EB Navi #9 – Magazin der EB Zürich

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Wege zur Weiterbildung Frühling/Sommer 2017 – #9

EBNAVI

((  LOKAL HANDELN, GLOBAL WIRKEN

PQ

THEMA Globalisierung als Chance: Wie man für sich und für andere die Welt verbessern kann.

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LEUTE Den eigenen Wurzeln statt der Mode folgen. Designerin Flaka Jahaj zeigt: Das geht!

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SERVICE Die Welt im Wandel – und wir mit ihr: Wie man sich selbst verwandelt, statt verwurstelt zu werden.

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Herausgeber EB Zürich, Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, Serge Schwarzenbach Redaktion Katleen De Beukeleer (verantwortlich für diese Ausgabe), Christian Kaiser Mitarbeit Elisabeth Gasser, Esther Ochsner, Marlise Leinauer, Consolata Peyron, Holger Specht, Kari Wüest-Schöpfer, Yusuf Yesilöz Bilder Ralf Gosch, Christian Kaiser, Reto Schlatter Illustrationen Eva Kläui, Philip Schaufelberger, Jan Zablonier Infografik Daniel Röttele Korrektorat Fritz Keller, Franziska Schwarzenbach Gestaltung Giorgio Chiappa

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Kantonale Berufsschule für Weiterbildung Bildungszentrum für Erwachsene BiZE Riesbachstrasse 11 8090 Zürich Telefon 0842 843 844 www.eb-zuerich.ch lernen@eb-zuerich.ch

Titelbild Ralf Gosch – stock.adobe.com Auflage 22 000 Exemplare Druck FO-Fotorotar, Egg ISSN 2297-2307 Abonnierung EB Navi: eb-navi@eb-zuerich.ch PERFOR MANCE

neutral Drucksache No. 01-17-197461 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership


EDITORIAL

Global denken, lokal handeln – und umgekehrt Haben Sie schon mal mit Schweizerinnen in den französischen Alpen eine «Savoyarde» gegessen? Da kommt dann sehr schnell die Frage auf, ob das Käsefondue eine Schweizer Erfindung ist oder ob die Fondue Savoyarde die «echte» sei (in Rezeptsammlung bereits 1651 erwähnt) – oder gar die Fonduta Piemontese? Und zu allem Übel beschreibt bereits Homer in der «Ilias» ein Käsegericht aus geschmolzenem Schafskäse, vermischt mit Wein und Mehl. Wann beginnt etwas, das für uns als heimisch gilt, «global» zu sein? Und umgekehrt? So wie die Schweizer Küche ein Potpourri ist an internationalen Einflüssen auf unseren Tellern, ist die Globalisierung auch in anderen Bereichen des eigenen Lebens und Alltags fassbar: Bildung, Arbeit, Gesellschaft, Kultur, Konsum. Die Einkaufsmeilen unserer Innenstädte etwa werden zu sich ähnelnden Schaufenstern globaler Labels. Aber auch umgekehrt gilt: Jedes Geschehen an einem Punkt auf der Welt scheint heute von lokal-regionaler und gleichzeitig von global-überregionaler Bedeutung. Die Grenzen zwischen «lokal» und «global» verwischen. Der Begriff «Glokalisierung» aus den 90erJahren fasst diese Wechselwirkung zusammen. Unser Handeln ist von weltweiter Relevanz – die Globalisierung stelle uns somit die Frage nach dem guten Leben, findet die Berliner Stiftung Futurzwei und geht nach, «wie man so lebe, dass sich diese Vision vom guten Leben verwirlichen werde». Lesen Sie dazu die Titelgeschichte ab Seite 10. Ja, wie werden wir zu guten Weltbürgern? «It begins in your own community», sagte der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen und Friedens-Nobelpreisträger Kofi Annan. Der Spruch «think global, act local» aus dem 20. Jahrhundert wird heute zum Dreiklang «global denken, lokal handeln, global wirken». Dafür möchten wir mit diesem EB Navi einen Denkbeitrag leisten. Serge Schwarzenbach, Herausgeber

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INHALT

LEUTE

INSPIR ATION

6 Mode mit Weitblick Die Modedesignerin Flaka Jahaj wehrt sich mit lokalen Traditionen, Würde und Bedacht­ samkeit gegen das Gebot des letzten Schreis. Ihre Kampflust verdankt sie einer bizarren Studienzeit im bissigen Modebusiness.

