlen musste. Setzen Sie sich mal in die Schwebebahn und fahren 15 mal pro Tag rauf und runter, hin und her, kreuz und quer und nirgends, absolut nirgends hängt ein weißer Frauenhandschuh im Gestänge! Da wird man schier verrückt! Kriegt‘s mit der Angst zu tun. Der Horror ausgekochter Inhaltsleere. Das ist wie ein Nichts im Nichts. Ein schwarzes Loch in der Leere der Überfülle. Das ist, als würde man die ganze Zeit bloß nach der Bestätigung dafür suchen, dass einfach nichts da ist, dass in dem ganzen vorbeischwebenden Spektakel nichts ist, was einen aufmerken lässt. Logisch, dass ich da noch mal rauf bin. Wieder zu nachtschlafender Zeit. Den trostlosen Handschuh wieder dahin hängen wollte. Musste. Exakt gleiche Stütze, exakt gleiche Höhe, exakt gleiches Strebenkreuz. Aber, versteht sich, frisch gereinigt, jungfräulich weiß. So. Und jetzt kommen Sie mir nicht und sagen, ich sei vermutlich schon bei den Vorbereitungen der Expedition weniger umsichtig gewesen als bei der Erstbesteigung. Sie und kein anderer trägt die volle Verantwortung dafür, dass mich der Ihrerseits ausgelöste Martinshornschock auf Sturzflug in die flachen Fluten der Wupper schickte und der Handschuh nicht wieder dort oben sitzt und tiriliert. Seine gewaltige Melodei.

47


Neue Kunstbücher Alte Meister Vorgestellt von Thomas Hirsch

Giorgio Vasari, Das Leben des Sandro Botticelli, Filippino Lippi, Cosimo Rosselli und Alesso Baldovinetti, 205 S. mit 25 farb. und 16 s/w-Marginalabb., Broschur, 19 x 12 cm, Wagenbach, 14,90 Euro Ein alter Meister berichtet von den alten Meistern, denjenigen in Italien: Sukzessive bis 2014 veröffentlicht der Wagenbach Verlag die Schilderungen der Renaissancekünstler aus der Feder des italienischen Malers und Kunstschriftstellers Giorgio Vasari. Vasari ist aus der Kunstgeschichtsschreibung nicht wegzudenken, verdanken wir ihm doch erhebliche Einsichten zur Kunst des 14. bis 16. Jahrhunderts in Italien. Giorgio Vasari war selbst respektabler Maler des Cinquecento in Florenz, angesehen vor allem für seine Porträtmalerei, infolgedessen besaß er einen profunden und weitreichenden Einblick in das Metier. Als erste Sammlung von Künstlerviten in Verbindung mit einer Autobiographie gelten zwar die „Commentarii“ (um 1448) von Ghiberti. In der nordischen Renaissance gibt es dazu ein (auch die Antike bedenkendes) Pendant von Carel van Mander (1604) – bedeutender aber sind eben Giorgio Vasaris „Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler und Bildhauer“, die erstmals 1550 im Druck vorlagen. Seine Künstlerportraits widmen sich Meistern aller künstlerischen

48

Gattungen, sie sind überwiegend knapp gefasst, partiell legendenhaft und mitunter von Unkenntnis geprägt, stellen dann wieder Genealogien und Werkstätten klar und gehen auf wichtige Werke ein. Ausgehend von den antiken Tugenden der Mühsal und der Liebe zur Kunst entwirft Vasari hier eine zeitgenössische Vorstellung vom Künstler, der in Askese und Hinwendung den Gipfel der Kunst erklimmt. Mithin haben seine Biographien, so wahr oder unwahr sie waren, bereits in ihrem sprachlichen Duktus die Wahrnehmung der Künstler – und des Mythos vom Künstler – in der Nachwelt geprägt. Zunächst vom Kunsthistorischen Institut der Goethe-Universität Frankfurt/M. und heute vom Kunsthistorischen Institut Florenz erarbeitet, geht der Wagenbach Verlag die Edierung der Schriften von Vasari neu an: ausgehend vom Urtext mit einer ungekürzten Übersetzung, mit (leider etwas marginalen) Abbildungen, kritischen Einleitungen und einem ausgiebigen, noch kommentierenden Anmerkungsapparat. Die handlichen Bände ermöglichen die schnelle Lektüre wie auch die wissenschaftliche Beschäftigung auf einem sehr konkreten, anschaulichen Niveau. Zu den Veröffentlichungen der letzten Zeit gehören „Die Leben von Botticelli, Lippi, Cosimo Rosselli und Alesso Baldovinetti“, die in einem (wie gehabt) Taschenbuch zusammengeführt sind. Respekt!

