ZAK! Zwei.

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-Inhalt-

Vorwort

S. 2

Investigative Reportagen & Reiseberichte: Berlin oder was auch immer… (M von P) S. 2 Soziales Engagement: Terror ist muss (M von P)

S. 6

Über die Fatalität (AUT)

S. 8

Lits et Ratures: Die Methoden LSD – eine Einführung (AUT) S. 13

The Sublime is disappointingly elusive (AUT) S. 15 Traumbilder: Helden der Arbeit (M von P)

S. 16

I, II, III (AUT)

S. 17

Werke der Bewegung: Am siebzehnten Tag des Jahres Mai (RL, AUT, FW) S. 17

Le poète travaille (AUT) Don’t listen to the words I say (MB) S. 23

S. 18

Dr. S (ST)

S. 23

Augentier (FS)

S. 24

Unwissenswertes: Aphorismen der Woche

S. 25

Autoren

S. 25


Vorwort

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Neger. Wir sind stolz, Ihnen die zweite Ausgabe der Zeitschrift für allgemeinen Kulturpessimismus präsentieren zu können. Wie es bei unserem nicht vorhandenen Konzept nicht anders sein kann, werden Sie sowohl eine Unzahl vorurteilsbelasteter politischer Pamphlete, erfundener Reiseberichte als auch essayistische Schriften und solche vorfinden, die literarisch von höchstem Wert wären, wenn es so e Sozialismus, teils wegen ihres überaus interessanten Äußeren, teils wegen bloßer Verachtung ihrer Anwesenheit, gehassten Gebäude der DDR, tun mir leid. Alle stehen sie im Schatten des Fernsehturms. Es drängt sich mir ein Gefühl der Ignoranz auf. Er twas wie Literatur noch gäbe. Wir hoffen, dass sie die Zeit bitter bereuen werden, die sie auf die Lektüre der ZAK! aufwenden, um sich dann befriedigt wieder Ihrem konterrevolutionären bourgeoisen Alltag zu widmen. In diesem Sinne gratulieren wir Ihnen herzlich zu Ihrer unfreiwilligen Geburt,

Marschall von Pytz Neodadaistische Bewegung.

&

Antonin

U.

Trébut

für

die


Berlin und was auch immer… Berlin. Es ist kurz nach 0h und ich schlendere, die warme Nacht genießend, die Straße Unter den Linden in Richtung Alexanderplatz entlang. Das Wort Geschichte wabert durch die Luft und gelangt direkt in meinen Kopf. An diesem Ort, an dem noch die Einschusslöcher des Zweitweltkriegsstraßenkampfes zu finden sind. Irgendwie ist es hier zu dieser Zeit, ohne Touristenmassen, schön. Zu meiner Linken taucht der Dom auf. Nur wenige Meter weiter, ebenfalls links, nur über die Spree, ist das DDR-Museum. Wohl gut zum ausgestellten Thema passend ausgewählt, thront die Leuchtschrift Noodle Kitchen über der Leuchtschrift DDR-Museum. Wie makaber, denke ich. Das ist ähnlich wie die Jungs in sowjetischer, amerikanischer und sozialistisch–deutscher Militäruniform, die häufig am Brandenburger Tor zum Fotografieren dastehen. Welcome in Berlin Alliierte Präsenz 1945 bis 1994’ , steht auf deren Podest. Zu meiner Rechten liegen die kümmerlichen Überreste der einst in Europa größten Asbestdeponie. Hier ist nun ein Park, unter dem die Kellergewölbe des ehemaligen Schlosses auf ihre Zukunft warten. Dieses nunmehr verschwundene Bauwerk, der Palazzo del Prozzo, entsprach wohl in allen Zügen der Staatsform die es für ihn auszudrücken galt. Traurig eigentlich, dass es weichen musste. Doch das wahre Erektil des Sozialismus liegt nun vor mir. Der Fernsehturm, oder Telespargel oder St. Walter. Bei weitem nicht so groß wie der in Moskau. Aber schon ziemlich groß. Er ist von so vielen Flecken in ganz Berlin zu sehen und einfach nur beeindruckend. Die sonst so verachteten Überreste der architektonischen Künste des untergegangenenist nicht nur Wahrzeichen einer Stadt, sondern eines ganzen Landes. Seine rote Herkunft wird dabei jedoch meist irgendwie verdrängt. Warum ausgerechnet bei ihm? Ein lustiger Kerl (betrunken), den ich in der Kneipe Zum Klo (sehr passend) kennen lernte, meinte, dass der Fernsehturm das Produkt der Einmischung eines Westagenten sei. Deswegen könne man ihn ja wohl kaum als Ostprodukt bezeichnen. Weil es sonst, wie gesagt, wohl kaum ein deutsches Wahrzeichen sein dürfe. Orte wie Das Klo sind häufig Geburtsstätte solch skurriler Ideen. Aber diese Stadt ist wunderbar. Eine wilde Mischung aus


Geschichte, die die Welt bewegte, Weltstadt, Großstadt mit Kleinstadtflair, Kunst, Kultur, vom ruhigen bis zum wilden Leben. Wahnsinn. Ich komme nun in die Prenzlauer Allee, lasse Alex und Mitte hinter mir und warte darauf, ein Taxi zu entdecken, dass ich anhalten kann, um mich auf einer Kurzstrecke für 4€ mitnehmen zu lassen. Ich liebe diese scheiß Regelung. Ich lau an, ick hab keen Bock dir 30€ ausn Rippen zu schneidn. Der Befehl wird befolgt. Ich bin trotzdem ein wenig verwundert. Sicherheit vor Sauberkeit. Das gibt es selten. Sonst ist es immer umgekehrt. Der Fahrer ist Anfang – Mitte 30. Er trägt ein schwarzes Hemd, darüber einen, wenn man die Finger aufeinander reibt. Meine Haare sind wahnsinnig zerzaust. Zigarette um Zigarette verglüht in meinem Mundwinkel, ohne das ich sie rauche. Alle paar Minuten schwankt mein Kopf zwischen dem Gedanken warum ist das so und dem Gedanken ist mir alles egal hin und her. Zum Glück hält der Wind mein Jackett sauber. Sonst sind meine Gedanken schwer zu fassen. Plötzlich schnellt meine Hand in die Luft, bevor ich überhaupt weiß, was ich tue. Ein Taxi. Mein Unterbewusstsein scheint die ganze Zeit darauf gewartet zu haben, diese Geste auszuführen. Das Taxi fährt auf der anderen Straßenseite. Der Fahrer sieht mich jedoch und wendet. Als der schon in die Jahre gekommene Mercedes neben mir zum stehen kommt, öffne ich die Tür. Der hinjehen?

Ich glaube es Taxifahrer berlinern. Ich: Buchholz!

Juten

Taxifahrer:

gehört

Kurzstrecke!

So

Tach zum

weit

Jungchen!

Wo

sollet

Tourismusprogramm,

wie

möglich

in

dass

Richtung

Der Taxifahrer: Jut, denn komma rin! Ich steige ein, das Whiskeyglas nach wie vor in der Hand, und die Zigarette im Mundwinkel. Dazu sagt er nichts. Aber dann. Der Taxifahrer: Anschnallen!, blafft er michn braunen Pullunder, einer graue Cordhose und eine Ray Ban Brille. Keinen Erich-Hut? Seltsame Mischung! Es herrscht eine kurze Stille, bevor das obligatorische Taxigespräch beginnt. Ich beginne das Gespräch.


Ich: Politik, Literatur oder Philosophie? Er schaut mich an, grinst und gibt Gas. Mehr Gas als er hier wohl geben darf. Ich weiß, dass ich mich da ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt habe. Der Taxifahrer: Philosophie. Klischee bestätigt. Ich: Wie Sie zum Taxifahrer geworden sind, brauche ich sie dann ja wohl nicht zu fragen. Ich denke erst, nachdem ich das gesagt habe, kurz über das Gesagte nach. Dann bildet sich recht flott eine Gedankenblase in meinem Kopf. In ihr steht in Großbuchstaben das Wörtchen FUCK. Erst denken, dann sprechen. Erst denken, dann sprechen… , sage ich mir innerlich als Mantra auf. Doch zu meiner Verwunderung… Der Taxifahrer: Sach ma lieber du! Ick bin keene 60! Puh, was ein Glück. Der ist Idioten gewohnt. Der Taxifahrer: Und wat führt dich nach Berlin? Haste Verwandte hier. Von hier biste uf jedn Fall nich. Siehst’n bischen aus wien Edelpenner mit deine schicken Sachen da. Aber riechen tuste nach veranztem Schuppen. Ich: Ich bin mit der Schulklasse meiner Schwester und ihr auf Klassenfahrt gefahren. Ich bin hier um Spaß zu haben, Berlin zu genießen und das geschichtlich-kulturelle Wirrwar, das die Stadt mit sich bringt, in meinem Kopf zu ordnen. Aber das will mir nicht so recht gelingen. Kurzes Schweigen. Dann… Der Taxifahrer: Es jibt keen Wirrwar. Geschichte läuft doch chronologisch von damals nach heute. Kultur kannste in Schubladen packen. Verstehste? Es is also quatsch was de da redest. Nur die Mentalität, die, die muss man verstehen. Nur det kannste nich. Aber mach dir keen Kopp. Dabist nich alleene. Was will er von mir? Noch mehr Wirrwar. Mentalität? Tss…. Ich schweige wieder kurz. Irgendwie sind Berliner grob. Das gefällt mir. Aber ich weiß nicht, was er mir sagen wollte.