9 Wer hat das gesagt? Was Prominente von der Weltlage halten 37 Spiel: Die Fauna- und Flora-Invasion Die heimlichen Stars der Globalisierung als Quartett 48 Cartoon Alles Käse oder was?

Reto Schlatter

SERVICE

49 Kulturschock am Bosporus Mit zwölf Jahren machte Yusuf Yesilöz mitsamt dreihundert Schafen zum ersten Mal einen Ausflug nach Istanbul. Der Geruch der Stadt enttäuschte ihn, die Moral noch mehr. Der Winterthurer Schriftsteller erinnert sich an die eindrucksvolle Reise. 66 Ein Mann, drei Dimensionen Die 3D-Technologie ist ein Produkt der Globalisierung. Rafael Koss führte sie vor bald zwanzig Jahren an der EB Zürich ein. Porträt eines Wissenschaftler-Künstler-Tüftlers, der auch weiss, wo die Abschalttaste ist.

24 Verstönd Sie Dütsch? Die Geheimsprache muss keine bleiben: Schweizerdeutsch zu lernen ist sinnvoll und machbar – imfall. 33 Jetzt wirds (zu) bunt Auch in einer globalen Welt menschelts: Wie mit Konflikten umgehen? 43 Lehr- und Wanderjahre reloaded Berufslernende sollen auch im 21. Jahrhundert wieder vermehrt Erfahrungen ausserhalb des sicheren Heimathafens sammeln. Warum das heute wichtiger ist denn je. 69 Achtung Diplomtransport Anerkennung ausländischer Abschlüsse und Diplome in der Schweiz: ein kurzer Überblick. 74 Ein neuer Mensch werden Unerwünschtes über Bord werfen, neues Verhalten antrainieren: Das Zürcher Ressourcen Modell ZRM zeigt, wie wir lernend den «Trampelpfad» im Hirn in eine «neuronale Autobahn» ausbauen.

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THEMA : GLOK ALISIERUNG

10 Handeln Sie schon «enkeltauglich»? Schulterzucken war gestern, die Zukunft muss nicht düster sein: Es kommt auf die «Zukunftsfähigkeit» jedes Einzelnen an. Die entscheidende Frage dabei lautet: «Wer will ich gewesen sein?» Wer seine Antwort noch nicht kennt, kann von anderen lernen, die für sich den Weg durchs globale Dickicht gebahnt haben: Eine Ladenbesitzerin, ein «Social Entrepeneur» und eine Zukunftsstiftung liefern Anschauungsmaterial, wie die Weltprobleme hier und jetzt angepackt werden können. FOTOSTRECKE Die globalen Handelsströme laufen über die Meere. Dabei fungieren die Hafenkräne als Relaisstationen: Sie sind die Mahnmale und verlängerten Arme der Globalisierung, welche das Stückgut in Metallkisten aus dem Wasser durch die Luft aufs Land befördern. Hafenkräne leisten also globalisierungstechnische Elementararbeit, bald auch unbemannt. Der Hafenkran ist nicht weniger als der eigentliche Taktgeber der Globalisierung und verdient somit ein fotografisches Porträt. Und bei der Bilderreise zu den Hafenkränen dieser Welt aus verschiedenen Epochen schwenkt manchmal auch die Optik um 90 oder 180 Grad.

Ein strukturiertes Denkmodell dafür tragen die «Effektiven Altruisten» bei (➝ 18).

20 Infografik Dampfmaschine, Zentimeter, Telefon, Mauerfall: Die weltweite Verflechtung ist ein Zusammenspiel von Erfindungen, Einsichten, Erschütterungen und Kooperationen. Die Geschichte der Globalisierung ist eine wirtschaftliche, politische – und eine kulturelle. Die grosse Zeitachsen-Grafik zeigt ausserdem, wie die Schweiz zum global Player wurde. Eine zweite Infografik (➝ 16) illustriert anhand alltäglicher Lebensmittel, wie stark die Welt in unserem Einkaufskorb vertreten ist.

