Mit Wissen bewegen! Erfolgsfaktoren für Wissenschaftstransfer in den Umweltwissenschaften

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Michael Böcher Max Krott

Mit Wissen bewegen!

Erfolgsfaktoren für Wissenstransfer in den Umweltwissenschaften


… hervorgegangen aus einem Projekt des Programms proVISION, gefördert vom (österreichischen) Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung.


Inhalt Vorwort aus der Forschung: Abschied vom Elfenbeinturm ............................. 9 Vorwort aus der Praxis: Spannende Begegnung mit der Wissenschaft ......... 10 1

2

3

4

Mit Wissen bewegen! Wie geht das? ......................................................... 11 1.1

Forschung, Integration und Verwertung ....................................... 12

1.2

Checkliste für erfolgreichen Wissenstransfer ................................ 15

Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau .................................................... 21 2.1

Vom Kirchturmdenken zur regionalen Kooperation ..................... 22

2.2

Das Projekt „Leben 2014“ ............................................................... 25

2.3

Der Haupteffekt: vom Papiertiger zum Handelnden für die Region ............................................................................................. 28

2.4

Handelnder Regionalverband für eine echte regionale Zusammenarbeit ............................................................................ 30

2.5

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers .............................. 35

Skisport im Klimawandel .......................................................................... 43 3.1

Wintersport und Klimawandel: das Projekt STRATEGE in Schladming ..................................................................................... 44

3.2

Inhalte des Forschungsprojekts .................................................... 46

3.3

Der Haupteffekt: begründete regionale Klimaanpassung statt Panikmache! ............................................................................ 51

3.4

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers ............................. 54

Indikatoren für den Einfluss des Menschen auf Umwelt und Nachhaltigkeit ............................................................................................ 61 4.1

Erste Auskunft über Zustände von Systemen .............................. 62

4.2

Anstoß aus der Politik: „Neue Wege zur Messung des Sozialprodukts“ .............................................................................. 64


5

6

7

8

4.3

Die Projekte: Umweltindikatoren und Kolonisierung der Landschaft ...................................................................................... 67

4.4

Die Effekte ...................................................................................... 74

4.5

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers .............................. 80

Verbesserung des Verstehens zwischen Wissenschaft und Praxis ........ 85 5.1

Sprachearbeit in der Wissenschaft ................................................ 86

5.2

Die Projekte: Sprachearbeit in der KLF und „Text und Sprache in proVISION“ ................................................................... 88

5.3

Effekte der Projekte zur Sprachearbeit ......................................... 92

5.4

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers .............................. 95

Optionen für die Wiener Landwirtschaft ................................................ 101 6.1

Mangelnde Kenntnisse und fehlende Strategien über Landwirtschaft ............................................................................... 102

6.2

Das Projekt: Optionen für die Wiener Landwirtschaft ................ 104

6.3

Der Haupteffekt: Aufwertung der Landwirtschaft durch Integration ...................................................................................... 112

6.4

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers ............................. 118

In Recht umgesetzt: Wasserrahmenrichtlinie der EU ............................ 127 7.1

Wissen für die Umsetzung der EU‐Wasserrahmenrichtlinie in Österreich ................................................................................... 128

7.2

Die Projekte.................................................................................... 134

7.3

Die Effekte ..................................................................................... 139

7.4

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers ............................. 142

Nationalpark Neusiedler See – Seewinkel .............................................. 147 8.1

Forschungen an lange bestehenden Prozessen andocken! ........ 148

8.2

Die Region Neusiedler See – Seewinkel ........................................ 151

8.3

Forschungsschwerpunkte des Nationalparks .............................. 152


9

8.4

Die Effekte ..................................................................................... 158

8.5

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers ............................ 159

Forschung – Integration – Verwertung: das FIV‐Modell des Wissenstransfers...................................................................................... 167 9.1

Grundlagen des FIV‐Modells ......................................................... 167

9.2

Das FIV‐Modell des Wissenstransfers ........................................... 172

9.3

BündnispartnerInnen für einen erfolgreichen Wissenstransfer ............................................................................. 178

9.4

Teilaufgaben erfolgreicher Programmforschung ........................ 183

9.5

FIV‐Modell zur Gestaltung erfolgreicher Wissenstransferprozesse .............................................................. 195

Literaturverzeichnis ......................................................................................... 197 Abbildungsverzeichnis .................................................................................... 207 Tabellenverzeichnis .......................................................................................... 211



Vorwort aus der Forschung: Abschied vom Elfenbeinturm

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Vorwort aus der Forschung: Abschied vom Elfenbeinturm Wenn ich das Wissenschaftsprogramm proVISION mit nur drei Worten beschreiben müsste, dann als „Abschied vom Elfenbeinturm“. Das Bild vom Elfenbeinturm beschreibt einen Ort der Abgeschiedenheit und der Unberührtheit von der Welt, an dem Wissenschaft stattfindet, die den Bezug zur Praxis verloren hat oder deren Ergebnisse nicht darauf ausgerichtet sind, eine Relevanz in der Praxis zu erreichen. Das Programm proVISION hatte hier entgegengesetzte Ansprüche: Wie kann man erreichen, dass gar keine Türme mehr entstehen, weil die Praxis bei der Entwicklung der Forschungsfragen eingebunden und die Forschung auf Praxisprobleme ausgerichtet wird? Wie können wissenschaftliche Erkenntnisse zum Handeln motivieren, zum Umdenken und zur Neuausrichtung in der Praxis? Die vorliegende Dokumentation und Bewertung von Projekten aus diesem und artverwandten Forschungsprogrammen verdeutlichen, was erreicht werden kann, wenn man sich auf transdisziplinäre Forschung einlässt. Sie zeigen, wie dieser Transfer aus der Wissenschaft funktioniert. Qualitativ hochwertige wissenschaftliche Erkenntnisse alleine genügen offensichtlich nicht. Es müssen auch Wege gefunden werden, die zielgerichteten, problemorientierten Ergebnisse zu vermitteln, damit sie anschließend in der Praxis Anwendung finden. Transdisziplinäre Forschung erfordert ein neues Verständnis von Wissenschaft: Einer Wissenschaft, die sich mit der Gesellschaft und ihren Fragen auseinandersetzt, die relevant sein will, die Einfluss nehmen will und die hierfür von der Gesellschaft Wertschätzung erfährt. Im Rückblick auf unsere Arbeiten hoffe ich, dass bei der Durchsicht der in diesem Buch dargestellten Projekte auch die Freude und Begeisterung „rüberkommt“, die diese Arbeiten auf der wissenschaftlichen Seite besonders geprägt haben. Ulrike Pröbstl-Haider Universitätsprofessorin für Landschaftsentwicklung, Erholung und Tourismus, Universität für Bodenkultur, Wien


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Vorwort aus der Praxis: Spannende Begegnung mit der Wissenschaft

Vorwort aus der Praxis: Spannende Begegnung mit der Wissenschaft Anfangs war die Skepsis groß, ob das geplante Forschungsprojekt „Leben 2014“ die Lebensverhältnisse im Pinzgau wird verbessern können. Allzu viele Versprechungen engagierter Forschung haben bisher in der Praxis keine Spuren hinterlassen. Aber wir alle wurden positiv überrascht! Das Lehrforschungsprojekt startete in einer – zum damaligen Zeitpunkt noch benachteiligten Region des Salzburger Pinzgaus – dem Oberpinzgau. Doch alle Vorbehalte wurden entkräftet, das Projekt „Leben 2014“ entwickelte sich hervorragend und wurde von der Bevölkerung sehr gut aufgenommen. Regionale Entscheidungsträger haben sich engagiert eingebracht und gemeinsam konnte – rückblickend betrachtet – sehr viel erreicht werden. Aufgrund dieses Kooperationsprojektes der Universitäten Wien und Salzburg und der Region nahm im darauffolgenden Jahr ein Projektmanager im Oberpinzgau seine Tätigkeit auf. Dieser aktiviert und koordiniert die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden, ein Grundstein für die erfolgreiche Entwicklung der Region. So etwa konnte im Oberpinzgau ein interkommunaler Steuerausgleich umgesetzt werden, ein österreichisches Pilotprojekt. Diese Fallstudie – unter der Leitung von ao.Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr. Andreas Muhar und Univ.Prof. Dipl.-Ing. Dr. Bernhard Freyer – konnte einen belebenden Impuls für die Gestaltung des Lebens- und Wirtschaftsraumes Oberpinzgau setzen und stellt für mich einen erfolgreichen Weg dar, um Wissenschaft und regionales Erfahrungswissen projektorientiert zusammenzuführen. Es war eine interessante Begegnung und Zusammenarbeit zwischen Lehrenden, Studierenden und Ortsansässigen über einen längeren Zeitraum hinweg, welche maßgeblich dazu beigetragen hat, die Lebensqualität im Oberpinzgau nachhaltig zu verbessern. Das vorliegende Buch ist voll von solchen Positivbeispielen und macht damit der Praxis Mut, mit der Forschung als Partnerin ernsthaft auch in schwierigen Situationen um Lösungen zu ringen. Wissenschaftliches Wissen kann helfen, die Praxis zu bewegen. Michael Payer Regionalmanager, Geschäftsführer des Vereines Regionalentwicklung Pinzgau und Geschäftsführer des Regionalverbandes Pinzgau