Ich: Warum Mentalität? Was hat die Wirkung der Stadt auf mich mit Mentalität zu tun?“ Er schüttelt nur seinen Kopf und beginnt erst nach ein paar Minuten zu reden. Der Taxifahrer: Das weiste erst, wenn de mal inner das de se nich siehst. Erst wenn de drinn bist. Allet andere is Tourismus. Das Taxameter zeigt einen 8 Kilometerbetrag an. Das Taxi hält. Der Taxifahrer: Vier Euro bitte. Ich: Aber das sind doch mehr als…. Er unterbricht mich. Der Taxifahrer: Det isn Studententarif. Ich gebe ihm vier Euro. Der Taxifahrer: So, und jetz zisch ab. Man sieht sich immer zwee Mal im Lebn. Ich steige aus. Ich: Danke! Der Taxifahrer: Die Blumen kannste dir Nacht und mach keen Blödsinn. Allet klar?

Sparn.

Jute

Die Tür schlägt dumpf zu. Der Diesel rattert davon. Nach wenigen hundert Metern biege ich in die Reihenhausstraße ein. Noch zwei, drei Mal stolpern, dann stehe ich vor dem Backsteinhaus, in dem ich nächtige. Hier sieht es nach DorfFamilien-Idyll aus. Alles ist steril, gestutzt und halbwegs reich. So sieht es aus, mitten am Rande Berlins. Fünf Minuten später liege ich in meinem Bett (naja, was heißt mein Bett) und schlafe. Das Whiskeyglas auf dem Nachttisch, die Schuhe im Zimmer verteilt, das Jackett über den Stuhl gehängt und der Rest an mir. Ich träume von der großen Stadt, dem Wirrwar aus Kultur und Geschichte. Auch ohne echter Berliner Kneipe macht auf einmal alles Sinn. Auf jeden Fall bis morgen Früh. 500 Meter entfernt vom Bus, einen Kilometer entfernt von der Tram, 2,5 Kilometer entfernt von der Metro und 9 Kilometer entfernt von Berlin Mitte.


Na dann, Jute Nacht

M von P

Terror ist muss Das Wort terror kommt aus dem Lateinischen und bedeutet sowas wie Furcht oder Schrecken. Die Menschen der westlichen Welt gehen ins Kino und bezahlen Eintritt, um sich fürchten zu können. Sie schauen sich Gedenkstätten an, die eine so grausame Vergangenheit aufweisen, dass es kaum zu fassen ist. Das alles machen sie mit der Begründung, man wolle versuchen, den Schrecken und die Grausamkeit nachzuempfinden. Man hat keine Sorgen in unserer Welt. Man muss Geld dafür bezahlen, um sich selbst in Angst und Schrecken zu versetzen lassen. Passiert jedoch wirklich etwas Beunruhigendes, dann müssen sofort Maßnahmen zur Eindämmung gegen ähnliche zukünftige Ereignisse getroffen werden. Man sucht nach der einen Lösung. Nach der Lösung. Auf das es nie wieder geschehen könne. Klaut einer auf einem Großparkplatz ein Auto, was wird geschehen? Man stattet den Parkplatz mit so vielen Kameras aus, dass man nicht einmal mehr die Möglichkeit findet, sich unbeobachtet in der Nase zu bohren, da jeder Millimeter und jeder mögliche tote Winkel videoüberwacht wird. Schaffen es mehrere Männer, Flugzeuge in ihre Gewalt zu bekommen, und fliegen daraufhin in Hochhäuser, zwingen Menschen zum Fallschirmspringen ohne Schirm, zwingen sie dazu nicht Fallobst, sondern Fallfleisch zu werden, was brauchen wir? Besser überwachte Flughäfen! Wir durchleuchten die Menschen noch genauer. Wir durchsuchen ihr Gepäck noch genauer. Wir brauchen noch mehr Kameras an unseren Flughäfen. Überwachen, man!!! Alles sehen wollen und nichts verhindern. Bomben detonieren in einem U – Bahn – Netz durch Rucksackbomber. Sie sorgen dafür, dass man in ganz Europa, aus der Angst heraus, gleiches würde sofort wieder passieren, die Bahnhöfe mit Kameras ausstattet. Nun hat man Angst vor Koffern und Taschen und Rucksäcken. Es besteht nicht mehr die Gefahr des Kofferdiebstahls, sondern die des zurück gelassenen Koffers, in dessen Inneren eine Bombe wartet, die gleich detonieren könnte. Diese werden dann mit einem immensen Aufwand entfernt und so oft wie auch Koffer gefunden wurden, wurde noch kaum je ein Sprengsatz gefunden. Ein Heckenschütze erschießt viele Menschen: Kameras werden noch und nöcher installiert. Es folgen jedoch keine großen Diskussionen über die Verschärfung von Waffengesetzen. Dann kommen Amokläufe an Schulen. Man fragt sich: wie konnte das nur passieren? und sagt das darf nie wieder passieren! Der Aufschrei ist groß. Lehrer sind nun


Angstbürger. Man sucht die Schuldigen. Man findet die Schuldigen. Es sind Videospiele, es sind die Kinder, es sind die Lehrer, es sind die Eltern, es ist die Gesellschaft, es ist, es wird egal. Man will sich nur künstlich aufgeilen an dem, was da gerade passiert ist. Aber man will nichts ändern, außer es bringt Geld. Man debattiert. Man philosophiert. Man resigniert. Nichts passiert. Es folgt eine politisch rechte Organisation, die es darauf anlegt, sehr viel Aufmerksamkeit zu erregen. Sie bekommen aber hauptsächlich viele bunte Seiten im Spiegel und anderen Klatschblättern. Die Gesellschaft, die Medien machen sich selbst zu Ausländerfeinden. Es sind nun nicht mehr die Türken, die hingerichtet werden. Nein, das waren nun die Döner, die ermordet wurden. Rassisten! Dann macht sich ein einzelner Terrorkrieger auf den Weg, mit grausamen Mitteln den Titel des Massenmörders zu verdienen. Der Aufschrei war groß. Die Menschen schreien: Wie konnte das nur passieren??? Die Menschen meinen: das darf nie wieder passieren!!! Man braucht nun für alles noch mehr Kameras und noch mehr Polizei und noch mehr Sicherheit. Dabei ist das doch der normale Wahnsinn. Oder zumindest das, was wir zum normalen Wahnsinn gemacht haben. Es ist nichts Außergewöhnliches und es wird niemals verhindert werden können, dass Menschen komische Gedanken haben oder rechtes Gedankengut, man wird nicht verhindern können, dass Menschen so wütend werden oder krank werden, dass sie töten wollen. Woher kommt diese Angewohnheit, diesen Dingen so viel Geilheit zu schenken? Nämlich der Geilheit nach Gewalt in den Medien. Wo Verbrechen im großen Stil geschehen, will niemand gern hinschauen. Vielleicht findet auch unser Marketing und Merchandising bald einen Platz im Iran. Dieser Stein wurde ihnen präsentiert von Douglas. Come in, you can’t finde out ! Sterben, aber wenigstens gut riechen. Wir brauchen im Iran mehr Kameras. Lassen wir uns ruhig unsere Freiheit nehmen. Wir haben ja sowieso keine Wahl. Nirgendwo sind wir mehr unbeobachtet, außer vielleicht im Wald und da vielleicht noch von oben aus dem All oder von Google. Wir hinterlassen überall unsere Spuren, besonders im Internet. So wird unsere Freiheit immer mehr eingeschränkt. Und das mit Dingen als Vorwand, die wir ohnehin nicht verhindern können. Es sterben mit Sicherheit jedes Jahr mehr Menschen durch herabfallende Kokosnüsse als durch diese überdramatisierten Ereignisse. Los, lasst und Kokospalmen verbieten oder besser Warnschilder aufstellen oder noch besser vor jeder Palme Kameras, damit wir dabei zuschauen können, wenn jemand durch so ein braunes Geschoss erschlagen


wird. Vielleicht kriegen wir ja auch Kameras in dieses Land da, na, wie heißt es, ihr wisst schon, da können wir dann zuschauen, wenn da einer von einem grauen Geschoss mit werbewirksamer Aufschrift erschlagen wird. Das ist dann die nächste Stufe des Reality TVs. Ich sehe schon die Zuschauer der Zukunft, dieses verkommene Pack mit fettigen Haaren, fetten Bäuchen, die sich gierig ihre Chips in den Arsch schieben, während die Alte eine Etage tiefer sich andere Scheiße in den Hals schiebt, die Nadel noch in der Vene, der Kasten Schnaps im Kühlschrank und dem Alten am Freitagabend bei der Super TV Spezial Kill Bill 10 – The Live TV Show die Sabber aus den Lefzen quillt. M von P