Michelangelo – Zeichnungen eines Genies, 414 S. mit 223 Farbabb., geb. mit Schutzumschlag, 31 x 24,5 cm, Hatje Cantz, 49,80 Euro

Einer der Künstler, denen Vasari ein Kapitel widmet, ist Michelangelo (14761564). Obwohl schon so viele Bücher zu Michelangelo und seinem genialen Werk erschienen sind, ist die nun vorliegende, bei Hatje Cantz verlegte Monographie „Michelangelo – Zeichnungen eines Genies“ eine wichtige Erweiterung unseres Blickes auf ihn. Sie wendet sich ganz den Zeichnungen zu. Begleitend zur Ausstellung in der Albertina in Wien, bildet sie über 100 Blätter aus seiner gesamten, fast sieben Jahrzehnte umspannenden Schaffenszeit ab, also einen beträchtlichen Teil der 600 erhaltenen Werke, die vereinzelt noch auf der Rückseite Zeichnungen besitzen und in verschiedenen Techniken zwischen Skizze und malerischer Bildhaftigkeit ausgeführt sind. Im Buch werden Michelangelos Zeichnungen ergänzt um Blätter von Zeitgenossen und begleitet von Abbildungen der Malereien und Skulpturen Michelangelos. Gerade die vielen anatomischen Studien sind in ihren Kontext zur Skulptur gerückt und in ihrer wissenschaftlichen Relevanz wie auch der Genauigkeit des Blickes vermittelt. Deutlich wird (und das ist die Leistung dieses opulenten Bandes), jede Zeichnung ist ein Kunstwerk für sich. Das brachte die Bearbeiter dieses Buches in die Schwierigkeit des Angemessenen – ein grafisches, strukturelles Problem, welches indes nicht zu lösen war. Aber, bei allen Wechseln im Lay-Out, bei der fast überbordenden Textmenge, dominiert doch die Klarheit, zusammengehalten durch die Werke selbst, die Großzügigkeit, mit der diese reproduziert sind. Dass der einführende Text des Wiener Kurators Achim Gnann ebenso grundsätzlich wie verständlich ist, macht dieses Buch weiter empfehlenswert. Ebenfalls aus Anlass einer Ausstellung und ebenfalls verlegt bei Hatje Cantz, ist ein weiterer gewichtiger Band zu einem der frühen Meister erschienen, nun aus dem Norden: Zu Hans Holbein d. Ä., der um 1465 geboren wurde, mit seiner Werkstatt in Augsburg ansässig war und um 1523/24 gestorben ist. Zwar ist heute sein Sohn Hans Holbein d. J. bekannter, aber auch der Vater war über seine Lebenszeit hinaus hoch angesehen. Im Mittelpunkt der Stuttgarter Monographie steht sein Hauptwerk „Die Graue Passion“, die, im Besitz der


zu vermitteln. Es liefert einen konzisen Überblick über das Schaffen des Augsburger Künstlers und einen Vergleich zum zeitgleichen und vorausgehenden Schaffen, etwa mit Martin Schongauer und Albrecht Dürer und der frühen niederländischen Malerei. Anders als das MichelangeloBuch ist die bildliche Darstellung durch Spezialkapitel immer wieder unterbrochen, dafür aber im Lay-Out gut leserlich: Also, jedes Buch ist anders, auch bei den frühen Meistern.

Hans Holbein d. Ä. – Die Graue Passion in ihrer Zeit, 448 S. mit 411 Farbabb., geb. mit Schutzumschlag, 31,2 x 25 cm, Hatje Cantz, 58,- Euro Staatsgalerie Stuttgart, nach der Restaurierung dort erstmals wieder gezeigt wird. „Die Graue Passion“ zählt zu den herausragenden Passionsfolgen der altdeutschen Kunst. Sie besteht aus zwölf Tafeln, die wahrscheinlich die Seiten eines Flügelaltares bildeten; ihr besonderes, durchgehendes Kolorit hat dieser Folge an Malereien auf Holz den Namen gegeben. Es ist die Leistung des Buches, dieses wichtige Kunstwerk erstmals ausgiebig im Detail und im Überblick vorzustellen, wissenschaftlich zu verorten und seinen sinnlichen Reiz

Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern, 364 S. mit 320 Farbabb., Hardcover, 27,5 x 22,5 cm, Deutscher Kunstverlag, 39,90 Euro

Nach all der Euphorie über diese Neuerscheinungen, nun ein etwas komplizierter Fall. Zeitlich schließt das Buch „Cranach und die Kunst der Renaissance unter den Hohenzollern“, erschienen im renommierten Deutschen Kunstverlag, an die Monographie zu Hans Holbein d. Ä. an. Aber es verfolgt eine andere Akzentuierung, bindet die Bildende Kunst in den gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontext der Hohenzollern ein und ist darin wesentlich Katalog mit Architektur, Kunst, Kunstgewerbe, Buchkunst und Urkunden, obzwar die Sammlung deutscher Malerei des 15./16. Jahrhunderts im Besitz der Stiftung Preußische Gärten und Schlösser Berlin-Brandenburg und der Abschluss des Bestandskataloges dazu Ausgangspunkt waren. Mit Beiträgen so renommierter Autoren bei Bredekamp, Koepplin, Warnke ergibt sich ein tieferer Einblick in die Kunst und deren gesellschaftliche Stellung zur Zeit der Renaissance in Berlin-Brandenburg und am Hof der Kurfürsten Joachim I. und Joachim II.; eigene Themen sind die Stadtkultur und die Rolle der Kirche in Bezug auf die Kultur. Aber das ist wenig koordiniert, insgesamt scheint das Buch, das zu einer Ausstellung erschienen ist, mit heißer Nadel gestrickt. So sind mögliche Gegenüberstellungen vergleichbarer Epitaphgemälde gerade nicht eingelöst. Teils fehlen die Maße der Werke. Und doch, reich bebildert und von einem ausführlichen Literaturverzeichnis begleitet, ist es ein Gewinn und eine gute Klärung der Bedingungen altdeutscher Kunst. Den alten Meistern ist Antonio Canal, genannt Canaletto (1697-1768) nicht mehr zuzurechnen – aber er zitiert die Antike und die Renaissance, indem er