27 Verwurzelt und umgetopft Vor ein paar Generationen waren wir alle Nomaden. Und werden es vielleicht bald wieder sein. Die einen zwingt die Globalisierung zu Ortswechseln, die anderen haben Spass daran, ihren Job von der Südsee aus zu erledigen. Eines bleibt dabei gleich: Das Bedürfnis nach Nestwärme reist mit. Wie damit umgehen? Wo ist die Heimat? Drei Porträts von modernen Nomaden.

Christian Kaiser

Expat-Beraterin Martina Famos erklärt im Interview, wie die menschliche Psyche einen Umzug in die Fremde bewältigt (➝ 31).

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15 MINUTEN, DIE MEIN LEBEN VER ÄNDERTEN

Die Masche mit dem Häkeln Flaka Jahaj will eine langsamere, ehrlichere Mode. Die junge Modedesignerin wehrt sich mit Häkelmaschen und lokalen Traditionen gegen die Auswüchse einer Branche, die mit der Globalisierung ihre Besonnenheit aus dem Auge verloren hat.

Ausgezeichnet von Katleen De Beukeleer  Bild Reto Schlatter

Das «Central Saint Martins College of Art and Design» ist eine sehr renommierte, aber harte Londoner Modeschule. 2012 hatte ich dort mein Vorstellungsgespräch: fünfzehn abstruse und surreale Minuten, die mein Leben veränderten. Nachdem ich zusammen mit dreissig anderen Bewerbern mein Portfolio abgegeben hatte, kam eine Sekretärin und las die Namen der fünf Auserwählten vor. Beim fünften Namen stockte sie. Da wusste ich, dass das mein Name sein musste. Ich durfte zu Louise Wilsons Büro zum Interview. Sie ist eine Koryphäe in der Modebranche, Stella McCartney hat zum Beispiel bei ihr studiert. Als ich hereinkam, beschimpfte Louise Wilson mich drei Minuten lang mit geschlossenen Augen. Ich hätte doch meine Empfehlungsschreiben in einem versiegelten Umschlag abgeben sollen. Ich stand atemlos vor ihr. Mein Portfolio sei «hideous», sagte sie. Da ich das Wort, das «schrecklich» bedeutet, nicht kannte, fragte ich: «Meinen Sie ‹hideous› im positiven oder negativen Sinn?» Sie sagte: «In einem sehr, sehr negativen Sinn.» Dann lachte sie. 6  EB NAVI #9

Als ich am Ende des Gesprächs aufstand, fragte sie: «Wie kann es sein, dass jemand mit einem so grossartigen Stil und einer so tollen Persönlichkeit einen solchen Mist machen kann?» Ich war perplex von dieser Frau, die mich gleichzeitig anzog und abstiess. Ich wünschte mir aber umso mehr, durchzukommen. Nur bei ihr wollte ich weiterstudieren. Hart, aber herausfordernd

Ich wurde tatsächlich zugelassen und begann meinen zweijährigen Master bei Louise Wilson. Das ganze Studium war genauso wie das Vorstellungs­ gespräch. Wir Studierenden machten uns Sorgen, wenn sie uns nicht beschimpfte, denn das hiess, dass wir nicht mehr interessant für sie waren. Nur die Hälfte der Studierenden hielt im ersten Jahr durch. Trotzdem war die Zeit bei Louise Wilson unglaublich prägend und hilfreich. Sie gab Kritik, die man in anderen Institutionen nicht kriegt. Sie war hart, aber herausfordernd. Meine Mutter hat mich nach dem gleichen Schema erzogen, darum konnte ich trotz


Flaka Jahaj ist 33 und lebt in Zürich. Nach der Mode Suisse 2016 feierte die Presse sie als eine der talentiertesten Jungdesignerinnen der Schweiz. Jahajs Kreationen sind bunt und unkonventionell – genauso wie ihre Persönlichkeit.

den schwierigen Umständen am College wachsen. Dank meiner Aufnahme am College lernte ich, für meine Arbeit und das, was ich für richtig halte, zu kämpfen. Kosovarische Tradition