Über die Fatalität Man (also irgendwelche Menschen, die wir weder kennen noch kennenlernen wollen) sagt: Lebe jeden Tag so, als sei es dein letzter. Ein schöner Postkartenspruch, er bringt uns immer wieder zum Schmunzeln – mehr auch nicht. Wer das sagt, ist natürlich ein Idiot, denn wäre es sein letzter Tag, würde er sicherlich nur an das danach denken und an nichts sonst. Nun, nehmen wir dies – wie alles andere – nicht zu Ernst, lassen wir die eben genannten kurz nachdenklich nicken und schauen wir ihnen beim Nicht-Denken zu: Métro, boulot, dodo [U-Bahn, Arbeit, Pennen], ja, das ist schon gesagt worden und es ist sogar schon ziemlich lang her. Hier hatte der U-Bahn-Fahrplan schon Gott ersetzt. Noch viel früher war es Jacques, der Fatalist, der immer der Meinung war, der liebe Gott hätte alles für ihn vorausbestimmt. Dies brachte ihn dazu, sich munter durch die Welt zu saufen und zu voegeln, denn: Gott hat’s ja so gewollt. Hier also unsere erste Lektion: Erwarten wir kein Denken von jenen, die sich im Spiegel selbst zu sehen glauben. Bleiben wir bei diesem hübschen Büchlein und betrachten wir Jacques’ Meister. Er ist in der misslichen Lage, dank Zeit und Geld (gibt es andere Gründe?) d e n k e n zu können, doch hat bedauernswerter Weise weder den Glauben an die Liebe noch (schlimmer) an die Vernunft überwunden. So trottet er als bemitleidenswerter Versager neben seinem Knecht her und kommt nicht auf den Trichter, dass sein durch-den-Kopf-gehenlassen ihn impotent gemacht hat. Denn wer denkt, der macht nicht (oder nichts) – und umgekehrt. Ebendies ist unsere zweite Lektion: Erwarten wir kein Leben von jenen, die es im Geist spiegeln, weil ein Spiegel nur Bilder, nicht aber


Leben produziert. Vor uns liegen die beiden Hauptkategorien der Fatalität: Routine und Reflexion. Um nun ihre Ursachen freizulegen bedarf es zweier intellektualistischer Begrifflichkeiten, für die wir uns am besten gleich ein wenig schämen – denn gibt es etwas Traurigeres als akademischen Intellektualismus? Die zwei Wörter sind die folgenden: Doxa sowie ein Phänomen, welches wir Allmachtlosigkeit nennen wollen. Zunächst zu ersterem: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, nichts ist ihm willkommener und macht ihn zufriedener als das immer Gleiche – gerade weil er das Gegenteil behauptet. Unser hübsches Wörtchen bedeutet nun nichts anderes als jene Allzumenschlichkeit, die Routine als normal, als natürlich zu empfinden. Es ist irrelevant, ob man (wir wissen schon, wer gemeint ist), Gott oder die Geschichte oder was auch immer dafür heranzieht, den Zustand der Dinge zu begründen – es soll uns egal sein. Ganz im Gegenteil ist es keinesfalls natürlich, dass Menschen so leben (und nicht anders), es ist absurd. Schauen wir uns nach Beispielen um. Längerfristige Geschlechtspartner (ein anderes Wort können wir beim besten Willen nicht verwenden) empfinden ihre Zuneigung als natürlich – woher kommt sonst die Idee des/der Richtigen? Die Faktoren hierfür sind Gewohnheit und sexuelle Verfügbarkeit. Weiter: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Alle leben im Ghetto ihrer sozialen Herkunft. Man komme uns nicht mit biologischer Disposition oder ähnlichem rationalistischen Unfug, denn man sucht sich die Eltern nicht aus will ja nichts anderes sagen als: Der Zufall, genau dort in die Welt geworfen zu werden. Die Faktoren sind, auch hier, Gewohnheit und Verfügbarkeit (diesmal von geistigem sowie materiellem Kapital). Kurz und gut, die Fatalität des Handelns ist die bedingungslose Kapitulation gegenüber der Gewohnheit; nicht mehr, nicht weniger. Unnötig anzufügen, dass das es anders machen nur eine Abgrenzung von dieser und damit immer noch auf sie fixiert ist (denn auch das Gegenteil ist eine Form der Imitation). Begeben wir uns jetzt in den Kopf, ins Alles-undNichts. Wir sind noch die Erläuterung des letzteren Begriffs schuldig, hier ist sie: Die Allmachtlosigkeit ist kein Paradox, ganz und gar nicht. Es bezeichnet den Vorgang, Denken oder Durchdenken zu können – also Wortgewandtheit – ohne die Fähigkeit der Umsetzung. Der denkende Mensch ist ein Versager in jeder Hinsicht, er kann alles deuten, wie er will (oder zu wollen glaubt), doch was m a c h t er damit? Nichts. Wir haben es schon festgestellt, denken heißt nichts machen. Man kann den anderen so viele Worte auf der Zunge und im Kopf herumdrehen, wie man möchte, doch was macht es? Wieder nichts. Wir haben schon Jacques’ Meister als Beispiel und es


ist nicht schwer, ihm lebendige Menschen zuzuordnen – sie sind allmachtlos. Handeln aus Denken ableiten ist eine Dummheit, nichts sonst. Die klischeehafteste populäre Weisheit dazu heißt: Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Es wird kaum nötig sein, dies zu widerlegen. Nehmen also wir etwas Moralistisches. Tun wir tun so, als seien wir für Gleichberechtigung. Was fordern wir? Karrierechancen für Frauen! Hier scheitern wir also bei der Umsetzung ins Handeln, wenn wir anerkennen, man müsse Karriere machen. Wären wir wirklich für Gleichberechtigung, müssten wir fordern: Auch Kindergärtnerinnen sind so wichtig wie Karrieristen – ihr Gehalt sollte natürlicherweise genauso hoch sein. Bei dieser Banalität wollen wir es belassen, denn sollte man hier noch nicht verstanden haben, wird man es woanders auch nicht können. Wir wollen der Fatalität ihr Pathos nehmen, die vorgetäuschte Schwere des Begriffs, denn sie ist nichts Großes, sie ist jeder Tag. Bedienen wir uns also, anstatt neue Sandburgen aus Wörtern zu bauen, den Ideen anderer:

Mes deux vies antérieures (übers. aus dem Frz. von AUT) No. 1 : Ich wurde als bourgeois in eine wohlhabende Familie geboren; ich hatte zwei kleine Schwestern. Nach meinem Abitur fing ich an, irgendetwas zu studieren. Mit dreiundzwanzig vergaß ich meine eigene Existenz. Meinen Verstand schickte ich in einem gelben Umschlag an das “Zentrum zur Aufbewahrung bürgerlichen Verstandes” (ZABV). Ich wurde Automat; genauso meine Frau nach der Geburt unseres ersten Kindes. Wir hatten einen männlichen und einen weiblichen Automaten; diese wiederum einige. Ich wurde also Großvater eines automatischen Ensembles. Als ich starb sagte man mir, dass es nicht genüge zu existieren, man solle auf der Erde l e b e n. Ich wurde erneut auf den Planeten geschickt. No. 2: Dieses Mal wurde ich bereits als Automat geboren. Ich war Sohn eines armen chinesischen Arbeiters und man sprach niemals mit mir darüber, was das Leben sei. Ich arbeitete meine ganze Existenz lang, hatte einige Automaten beider Geschlechter und starb mit sechsundfünfzig Jahren an Krebs. Man sagte mir, es sei nicht meine Schuld, aber es genüge nicht zu existieren, man solle auf der Erde l e b e n. Ich wurde erneut auf den Planeten geschickt. No. 3: Ich existiere. Ich hatte viele Existenzen, aber erinnere mich nur noch an die zwei vorhergehenden. Jetzt bin ich wieder bourgeois. Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, aber zögere noch, meinen Verstand an das


ZABV zu schicken. Ich bin mir bewusst, dass der Großteil der Menschen als Automaten geboren wird und ich habe schon die meisten meines Alters ihre gelben Umschläge verschicken sehen. Zuerst war ich wütend, dass man mich mit all den Automaten alleine lies, doch jetzt schere ich mich einen Dreck darum. Ich besitze einen mit einer einzelnen Patrone geladenen Revolver und spiele einmal am Tag russisches Roulette. Ich habe es bisher nicht geschafft, mich umzubringen, aber was zählt ist, dass ich die Entscheidung getroffen habe. Ich habe verstanden, dass man nicht irgendetwas machen muss, um unsterblich zu werden, ganz im Gegenteil – man ist es schon oder wird es nie. So bin ich schließlich ruhig geworden. Ich schreibe Gedichte, um sie anschließend zu verbrennen, welch außerordentlicher Spaß! Ich habe schon tausend Songs geschrieben und wieder vergessen, mir ist es egal, den anderen auch, denn sie wissen es nicht. Dies ist mein drittes Leben, wenn ich mich richtig erinnere; ich bin suizidaler Poet und der glücklichste Mensch auf Erden. Hier also eine realistische Geschichte, die genau dasselbe sagt, was wir eben auf anderem Weg gefunden haben. Ignorieren wir also ihre Schwächen, ihre Klischeehaftigkeit und ihr unnötiges Pathos. Gehen wir zum nächsten Beispiel, vom selben Autor:

Essai d’un petit scénario (übers. aus dem Frz. von AUT) Der folgende Dialog spielt sich in einem Buero der Post ab. Die Angestellte ist eine Frau von vierzig Jahren, sie trägt ein edles Ballkleid. Ihr gegenüber ein Mann von dreißig Jahren in der Uniform eines Offiziers der napoleonischen Armee. In der Schlange stehen Menschen mit Kleidung aus verschiedenen Epochen. Die Angestellte: Der Mann: A.: M.: A.:

M.:

Bitte? Hier mein gelber Umschlag, könnten Sie ihn bitte frankieren? Das macht drei Aphorismen. Erstens: Ich bin zur Freiheit verdammt. Oh, entschuldigen Sie, wir können seit zehn Jahren keine existentialistischen Aphorismen mehr akzeptieren. Wussten Sie das nicht? Aber nein, Entschuldigung, das


ist mein erstes Mal hier. Macht nichts, macht Garnichts. Also ein anderer, bitte. M.: Also (er zögert einen Moment): Ich denke, also bin ich. A.: Oh, oh, oh, also bitte! Bei allem Respekt, sie sind im Begriff, ihren gelben Umschlag zu versenden, also denken sie auf jeden Fall nicht mehr. M.: Hm, ja, das stimmt wohl. Also… (er wird rot) Alter Mann in der Schlange: Bitte beeilen Sie sich doch! M.: Entschuldigen Sie, ja…Der Mensch ist nichts, das Werk alles. Das ist Flaubert, nicht wahr? A.: Mein lieber Herr, wie sie ganz genau wissen ist das falsch. Also nochmal, los, los! M.: (Er nimmt ein Notizbuch aus der Tasche und blättert) Da ist ja nichts drin! Bitte verzeihen Sie, aber mir fällt nichts mehr ein. A.: Bleiben Sie ruhig. Geben Sie mir nun bitte ihren gelben Umschlag. M.: Aber ich muss doch zahlen! A.: Ach nein, gehen Sie…niemand zahlt hier. Auf Wiedersehen. M.: Danke. (Ab) A.: Bitte? Der nächste Kunde: Hier mein gelber Umschlag… A.:

Ende Hier findet sich das, was wir als Allmachtlosigkeit beschrieben haben – in Kurzform. Verzeihen wir also dem Autor wiederum, diesmal die zu sehr gewollte Absurdität der Erzählung. Wir sind dreist genug, uns weiter alles nötige bei anderen zusammen zu klauen, also fügen wir noch ein paar Zeilen aus einem Essay des bereits bewährten Dichters an:

Sur le fatalisme (uebers. aus dem Frz von AUT) Es war einmal, dass der Fatalismus die Idee einer Determination durch den Gott darstellte. So steht es


geschrieben war die Ausrede Jacques, zu tun und zu lassen, was er wollte. Heutzutage existiert der Fatalismus immer noch, doch man hat den Gott ausgetauscht. Im einundzwanzigsten Jahrhundert scheint es ein ganzes Pantheon an Göttern zu geben, von den Völkern angehimmelt, wie der Verstand, die Wissenschaft, die Technik, die Demokratie, die Menschenrechte, etc. Diesen Göttern den Dienst erweisend hat man vergessen, dass es sich im Grunde nur um einen handelt: Die Zukunft. Man ist sich sicher, dass alles besser werde, als es ist. Dies ist das zentrale Element des zeitgenössischen Fatalismus. An die Evolution der Dinge und Menschen zu Glauben bedeutet heutige Passivität; an morgen zu denken ist eine Form der Prokrastination. Es handelt sich um eine Struktur des Denkens, ein strukturiertes Denken einer Religion, die einen Gott anbetet, der sich Morgen nennt. Dieser Gott ist auch einer der Politik, gleichsam für die Progressiven und Konservativen. Sicherlich muss etwas geändert werden, die Armut, das Wirtschaftssystem und tausend andere Dinge. Aber man kann den Zustand der Dinge, welcher nichts als ein Resultat einer gewissen Struktur des Denkens ist, nicht ändern, ohne vorher jene Struktur geändert zu haben, von der ich spreche. Man kann nicht mit einer politischen Revolution beginnen, man muss mit einer Revolution des Geistes all jener beginnen, die des Denkens fähig sind. Die Menschen lieben, was sie glauben macht, sie dächten und hassen, was sie denken macht , so sagte es Aldous Huxley – er hat vollkommen recht. Also, was zählt ist heute, und infolge dessen müssen wir die Vergangenheit übergehen und den Gott, der sich Morgen nennt, vergessen. Was ist nun der heutige Fatalismus? Im Prinzip ähnelt er den Fatalismen der Vergangenheit, aller Epochen: Zu glauben, der Zustand des Lebens und der Welt sei natürlich, obwohl es sich im Gegenteil um eine Ansammlung von Absurditäten handelt. […] Wir sehen, der Mann ist unserer Meinung, beziehungsweise wir seiner – wahrscheinlich ist er uns gerade deshalb so sympathisch. Wollen wir nun zum Ende kommen. Fühlen wir uns nicht klüger als zuvor – es wäre eine dumme Idee an sich –, aber stellen wir fest: immerhin haben wir die Fatalität dazu gebracht, sich vor uns auszuziehen, um sie dann für hässlich zu befinden und rauszuschmeißen – erlauben wir uns also ein bisschen falschen Stolz.


AUT Die Methoden LSD – Eine Einführung Das, was wir Lobotomes Surrealistisches Denken nennen wollen, ist eine beliebige Anzahl von Methoden, welche nur gemein haben, keinem Zweck zu dienen. Die Lobotomie, ein operative Trennung von Thalamus und Fronttallappen, ist eine von vielen Errungenschaften, welche Barbaren zur gewaltsamen Wiederherstellung von menschlicher Funktionalität unter dem weißen Deckmantel der Wissenschaft hervorgebracht haben. Wir entwenden dieses Wort mit gegenteiliger Intention, denn unsere Methoden sollen genau diese Funktionalität in Frage stellen. Wir halten jede Form von Geisteskrankheit für eine Begabung (sie verhindert die Anfälligkeit der Kranken für das Automatenwesen der Gesunden), weil sie eine Sicht auf die Welt ermöglicht, die weder durch gesellschaftlichen Konformismus noch durch die Beschränkung, die manche Vernunft nennen, behindert ist. Die Anomalie des Geistes, so wird man anführen, führe zu anderen Formen von Automatismen – ja, entgegnen wir, doch zu keinen, die sich durch irgendeine Art von Logik selbst rechtfertigen. Diese Automatismen werden notwendigerweise, vor allem durch die Ansprüche der selbsternannten Mehrheit, als Belastung und eben deshalb als Krankheit empfunden. Genau dieses Leiden unter dem eigenen Zwang, dem Nicht-Anders-Können wollen wir als größte humanistische Leistung loben. Im Gegensatz dazu käme niemand Vernünftiges auf die Idee, unter jener Form von Barbarei, die wir als bürokratische Manie bezeichnen, zu leiden. Menschen im Namen des Gesetzes oder unter noch dümmeren Ausreden wie historischer Notwendigkeit zu ermorden, hat diese angeblich mental gesunde Mehrheit immer ohne Murren hingenommen oder gar freudig-treu ausgeführt und stets zusätzlich in logischer oder vernünftiger Weise moralisch gerechtfertigt. So finden beispielsweise Terroristen oder Serienmörder1 immer höchstes mediales Interesse, obwohl sie sowohl qualitativ als auch quantitativ selbst gegen die Schreibtischtäter aller Staaten und Machtapparate lächerliche Amateure darstellen. All jene, die mit zahlreichen Argumenten die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber der Masse untermauern wollen, verweisen wir auf den alten Albert Camus: Sie können sich gerne jederzeit durch den Suizid entziehen und sollten es unbedingt tun. Doch zur zu unserem eigentlichen Thema, den Methoden LSD. Der Gebrauch von Drogen aller Art ist schon immer 1Der

Unterschied besteht nicht in der Sache, sondern in dialektischen Ausrede ersterer – er ist rein terminologisch.

der


allgemein beliebt gewesen, um sich die Überwindung von Geistesgrenzen vorgaukeln zu lassen. Wir haben dagegen nichts einzuwenden, doch können nicht verschweigen, dass wir es für eine plumpe Methode halten. Im Folgenden seien nun einige noch sehr simple Beispiele für LSD genannt – wir bitten alle Leser, ihre Ideen mit uns zu teilen. Das erste Beispiel sei die Funktionalität von Sprache. Gerade wissenschaftliche Texte, die für sich fälschlicherweise Objektivität in Anspruch nehmen (und diese durch inkonsequente Pseudo-Selbstreflexivität zu beweisen glauben), sind ein Musterbeispiel für den Fehlglauben, man könne mit Worten etwas sagen. Man nehme also einen Text, hier Propaganda in the Wars of the Roses von Richmond Collins, und unterstreiche in jeder Zeile eins oder maximal drei Wörter (wenn es sich um Idiome o.ä. handelt). Dann breche man an beliebiger Stelle ab, wo es gerade sinnvoll erscheint, oder wenn dem gewählten Wort ein Punkt folgt. Hier ein Ergebnis:

Lambeth makes words in public places, especially in the posting on the instance between natural manipulation of the day by a better description. All kinds of information were cried in market place using the metropolitan academic theologians spurious to the throne: no more typical of the 15th century kingship.2 Oder, aus Almut Höferts an intellektualistischer Hohlheit kaum zu überbietendem Artikel Anmerkungen zum Konzept einer transkulturellen Geschichte in der deutschsprachigen Forschung3: Der Neologismus wird für sich stehend gebraucht. Er hat Begriffe für noch gebräuchliche holistische Kultur versus Politik, Religion, Wirtschaft. Bedeutungen, die Götterverwendung von irgendeiner Weise anders als Gegenbegriffe zur Welt in Gruppen von Wagner unserem Handeln und Mitmenschen die Frage der vielfachen kulturellen Hybriditäten zusprechen. Das Wort Kultur füllt umfassende Rahmen, jedoch bestimmt ein potentiell globaler Rahmen zwischen nichteuropäischen Kulturen oder die seit dem 19. Jahrhundert mit der räumlichen Großkategorie oder Kultur inzwischen synonym schwanken, sind vertreten. 2Collins,

Richmond, Propaganda in the History Today 42 (1992), S. 12 – 18.