Canaletto in Venedig – Der Meister und seine Rivalen, 192 S. mit 64 Farbtafeln, geb. mit Schutzumschlag, 29 x 25 cm, Belser, 39,95 Euro ihre architektonischen Zeugnisse malt, auf dem Fundament realistischer Erfassung. Im Anschluss an Capricci – erfundene Architekturen – wendet sich Canaletto der Vedutenmalerei zu, als deren Hauptvertreter er sich in seiner Heimatstadt Venedig etabliert. Er gibt die Atmosphäre und Abfolge des architektonischen Außenraums in seinen Ansichten wieder und greift doch künstlerisch ein. Er nimmt Perspektivwechsel innerhalb der Darstellung vor und setzt Licht und Schatten mit zunehmend lockerer Pinselführung. Das erfreulich unprätentiöse, geradlinige Buch Canalettto in Venedig. Der Meister und seine Rivalen, das nun im Belser Verlag erschienen ist und von Charles Beddington bearbeitet wurde, untersucht noch das Eigene in Canalettos Malerei, indem es ihn in den Zusammenhang der venezianischen Vedutenmalerei stellt und noch mit Bilddetails arbeitet. Zu den Künstlern, die vorgestellt werden, gehören seine Schüler Francesco Guardi und Bernardo Bellotto, wobei letzterer auch sein Neffe war und als Hofmaler in Dresden Erfolge feierte: Ein Bild von Bellotto, der ebenfalls den Namen Canaletto trug, hängt seit kurzem, als Leihgabe der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, im Büro des Bundespräsidenten in Berlin. Aber das ist eine andere Geschichte.

49


Die Kriegstagebücher Gerhard

Gerhard Nebel „Zwischen den Fronten – Kriegstagebücher 1942-1945“ Wiederentdeckt, ausgewählt und mit einem Nachwort von Michael Zeller © 2010 Wolf Jobst Siedler Verlag jr. Berlin, 1. Auflage 282 Seiten, ISBN 978-3-937989-69-3 Weitere Informationen unter: www.wjs-verlag.de

Die spezifisch deutsche literarische Aufarbeitung des grauenhaften 1. Weltkriegs (schätzungsweise 17 Millionen Tote) stammt von Ernst Jünger. „In Stahlgewittern“ ist das Tagebuch seiner Erlebnisse in Frankreich. Der pathetische Titel kündigt bereits vom heldenhaften Kampf der Soldaten, von der trunkenen Stimmung der Jugend 1914, die, angefeuert von der großen nationalen Bewegung, sehnsüchtig mitmachen wollte bei dem Wahnsinn 1914-1918 und die Kriegsgefahr begeistert suchte (Stichwort: Langemarck). Nach dem 2. Weltkrieg (schätzungsweise 55 Millionen Tote) erscheint 1948-1950 von Gerhard Nebel (1903-1974) sein dreibändiges Tagebuch der Kriegszeit. Von Pathos und Heldentum ist da überhaupt nicht die Rede. Mit Haß auf den Despoten und innerlich unbeteiligt am Krieg wollte er diesen nur überleben. Aktiv war er nicht am Widerstand beteiligt. Wie er dachten Hunderttausende. Gerhard Nebel wird im Februar 1942 infolge eines lockeren Artikels über den Kommiß-Ton bei der Luftwaffe und die in der Wehrmacht herrschenden soldatischen (Un-)Sitten vom Gefreiten und Dolmetscher zum Bausoldaten degradiert, muß Paris verlassen, verliert damit seine Freundschaften und gesegneten Mußestunden, die er in Paris mit einzelnen intellektuellen Fliegern und Offizieren (u.a. Ernst Jünger) erlebt und geschätzt hatte, und spricht von seiner hirnverbrannten Torheit, die Despotie mit einem unbedachten Artikel herausgefordert zu haben. „Die Lage, der ich entgegengehe, erscheint mir unangenehm“. So beginnen diese Tagebücher. Als Bausoldat wird er auf eine Insel des Kanal-Archipels westlich von Cherbourg versetzt. Dort muß er körperlich arbeiten, wird aber auch immer wieder als Dolmetscher in Anspruch genommen. In seiner Freizeit liest er Mommsen und Victor Hugo, beschreibt die stimmungsvolle Insellandschaft mit Kirchen, Kirchhöfen und ihren Menhiren und spricht dem französischen Wein gerne und ausgiebig zu. Was im Osten angerichtet wurde, ist bei den Soldaten an der Kanalküste bekannt. Seine Überlegungen zum preußischen Drill, der den Soldaten entwürdigt, ihm Qual verursacht und

