Rudolf Steiner - Die Erziehung der Bewusstseinsseele durch Andacht (München, 12. März 1910)

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Rudolf Steiner

Die Erziehung der Bewusstseinsseele durch Andacht München, 12. März 1910 Öffentlicher Vortrag

Meine sehr verehrten Anwesenden! Als ich das letzte Mal hier vor Ihnen sprechen durfte über die Mission des Zornes und die Mission der Wahrheit für die Menschenseele, da konnte ich hinweisen auf den Spruch des großen griechischen Philosophen Heraklit: «Der Seele Grenzen wirst du nimmermehr ausfindig machen, und wenn du auch alle Straßen durchwandeltest, so weit sind ihre Gebiete.» Und schon dazumal ist die Berechtigung dieses Spruches über die Weite des menschlichen Seelenlebens daran nachgewiesen worden, dass wir nur dann einigermaßen eindringen können in das komplizierte Gefüge [dieses] unseres eigenen Seelenlebens, wenn wir sozusagen zuerst ein wenig Ordnung in die Betrachtung der Seele hineinbringen. Das heißt, wenn wir nicht dabei stehen bleiben, die Seele einfach als dasjenige anzusehen, als was sie uns entgegentritt, als eine Summe von auf- und abwogenden Empfindungen, Gefühlen, Trieben, Begierden, von Vor1

stellungen, von Ideen, von Idealen und so weiter, sondern dass wir uns klar werden, wie dieses Seelenleben in drei voneinander gesonderte Gebiete zerfällt: in dasjenige, was man zunächst innerhalb des Menschen die Empfindungsseele nennen kann, dasjenige, was man die Verstandesseele oder Gemütsseele nennen kann, und endlich das dritte, höchste Seelenglied, was man die Bewusstseinsseele nennen kann. Denn diese drei verschiedenen Seelenglieder haben drei ganz verschiedene Arten von Entwicklungsbedingungen. Und das, was uns sozusagen lehren kann, wie das eine dieser Seelenglieder sich entwickelt, ist nicht zu gleicher Zeit geeignet, uns Aufschluss zu geben über die Entwicklungsgesetze und Entwicklungsbedingungen des anderen der genannten Seelenglieder. Unsere Empfindungsseele stellt sich uns zunächst als dasjenige dar, was in uns auf die äußeren Anregungen antwortet, die uns entgegentreten sowohl aus der Natur wie aus dem Menschenleben, was zunächst Eindrücke empfängt von der Außenwelt und dann aufgrund dieser Eindrücke dasjenige eben entwickelt, was wir die Leidenschaften für irgendetwas nennen können, die Triebe, dieses oder jenes zu tun oder haben zu wollen. Alles das also, was uns an Trieben, Begierden, Leidenschaften entgegentritt, an ungeordnetem Seelenleben, wie es sich auch in der niedersten Menschenseele entfaltet, das bezeichnen wir als den Bereich der Empfindungsseele.

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