3Höfert,

Wars

of

the

Roses,

in:

Almut, Anmerkungen zum Konzept einer transkulturellen Geschichte in der deutschsprachigen Forschung , in: Comparativ 18 (2008), S. 15 – 26.


Diese Wortmalereien haben keinen eigentlichen Inhalt, beziehungsweise nicht mehr den des Textes, dem sie entstammen. Interessanterweise bleibt jedoch die Klangfarbe der Sätze dieselbe des Herkunftstextes, der (sozusagen) emotionale Eindruck auf den Leser ist identisch. Wie wir sehen, lässt sich das vorgeblich über einen wie auch immer gearteten Sinnzusammenhang Vermittelte auch ohne den Sinn ausdrücken. Braucht es mehr, die Unfähigkeit der Sprache aufzuzeigen? Weiterhin empfiehlt es sich, Texte gemeinsam zu verfassen. Die Idee ist uralt, sowohl die Champs Magnétiques Bretons und Soupaults als auch das Cadavre Exquis sind hervorragende Beispiele. Was uns daran interessiert, ist nicht der poetische Wert solcher Werke, sondern die Tatsache, dass die Grenzen des (angeblich existierenden) individuellen Schreibstils völlig verschwimmen. Da wir sowieso nicht an die Lüge der Individualität glauben, sondern an das Genie einer elitären Gruppe4, fällt es uns so leichter, den uns fälschlicherweise anerzogenen Hang zur Abgrenzung zu überwinden. Dass wir bei einer geistigen Tätigkeit beginnen, erscheint uns absolut notwendig. Andere werden folgen. Als Beispiel darf der in dieser Ausgabe angefügte Text Am siebzehnten Tag des Jahres Mai gelten, der aus einer Kombination kollektiver Bewegung unter Drogeneinfluss entstanden ist. Wir werden in den folgenden Ausgaben weitere Beispiele nennen. AUT

The Sublime is disappointingly elusive Wer schon einmal die weltweit größte Anlaufstelle für kulturelle Masturbation besucht hat, den Louvre, und sich dabei weder von der foule in den Wahnsinn hat treiben lassen, noch die wenigen dort versteckten Schätze überrannt hat, wird schwerlich das großartigste Gemälde des Museums ignoriert haben können: das Louvre en ruines von Hubert Robert. Die bekannteste Kunstsammlung der Welt zum Zeitpunkt ihres Baus als ein zerstörtes, von der Natur wiedererobertes und von Plünderern zerfleddertes Steinwrack darzustellen, ist wahrhaft sublim. Die geistige Zerstörung durch die Touristenmassen sowie die noch ausstehende materielle sind in diesem Tableau vorweggegriffen, und es bestätigt Robert gänzlich, dass zur selben Zeit die Kirche von Cluny, die größte europäische Leistung des Mittelalters, genauso in 4 Alle sozialen Gruppen jeder Form auch immer sind durch ihre Distinktionsmechanismen auf eine gewisse Art elitär.


Trümmer geschlagen wurde, wie er es dem Louvre prophezeite. Es könnte wieder der ewige Pessimismus-Vorwurf angeführt werden, der immer dann zu Rate gezogen wird, wenn man Menschen daran hindert, sich die Realität schönzureden. Das soll uns jedoch nicht interessieren. Der eigentliche Wert und die Genialität dieses Bildes liegen in der Übersteigung der Zeit. Das Entstehende wird als bereits Vergangenes gesehen, damit die plumpen Regularien der Chronologie ausgeschaltet und somit schält sich dieses Kunstwerk im Wortsinne aus seinem zeitlichen Korsett frei. Doch Roberts Louvre soll nicht mehr als eine Einleitung sein, denn wir wollen jemanden vorstellen, dem genau das gelungen ist, nämlich die Ausschaltung der Zeit. Dies ist, insbesondere im Jahr 2011, eine außergewöhnliche Leistung, die aus dem Meer an konlokativer Pseudokunst heraussticht. Der Name des Künstlers ist James Kirby; er würde allgemein als Musiker bezeichnet werden, da er mit Ton und Musik arbeitet, doch was er unter dem Pseudonym The Caretaker veröffentlicht hat, ist vielmehr der endgültige Beweis des Todes der Musik. Eine genaue Beschreibung seines Werks ist kaum möglich. Es darf sicherlich davon gesprochen werden, dass er Klang- und Kompositionsfragmente, die der letzten Jahrhundertwende entstammen könnten, mit dem Knarzen einer Grammophonnadel unterlegt und mit zahlreichen Störgeräuschen derart surreal verfremdet, dass selbst André Breton seine Aussage, Musik könne keine surrealistische Kunst sein, zurücknehmen würde. Diese Klänge schweben schließlich in einem scheinbar endlosen Hall. Da es sich nicht um originale Soundfetzen handelt, sondern Kirby alles selbst aufgenommen und produziert hat, kann keinesfalls von rezipierender Arbeit gesprochen werden. Wir haben es weder mit auf alt gemachter Hipstermusik zu tun, noch mit neu aufbereiteten vergilbten Stilblüten der Musikgeschichte. Diese Töne kennen keine Zeit. Sie könnten den Ruinen von Persepolis genauso entstammen wie der letzten abgespielten Schellack-Platte im Berlin Anfang Mai 1945. Diese Postmusik ist nicht laut, nicht aufschneidend, schert sich einen Dreck um Effekte und ist daher von absolut apokalyptischer Gewalt. Die Musik in den Stücken ist so oft klangtechnisch gespiegelt, so weit weg und unecht, dass sie ihren musikalischen Sinn nicht mehr erfüllt. Magritte würde seinen Hut ziehen und sagen: Ceci n’est pas de la musique. Wir salutieren ebenfalls. AUT

Helden der Arbeit


Wir sind in einem Baumarkt. Aus irgendeinem Grund gibt es hier eine Heimwerkerecke, in der wir gerade an einem Miniaturtonstudio arbeiten. WM hat extra für die heutige Zeit des chronischen Großstadtplatzmangels einen theoretischen Schrumpfungsapparat für Bands entworfen. Ob das Ding funktioniert, wenn es nur geschrieben steht? Er ist jedenfalls mächtig stolz. Doch er steht nahezu emotionslos da. JP sitzt auf einem Stuhl daneben, spielt E-Gitarre ohne Verstärkung und grinst wie ein kleiner Junge. So ein fauler Sack. JW, der außerordentlich handwerklich begabt zu sein scheint, hämmert, sägt, schraubt, was das Werkzeug hält. Ich arbeite wie ferngesteuert, habe aber keine Ahnung was ich da eigentlich tue. KR hat ein Glas Whiskey in der Hand, eine Zigarette im Mund und befestigt die parabelförmigen BHs an der Studioinnenwand. Wie macht er das nur? Das Studio ist ja schließlich winzig. JW meint: Warum nen Studio mieten, wenn man’s auch selbst bauen kann?! JP legt eine Platte von Rumble auf und seine Miene wird, wenn überhaupt möglich, noch jungenhafter – er spielt Luftgitarre dazu. Das Studio ist fertig, aber WMs Apparat funktioniert nicht. Ganzheitliches Entsetzen. GD sitzt nur daneben, schwarz wie er ist, mit Hut und Sonnenbrille im Neonlicht, schüttelt seinen Kopf über das Gehörte und verlangt nach einer Akustik. Aus dem nichts kommen die Worte: Komma her! – Komma du ma her! – Ach jaaaa… Zack, ENDE M von P I Wir stürmen die Treppe hoch, das ruhige und das feige Ich hintenan, der Stolz und der Größenwahn vorweg. Oben im Turm sitzt der weise Mann, Vater aller Dichtung, er blickt milde lächelnd auf die Sandburg meiner Worte vor der Flut. Es kommen Töne aus seinem Mund, nicht Worte, sie drücken meine Schultern, doch ob väterlich oder falsch, vermag ich nicht zu erfühlen. II Ihre Augen sind groß, so unendlich groß in ihrem feinen Gesicht, sie schauen durch die Hülle meiner Zeichen. Es sind keine wahren, sondern göttliche Augen, in ihnen glühen das Feuer und die Freude der Entdeckung eines anderen Geistesbrands. Ihr Dasein in dem rasenden, klappernden Zug ist eine Erscheinung im matten Licht der Menschenmasse, die sich windet, drängt, lärmt, ein formloser Brei wie der der Maden in verwesendem Fleisch. Sie sind nicht, sie vegetieren nur, und zwischen ihnen leuchtet die Maria und Helena auf Erden. III In freudiger Erwartung auf den klaren Himmel und die