1 Mit Wissen bewegen! Wie geht das?

Die diesem Buch vorangestellten einführenden Worte aus der Wissenschaft von Ulrike Pröbstl-Haider und der Praxis von Michael Payer zeigen, dass es wissenschaftliche Projekte gibt, die tatsächlich zu konkreten und nachvollziehbaren Wirkungen in der (politischen) Praxis geführt haben. Wissenschaftliches Wissen hat die Praxis bewegt! Uns interessiert dabei, wie solche Erfolge des Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis zustande kommen. Gibt es verallgemeinerbare Faktoren für einen erfolgreichen Praxistransfer wissenschaftlicher Erkenntnisse? Können diese Erfolgsfaktoren an konkreten Beispielen belegt werden? Können diese Erfolgsfaktoren nachvollziehbar beschrieben werden, damit auch andere WissenschafterInnen und PraktikerInnen auf ihrer Grundlage Prozesse des Wissenstransfers besser organisieren können? Und gelingt es, diese Erfolgsfaktoren auch anschlussfähig an den wissenschaftlichen Forschungsstand zu Wissenstransfer und Politikberatung wissenschaftlich zu beschreiben? Letzteres steht zwar nicht im Mittelpunkt dieses Buches – wir haben jedoch für Interessierte die wissenschaftlichen Grundlagen unseres FIV-Wissenstransfermodells als abschließendes Kapitel 9 in dieses Buch aufgenommen. Wir folgen den Spuren, die einzelne erfolgreiche Projekte und ihre Ergebnisse in der Praxis hinterlassen haben. Als Erfolge mit kurz- oder langfristiger Praxiswirkung gelten dabei unterschiedliche Maßnahmen von öffentlichen Institutionen, der Wirtschaft oder der BürgerInnen, die durch Forschungsergebnisse angeregt wurden und dem Ziel dienen, die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen zu fördern. Erfolg in der Praxisumsetzung heißt für uns zum Beispiel:

 Gesetze oder Richtlinien (z. B. eines Ministeriums) wurden unter Einfluss von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen entwickelt oder verändert  Öffentliche oder private Akteurinnen und Akteure haben Forschungsergebnisse (Empfehlungen) übernommen


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Mit Wissen bewegen! Wie geht das?

 Wirtschaftsakteurinnen und -akteure haben ihre Position aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis geändert oder angepasst  Gemeindepolitiken haben sich aufgrund von Ergebnissen der Forschung verändert  BürgerInnen konnten ihre Anliegen mit Hilfe der Forschungsergebnisse besser einbringen  Politische Akteurinnen und Akteure veränderten ihr Handeln  Ein in der Forschung entwickelter Indikator wurde Bestandteil nationaler oder internationaler Monitoring-Systeme  Entwickelte Verfahren wurden verbindlicher Bestandteil bestimmter Politiken  Regionale Entwicklungsstrategien wurden auf der Basis von Projektergebnissen initiiert und durch Folgeprojekte z. B. durch die EU gefördert

1.1

1.1

Forschung, Integration und Verwertung

Forschung, Integration und Verwertung als Schlüssel erfolgreichen Wissenstransfers

Forschung Für einen erfolgreichen Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis ist eine exzellente Wissensbasis Voraussetzung: Nur qualitativ hochwertige Forschung, die den „State of the Art“ des Wissensstandes in einem bestimmten Thema repräsentiert und auch ohne Synthese mit Ergebnissen anderer Forschungsprojekte für sich allein empirisch aussagekräftig ist, kann einen Beitrag zur Erfüllung aktueller gesellschaftlicher Aufgaben, wie dem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen, leisten. Forschungsergebnisse müssen durch die Anwendung anerkannter wissenschaftlicher Methoden und Standards erzeugt werden, damit sie einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beanspruchen können. Der Wissenstransfer in der Umweltforschung hat das Ziel, konkrete Praxislösungen für gesellschaftliche Akteurinnen und Akteure wie PolitikerInnen oder BürgerInnen zu entwickeln. Daher reicht es nicht aus, dass wissenschaftlich exzellente Ergebnisse vorliegen: Sie müssen noch auf die Anforderungen der politischen Akteurinnen und Akteure angesichts der von ihnen in der Praxis benötigten Problemlösungen zugeschnitten werden. Diese Ansprüche


Forschung, Integration und Verwertung

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führen – neben der Qualität der Forschung – zu unseren weiteren Faktoren für den Erfolg wissenschaftlichen Wissenstransfers. Denn die Ansprüche der Praxis an politische Problemlösungen liefern Maßstäbe für deren Integration und Verwertung (Böcher/Krott 2012a). Integration Integration definieren wir als die Ausrichtung der Forschung auf ein Praxisproblem. Das Ziel lautet, dieses erfolgreich zu lösen, nur dafür wird wissenschaftliches Wissen benötigt. Die Integration funktioniert in zwei Richtungen: Forschungsprozesse und -ergebnisse werden so ausgestaltet, dass sie wissenschaftlich-fundierte Lösungen erarbeiten, die wirklich den Ansprüchen der PraktikerInnen an Problemlösungen genügen. Sie müssen relevant für die Praxis sein. Dabei kann diese Ausrichtung auf die Praxis durch mutmaßliche Annahmen der WissenschafterInnen über Praxisprobleme erfolgen. Die Ausrichtung der Forschung auf Praxisprobleme kann jedoch auch über den aktiven Einbezug der gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure in den Forschungsprozess vonstattengehen. Dies ist bei der transdisziplinären Forschung der Fall, wenn PraktikerInnen aktiv im Forschungsprozess mitarbeiten und ihre Ansprüche an Problemlösungen gegenüber den WissenschafterInnen direkt äußern können. Im Prozess der Integration ist auch die andere Richtung denkbar: Praxisprobleme führen zu speziellen wissenschaftlichen Fragestellungen, die dann durch Forschungsprozesse bearbeitet werden. In der Integration werden nicht alle verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Ansprüche der Praxis ausgerichtet: Es findet eine Selektion derjenigen Wissensbausteine statt, die wirklich relevant für politische Prozesse und BündnispartnerInnen der Praxis sind. Diese BündnispartnerInnen sind für uns ein weiterer wichtiger Erfolgsfaktor für den Wissenstransfer: BündnispartnerInnen sind diejenigen politischen Akteurinnen und Akteure, die durch ihre Machtposition in der Gesellschaft in der Lage sind, die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse voranzutreiben. Interne BündnispartnerInnen sind solche Akteurinnen und Akteure der Praxis, die sich selbst am Forschungsprozess und dessen Ergebnisverwertung beteiligen. Sie übernehmen die wissenschaftliche Lösung, weil diese ihnen Vorteile gegenüber anderen Akteurinnen und Akteuren verspricht. Die internen BündnispartnerInnen setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen


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Mit Wissen bewegen! Wie geht das?

dafür ein, dass die Lösung auch von anderen Akteurinnen und Akteuren angenommen wird. Externe BündnispartnerInnen sind solche, die sich nicht am Forschungsprojekt beteiligen, die aber von außen Druck auf Akteurinnen und Akteure der Praxis ausüben, um diese dazu zu bewegen, die konstruktive Zusammenarbeit mit der Wissenschaft zu suchen. Eine starke Akteurin bzw. ein starker Akteur zwingt andere Akteurinnen und Akteure, ihre Probleme mit Hilfe von wissenschaftlicher Beratung selbst zu lösen. Dies kann für die starke Akteurin bzw. den starken Akteur interessant sein, weil sie bzw. er hofft, dass die anderen Akteurinnen und Akteure ihre Probleme zusammen mit der Wissenschaft besser lösen. Lernende BündnispartnerInnen sind solche, die von der Wissenschaft etwas Neues in Bezug auf ihre eigenen Interessen erfahren und als Folge die Interpretation ihrer eigenen Interessen verändern. Die Akteurinnen und Akteure der Praxis beschäftigen sich mit den Erkenntnissen der Wissenschaft zwar nur geleitet von den eigenen Interessen und suchen ihren Vorteil. Durch wissenschaftliche Erkenntnisse erscheinen die eigenen Interessen aber auf einmal in einem anderen Lichte und die Akteurinnen und Akteure erwägen, die eigene Position zu überdenken und neu zu interpretieren. Weise BündnispartnerInnen sind jene Akteurinnen und Akteure, die in der Lage sind, den Stellenwert der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der gesamten Information richtig zu bestimmen und die wissenschaftliche Erkenntnis in richtiger Weise in die Gesamtentscheidung einzubauen. Sie folgen dabei lebensweltlichen Regeln, die weit über die wissenschaftlichen Regeln hinausgehen. Die Wissenschaft spielt eine begrenzte Rolle in der Erzeugung der Gesamtinformation. Das Suchen von geeigneten BündnispartnerInnen und die Erzeugung von wissenschaftlichen Informationen, die für diese wirklich relevant sind, stellt eine Aufgabe der Integration dar. Sind die wissenschaftlichen Lösungen auf die Probleme der Praxis ausgerichtet, so erzeugt der Wissenstransfers Verwertungsprodukte: Diese werden von den Praktikern eingesetzt, um Probleme zu bearbeiten. Hier entscheiden die PraktikerInnen, und die beteiligten WissenschafterInnen haben keinen Zugriff mehr.