50

verursachen soll, was dem Kommiß zur Wache eingefallen ist, wie wichtig dieser hohle Stumpfsinn von Offizieren bis hinauf zum General genommen wird, das hält G. Nebel für Wahnsinn. Über die bei der Wehrmacht verbreitete und mit Vorschriften manifestierte Kombination aus subalterner Dummheit und Grausamkeit erregt er sich, glaubt aber nicht an die Identität von Volk und Regime und ist sich der Gefahr, die aus der Identität von Politik und Verbrechertum resultiert, bewußt. Solange man noch Wein trinken kann, ist die Lage jedoch nicht völlig hoffungslos: Jenseits des Krieges erwartet Gerhard Nebel eine Welt der Freiheit, der Bildung und der Humanität. 1943 wird er nach Italien versetzt, wo er als Dolmetscher für den Stab der Luftwaffe mit der aufgeräumten Anarchie der Italiener gut zurecht kommt. „Auf ausonischer Erde“ organisiert er Wein, Früchte, Brot und Eier für soldatische Feste, besorgt italienische Frauen für Bordelle der Luftwaffe, übersetzt Liebesbriefe der Landser und Flieger ins Italienische, hat selbst verschiedene Affären, kommentiert natürlich Affären der Offiziere, wird beschossen, auch bombardiert, und versucht zu überleben, auch wenn ihn die „kochende Angst, die allen Inhalt der Seele verdampft und in deren Dunkel alle Farbe verlosch“ überfällt, sobald ihm Steine, Äste, Felssplitter um den Kopf fliegen und die feindlichen Jabos (Jagdbomber) dicht über den Köpfen dröhnen. Dem Kradmelder bietet der Stahlhelm, der wie Butter von den kleinen Fetzen der Splitterbomben durchschnitten wird, keinen Schutz. Das Hirn spritzt aus dem Schädel. Nebel sieht und beschreibt es. Andererseits bleiben Gerhard Nebel aber schöne Frühlingstage mit weiten Blicken über die italienische Abruzzenlandschaften auf türmereiche Städte ebenso unvergeßlich wie noch schönere Nächte, in denen unzählige glühende Johanniskäfer durch samtenes Dunkel tanzen, nachdem die Nachtigallen verstummen und die Grillen das Nachtkonzert eröffnen. Jugendliche Partisanen muß er in Notwehr mit dem Maschinengewehr abwehren. Auf der Lagunenbrücke Venedigs wird er als Fußgänger von Jagdbombern überflogen, die den zwischen den Buhnensteinen


Nebels – wiederentdeckt Liegenden aber für eine Leiche halten und Munition sparen. Im Juni 1944 liest man- werden deutsche Geschütze unter der Aufsicht von schwankenden Landsern, die Wein- und Schnapsflaschen schwenken, von Ochsenkarren durch die Po-Ebene gezogen. Mal wieder verliebt, verliert er sich zuletzt an Antonia, wollte sich aber in den unsicheren Zeiten nicht an die Studentin binden und entweicht ohne Abschied, womit er wohl nicht nur sie, sondern vor allem auch sich selbst verraten hat. Endlich gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, erkrankt schwer und empfindet das Grauen in den Lazaretten Norditaliens entsetzlicher als die ausonischen Tage hinter der Front. Von Hitlers Tod erfährt er in Cortina d´Ampezzo und feiert das Ende der Bestie mit Sekt. Gerhard Nebel, 1903 geboren, hatte Philosophie und Altphilologie studiert, u.a. bei Heidegger und Jaspers. Politisch treibt es ihn als Berufsanfänger Ende der Zwanziger Jahre zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) und er setzt sich auch handgreiflich mit den Nationalisten auseinander (Narbe neben dem linken Auge). Mit seinem dreibändigen Kriegstagebuch schreibt sich Nebel in die literarische Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands. Er hält Vorträge über Ernst Jünger, der nach dem Krieg zunächst wegen eines Verbots der Alliierten selbst nicht publizieren durfte und schreibt ein Buch über ihn. Bald aber streiten sich die beiden, die zunächst in gleicher Weise vom Publikum wie auch der Kritik geschätzt wurden, kämpfen gegeneinander und beleidigen sich. Skandalös, wie Ernst Jünger die Übersetzung von Nebels „Hesperiden“ ins Französische gezielt verhindert hat. 1950 erhält Nebel den Eduard von der Heydt-Preis der Stadt Wuppertal. Hier hat er von 1950 bis 1955 als Studienrat am Gymnasium in der Bayreuther Straße gearbeitet. In Wuppertal gründet er, der promovierte Philosoph, die Gesellschaft „Der Bund“, in der zusammen mit der Elite der Zeit - Ernst Jünger, Gottfried Benn, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Arnold Gehlen, Carl Schmitt u.a. waren Gäste - die geistige Erneuerung und Orientierung nach dem Nationalsozialismus diskutiert wird.