weite, herrliche Sicht werfen wir die Tür des Turms auf und sehen nur noch, wie der kleine Junge, von ihr nach Vorne gestoßen, sein Gleichgewicht verliert und in die Tiefe stürzt. AUT Am siebzehnten Tag des Jahres Mai Wir saßen in einer Höhle: wir waren restlos ausverkauft. Doch wir hatten keine Zeit zu tanken. Nicht in unserem momentanen Zustand. So leer wie der Tank war auch der Wein – so können wir nicht sein. Wir mussten weiter gen Himmel. Sepp hatte das Motto vorgegeben: So und nicht anders sollte es sein. Wir redeten immer leicht aneinander vorbei, doch der Teufel reitet auch nur dienstags. Seine Beute holt er samstags nach den Hochzeiten. Das tat er schon in seinen Lehrjahren. Als er als ein Reisender auf einem Schiff anheuerte und die Sonne wie ein zerschmelzendes Zitroneneis in Richtung des Meeres hinabstieg, fühlte er sein ganzes Ich. Mit ein paar hamburger Jungs rauchte er südamerikanische Zigaretten. Die Drogenzeit und die Reagan-Ära waren alles, was er von den Staaten kannte. Nachdem er in Nürnberg seine Ausbildung abgeschlossen hatte fragte er sich: Was mache ich jetzt? Es ist vorbei. Die Zeiten sind vorbei, in denen er an seine Vergangenheit dachte… er hatte das schöne Leben vor sich. Amerika, das Land der Träume. Er musste nur nach Vorne schauen. Doch auch die größten Berge konnte man nicht ohne Helfer besteigen, das hatte sich der Teufel auf die Fahnen geschrieben. Nach der Ankunft wartete hoffentlich schon ein hochdotierter Job auf ihn. Onkel Werner hatte es ihm versprochen. Sonst müsste Heinrich eben wieder Sauerkraut kochen. Und Sauerkraut verachteten sie inbrünstig. Seit Uropa Horst von einem Amerikaner Kraut genannt worden war, war der ganzen Familie der Appetit auf das kohlähnliche Gewächs vergangen. Eines jedoch war sicher: Keine Seele nördlich des Mississippi konnte so gut Sackhüpfen wie der junge Teufel Höchstselbst. Bloß wusste er das da noch nicht. Das würde ihm sicherlich den Popo, also verzeihen Sie… den Hintern retten! Es war eine Geburtstagsparty in einem gekachelten Raum – nichts außergewöhnliches also. Ihre Aufregung hingegen war durch nichts zu überbieten. So frönten sie dem traurigen Exzess im Glas, natürlich gefiltert. In diesem Nebensatz schwankte soviel Verachtung mit, das es Mister Ripley die Sprache verschlug. Sie stand im Meer, weil sie sich umgebracht hatte. Sind wir im Zug? fragte Dean, und wenn ja, welche Farbe haben die Kopfpolster? So oder so ähnlich dachte


der Unbekannte Zugreisende, der sich seine parfümierten Nelkenzigaretten am linken Ohrläppchen anzuzünden pflegte. Auf ihm wuchs von nun an eine Kakteee ( mit drei e bist du auf der sicheren Seite!), aber das störte ihn ohnehin nur, wenn er mit seiner Mutter neben der großen Fontäne hüpfte. Nichtsdestotrotz aßen wir niemals Scheinkäse, das mundete einfach nicht in unseren Rachen hinab. Oliven jedoch stellten unsere Rettung dar, nachdem wir alle Vanille-Bits verschlungen hatten. Als dann noch ein storchenförmiger bürgerkriegserprobter Exilkolumbianer frischgebackenen Blaubeerkuchen auf Eiskonfekt hereinbrachte, war die fröhliche Feststimmung perfekt. RL, AUT & FW

Le poète travaille « Der sich selbst schreibende Text I Die Gesänge sind lange tot, zu Grabe getragen gut und böse; sie ruhen in derselben Gruft mit Gott. Tot ist das ballet mécanique der Wörter, ihr marschmäßiges Schreiten in Massen, ihre den Flugzeugen nacheifernde Schnelligkeit. Tot ist das Wort als Wort, und sogar als nicht-Wort ist es tot, ein Zeichen, so sehr nur Zeichen, dass es keines mehr sein kann. Dies war der Weg der Katharsis der Sprache, vom Verwelken ihrer schönsten Blüte zur Degradierung der reinen Zivilisation, dann der Griff über sie hinaus ins nichts – und nun? Ewiger Fall? Nichts für immer, alles-nichts? Es kann nichts mehr gesagt werden – also kann nur noch nichts gesagt werden –, es will nichts mehr gesagt werden, doch nichts, nichts! – kann es denn wollen? Also wieder die uralten Laute der Primitiven, der Schrei in die unendliche Welt, denn lange, lange muss es her sein, dass die Welt unendlich war. Malen wir auf das Papier wie Kinder, Linien erst und schwarzer Tupfer, sie sind noch alles und nichts, dann Formen; beginnen wir darauf nachzuzeichnen, werden wir realistisch, werden wir wahrheitsgetreu, so reifen wir, doch noch ist es ein Jugendwerk, eine Naivität und unausgereift, romantische Landschaftsmalerei und der Wille, den Körper so zu bilden, wie er sei – und schließlich das Erwachsensein, die Entdeckung der Abstraktion, sie bedeutet das Ablegen der Ozeandampfer und das Abheben der Interkontinentalflüge, sie entfernt sich weiter und weiter von dem, was ist, sieht, dass


es nur zu sein scheint, sieht es wahrhaft scheinen und strebt weg, von den Metaebenen der Wolken hin über sie – nun sind die Wolken, bald scheinen sie nur noch, und dann: - nichts. Wieder! – nichts. Hier, außerhalb der Atmosphäre, hier beginnt die Senilität, das Greisenhafte, und überall ist nur noch der Tod, er hat schon alles zermodert, so sehr, dass wir selbst nur noch zu sein scheinen, und nicht mehr sind – doch das Bild, das wir nun malen, ist das Bild des Kindes, so absolut sublimiert und vergeistigt, dass es, der Regel des Kreises folgend, wieder seinen Anfang erreicht hat – ohne das wir es wüssten. Wir, die Kunst, glauben uns als Weise, Allesblickende, wenn wir bereits wieder Kinder sind. Und es beginnt erneut. Alles. Um nichts zu werden. Es beginnen die Laute, ihnen folgen Formen, darauf die Wille zur Ordnung, abgelöst von der Schönheit und dem Pathos des Gesangs, dann Mechanisierung und Destillation bis hin zur Auflösung. Es ist ein ewiges Sich-drehen, ein ewiges Aus-Sich-Heraus bis zur Implosion; dann gebiert sich der Stern von neuem. Ein Weltenkreis, keine Weltenbahn. II Könnte ich etwas, so würde ich nicht schreiben , so lautet das Motto des Schreibenden. Denn er kann tatsächlich nichts, er schafft nichts, er ist sich selbst das Werk: l’homme c’est l’œuvre – rien c’est tout . Wie schön war unsere Lüge vom Ich, wie hatten wir es uns gemütlich gemacht in der Legende des Seins; so sehr verrannt in unseren Glauben an die Zukunft. Nun, da uns klar wird, wie sehr wir uns immer noch gleichen und wie wenig außer dem Verstreichen der Zeit sich getan hat, saugen wir unsere Vergangenheit, ihre Strömungen und Formen in uns auf wie Schwämme, wollen uns ertränken in dem, was gewesen zu sein scheint. Nachdem Gott zu Grabe getragen war, hatten wir die Zukunft als neue Gottheit errichtet, auf eiserne Gerüste gestellt mit der Nüchternheit der Mechanik, sauber und steril wie Stahl. Wir glaubten diesen Gott selbst zum Sprechen bringen zu können, doch nun hören wir, dass er schweigt und fühlen, dass er nie zu sprechen beginnen wird. Also saugen wir wie Kinder die Milch der Mutter begierig an den Brüsten der Vergangenheit, welche wir als unsere Mutter glauben, um zu verstehen, warum wir h i e r sind ohne Zukunft. Doch sie nährt nicht mehr, sie ist arm und kraftlos geworden, diese Milch, sie gibt uns Bilder, Worte, Taten und altes Wollen, die uns genauso bitter enttäuschen, wie sie uns zuerst berauschen: Sie sind leer, denn sie waren nur Bilder, Worte und Taten, weil sie die Zukunft besaßen. Wir träumen uns also ins Gestern, zerschinden es durch unsere Sucht nach etwas, denn wir haben nichts, lösen es auf, so wir es gefunden haben und schreien vor bitterer Enttäuschung. So sind die Worte auch das Nichts,