Checkliste für erfolgreichen Wissenstransfer

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Verwertung In der Verwertung werden konkrete Transferprodukte (Gutachten, Entwürfe für politische Richtlinien, Broschüren usw.) in die Praxis abgegeben und von dieser genutzt. Die Transferprodukte und ihre Inhalte werden nun zum Teil zu Handlungen der politischen Akteurinnen und Akteure und sind nicht länger der Bearbeitung durch die WissenschafterInnen zugänglich. Bei Transferprozessen aus der Wissenschaft entstehen auch Verwertungsprodukte für die Zielgruppe WissenschafterInnen selbst: Veröffentlichungen in Fachzeitschriften oder Tagungsbeiträge sind Beispiele. Diese wissenschaftlichen Verwertungsprodukte sind wichtig zur Qualitätssicherung der wissenschaftlichen Arbeit, die dem Transfer zugrunde liegt. Mit Veröffentlichungen können die beteiligten WissenschafterInnen zum Beispiel nachweisen, dass ihre Arbeit dem aktuellen Forschungsstand entspricht, die Qualität der eingesetzten Forschung gut ist. Ist durch Gesetze oder Verordnungen die Verwendung von Forschungsergebnissen mittel- und langfristig gesichert, steigt ebenfalls die Qualität der Verwertung. Zusammengefasst: Erfolgreicher Wissenstransfer besteht für uns aus den drei aufeinanderfolgenden Schritten „Forschung“, „Integration“ und „Verwertung“ (FIV-Modell). Nur wenn alle drei Schritte erfolgen und bestimmte Qualitätsstandards erreicht werden, kann von einem erfolgreichen Wissenstransfer gesprochen werden.

1.2

Checkliste für erfolgreichen Wissenstransfer

Aus unserem FIV-Ansatz und den untersuchten Fällen erfolgreichen Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse in praktische Lösungen leiten wir „Bausteine“ ab, die einen Praxiseinsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse unterstützen. Mit der Beachtung dieser Faktoren erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass wissenschaftliche Projekte Spuren in der Praxis hinterlassen: Die Checkliste hilft, alle Faktoren zu beachten, die sich aus Forschung, Integration und Verwertung ergeben. Je mehr Fragen der Checkliste klar und belastbar beantwortet werden können, umso besser wird die Umsetzung in die Praxis gelingen.


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Mit Wissen bewegen! Wie geht das?

Tabelle 1: Checkliste für Praxiseinsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse

Erfolgsfaktoren für den gesamten Umsetzungsprozess

F

1. Liegt eine wissenschaftlich hochwertige Forschung vor?

I

2. Gibt es eine vorausschauende Integration?

V

3. Ist eine leistungsfähige Verwertung gesichert?

1. Wissenschaftlich hochwertige Forschung  Erhebung aller aktuellen wissenschaftlichen Informationen

 Ist die nationale und internationale wissenschaftliche Literatur erfasst und ausgewertet?  Sind die nationalen und internationalen Datenquellen erfasst und ausgewertet?

 Einhaltung der Verfahren guter wissenschaftlicher Praxis  Wird lege artis gearbeitet?

 Sind Forschungsgang und Ergebnisse nachvollziehbar dokumentiert?  Werden die neuen Erkenntnisse wissenschaftlich publiziert?

 Ist die Expertise externer Forschender in schwierigen Fragen hinzugezogen worden?

 Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Projekten und Institutionen

 Sind die aktuellen wissenschaftlichen Projekte bekannt und Kooperationsmöglichkeiten geprüft?  Besteht wissenschaftlicher Austausch mit den relevanten Forschungsinstitutionen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene?

 Unabhängige Aussagekraft der wissenschaftlichen Erkenntnisse

 Sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse für sich allein aussagekräftig und empirisch erklärt?


Checkliste für erfolgreichen Wissenstransfer

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2. Vorausschauende Integration  Orientierung am Gemeinwohlziel, z. B. Nachhaltigkeit

 Sind der Forschungsprozess und die Ergebnisse an den ökologischen, ökonomischen und sozialen Zielen der Nachhaltigkeit orientiert?  Sind Defizite in Bezug auf die Ansprüche der Nachhaltigkeit klar ausgesprochen?

 Werden die Werte der Nachhaltigkeit klar formuliert und gegebenenfalls normativ weiter entwickelt?  Gibt ein öffentlich legitimierter Auftraggeber wie z. B. ein Ministerium Gemeinwohlziele vor?

 Werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in Bezug auf konkurrierende öffentliche Ziele der unterschiedlichen öffentlichen Institutionen auf nationaler und internationaler Ebene abgestimmt?  Verfügen die Forschenden über ausreichende Unabhängigkeit, um der Kritik an den Erkenntnissen Stand zu halten?

 Relevanz in Bezug auf politische Prozesse

 Leisten die Erkenntnisse Erklärungen für die praktischen Probleme?

 Gibt es wissenschaftsbasierte Lösungsalternativen für die praktischen Probleme?

 Gibt es wissenschaftsbasierte Prognosen über die zukünftige Entwicklung der Probleme?

 Werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse den politischen Akteurinnen und Akteuren so rechtzeitig bereitgestellt, dass diese noch handeln können?  Gibt es einen Vorrat an wissenschaftlichen Erkenntnissen über Probleme, die in der Praxis zukünftig auftreten können?  Bewahren die wissenschaftliche Institution und die Forschenden ihre Seriosität und Glaubwürdigkeit unabhängig von aktuellen Streitfragen?  Haben die Forschenden praktische Erfahrungen mit der Verwaltung und Politik?

 Relevanz in Bezug auf BündnispartnerInnen

 Gibt es (interne) BündnispartnerInnen, die sich am Forschungsprozess beteiligen und die Ergebnisse im Eigeninteresse auch gegen politischen Widerstand durchsetzten?

 Gibt es (externe) BündnispartnerInnen, die politischen Druck machen, dass die PraktikerInnen mit den Forschenden konstruktiv zusammenarbeiten?  Gibt es (lernende) BündnispartnerInnen, die bereit sind, alte Überzeugungen zu überdenken und aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu lernen?  Gibt es (weise) BündnispartnerInnen, die wissenschaftliche Erkenntnisse aus ihrer lebensweltlichen Gesamtsicht fair beurteilen und verwenden?


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Mit Wissen bewegen! Wie geht das?

 Zielgruppengerechte verständliche Vermittlung

 Erfolgt die Darstellung der Erkenntnisse in einer Sprache, die die Zielgruppe versteht?

 Werden die Medien eingesetzt, die die Zielgruppe erreichen?

 Erfolgt die wissenschaftliche Information zu einem Zeitpunkt, zu dem der Praxisdiskurs dafür offen ist?

3. Leistungsfähige Verwertung  Beitrag zur Demokratisierung

 Sind die Forschungsverfahren transparent?

 Haben die BürgerInnen Zugang zu den Erkenntnissen?  Haben die Medien Zugang zu den Erkenntnissen?

 Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit

 Werden die Lösungen in einem gesetzeskonformen und unparteilichen Verwaltungsverfahren umgesetzt?  Sind die Lösungen gerichtsfest?

 Ist die Umsetzung wirtschaftlich effizient?

 Beitrag zu „good governance“

 Beteiligen sich die BürgerInnen an der Lösung?  Beteiligen sich NGO an der Lösung?

 Beteiligen sich Wirtschaftsunternehmen an der Lösung?  Ist die Anwendung langfristig gesichert?

 Sachgerechte Problemlösungen

 Ist die Lösung dem Stand der Technologie in der Praxis angemessen?  Sind die veränderten Risiken bekannt und akzeptiert?

 Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs

 Finden die Lösungen Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs?