Durch Aufklärung wollte man nachhaltig gegen „Gastfeindschaft, Barbarei und Dehumanisierung“ wirken (Zitat Michael Okroy s.u.). Gerhard Nebel schreibt im Laufe seines Lebens etliche Bücher und regelmäßig in der FAZ. Mit seinen Beiträgen macht er sich nicht nur Freunde. Thomas Mann konnte er nicht leiden. Zu dessen 75. Geburtstag erscheint am 6. Juni 1950 von G. Nebel ein bösartiger Artikel in der FAZ. Über Wuppertal schreibt er ein wenig freundlicher: „Wuppertal ist rauh und knochig, aber treu. Gewebe sind hier nicht wie anderswo Lügengewebe, Garne sind keine Betrugsschlingen. Die Solidität ist nicht Schwerfälligkeit, sondern Stärke - man hat sich nicht für den Oberflächenschmelz, sondern die Tiefenstruktur entschieden, nicht für die geschwinde, huschende Intelligenz, sondern für zähes Festhalten und bohrende Berechnung. Den Verlust an Charme und Lieblichkeit nimmt man, wenn man sieht, was in der Nachbarschaft mit diesen Kategorien getrieben wird, gern in Kauf.“ (zitiert nach Christine Hummel, 2004, s.u.). Georg Nebel starb 1974. Er wurde in Braunsbach-Steinkirchen (Landkreis Schwäbisch-Hall) beerdigt. Die Kriegstagebücher Gerhard Nebels (ursprünglich dreibändig) wurden von Michael Zeller, Von der Heydt-Preisträger 2008, wiederentdeckt. Der heutige Leser des Werkes ist fasziniert von der Authentizität und Frische der Sprache, hinter der die gesamte Kultur des alten Europa immer wieder aufblitzt, von Nebels Humor, seinem Zynismus und der Souveränität des Gebildeten. Der Schriftsteller Michael Zeller hat das vergessene Werk von historischen Schlacken befreit, gekürzt, mit einem sehr informativen Nachwort zu Biographie, Werk und Rezeptionsgeschichte versehen und neu herausgegeben. Das Buch wurde von der Süddeutschen Zeitung im Januar 2011 auf Platz 3 (von 10) der Liste der Sachbücher des Monats gesetzt.

Literatur: 1. Dr. Christine Hummel: Ungeschminktes Wuppertal, 2004 Bergische Universität (http://www.presse-archiv.uni-wuppertal. de/html/module/medieninfos/archiv/2004/1907_stadtjubilaeum_collage. htm) 2. Michael Okroy: „Lebendig. ungeschminkt und voller Geist. Ein kulturgeschichtlicher Spaziergang durch das Wuppertal, der 1950er Jahre.“ Vortrag am 24.11.2010 in der Citykirche Elberfeld) 3. www.michael-zeller.de/

Nachbemerkung mit Notizen zu Michael Zeller: Michael Zeller wurde 1944 in Breslau geboren und lebt seit 1998 in Wuppertal. 1978 veröffentlichte er seinen ersten Roman („Fehlstart-Training“). Nach seiner Promotion 1974 habilitierte er sich 1981 in Erlangen. Michael Zeller erhielt zahlreiche Auszeichnungen, so z.B. 1984/85 das Atelierhaus Stipendium Worpswede, als dessen literarisches Ergebnis sein Roman über Paula Moderson-Becker entstand („Die Sonne! Früchte. Ein Tod“, 4. Auflage 2007). 1997 erhielt er das Schriftstellerstipendium der RobertBosch-Stiftung und lebte ein Jahr in Krakau. In „Café Europa“ und „Die Reise nach Samosch“ hat er diesen Aufenthalt literarisch verarbeitet. 2006 bereiste er das kriegszerstörte Bosnien und hielt seine Impressionen in „Granaten und Balladen“ fest. 2008 erhielt er den Von der Heydt-Preis der Stadt Wuppertal, und es erschien sein achter Roman („Falschspieler“). Seit 2007 arbeitet Michael Zeller literarisch mit Schülern. Inzwischen sind vier „Schulhausromane“ entstanden. Der jüngste Roman „Ein Schuss Jugendliebe“ wird im Mai 2011 erscheinen. Michael Zeller publiziert auch in den Musenblättern und im Wuppertaler NordPark Verlag. Weitere Informationen unter: www. michael-zeller.de Johannes Vesper

51


Kulturnotizen Ausstellung „Schloßgeschichten“ über den Adel in Schlesien Ratingen - „Schloßgeschichten“ lautet der Titel einer Ausstellung, die ab dem 8. Mai im Oberschlesischen Landesmuseum in Ratingen zu sehen ist. Die Schau über den Adel in Schlesien zeigt Gemälde, Epitaphien, Waffen, Jagdtrophäen und einen zwei Meter großen präparierten Wisent. Unter den Ausstellungsstücken sind viele erstmals in Deutschland präsentierte Exponate. Die Schau läuft bis zum 8. Januar kommenden Jahres. Über 3000 adelige Güter gab es in Schlesien, einige der bedeutendsten lagen in Oberschlesien. Die Ausstellung will den Besucher in die Lebenswelt der Schlösser und ihrer Bewohner führen. Der zeitliche Bezugsrahmen reicht vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Der Reichtum der Besitzer stand im krassen Gegensatz zu den Lebensbedingungen vieler Arbeiter und Bauern. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.oslm.de Museum Kurhaus Kleve präsentiert das Werk von Carl Andre

York und hat entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Kunst im 20. Jahrhundert ausgeübt.