denn die Milch ist ausgetrunken und der Rausch verlebt. III Wäre nicht alles immer gleich, so wäre es langweilig. Ein Fühlen, funktional wie die Reproduktion elektronischer Musik: Play. Stop. Repeat. Wir sind die Goldfische, die gegen die Wand des Aquariums stoßen, sich umwenden und bereits vor Erreichen der anderen vergessen haben, das es die erste gibt. Repeat. Diese Wiederholung ist der innerste Rest dessen, was von unserem Sein übrig geblieben ist. Hier trifft wieder unsere Debilität die Form des Infantilen: Das Fühlen, das Leben sind so sehr Automatismen wie der Alltag der Primitiven. Ein Leben in Phasen, vom Erwachen bis zum Schlaf, gleichsam übertragbar auf den Ablauf der Woche, des Jahres, als der Zyklus der Natur und ihrer Fruchtbarkeit noch exakt für den Menschen galt. Genau wie die Primitiven so gebunden sind, dass wir sie als Freie in ihrer Umwelt denken, sind wir Automaten, es liegt vor unseren Augen, unsichtbar. Dieses Leben ist nicht absurd, denn das könnte es nur sein, wenn noch eine Zukunft existierte, nein, es ist die höchste Logik: Kein neuer Fatalismus, der nur eine Ausrede wäre, kein Schicksal, eine Idee der Faulen, sondern anders müssen aber nicht anders können. IV Der Widerstand gegen den Materialismus ist selten geworden; nur noch wenige seiner Kakteen blühen überhaupt noch, Farbtupfer in der Gleichförmigkeit der Wüste. Diese scheint tot und unbewegt dazuliegen, doch sie frisst, zumeist leise, kontinuierlich, manchmal dröhnend und blitzartig im Sandsturm; überrennt Oasen, Siedlungen, Karawanen. Wer sich vor ihr retten, ihr entgegentreten will, gräbt tief und tiefer im gestrigen Sand, versucht noch feuchte Stellen, noch lebendige Schichten freizulegen, oder gar einen kleinen Brunnen zu schachten in der Hoffnung, er könne ihm Geisteselixier liefern. Manch einen lässt die Wüste – nur kurz – gewähren: weil er ihr zu klein, zu unbedeutend ist, als dass sie ihn sofort verschlingen wollte. Doch früher oder später, meist zu früh, fegt sie den Schacht zu und bedeckt die Fundstätte mit ihrem trockenen, toten Element. Wir wissen nicht mehr um die Zeiten, da es ein Paradies gab, endlose Wälder, blühende Felder und Tiere zuhauf. Wer nun gegen die Wüste antritt, kennt sie und nichts als sie, weiß nichts anderes und fühlt doch gegen sie – doch was soll er schaffen, was soll er schöpfen, der er sonst nichts kennt? Er kann seine ganze Kraft gegen sie stemmen, seinen ganzen Willen gegen ihre Notwendigkeit richten, doch er muss unterliegen, er ist zu klein, auch er wird verschlungen werden. So ist es jetzt schon einige Jahre her, dass der letzte Strauch aus dem


Paradies, die letzte Pflanze des Ideals, eingeholt und vertrocknet wurde. Seither gibt es niemanden außer uns, seltene Irre, die gegen den Sandsturm anlaufen wollen und somit nichts als Teil des Sturms sind. » V Sei du selbst!, eine Werbung mit lachender, blonder Frau; darüber eine für Kokain mit dem Slogan Don’t be maybe. Sie versuchten es noch, obwohl die Zahl der Nichtkokainisten immer weiter stieg. Doch zurück zur Anekdote, zurück ins Zimmer: Ducasse liegt fiebert auf dem Bett, das Thermometer hat die vierzig schon lange überschritten. Er ist wohl der einzige im Raum, der alles sieht, wie es ist. Er stammelt und strampelt vor sich hin, während mein Adjutant auf sein Ende hofft, um wegzukommen. Wir sind auch aus Höflichkeit hier, weil wir ihn gekannt haben, hauptsächlich aber nur, weil die Angriffe heute pausieren. Es gibt keine Medikamente mehr in der belagerten Stadt, wenig Essbares, aber noch Munition. So hat das Fieber ihn gekriegt. Jetzt scheint es vorbei zu sein, ich schließe ihm die Augen, decke ihn zu, stecke sein Manuskript in die Brusttasche, mein Adjutant hängt einen Zettel an die Tür: Verstorben. Dann runter zum Auto und schnell zurück an die Front, es kann jeden Moment wieder richtig losgehen. Wir nehmen nicht die Ausfallstraßen und großen Alleen, die sind schon gepflastert mit zerschossenen Autos, da die Tiefflieger hier die leichteste Beute wittern. Erst vor zwei Tagen hat es so einen General erwischt, der nicht schnell genug von seinem Gefechtsstand weg zum HQ kommen konnte. Wir jagen hin und her um die Blocks, den Vororten entgegen; nur einmal kurz fahren wir in einen Innenhof, als rundherum leichter Beschuss herunterkommt. Je näher wir der HKL kommen, desto klarer werden das Knattern der Maschinengewehre und der dumpfe Knall der Mörsergranaten. Wir sind noch halbwegs guter Laune, machen Witze, auch über die Verletzten, die in die andere Richtung gefahren und getragen werden, hätte er mal nicht hinter der Hauswand hervorgeschaut, dann müsste er jetzt nicht seinen Darm tragen! und so weiter. In ein paar Tagen wird es vorbei sein, dann können wir nicht mehr halten, und sie werden Paris einnehmen, dann ist der Krieg hier vorbei. Mein Adjutant, ein ziemlich strammer Junge, wird sich wohl eine Kugel in den Kopf jagen, sowas hat er mal angedeutet, ich weiß es noch nicht. Bis dahin werden wir noch die Apokalypse genießen und wir selbst sein, gar nicht maybe. Die Pazifisten sind selten geworden in diesen Tagen, vielleicht ist der junge Soldat einer gewesen, bevor er in Uniform gesteckt und vom MG-Feuer zerrissen wurde. Jetzt kümmert er sich eher darum, erschießt mich doch!!! zu schreien. Als noch Frieden war, hatten sie Ducasse Immoralismus


vorgeworfen, er sei in Teufels Diensten, und ähnliches. Die Zeitungen waren voll von dem Skandal gewesen, da hatten sie ja noch nichts über Frontzusammenbrüche und zehntausend tot oder vermisst am ersten Tag der Offensive zu berichten gehabt. Ducasse lag tot auf seinem Bett, noch warm vom Fieber, und würde wohl erst vom Feind, mehr oder weniger verwest, gefunden werden, wenn der das Haus stürmte. Noch war der aber drei Kilometer weg. Ducasse, der Immoralist, lag also tot herum und hatte aufgrund seiner weichen physischen Verfassung auch noch keine Uniform getragen und keinen Schuss abgegeben. Einer seiner Zeitungskritiker von damals, ich kenne ihn aus der Division, ist jetzt Hauptmann oder sowas und befehligt einen Zug mit ein paar MGs, die schon seit Tagen durch die Sturmangriffe mähen. Er trägt sein Nahkampfabzeichen in Gold mit Stolz, also das Ding, was wir den Bajonettorden nennen. Natürlich ist keiner von ihnen Immoralist, denn es sind ja die Zeiten, die so sind, und dementsprechend sind sie auch sie selbst, nur eben in diesen Zeiten. Einer von den ganz klugen Studenten, gerade frisch im Feuer angekommen, hatte mal gesagt, man könne sich – wie Camus gesagt habe – durchaus durch Suizid der Schuld entziehen. Sein Nebenmann, seit Anfang an dabei und daher weniger Enthusiast des abstrakten Moralismus, meinte: Wir stellen dich an die nächste Wand, wenn du dich zu erschießen versuchst. Das hat den Philosoph sieben Stunden lang beschäftigt, sogar so sehr, dass er beim nächsten Angriff direkt einen Kopfschuss bekam: Feines Ende! sagte sein Kompagnon. Viele Zivilisten waren schon im Stadtkern, obwohl der Großteil von ihnen wohl so dämlich sein würde, erst panisch aus dem Haus zu rennen, wenn der Feind mit einem Panzer davorstand. So ging es den meisten. Oder sie liefen, weil sie die Artillerieeinschläge dahinter für die HKL hielten, in die falsche Richtung, bis sie von unserem oder von deren Feuer zerlegt wurden. Alles in allem traurig anzuschauen, aber man konnte wenig machen, wenn man nicht enden wollte wie der Pazifist. Die Zivilisten verhielten sich sowieso wie Ratten auf dem sinkenden Schiff, noch bevor die ersten Einschläge die Stadt erreicht hatten und sie eingekesselt wurde, war eine Welle von Angst vor der Front hergelaufen wie die Druckwelle vor dem Feuer einer Explosion. Wer über Informationen, also über Geld verfügte, war da sowieso schon weg, genauso wie die feinen Herren aus dem Generalstab, die den Kontakt zum gesamten Kriegsgeschehen aufrechterhalten und den Kampf um die Stadt von Süden her unterstützen wollten. Alle waren also genauso, wie sie sind, so sehr, dass wir einen Teil der Einheit hinter den Linien einsetzen mussten, um die Zivilisten zu erschießen, die unsere Verpflegung klauen wollten, genauso wie die Deserteure.