Die Fragen illustrieren, was mit den Erfolgsfaktoren gemeint ist. Die nachfolgenden Beispiele beantworten viele dieser Fragen im Rahmen konkreter Fälle aus Österreich. Wir hoffen, dass sich die LeserInnen in die Forschungsaufgaben und Praxisprobleme der Beispiele hineinversetzen können. Der erfolgreiche Prozess der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis wird


Checkliste für erfolgreichen Wissenstransfer

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dadurch nachvollziehbar und die einzelnen Faktoren werden erkennbar. Die in der Checkliste formulierten Fragen ermöglichen es, ein eigenes Forschungsvorhaben auf dessen Praxistransfer-Potenzial hin zu überprüfen. In der Planung von Vorhaben ist es darüber hinaus möglich, mit Hilfe der Checkliste den Praxistransfer vorausschauend zu optimieren. Die Checkliste trägt dazu bei, den Wunsch und Anspruch „Mit Wissen (zu) bewegen“ in die Tat umzusetzen.



2

Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

2 Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau – Eine Region gemeinsam entwickeln anstatt lokale Kirchturmpolitik betreiben!

Projektsteckbrief Projekt: Transdisziplinäre Kooperation in der universitären Ausbildung. Die Fallstudie „Leben 2014“ in der Nationalparkregion Hohe Tauern/Oberpinzgau Projektform: Lehrforschungsprojekt: Studierende forschen gemeinsam mit lehrenden WissenschafterInnen der Universitäten an einem konkreten Praxisfall Beteiligte Forschungseinrichtungen: Institut für Landschaftsentwicklung, Erholungs- und Naturschutzplanung (ILEN) der Universität für Bodenkultur Wien Institut für Ökologischen Landbau der Universität für Bodenkultur Wien Institut für Geographie und Angewandte Geoinformatik der Universität Salzburg Unter Kooperation mit der ETH Zürich und der Universität Graz Ort: Oberpinzgau, Bundesland Salzburg Kernfrage: Wie sollen die Landschaft, die Landnutzung und die Gesellschaft in der Nationalparkregion Hohe Tauern in 10 Jahren aussehen? Ziele: – Entwurf von Zukunftsszenarien für eine erfolgreiche nachhaltige Regionalentwicklung im Oberpinzgau – Konzeption konkreter Umsetzungsprojekte, um Regionalentwicklung mit Leben zu erfüllen


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Zeitrahmen: 2002-2005 Finanzierung: Kulturlandschaftsforschung (KLF), gefördert vom damaligen österreichischen Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Kofinanzierung: Regionalverband RV 14 Oberpinzgau

2.1

Vom Kirchturmdenken zur regionalen Kooperation „Für mich war das eines der schönsten Projekte in meiner beruflichen Laufbahn“, ao.Univ.Prof. Dr. Andreas Muhar, Universität für Bodenkultur Wien, Institut für Landschaftsentwicklung, Erholungs- und Naturschutzplanung. „Anfangs war ich skeptisch und dachte, dass nur unnötiges Papier entsteht. Durch den tollen Einsatz der Studenten und Professoren bin ich jetzt davon überzeugt, dass sich viele der vorgestellten Projekte auch verwirklichen lassen“ Bürgermeister Balthasar Rainer, Gemeinde Wald im Pinzgau (zitiert nach Pinzgauer Nachrichten vom 9. Juni 2004).

Das geflügelte Wort vom „Kirchturmdenken“ ist allgemein bekannt. Anstatt gemeinsame Probleme durch Zusammenarbeit mit Nachbargemeinden zu lösen, denken GemeindepolitikerInnen häufig nur an ihre eigene Gemeinde, obwohl es sinnvoller wäre, mit den Nachbarn übergeordnete Interessen zu verfolgen. Regionale Kooperation über enge Gemeindegrenzen hinweg hat häufig sogar Vorteile: für die einzelne Gemeinde selbst, aber auch für alle kooperierenden Partner. Eine nachhaltige Entwicklung von Regionen benötigt die Kooperation über Gemeindegrenzen hinweg. Die Existenz regionaler Kirchturmpolitik war zu Beginn des Projektes „Leben 2014“ eine Ausgangslage. „Leben 2014“ sollte helfen, für neun Gemeinden im Oberpinzgau (Land Salzburg) Zukunftsszenarien und konkrete Projekte zur Umsetzung einer nachhaltigen Regionalentwicklung zu entwickeln (www. partizipation.at). Da die wichtigste Phase des Projektes 2004 stattfand und die beteiligten Akteurinnen und Akteure Zukunftsszenarien mit einer 10-Jahres-


Vom Kirchturmdenken zur regionalen Kooperation

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Perspektive bearbeiteten, diente das Jahr 2014 als Bezugspunkt: Welche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es in den nächsten 10 Jahren? Was soll 10 Jahre später, also 2014, in der Region erreicht sein? Wie wollen wir 2014 in unserer Region leben und zusammenarbeiten? (Glanzer et al. 2005: 1). In den neun Gemeinden des Oberpinzgaus (Nationalparkregion Hohe Tauern) leben 22.000 Menschen (Abb. 1). Die Gemeinden weisen typische Probleme peripherer alpiner Lagen auf (Glanzer/Muhar 2006: 6):

 Mangelnde Verkehrsinfrastruktur: Die Region ist nicht gut durch den Straßenverkehr zu erreichen, der nächste Autobahnanschluss ist eine Stunde entfernt.  Abnahme der Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft als Einnahmequelle der lokalen Bevölkerung: Viele Betriebe werden nur noch als Nebenbetrieb geführt.  Geringes Arbeitsplatzangebot für gut ausgebildete Menschen: Große Industriebetriebe sind angesichts der wenig zentralen Lage der Region kaum vorhanden, die Region ist als „Wirtschaftsstandort“ nicht attraktiv. Ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor stellt der Tourismus dar: Im Winter kommen Schitouristen in die Region, im Sommer Menschen, die wandern, klettern und Rad fahren möchten oder ein Interesse am Nationalpark Hohe Tauern zeigen. Allerdings ist der Oberpinzgau keine Region für Massentourismus wie andere österreichische Schigebiete oder die unmittelbar benachbarte bekannte Region Zell am See (Glanzer et al. 2005: 1).


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Abbildung 1: Das Projektgebiet: neun Gemeinden im Oberpinzgau

Quelle: Glanzer et al. 2005: 1.


Das Projekt „Leben 2014“

2.2

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Das Projekt „Leben 2014“

„Leben 2014“ war ein Lehrforschungsprojekt. Das heißt, an dessen Durchführung waren nicht nur bereits ausgebildete WissenschafterInnen beteiligt. Vielmehr forschten hier Studierende der Universitäten für Bodenkultur Wien und der Universität Salzburg. Diese sollten sich ein Semester lang vertiefend mit einem Thema beschäftigen. Gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung wollten die Studierenden Fragen in Bezug auf die Entwicklung der Region Oberpinzgau bearbeiten und Lösungsmöglichkeiten finden (Glanzer et al. 2005: 1). Durch die gemeinsame Arbeit sollte gewährleistet werden, dass die Wünsche und Anliegen der Bevölkerung beachtet werden. Mit der Konzeption als Lehrforschungsprojekt sollte – durch die Augen der Studierenden betrachtet – eine neue, frische und junge Perspektive in die Region gebracht werden (Glanzer et al. 2005: 1). An „Leben 2014“ waren zahlreiche PartnerInnen beteiligt: Neben den über 40 Studierenden und mehr als 20 Lehrenden über 70 Personen der Region: Unter anderem BürgermeisterInnen der neun Gemeinden, das Regionalmanagement Pinzgau, VertreterInnen des Nationalparks Hohe Tauern und des Landes Salzburg.1 Themensuche, Themenfindung, Themenfelder! Ausgehend von der zentralen Frage „Wie sollen Landschaft, Landnutzung und Gesellschaft in der Nationalparkregion Hohe Tauern/Oberpinzgau in 10 Jahren aussehen?“ (Glanzer et al. 2005: 3) wurden zunächst die zu bearbeitenden Themen identifiziert. Dabei arbeiteten Bevölkerung und externe Expertinnen und Experten zusammen (Glanzer et al. 2005: 3). Mit verschiedenen Methoden (Interviews mit den BürgermeisterInnen und den Projektpartnerinnen und Projektpartnern, Themenworkshops) wurden die wichtigsten Themen der Regionalentwicklung des Oberpinzgaus ans Tageslicht befördert (Glanzer et al. 2005: 3). Beim Themenworkshop arbeiteten insgesamt 86 Personen zusammen, formulierten konkrete Fragen, deren Beantwortung durch die Studierenden erwartet wurden (Glanzer et al. 2005: 4). Die zentralen Probleme sah die Bevölkerung in den folgenden Bereichen: Tourismus, Zukunft der Jugend, Gesundheit und 1

Die PartnerInnen sind in den Projektberichten Glanzer et al. 2005: 2 und Glanzer/Muhar 2006: 8-11 dokumentiert.