Seit den frühen 1960er Jahren hat er den Begriff von Skulptur revolutioniert, indem er sie nicht länger in den Kategorien von Form und Struktur, sondern von Material und Ort definierte. Seine Werke sind im strengen Sinn des Wortes elementar, denn sie repräsentieren den äußersten Grad an Einfachheit und Klarheit. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.museumkurhaus.de Ausstellung über Armut als Motiv in der Kunst Künstlerische Sichtweisen auf Armut und Arme in Europa

Kleve - Das Museum würdigt ab dem 17. April in einer Einzelausstellung Carl Andre, den Mitbegründer der Minimal Art in Amerika. Gezeigt werden über 20 teils großformatige Skulpturen. Besonderes Augenmerk gilt den für das Werk fundamentalen, aber noch immer wenig bekannten Textarbeiten, heißt es. Es handelt sich um Andres erste Ausstellung in einem deutschen Museum seit 15 Jahren. Nur wenige Tage nach ihrer Eröffnung wird der Künstler am 5. Mai in Zürich mit einem der renommiertesten europäischen Kunstpreise ausgezeichnet, dem Roswitha Haftmann-Preis. Der 1935 geborene Andre lebt und arbeitet in New

52

Trier - Eine Ausstellung in Trier zeigt erstmals eine Geschichte der Armut von der Antike bis zur Gegenwart im Spiegel der Kunst. „Armut - Perspektiven in Kunst und Gesellschaft“ lautet der Titel der Schau, die im Stadtmuseum Simeonsstift sowie im Rheinischen Landesmuseum in Trier zu sehen ist. Insgesamt zeigt die bis 16. Juli laufende Ausstellung 250 Kunstwerke. Pieter Breughel d.J., Rembrandt und Picasso, Käthe Kollwitz, Liebermann und Immendorff sind nur einige der berühmten Künstler, die sich mit dem Thema Armut auseinandergesetzt haben. Breughel etwa hält mit seinem berühmten Gemälde „Die sieben Werke der

Barmherzigkeit“ dem Betrachter die Mildtätigkeit und Anteilnahme an armen Gesellschaftsschichten als moralische Pflicht vor Augen. Rembrandts „Bettelmusikanten“ stehen als Beispiel für die Idealisierung des Lebens in Armut. Später wurden grafische Arbeiten zu einem zentralen Medium in der Auseinandersetzung mit der Sozialen Frage. Kollwitz, Ernst Barlach oder Heinrich Zille wurden durch das Leid und Elend der Menschen zu einer neuen, expressiven Formensprache inspiriert.

Die Ausstellung im Stadtmuseum ist dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum ist dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr zu sehen. Galerie Villa Zanders Bergisch Gladbach: „Knüller, Falter, Reißer“ lautet der Titel einer Ausstellung, die in der Städtischen Galerie Villa Zanders in Bergisch Gladbach zu sehen ist. Die bis zum 26.


Juni laufende Schau zeigt Exponate aus der Sammlung Kunst aus Papier, die in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen feiert. Die Sammlung umfaßt heute fast 300 Arbeiten von Künstlern aus aller Welt, hierunter Künstlerbücher ebenso wie raumgreifende Installationen und Skulpturen. International renommierte Künstler wie Wolf Vostell, Christo, Felix Droese, Günther Uecker, Kenneth Noland oder Jiri Kolar markieren die Bandbreite der Sammlung und ihren Rang. Aber auch viele junge, weniger bekannte Künstler wurden ermutigt, sich mit diesem unerschöpflich vielseitigen Material auseinander zu setzen, sodaß die Sammlung nie bei etablierten Positionen stehen geblieben ist, sondern sich immer wieder auch in unbekanntes Land vorgewagt hat. Die Ausstellung ist dienstags, mittwochs, freitags und samstags von 14 bis 18 Uhr, donnerstags von 14 bis 20 Uhr und sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Internet: www.villa-zanders.de Museum Kunstpalast feiert Wiedereröffnung seines Sammlungsflügels Düsseldorf - Unter dem Motto „Kunst befreit“ feiert das Museum Kunstpalast in Düsseldorf am 6. Mai die Wiedereröffnung des Sammlungsflügels und die Neupräsentation der eigenen Bestände. Bis zum 22. Mai können Besucher bei freiem

Eintritt die Neupräsentation von 450 ausgewählten Kunstwerken bewundern. Das Museum vereint fünf verschiedene Sammlungsbereiche unter einem Dach. Die Graphische Sammlung mit einem Schwerpunkt auf Zeichnungen des Barock, die Gemäldegalerie mit italienischer, flämischer, niederländischer und deutscher Malerei der Jahre 1490 bis 1920, den Sammlungsbereicch Moderne sowie den Bereich Skulptur und Angewandte Kunst. Schließlich zählt auch das integrierte Glasmuseum Henrich mit Objekten von 1500 vor Christus bis hin zu aktuellem Studioglas zum Kunstpalast. Hier befindet sich die umfassendste Glaskollektion auf dem europäischen Kontinent. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr sowie donnerstags von 11 bis 21 Uhr geöffnet. Internet: www.museum-kunst-palast.de Buddhismus im Mittelpunkt der diesjährigen Ruhrtriennale Gelsenkirchen - Nach der Erforschung der Kultur des Judentums und des Islams in den vergangenen beiden Spielzeiten steht in diesem Jahr der Buddhismus im Mittelpunkt des Kulturfestivals Ruhrtriennale. Bei der nicht-theistischen religiösen Tradition stünde die Überwindung des Ichs als Voraussetzung für bedingungslose Mitmenschlichkeit und absolute Gewaltlosigkeit im Zentrum, hieß es in einer