Als wir im Gefechtstand der Division angekommen waren, bemerkte ich erst wieder, dass ich Ducasses Manuskript noch in der Brusttasche meiner Uniform trug. Das war ärgerlich, denn erwischte es mich, so fraßen es die Ratten, erschoss ich mich, dann auch, und geriet ich in Gefangenschaft, würde ich es vermutlich selbst vor Hunger fressen. Ich könnte es einem Verwundeten oder sonstwem mitgeben, der noch eine Chance hatte, rauszukommen, doch die war gering. Man hatte bereits von einem Ausbruch zu munkeln begonnen, der bald stattfinden sollte, doch ich glaubte nicht recht daran. Wenn ja, dann würde es sowieso ein Massaker werden, weil viel zu spät. Und es konnte nur zu spät sein, denn wer hätte es machen wollen? Der Generalstab wollte nicht, jeder verteidigte Häuserblock entlastete die Front woanders, die Offiziere wollten nicht, weil der Generalstab nicht wollte, und als einzelner war es völlig sinnlos. Also würden die wenigen Offiziere, die nach Abbruch des Funkkontaktes noch nicht übergelaufen waren oder sich erschossen hatten, den traurigen Rest noch einmal in irgendeine Richtung nach vorne jagen und die meisten würden vor den MGs und Panzern liegen bleiben. In Unterzahl und schlechter Ausrüstung gewinnt es sich eben schlecht. Mein Gedankenfaden reißt ab, ich blicke in das angespannte Gesicht meines Adjutanten, er hört, ich noch nicht, ich jetzt auch, er ruft: Achtung! Deck… VI Dies ist Mittagslicht, ich weiß es. Das frühe Morgenlicht habe ich nicht wahrgenommen, einmal kurz ins späte geblinzelt, um wieder zurückzusinken. Drehe ich mich nach rechts und links, egal, es wird das Pochen im Kopf nicht beseitigen. Aufstehen, Essen, die Umnachtung vertreiben, die Verschwendung des Tages bereuen. Der Boden ist dreckig von Bier und Asche, der Raum stinkt nach Inkonsequenz und falschem Rausch, der sich nun wieder holt, was ihm gebührt. Wasser, Wasser! Nicht einmal das Hemd abgelegt, ein Jeanshemd, sieht zugeknöpft bis oben und in schwarz-weiß abgelichtet aus wie ein Uniformhemd. Ja, die Tasche. In ihr steckt Papier, gefaltet, nun raschelt es kurz, dann: Der sich selbst schreibende Text I Die Gesänge sind tot, zu Grabe getragen… Noch verschwimmt der Text. Ich blicke aus dem Fenster. Dort steht ein kahler Vorfrühlingsbaum, unten liegt die Straße, der übliche Verkehr lärmt hoch. Auf der anderen Straßenseite eine Tankstelle. Ich habe gefiebert, ich habe


mich fiebernd geglaubt, bis eine Hand sich auf meine Augen legte, dann fiel ich in tiefen Schlaf. AUT Don’t listen to the words I say Der Blitz des Kochlöffels strebt die Übernahme der Küchendiktatur an. Doch Napoleon mit seiner Gasherd-Armada verhindert den Putschversuch. Das Brettchen bildet den Höhepunkt der Pizzadynastie, welche durch die Kettensägenmotormesser die zweitgrößte Macht bilden. Doch ohne Batterie funktioniert in dieser Welt leider nichts, weshalb die allgemeine Stimmung durch Desinteresse eine Flut von Langeweileenthusiasmus, welcher mit Wein und Ruccola vernichtet werden will, hervorzubringen scheint. Die Jünglinge, welche sich durch bläuliche Schuhe, Jeans und einem nicht zu definierenden Haarschnitt zu einer ganz neuen Bewegung zählen, welche den Puls der Zeit in keinster Weise zu spüren scheint, versuchen den hart zu überwindenden Alltag mit unbekannten französischen Filmen und Supertrampplatten zu ertragen und in kleinen unaufgeräumten Räumen irgendwie runterzukommen. Meistens ist dann ein Monolog über französische Literatur und Filme auf der einen Seite und ein rhythmisches Schmatzen, schnaufendes unverständliches Gemurmel mit halbvollem Mund auf der anderen Seite zu erlauschen. Sobald dem Monolog-Schmatzdialogkomplex nichts mehr hinzuzufügen ist, wird grundlos gepfiffen, bis die Gedankenpause überwunden und neuer Gesprächsstoff gefunden wurde. Farbkonstellationen auf Cabrios sind des Weiteren sehr beliebt. Trotz der offiziellen Macht des Französischen gelingt es dem plumpen Amerikaner dennoch, einen gewissen minimalen Anteil an der Gesellschaft zu ergattern. Aliens mit zu kleinen Untertassen bedrohen die in geschlossenen Räumen sitzenden Jünglinge. Insgeheim und vor allem ins Gespräch vertieft mit sich selbst schmieden die Jünglinge ihre Verteidigungspläne. Die großen silbernen Uhren sind Teil des großen ganzen Plans. Sie, die J.‘s, wissen noch nicht, dass die Aliens von Planeten Zeluj seit Jahren die Entwicklung des Langeweileenthusiasmus beobachten und das Gen des mittlerweile angeborenen Kulturpessimismus zu isolieren versuchen wollen, welches das Langeweileenthusiasmusphänomen als Nebenwirkung hat. MB Dr. S. Der Wind! Wie alle Reiseföhne dieser Welt zusammen, brausend wie eine Magnesiumtablette in stark kohlensäurehaltigem Mineralwasser und tosend wie eine Horde


Alkoholiker, die Freibier wittert, so blies der Wind heute nicht. Es war so windstill, dass die Wetterfahne, die die Kinder im Garten aufgehängt hatten und die sehr detailliert eine Vagina zeigte, schlaff herumhing wie eine textilgewordene Erektionsschwäche. Die Windstille war so vollkommen, ja schien so unwirklich, dass Dr. Spielchen sie wohl zur Kenntnis genommen hätte... hätte er nicht in seinem Keller gesessen und Parolen wie Radieschenpreise müssen unten bleiben – Scheiß Bullenstaat! erdacht. Nebenbei arbeitete er am neuen Album seiner Band Semmelknödel of Hell, das er Semmelknödel of Hell and the überaus bloody Weißwurstmassaker zu nennen gedachte. Als Fronttrianglist dieser, ihren Stil selbst als Death-Uff-Tata-Prog-Core charakterisierenden Band, war er schließlich für das Songwriting gar nicht zuständig. Aber er brauchte Geld, und war jung, daher betätigte sich der gelernte Zungenroller als Gynäkologe – mit Erfolg. Denn es erfolgten zahlreiche Anzeigen wegen sexueller Belästigung, seit dem er seine Praxis in der Schlitzgucker Straße 69 eröffnet hatte - aber nicht gegen ihn, sondern gegen jemand anders, der mit der ganzen Sachen überhaupt nichts zu tun hatte. Das machte Dr. Spielchen froh und er fütterte die Vögel im Garten mit Styropor. Seine Kinder hingegen bekamen nur reinstes Bio-Heroin. Manchmal gönnte er sich auch eine Wurst aus Chrom. Seine Frau Uschi M. menstruierte. Darum konvertierte Dr. Spielchen zum Islam und verbrannte die Wetterfahne, welche in anklagenden Flammen unterging, die so rot leuchteten, wie die Regelblutung der Sonne selbst. Dr. Spielchen war schon wieder zur Masturbation gezwungen und ging, nachdem er an seiner Selbstbefleckung erblindet war, in den Baumarkt um zu sterben. Hieraus lernen wir, dass Ärzte auch nur brave Familienmenschen wie du und ich sind. ST Augentier Licht, das auf Teilchen fällt – Alle sind wir seine Spiegel. Der Sehnsucht des suchenden Blickes Entgegnen gehässige Wolken kühl: Ein heller Stern verbirgt zehntausend Sonnen! Wir sehen nur, worauf wir achten Und achten das Gesehene gering… Im Traum erschien mir ein Heiliger: Er hatte sich die Augen ausgerissen


Mit der bloßen Hand. Aus leeren Höhlen quoll noch Blut. Lächelnd tastete er mein Gesicht Und seufzte selig, dass er alle Welt so deutlich höre… Wir rochen beide seine fade Lüge, Blieb er doch der Sklave, der er war – Da hob er an zu singen, der blinde Mann Von Menschen und Göttern aus ferner Zeit Von Liebe, Kränkung und Krieg Und ich sah, sah! sah alles Mit geschlossenen Lidern an. Erschüttert flossen meine Tränen Mit seinem Blute zusammen Und zitternden Fingers schrieb ich damit Die Chiffren unsterblicher Schönheit. FS

Aphorismen der Woche

Der Apfel fällt nicht weit vom Stecher. …wenn das Newton gewusst hätte! Das Mittel rechtfertigt jeden Zweck. Unsere einzige Wahrheit. Mein Name ist Nase, ich weiß von nichts. Dem ist nichts hinzuzufügen. Alles kann in diesem Kriege möglich sein, nur nicht, dass wir jemals kapitulieren. (Joseph Goebbels April 1944) Sowohl sprachlich als auch inhaltlich falsch. Von unserer Seite ein schadenfreudiges Ha-ha!


-Autoren-

Maria Blonde; geboren in Bonn, hauptberufliche Muse, Dichterin, quantitative Photographin und Entdeckerin des völligen Kommunikationszusammenbruchs (Richter’sche Methode). Robin Lambrecht; geboren in Bangkok, Künstler vor und nach dem Herrn, Erfinder der Schnöselei, Photograph, Dichter, Gründer der Yogagruppe Pseudointuisten für Rhababerkuchen und auf vielen CDs zu hören. Florian Wittner; geboren in Athen, studierte Lockenwissenschaft bei Plato und dem Dalai Lama, Dichter und Protagonist zahlreicher Ereignisse, bester passiver Musiker der Welt. Florian Seitz; geboren in Maribor, erster echter Poet nach dem Untergang des Abendlandes, lehnt den Neodadaismus rundherum ab und wird daher gegen seine Willen hier publiziert.


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