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Soziales, Verkehr, Zusammenarbeit in der Region, Selbstbild des Oberpinzgaus, Nationalpark Hohe Tauern und Landwirtschaft (Glanzer et al. 2005: 4). Da es in der Regionalentwicklung generell und in der Region Oberpinzgau speziell häufig schon sektoral orientierte Problembearbeitungen gab (also z. B. getrennte Problemlösungen für die Landwirtschaft und den Tourismus, ohne Zusammenhänge und mögliche „Synergien“ zu beachten), wurden die Themen in bestimmte Themenfelder („Polaritätsfelder“) überführt. Damit sollten der Komplexität der Probleme in der Region besser Rechnung getragen und einer einseitigen (sektoralen) Betrachtung vorgebeugt werden. Durch das Konzept der Polaritätsfelder sollten mögliche Gegensätze in den einzelnen Zielsetzungen aufgedeckt und bearbeitet werden (Glanzer et al. 2005: 4). Im Folgenden arbeiteten dann eigene Arbeitsgruppen zu den Themen und Fragen der jeweiligen sechs Polaritätsfelder, also den jeweiligen Themen über bestimmte Sektoren hinaus. Tabelle 2 dokumentiert die Themen der Polaritätsfelder und die mit ihnen verbundenen Leitfragen. Tabelle 2: Die Polaritätsfelder und ihre Leitfragen Polaritätsfeld

Leitfrage

Einzeln und gemeinsam

„Wie können die Beziehungen zwischen den Gemeinden so ausgewogen gestaltet werden, dass alle daraus Nutzen ziehen?“

Schnell und langsam

„Wie sollen umfassende und nachhaltige Mobilitätskonzepte für die Region Oberpinzgau im Jahr 2014 aussehen?“

Innen und außen

„Wie können Einflüsse von außen mit den bestehenden regionalen Potenzialen des Oberpinzgaus zu einer tragfähigen Zukunftsentwicklung zusammengeführt werden?“

Tradition und Innovation

„Wie können neue wirtschaftliche Impulse im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation gesetzt werden?“

Jung und Alt

„Welche sozialen und freizeitbezogenen Leistungen braucht der Oberpinzgau, damit die Region für die Bevölkerung lebenswert ist?“

Wildnis und Kultur

„Wie können Nationalpark, Landwirtschaft und Tourismus in der Region zusammenwirken?“

Quelle: Glanzer et al. 2005: 5.


Das Projekt „Leben 2014“

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Abbildung 2: ÖGUT‐Umweltpreisverleihung 2007

V.l.n.r.: Herbert Greisberger (ÖGUT-Generalsekretär), Nikolaus Doderer (Sponsor Bella Flora), Guido Dernbauer (Österreichischer Städtebund), Andreas Muhar (BOKU Wien), Christa Kranzl (Staatssekretärin), Josef Pröll (Bundesminister). Quelle: www.oegut.at/de/events/umweltpreis/ 2007-nom_leben2014.php, Foto: Armin Bardel.

Zwischen 2003 und 2004 arbeiteten die Studierenden gemeinsam mit den Arbeitsgruppen der verschiedenen Polaritätsfelder: Sie leisteten eine Bestandsaufnahe und entwarfen Szenarien (für das Leben im Jahr 2014), die in einer öffentlichen Veranstaltung diskutiert und von den lokalen Akteurinnen und Akteuren bewertet wurden. Anschließend wurden konkrete Umsetzungsprojekte entworfen. Die Ergebnisse des Lehrforschungsprojektes wurden abschließend in einer öffentlichen Veranstaltung mit mehr als 200 Gästen allen Interessierten vorgestellt. Im Projekt arbeiteten die Studierenden insgesamt vier Wochen vor Ort im Oberpinzgau und wohnten dabei als Gäste bei lokalen Bürgerinnen und Bürgern. Die Qualität des Projektes und dessen Anerkennung auch über die regionalen Grenzen hinaus werden dadurch bestätigt, dass die Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik (ÖGUT) das Projekt 2007 mit dem ÖGUT-


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Umweltpreis in der Kategorie „Partizipation für Nachhaltigkeit – Innovationen und kommunale Projekte“ ausgezeichnet hat (s. Abb. 2, vorherige Seite). 2.3

Der Haupteffekt: vom Papiertiger zum Handelnden für die Region

2.3 Der Haupteffekt im Regionalverband Oberpinzgau: vom Papiertiger zum Handelnden für die Region Welche Alternativen und Wirkungen des Projektes sind nun heute – ein Jahr vor Ende des anvisierten Zieljahres 2014 – tatsächlich zu finden? Welche wichtigen Veränderungen gibt es, die im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt stehen? Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir einen Blick auf das Polaritätsfeld „Einsam und gemeinsam“ werfen. Die Ausgangssituation 2004 lautete hier: „Von vielen Menschen wurde das Kirchturmdenken in der Region als ausgeprägt und entwicklungshemmend beschrieben.“ (Glanzer et al. 2005: 11) Eine stärkere Zusammenarbeit der neun Gemeinden wurde damals als wichtiges und vordringliches Ziel betrachtet (Glanzer et al. 2005: 11). Vereinzelte Kooperation existierte zwar, zum Beispiel in der Bergrettung, im Abwasserbereich oder im Nationalparkzentrum (Glanzer et al. 2005: 11). „Es gibt allerdings kaum Kooperationen, die sich über den ganzen Oberpinzgau erstrecken.“ (Glanzer et al. 2005: 11) Gründe dafür waren insbesondere das Herrschen von Konkurrenz zwischen den Gemeinden (also das „Denken in Oberpinzgauer Kirchturmkategorien“) und die ungleichen finanziellen Spielräume der Gemeinden (Glanzer et al. 2005: 11). Letztere zielten jedoch eigentlich in eine Richtung, die eine verstärkte zukünftige Zusammenarbeit nahe legte: „Die angespannte wirtschaftliche Situation und die vielen Aufgaben der Gemeinde machen aber verstärkte Zusammenarbeit nicht nur sinnvoll, sondern sogar notwendig.“ (Glanzer et al. 2005: 11) Zusammenarbeit wurde als wichtig angesehen, um in Zukunft Kosten zu sparen und einer veränderten Aufgabenlage, zum Beispiel im sozialen Bereich und im Schulwesen, gerecht zu werden (Glanzer et al. 2005: 11). Die Studierenden entwickelten in diesem Polaritätsfeld vier Szenarien, die mögliche alternative Entwicklungen bis 2014 aufzeigten und präsentierten diese der Bevölkerung in Form von „Geschichten“ (Glanzer et al. 2005: 16). Anschließend bewerteten BürgerInnen, Studierende und Lehrende die Szenarien (Glanzer et al. 2005: 16). Die Tabelle zeigt plakativ die verschiedenen Kernaussagen der entwickelten Szenarien im Polaritätsfeld „Einsam und gemeinsam“:


Der Haupteffekt: vom Papiertiger zum Handelnden für die Region

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Tabelle 3: Szenarien im Polaritätsfeld „Einsam und gemeinsam“ Szenarien im Polaritätsfeld „Einsam und gemeinsam“ Neun zu Null im Oberpinzgau

„Im Jahr 2014 sind die Gemeinden weiterhin selbständig und arbeiten nur wenig zusammen!“

Griaß‘ di! in der Gemeinde Oberpinzgau

„Die Grenzen zwischen den neun Oberpinzgauer Gemeinden werden bis zum Jahr 2014 aufgelöst.“

Hand in Hand in einem Verband

„Im Jahr 2014 gibt es nach wie vor die neun selbständigen Oberpinzgauer Gemeinden. Der Regionalverband Oberpinzgau übernimmt dabei die Zusammenarbeit in gemeindeübergreifenden Angelegenheiten.“

Drei Verwaltungsschwerpunkte

„Die neun Gemeinden des Oberpinzgaus haben sich im Jahr 2014 zu drei Verwaltungszentren zusammengeschlossen.“

Quelle: verändert nach Glanzer et al. 2005: 16 f.

Abbildung 3: Erläuterung der Szenarien durch die Studierenden während des Bewertungs‐ workshops, Bramberg, 25.4.2004

Quelle: Leben 2014 (Foto).