Mitteilung der Kultur-Ruhr GmbH in Gelsenkirchen. Schwerpunkt der Triennale sei das Entdecken buddhistischer Wahrheiten in den theatralen, musikalischen und literarischen Werken unseres Abendlandes, so die Veranstalter weiter. Vom 26. August bis zum 9. Oktober findet das Festival mit über 130 Vorstellungen in Bochum, Essen, Duisburg, Gladbeck und Oberhausen statt. Am 5. Mai soll das konkrete Programm der dritten und letzten Spielzeit des Ruhrtriennale-Intendanten Willy Decker in Bochum vorgestellt werden. Verstorbene Irene Ludwig schenkte der Stadt Aachen zahlreiche Kunstwerke Aachen - Die am 28. November vergangenen Jahres verstorbene Kunstmäzenin Irene Ludwig hat der Stadt Aachen testamentarisch Kunstwerke im Gesamtwert von 15 bis 20 Millionen Euro hinterlassen. In ihrem Testament hatte Irene Ludwig unter anderem festgelegt, daß der Stadt insgesamt 47 Werke hinterlassen werden. 37 davon gehen an das Suermondt-Ludwig- Museum und 10 an das Couven-Museum, das ihr stets besonders am Herzen lag, so Philipp. Villa Hügel zeigt Krupp-Fotografien Essen - „Krupp - Fotografien aus zwei Jahrhunderten“ lautet der Titel einer Ausstellung, die vom 18. Juni bis

6JG CTV QH Ƃ PG VQQN OCMKPI

53


zum 11. Dezember in der Villa Hügel in Essen präsentiert wird. Die Ausstellung zeigt erstmals umfassend Fotografien der Krupp-Geschichte. In insgesamt 15 Räumen der Villa Hügel werden rund 400 Aufnahmen in aufwendig inszenierten Themenbereichen zu sehen sein. Die Ausstellung schlägt einen Bogen von den Anfängen der Fotografie bis zur zeitgenössischen Fotokunst. Zu sehen sind Familienfotos ebenso wie Bilddokumente der Industriegeschichte, Produkte, Bilder von Arbeitern und Direktoren, Sozialeinrichtungen, Reisealben, Schnappschüsse sowie Inszenierungen. Die meisten Bilder sind bislang noch nie öffentlich vorgestellt worden. Internet: www.villahuegel.de

Bilderbuchmuseum zeigt Künstlerbücher von Leiko Ikemura Troisdorf - Unter dem Titel „Wußtest du, ich habe zwei versteckte Flügel“ ist im Bilderbuchmuseum Burg Wissem der Stadt Troisdorf bei Bonn eine Ausstellung mit Künstlerbüchern und Zeichnungen der Japanerin Leiko Ikemura zu sehen. Zugunsten der Opfer der Erdbeben-, Tsunami- und AtomkraftKatastrophen erscheint zu der bis zum 19. Juni laufenden Schau eine Edition der Künstlerin in einer Auflage von 25 Exemplaren. Der Erlös aus dem Verkauf der Edition werde für die Opfer in Japan gespendet, erklärte Museumsleiterin Maria Linsmann zum Auftakt. Mit ihrem Engagement will die Künstlerin nach Angaben von Linsmann nicht nur ihre Landsleute unterstützen, sondern auch zur Diskussion über die Frage der Bedeutung von Kunst in Momenten der Katastrophe anregen. Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.Troisdorf.de Museum Morsbroich zeigt Zeichnungen von Gotthard Graubner Leverkusen - Mit der Ausstellung „Gotthard Graubner. Das zeichnerische Werk“ gibt es ab dem 10. April im Museum Morsbroich in Leverkusen erstmals seit 25 Jahren wieder einen Überblick über die Zeichnungen des inzwischen 80 Jahre alten Künstlers. Wie das Museum mitteilte, verkörpern die Zeichnungen in elementarer Form, was Graubners gesamte Kunst ausmacht, nämlich das Verständnis der Form als Prozess und das Bildkonzept der Entfaltung von Bewegung und Räumlichkeit. Die bis zum 6. November laufende Schau präsentiert frühe, großformatige Aktzeichnungen der Düsseldorfer Akademiezeit ebenso wie seine abstrakten, abgerundeten Rechteck-“Körper“, seine transparent-schimmernden „Frottagen“ der 1970er Jahre sowie seine meist farbigen Raumstrukturen der letzten Jahrzehnte. Die Ausstellung ist donnerstags von 11 bis 21 Uhr, dienstags bis sonntags von 11 bis 17 Uhr geöffnet. Internet: www.museum-morsbroich.de