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Diese Szenarien stellen Möglichkeiten dar, die von einer Verschmelzung der Gemeinden zu einer Großgemeinde als maximale Kooperationsform (Griaß di! ...) hin zu einem „Weiter wie bisher“ reichen (Neun zu Null im Oberpinzgau). In der Bewertung (Frage: „Welches Szenario gefällt Ihnen persönlich am besten?“) sprachen sich die Beteiligten jedoch eindeutig für das Szenario „Hand in Hand in einem Verband aus“. Dieses wurde als das Szenario bewertet, das am ehesten gleichzeitig etwas Neues bringt, umsetzbar ist, die persönliche Lebenssituation verbessert und allgemein zu einem Aufschwung im Oberpinzgau führt (Glanzer et al. 2005: 17). „Hand in Hand in einem Verband“ bedeutete eine Stärkung des bereits bestehenden Regionalverbandes (Glanzer et al. 2005: 17). Der Regionalverband Oberpinzgau existierte damals bereits seit 1996, da er durch das Raumordnungsgesetz des Landes Salzburg vorgeschrieben war – er war bis dahin jedoch lediglich ein „Papiertiger“ und nicht besonders aktiv. Anknüpfend an die positive Bewertung des „Hand in Hand“-Szenarios entwickelten die Studierenden konkrete Projekte zur Umsetzung einer verstärkten Kooperation zwischen den Gemeinden. So sollte der existierende Regionalverband Oberpinzgau in drei verschiedenen Stufen aktiver werden und sich zu einem Dienstleistungszentrum mit eigenem Verbandsmanagement weiterentwickeln (Glanzer et al. 2005: 32). Durch eine vom Regionalverband zu leistende zentrale Organisation übergreifender Aufgabenbereiche sollten die Gemeinden finanziell entlastet werden, um freiwerdende Gelder in andere Aufgaben stecken zu können (Glanzer et al. 2005: 32). Das vorgeschlagene zu gründende Verbandsmanagement sollte die Region nach außen vertreten, Fördermittel der Europäischen Union einwerben und mit diesen geförderte Projekte abwickeln und das geplante Dienstleistungszentrum planen. Personell sollte dafür eine Geschäftsführung eingesetzt werden (Glanzer et al. 2005: 32).

2.4

Handelnder Regionalverband für eine echte regionale Zusammenarbeit

Der bemerkenswerteste Effekt, durch den sich für uns Wissen, das bewegt, hier manifestiert, ist: Heute existiert ein handlungsfähiger Regionalverband der neun Oberpinzgauer Gemeinden, der in den letzten Jahren tatsächlich Schritt für Schritt so ausgestaltet wurde, wie es das Projekt vorschlug. Wichtiger Projekteffekt ist auch, dass ein Geschäftsführer angestellt wurde. Dieser ist zugleich Bür-


Handelnder Regionalverband für eine echte regionale Zusammenarbeit

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germeister der Ortsgemeinde Krimml. Er ist für die Umsetzung von zentralen Projekten verantwortlich und leistet so einen wichtigen Beitrag dafür, dass sich die interkommunale Kooperation für alle BürgerInnen vor Ort sichtbar mit Leben füllt. Eingebunden ist der Regionalverband in das Regionalmanagement des Pinzgaus, innerhalb dessen sich ein Regionalmanager für eine erfolgreiche Projektumsetzung und Fördermittelakquisition in den gesamten Pinzgauer Gemeinden einsetzt und in dem der Geschäftsführer des Regionalverbandes Oberpinzgau mit seinen speziellen Aufgaben auch Teil des Teams für den gesamten Pinzgau ist. Mittlerweile gibt es eine verankerte Zusammenarbeit zwischen den neun Gemeinden. Das Fazit heute lautet daher: „Die Region habe das Kirchturmdenken in vielen Bereichen verlassen und eine Kooperationskultur etabliert, die Grenzen zu sprengen vermochte, die bislang unüberwindbar waren.“2 Zudem hat sich in den letzten Jahren die Region Oberpinzgau auch insgesamt sehr gut entwickelt – sicher nicht nur wegen des Projektes, aber „Leben 2014“ hat hierzu wohl einen Teil beigetragen. Laut Aussage des Pinzgauer Regionalmanagers Michael Payer war der Oberpinzgau zu Anfang der 2000er Jahre noch das wirtschaftliche Schlusslicht im Pinzgau, obwohl viel Geld in den Nationalpark Hohe Tauern floss. Mittlerweile weist der Oberpinzgau jedoch eine Entwicklung auf, die man sich früher „nicht zu träumen wagte“ (Gespräch mit Michael Payer, Regionalmanager Pinzgau). Zum Beispiel stieg die Anzahl der Einwohner und der Übernachtungen in der Region sowie der verfügbaren Arbeitsplätze in den letzten Jahren an. Diese Zahlen liegen heute über dem Durchschnitt der Gesamtregion Pinzgau (Gespräch Payer). Besonders bemerkenswerter Beleg für eine veränderte Bedeutung der regionalen Kooperation ist der im Oberpinzgau eingeführte interkommunale Steuerausgleich, der als „Finanzausgleich“ bereits Bestandteil der Projektvorschläge war (s. Abb. 4). Dabei haben sich bis Ende 2008 zunächst die Gemeinden Mittersill, Hollersbach und Stuhlfelden, bis heute dann alle neun Gemeinden darauf geeinigt, die kommunalen Steuereinnahmen in einen gemeinsamen Topf einzuzahlen, der dann nach einem Verteilungsschlüssel untereinander aufgeteilt wird. Damit wird ein aktiver Abbau des Kirchturmdenkens in einer einzelnen Gemeinde betrieben: Wenn sich nun zum Beispiel ein Unternehmen in der 2

Sol lautet 2009 das Fazit des Bürgermeisters Franz Nill (Uttendorf), zitiert nach „Oberpinzgau revisited – Austausch zur ZwischenZeit 2009“ http://dyn.boku.ac.at/pinzgau/index.php?nav_ id=revisited, aufgerufen am: 27.10.2013.


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Region ansiedeln will, müssen die Gemeinden nicht mehr untereinander konkurrieren und um jeden Preis um dessen Standortentscheidung werben: Schließlich haben nun alle etwas von steigenden Steuereinnahmen im Oberpinzgau. Der ideale Standort innerhalb der Region kann gemeinsam gesucht werden, anstatt dass jede Gemeinde „ihre“ Flächen auf Kosten der anderen in den Ring wirft. Der interkommunale Steuerausgleich sorgt auch für einen Ausgleich dafür, dass nicht alle Gemeinden wirtschaftlich gleich stark sind. Mittlerweile gilt dieses Steuerverteilungskonzept als modellhaft für ganz Österreich, sodass viele BesucherInnen sich vor Ort nach dessen Umsetzung erkundigen. Das Projekt „Interkommunaler Steuerausgleich“ hat 2010 den Regionalitätspreis der Bezirksblätter Salzburg gewonnen. Abbildung 4: Projektergebnis „Hand in Hand in einem Verband!“ – Vorschlag für einen stufen‐ weisen Ausbau des Regionalverbandes Oberpinzgau

Quelle: Glanzer/Schauppenlehner 2006: 210.

Aber nicht nur die mittlerweile eingespielte starke Kooperation der Gemeinden geht auf Wirkungen des Projektes „Leben 2014“ zurück. Darüber hinaus entstanden durch die Arbeit der Studierenden konkrete Umsetzungsprojekte, von denen überdies als Ausdruck einer verbesserten Kooperation der Gemeinden


Handelnder Regionalverband für eine echte regionale Zusammenarbeit

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einige tatsächlich in die Umsetzung gekommen sind. Hierbei hat der Regionalverband Oberpinzgau nach Abschluss des Projektes sieben konkrete Projektideen ausgewählt: Abbildung 5: Regionalitätspreis 2010 – Urkunde

Quelle: Viertler 2011.


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Tabelle 4: Zur Umsetzung empfohlene Projektideen Projektidee

Inhalt

KunstVerjüngung

Pflanzung verschiedener Baumarten auf einer Windwurffläche nach einem künstlerischen Entwurf zur Entstehung eines Waldbildes

PinzGaul

Etablierung eines Radleihsystems im Pinzgau

VitalT

Lokales Vorsorgezentrum zur Information gesundheitsbewusster Menschen über 60 Jahre

akv-Die junge Werkstatt

Förderung kreativer Ausdrucksmöglichkeiten junger Menschen im Oberpinzgau zwischen 15 und 25 Jahren

Pferdewanderungen in der Nationalparkregion

Etablierung des Wanderreitens in der Region und zur Gewinnung neuer Touristengruppen

Auf dem Weg zur Bioregion

Pinzgau soll bis 2014 zu einer Modellregion für nachhaltige Entwicklung werden (Bioregion), in der sich Handeln an ökologischen Kriterien orientiert.

Quelle: Glanzer/Schauppenlehner 2006: 208 ff.

Abbildung 6: Touristischer Magnet im Oberpinzgau: die Krimmler Wasserfälle

Quelle: Michael Böcher (Foto).


Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers

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Mit dem Auswahlprojekt „KunstVerjüngung“ soll zum Beispiel langfristig eine regionale Sehenswürdigkeit entstehen, indem auf einer 10 Hektar großen Windwurffläche, die durch ein Unwetter im Jahre 2002 in Uttendorf entstanden ist, Wald mit verschiedenen Baumarten aufgeforstet wird, um die geschichtliche Bedeutung von Wäldern herauszustellen und eine künstlerisch-waldbauliche Fläche als Sehenswürdigkeit für Touristinnen und Touristen und die lokale Bevölkerung zu schaffen (Glanzer/Schauppenlehner 2006: 226). An den Bepflanzungsaktionen beteiligten sich auch Kinder und Jugendliche. Kooperationspartner sind hier die beteiligten KünstlerInnen, Schulen und die Österreichischen Bundesforsten (ÖBF).

2.5

Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers

Im Projekt „Leben 2014“ sorgten folgende Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers. Transfer durch interne BündnispartnerInnen Wichtig für den Erfolg des Wissenstransfers bei „Leben 2014“ war die Zusammenarbeit mit denjenigen regionalen Akteurinnen und Akteuren, die Macht besitzen, Projektergebnisse auch tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Dazu wurden vor Beginn des Projektes erst einmal potenzielle Regionen gesucht, in denen Wille zur aktiven Kooperation mit dem Forschungsprojekt vorhanden und eine spätere Projektergebnisumsetzung wahrscheinlich waren. Ein wichtiger Anhaltspunkt für den Willen zur Kooperation stellt dabei die Bereitschaft dar, sich selbst mit finanziellen Mitteln zu beteiligen. Der Regionalverband Oberpinzgau – die neun Gemeinden – beteiligte sich mit 47.000 € an der Finanzierung des Projektes. Dieses Prinzip der Kofinanzierung ist auch typisch für Mittel, die aus Fördermitteln der Europäischen Union in Regionen ihrer Mitgliedsländer fließen. Damit soll gewährleistet werden, dass Regionen nicht nur ein Interesse daran haben, Fördergelder abzuschöpfen, sondern sich aktiv finanziell beteiligen und damit einen Kooperationswillen auch hinsichtlich der Inhalte von Förderprogrammen demonstrieren (Böcher 2008). Der Einbezug der Finanzkraft der Gemeinden zur Forschungsförderung entspricht in diesem Feld der Regionalentwicklung der gängigen Praxis ähnlicher Programme auf europäischer Ebene.


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Die BürgermeisterInnen als Repräsentanten der neun Gemeinden waren wichtige interne BündnispartnerInnen des Projektes. Sie waren am Forschungsprozess beteiligt und betrieben aktiv dessen Ergebnisverwertung. Sind die BürgermeisterInnen dem Projekt positiv gegenüber eingestellt, kann das helfen, auch andere Akteurinnen und Akteure der Gemeinden mitzuziehen und vom Sinn der Forschungen zu überzeugen. Bei „Leben 2014“ waren die BürgermeisterInnen anfangs sehr skeptisch, ließen sich jedoch im Verlauf des Projektes immer mehr mitreißen, sodass sie als wichtige BündnispartnerInnen das Projekt unterstützten. Die Wirkung als interne BündnispartnerInnen belegt, dass alle Gemeinden und natürlich auch die BürgermeisterInnen einige der wichtigsten Projektvorschläge in die Tat umsetzten: eine verstärkte Kooperation im Oberpinzgau durch einen schlagkräftigen Regionalverband und die Anstellung einer Geschäftsführung, die für die Vernetzung und Projekteinwerbung zuständig ist. Dazu kommt das umgesetzte Vorzeigeprojekt „Interkommunaler Steuerausgleich“, das im Projekt „Leben 2014“ thematisiert wurde. Ohne starke interne BündnispartnerInnen für diese Idee wäre es nicht zur Umsetzung gekommen. Mit den Worten der Niedernsiller Vizebürgermeisterin Marianne Auer-Enzinger: „Mit dem interkommunalen Steuerausgleich für 9 Gemeinden im Oberpinzgau – von Niedernsill bis Krimml – haben wir ein absolutes Vorzeigeprojekt, das auf breites Interesse stößt, geschaffen. Das Klima zwischen den Gemeinden ist hervorragend und die Zusammenarbeit bestens (…). Ziel des interkommunalen Steuerausgleichs ist, einen Ausgleich zwischen strukturstarken und strukturschwachen Gemeinden zu schaffen.”3 Forschung In unserem FIV-Modell des erfolgreichen Wissenstransfers muss die dem Transfer von Wissen in die Praxis zugrunde liegende Forschung von guter Qualität sein und den aktuellen wissenschaftlichen Stand des Wissens abdecken. Im Projekt „Leben 2014“ wurden dem Stand des Wissens entsprechende sozialwissenschaftliche Erhebungsmethoden (Interviews mit den regionalen Akteurinnen und Akteuren, Gruppendiskussionen, Befragungen) angewandt. Alle verwendeten Methoden sind im Projektendbericht im Sinne einer guten wissen 3

Quelle: Medieninformation der SPÖ Niedernsill vom 4. November 2011, www.niedernsill. spoe.at/presse.htm aufgerufen am: 27.10.2013.


Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers

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schaftlichen Praxis dokumentiert (Freyer/Muhar 2006: 33-54). Den „State of the Art“ der durch die Studierenden angewendeten wissenschaftlichen Verfahren gewährleisteten die lehrenden WissenschafterInnen mit ihrer Erfahrung und durch die von ihnen geleistete Betreuung. Verschiedene angewandte Theorien (Systemtheorie) und Vorgehensweisen (Szenariotechnik, Stärken-Schwächenanalysen, Projektentwicklung) entsprechen gängigen aktuellen Verfahren in Forschungsprojekten zur regionalen Entwicklung ländlicher Räume. Ein Indikator dafür, dass die im Projekt angewandten wissenschaftlichen Verfahren von hoher Qualität sind, ist die Diskussion der Projekt(zwischen)ergebnisse in der wissenschaftlichen Community oder die Existenz wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die sich auf theoretisch hohem Niveau mit dem Projekt befassen. Aus „Leben 2014“ entstanden zahlreiche Beiträge für nationale und internationale Fachtagungen4 sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen. Als Beispiel sei eine Veröffentlichung über die verwendete Szenariotechnik und das Konzept der Polaritätsfelder in Englisch in der Fachzeitschrift GAIA genannt (Muhar et al. 2006). Mit den Projektinhalten und dem Hauptziel einer nachhaltigen Regionalentwicklung in der Region trug das Projekt ebenso zu den Programmzielen der Nachhaltigkeitsforschung des Programms Kulturlandschaftsforschung (KLF) des österreichischen Wissenschaftsministeriums bei. Bei verschiedenen Fragen kooperierten die ProjektwissenschafterInnen mit Partnerinnen und Partnern. Laut ao.Univ.Prof. Dr. Andreas Muhar von der Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien ging es zu Anfang darum, bereits erprobte Verfahren transdisziplinärer regionaler Fallstudien auch in Österreich anzuwenden. Dazu gab es eine Kooperation mit der ETH Zürich, die bereits ähnliche Lehr-Projekte inter- und transdisziplinärer Fallstudien in der Schweiz durchgeführt hatte (Glanzer/Muhar 2006: 1). Dass das im Projekt erzeugte Wissen über die regionalen Gegebenheiten von hoher Qualität war, belegt die Aussage des Pinzgauer Regionalmanagers Michael Payer. Er betonte, dass die akribische Vorbereitung der Studierenden und Lehrenden und das exakte Wissen über die Oberpinzgauer Strukturen die lokale Bevölkerung und die beteiligten Akteurinnen und Akteure besonders beeindruckten. Das sorgfältig aufbereitete Wissen konnte so als gute Basis dafür dienen, dass tatsächlich Wissenstransfer stattfindet durch Wissen, das bewegt. 4

Dokumentiert auf der Projekthomepage: http://ifl.boku.ac.at/pinzgau/


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Abbildung 7: Themenworkshop

Quelle: Leben 2014 (Foto).

Integration Erfolgreiche Integration stellte einen entscheidenden Erfolgsfaktor für den Wissenstransfer bei „Leben 2014“ dar. Die Gewährleistung, dass wirklich die für die regionalen BündnispartnerInnen relevanten Erkenntnisse geschaffen werden, wurde durch die konsequente Einbeziehung der lokalen Bevölkerung und verschiedener politischer Akteurinnen und Akteure erzielt. Die regionalen Akteurinnen und Akteure hatten die Möglichkeit, sich von Anfang an an der Auswahl der Themen zu beteiligen, die das Projekt wissenschaftlich bearbeiten sollte. Bearbeitet wurden die Themen, die die gesamte Gruppe im Themenworkshop als am wichtigsten erachtete – nicht Themen, die die Studierenden und WissenschafterInnen von außen vorgaben. Die bereits genannten Prozesse des Einbezugs der regionalen Akteurinnen und Akteure in die Themenfindung können als idealtypischer Baustein der Integration betrachtet werden: Hier wurden die Praxisansprüche an wissenschaftlich fundierte Problemlösungen tatsächlich auf die Bearbeitung entsprechender wissenschaftlicher Fragen hin ausgerichtet. Im Prozess der Integration werden jedoch auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse auf die konkrete Umsetzung hin ausgerichtet: Nicht alle wissen-


Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers

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schaftlich denkbaren Lösungen sind für die Praxis relevant und tatsächlich politisch umsetzbar. Kennzeichen der Integration ist eine Auswahl aus verschiedenen wissenschaftlich denkbaren Alternativen. Diese Form der selektiven Ausrichtung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Richtung der politischen Praxis zeigen die von den Studierenden vorgestellten Szenarien für die konkreten Polaritätsfelder: Zu jedem Polaritätsfeld wurden auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse mögliche Alternativen entwickelt. Es wurden jedoch nur diejenigen weiterverfolgt, die das Votum der regionalen Akteurinnen und Akteure im Rahmen des Bewertungsworkshops erhielten und dadurch als umsetzungswahrscheinlicher erschienen. Im beschriebenen Polaritätsfeld „Einsam und gemeinsam“ hat das Projekt daraufhin eben nicht Konzepte für eine wenig realistische komplette Verschmelzung der Gemeinden zu einer Großgemeinde („Griaß‘ di! in der Gemeinde Oberpinzgau) entwickelt. Eine solche wäre sicher aus regionalwissenschaftlicher Sicht, die eine maximale Form der Kooperation befürworten könnte, wünschenswert. Realistischer und politisch umsetzbar erschien jedoch das Szenario „Hand in Hand …“. Im Integrationsprozess ausgewählt, entwickelte das Projekt dann nur dafür konkrete Umsetzungsvorschläge. Dass der Regionalverband schließlich im Sinne der Ergebnisse des Projektes weiterentwickelt wurde, ist daher auch als Ergebnis einer geglückten Integration zu verstehen. Um Wirkung zu erzielen, müssen wissenschaftliche Erkenntnisse durch verschiedene Medien und Formen verständlich an Zielgruppen vermittelt werden. Bei „Leben 2014“ wurden zahlreiche Formen der Vermittlung von Projektinhalten sichtbar. Zunächst einmal sorgte für einen Abbau der Barrieren zwischen Wissenschaft und Praxis das „Vor-Ort-Sein“ der Studierenden und Lehrenden. Diese arbeiteten vier Wochen im Oberpinzgau und wohnten dabei bei Oberpinzgauer Familien. Dadurch und durch das durch die Studierenden vermittelte große Wissen über die Region konnte eine gute Basis der Zusammenarbeit geschaffen und Vertrauen zwischen den regionalen Akteurinnen und Akteuren und den Forschenden aufgebaut werden. Die Vor-Ort-Präsenz sorgte für einen Abbau von Barrieren, zum Beispiel zwischen dem Professor aus der Stadt und den Bäuerinnen und Bauern vor Ort. Aufgrund der Touristinnen und Touristen, die ohnehin zahlreich in die Region kommen, stellten unterschiedliche gesprochene Dialekte der Studierenden und Lehrenden im Vergleich zur Heimatsprache der Oberpinzgauer kein Vermittlungsproblem dar. Zwischen Studie-


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

renden, Wissenschafterinnen und Wissenschaftern sowie Oberpinzgauer Akteurinnen und Akteuren stellte sich nach und nach ein gewisses Vertrauen ein. Abbildung 8: Theaterstück der Studierenden im Rahmen der Abschlusspräsentation

Quelle: Leben 2014 (Foto).

Besondere Faktoren der Vermittlung waren hier zum Beispiel die Naivität und frischen Gedanken der Studierenden und umgekehrt das Interesse der regionalen Akteurinnen und Akteure, sich gegenüber diesen jungen Menschen anders darzustellen als bei den Alltagsstreitigkeiten in der Region. Die Studierenden interagierten mit der regionalen Bevölkerung und sorgten für eine große Akzeptanz des Projektes und seiner Ergebnisse in der Region. Schlüsselbeispiele für eine geglückte Form der zielgruppengerechten Vermittlung sind, dass die Studierenden unter anderem zum Polaritätsfeld „Einsam und gemeinsam“ im Rahmen der Abschlusspräsentation des Projektes ein Theaterstück aufführten (Abb. 8) und das Bio-Buffet durch „Abklappern“ aller regionalen Bauern besorgten: Damit konnte den regionalen Akteurinnen und Akteuren deutlich


Faktoren für den Erfolg des Wissenstransfers

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werden, was in der Region möglich ist, welche Angebote es überhaupt alle gibt, die es zu bündeln lohnt. Ein weiterer Faktor einer guten Vermittlung der Projektergebnisse ist, dass die konkreten Umsetzungsprojekte im Abschlussbericht sehr gut beschrieben wurden und oft an alles gedacht wurde, was für die Umsetzung wichtig ist (so der Regionalmanager des Pinzgaus Michael Payer). Die Verbindung theoretischer und praktischer Ansätze ist in den konkreten Beschreibungen möglicher Umsetzungsprojekte gut gelungen. Verwertung Für einen erfolgreichen Wissenstransferprozess notwendig ist die Erzeugung von Produkten der Verwertung. Hier haben die beteiligten WissenschafterInnen keinen Zugriff mehr, die Nutzung der Verwertungsprodukte liegt in den Händen der Praxisakteurinnen und -akteure. Bei „Leben 2014“ übergaben die Studierenden verschiedene Berichte und insbesondere die Vorschläge für Umsetzungsprojekte an die regionalen Akteurinnen und Akteure. „In den Vereinbarungen mit den regionalen Auftraggebern und Projektpartnern wurde festgelegt, dass die Verantwortung der Umsetzung bzw. Weiterführung von Ergebnissen aus dem transdisziplinären Arbeitsprozess bei der Region liegt.“ (Vilsmair 2006: 278) Damit spiegelt das Projekt typische Wissenstransferprozesse zwischen Forschung, Integration und Verwertung wider. Die Verwertungsprodukte für die Praxis entsprachen dabei Kriterien wie Sachgerechtigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: Sie wurden in einem partizipativen Prozess unter Einbezug vieler regionaler Akteurinnen und Akteure erzeugt (Demokratie), hatten gesellschaftliche Ziele wie Nachhaltigkeit im Blick, waren im Rahmen der herrschenden Rechtsordnung umsetzbar (z. B. Verwirklichung der regionalen Kooperation im Rahmen des gestärkten und durch das Salzburger Raumordnungsgesetz rechtlich legitimierten Regionalverbandes). Zudem genügten die Verwertungsprodukte Ansprüchen der Sachgerechtigkeit – sie produzierten Lösungen, die auf bestehende Probleme anwendbar waren. „Leben 2014“ führte zudem zu wissenschaftlichen Verwertungsprodukten: Publikationen in Fachzeitschriften, Tagungsbeiträge und vieles mehr. Damit konnten die beteiligten WissenschafterInnen Anschluss an ihre jeweilige Fach-Community herstellen und leisteten einen Beitrag zur wissenschaftlichen Qualitätssicherung des Projektes.


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Hand in Hand – Leben 2014 im Pinzgau

Checkliste der Erfolgsfaktoren des Wissenstransfers Folgende Tabelle zeigt die Ausprägung der Kriterien für einen erfolgreichen Wissenstransfer. Hervorgehoben sind dabei die Kriterien, deren Relevanz „Leben 2014“ besonders eindrücklich demonstriert. Tabelle 5: Checkliste Erfolgsfaktoren „Leben 2014“ Leben 2014 Handlungsbereiche des Wissenstransfers (FIV-Modell) Forschung Erhebung aller aktuellen wissenschaftlichen Informationen Einhaltung der Verfahren guter wissenschaftlicher Praxis Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Projekten und Institutionen Unabhängige Aussagekraft der wissenschaftlichen Erkenntnisse Integration Orientierung am Gemeinwohlziel Nachhaltigkeit Relevanz in Bezug auf politische Prozesse Relevanz in Bezug auf BündnispartnerInnen (hier: interne BündnispartnerInnen) Zielgruppengerechte verständliche Vermittlung Verwertung Beitrag zur Demokratisierung Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit Beitrag zu „good governance“ Sachgerechte Problemlösungen Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs Quelle: eigene Darstellung.

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(besonders gutes Beispiel) (besonders gutes Beispiel) (besonders gutes Beispiel)

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