54


Ausstellung „Reiselust“ zum Werk von Emil Nolde in Hamm Hamm - „Emil Nolde - Reiselust“ lautet der Titel einer Ausstellung, die vom kommenden Sonntag an bis zum 19. Juni im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zu sehen ist. Damit würdige man den Maler umfassend in seiner Rolle als Reisender in Deutschland, Spanien und der Schweiz. Neben seiner wohl bekanntesten einjährigen Reise in die Südsee in den Jahren 1913/14 unternahm er zahlreiche mehrwöchige Urlaubsreisen, die auf markante Weise in seinem Schaffen Niederschlag gefunden haben. Von den ersten Aquarellarbeiten 1907 in Thüringen über Bilder der Zigeuner und Flamencotänzer in Spanien, von der Bergwelt der Schweiz und Porträts von Freunden auf der Nordseeinsel Sylt spannt sich der Bilder-Bogen in der Ausstellung bis zum Jahr 1946. Viele der rund 100 Werke sind erstmals öffentlich zu sehen. Die Präsentation wird ergänzt um die Abteilung „Emil Nolde und der westfälische Expressionismus“. In dieser Abteilung werden Werke aus dem Eigenbestand zum Expressionismus in Westfalen gezeigt sowie Werke von Nolde, die während seines Aufenthaltes in Soest 1905/06 entstanden sind. Die Ausstellung ist dienstags bis samstags von 10 bis 17 Uhr sowie sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Internet: www.hamm.de/gustav-luebcke-museum Ausstellung zeigt Highlights des amerikanischen Fotorealismus Aachen - Unter dem Titel „Hyper Real – Kunst und Amerika um 1970“ zeigt das Aachener Ludwig-Forum Highlights des US-amerikanischen Fotorealismus. Die bis zum 19. Juni laufende Schau präsentiert die Aufnahmen im Kontext ihrer gesellschaftspolitischen Entwicklungen wie etwa der Nixon-Ära, dem VietnamKrieg oder der ersten Öl-Krise. Die rund 250 Werke von 100 Fotografen waren in dieser Zusammenstellung in Deutschland noch nie zu sehen. Die Ausstellung wird aus Anlaß des 20jährigen Bestehens des Ludwig-Forums gezeigt. Stilprägend wirkten in den 1970er Jahren vor allem die großformatigen Arbeiten der Fotorealisten, die dem „American Way of Life“ ein visuelles

Denkmal setzten. Unter den zahlreichen Bildern sind auch großformatige Aufnahmen wie etwa „Man with a Rifle“ von Jeff Wall aus dem Jahr 2000, „das Bild „Orange Car Crash“ von Andy Warhol aus dem Jahr 1963 oder „Das Parkstück“ von Gerhard Richter von 1971. Die Ausstellung ist dienstags, mittwochs und freitags von 12 bis 18 Uhr, donnerstags von 12 bis 20 Uhr sowie samstags und sonntags von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Internet: www.ludwigforum.de Akademie-Galerie Düsseldorf zeigt „Rendezvous der Maler“ Düsseldorf - „Rendezvous der Maler“ lautet der Titel einer Ausstellung in der Akademie-Galerie Düsseldorf, die ab dem 6. Mai die Malerei an der renommierten Kunstakademie in den Jahren 1946 bis 1986 präsentiert. Die bis zum 17. Juli laufende Schau wird die Malergenerationen der Düsseldorfer Kunstakademie anhand von ausgewählten Werken aus der Zeit ihrer Professuren dokumentieren. Es werden rund 50 Werke von Künstlern wie Heinrich Kamps, Werner Heuser, Theo Champion, Bruno Goller, Ferdinand Macketanz, Georg Meistermann, Robert Pudlich, Joseph Fassbender, K.O. Götz, Gerhard Hoehme, Peter Brüning, Rupprecht Geiger, Gerhard Richter, Gotthard Graubner, Dieter Krieg, Konrad Klapheck und Markus Lüpertz gezeigt. Als im Januar 1946 die Kunstakademie Düsseldorf nach dem Krieg wiedereröffnet wurde, befand sie sich laut Mitteilung am Anfang eines Neubeginns. Die Ausstellung ist mittwochs bis sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet.

Schweben Mit dem Kaiserwagen zwischen den Zeilen Neun Wuppertaler AutorInnen aus drei Generationen und ein Musikus gratulieren der ältesten Dame des Tals zum hundertzehnten Geburtstag: der Schwebebahn! Aus gegebenem Anlass fährt kein geringerer als der Kaiserwagen selbst die Geburtstagsgäste zur Schwebebahnwerkstatt in Vohwinkel, wo neun AutorInnen zwischen 19 und 88 – David Grashoff, Michael Heinrich, Dieter Jandt, Ulrich Land, Rebekka Möller, Karl Otto Mühl, Hermann Schulz, Wolf von Wedel, André Wiesler – ein literarisches Geburtstagsständchen darbringen. Und Michael Burger stimmt mit seiner akustischen Gitarre den Soundtrack des Stahlengels mit nassen Füßen an. Seit 110 Jahren windet sich der eiserne Tausendfüßler durchs Tal

und lässt die merkwürdige Straßenbahn kopfüber am Himmel über der Wupper baumeln, die – sehr zu ihrem Leidwesen – bekanntlich nicht schiffbar ist. Also hängt man ein Luftschiff darüber. Voller Geschwätz, Gezänk, Gedankenfluten, die versuchen, das Rappeln der Räder hoch droben zu übertönen, neugierige Blicke in die Wohnzimmer am Talesrand werfen und jede Menge Lovestorys in der Schwebe halten. Freitag, den 6. Mai 2011, um 19.3o Uhr Abfahrt des Kaiserwagens in Oberbarmen zur Lesung in der Schwebebahnwerkstatt, Vohwinkel Eintritt inklusive Fahrkarte und einem Freigetränk: 10 Euro Reservierung wegen des begrenzten Platzangebots unbedingt erforderlich: dieterjandt@aol.com Frank Becker und Andreas Rehnolt

55


Der Tipp f체r alle ab 60 Mit dem B채renTicket sind Sie im ganzen VRR-Gebiet unterwegs, rund um die Uhr und in der 1. Klasse.

Weitere Infos im MobiCenter Tel.: 0202 569-5200 56 www.wsw-online.de


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.