Seit zwei Jahren bin ich zurück in der Schweiz und habe mein eigenes Label Iahai. Meine Lieblingstechnik ist das Häkeln. Meine kosovarische Grossmutter brachte es mir bei, als ich vier war, noch bevor ich lesen oder schreiben konnte. Im Gegensatz zum Stricken kann Häkelware nicht maschinell hergestellt werden, das finde ich sehr wertvoll. Für die Produktion meiner Kreationen arbeite ich mit kosovarischen Frauen zusammen. Im Kosovo können neunzig Prozent der Frauen häkeln und stricken. Das Potenzial ist enorm. Ich würde die Konsumenten gerne mehr für den Wert dieses Know-hows sensibilisieren. Denn wenn alles nur noch maschinell hergestellt wird, machen wir uns total abhängig. Ich liebe es, Altes und Traditionelles mit neuen Kreationen zu verbinden. Und die Frauen profitieren, indem sie durch die Arbeit unabhängiger sind. Paradiesvogel an der Kanti

Mit acht Jahren zog ich vom Kosovo nach Graubünden. Dort gab es nichts, was mir Mode hätte nahe-

bringen können. Meine Mutter war aber recht stylisch. Wir gingen zweimal pro Jahr in Zürich shoppen. Irgendwann entdeckten meine Schwester und ich dort Secondhand-Läden. Wir kleideten uns im Siebziger-Stil, mit Schlaghosen und Schaffell-Jacken. Auch heute noch trage ich vorwiegend Kleider aus Secondhand-Läden. Damals in der Schule fielen wir auf, die Freundinnen liehen unsere Kleider aus. Mit vierzehn fing ich auch an, selber Kleider zu machen – intuitiv, ohne Schnittmuster. Ich sah aus wie ein Paradiesvogel. Später studierte ich Kunst­ geschichte. Das hatte noch irgendwie mit Mode zu tun und war nicht so brotlos, hatte ich das Gefühl. Das Studium war mir aber viel zu trocken, das klappte überhaupt nicht. Ich ging nach Paris, absolvierte einen Bachelor in Modedesign und arbeitete

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noch drei Jahre als Assistentin des US-Stardesigners Rick Owens, bevor ich mich in London bei Louise Wilson auf Strickware spezialisierte. Schweizer Einflüsse

Auch die Schweizer Tradition beeinflusst mich. Dass Handarbeit in der Schweiz immer noch zum Lehrplan gehört, war für mich an der Pariser Schule ein grosser Vorteil. Ich konnte verschiedene Techniken mitei­nander kombinieren und erntete dafür Bewunderung. Eigentlich haben die Schweiz und die KosovoAlbaner von der Mentalität her viel gemeinsam. Sie sind etwas abgeschottet, eher konservativ und schätzen Qualität und Handgemachtes. Ich kam in die Schweiz zurück, weil ich dachte, hier einen entsprechenden Markt für handgemachte Kleider zu finden. Aufmerksamkeit, aber kleiner Markt

Mittlerweile habe ich in der Schweiz schon viel erreicht. 2014 gewann ich mit meiner MasterAbschlussarbeit den Swiss Design Award. Auch meine Teilnahme an der Mode Suisse 2016 war ein Erfolg. Ich wurde von der Branche und in der Presse gefeiert. Die Aufmerksamkeit war schön, aber verkaufstechnisch hat sich das leider nicht gelohnt. Der Schweizer Markt ist zu klein. Die Boutiquen finden meine Kollektion super, aber nur wenige wollen das Risiko eingehen, ein paar Pullis zu kaufen, diese in den Laden zu stellen und somit die Kunden für Schweizer Mode zu sensibilisieren. Wenn ich das Risiko als Designerin selbst tragen würde, dann wären die Konditionen sehr schlecht. Die Schweizer sind zu wenig solidarisch dem eigenen Land gegenüber. Sie meinen, die bessere Mode komme aus Paris. Dabei gibt es im eigenen Land so viel Talent. Weniger, langsamer, bedachter

Um unabhängiger vom Erfolg oder von den unregelmässigen Einnahmen meines Labels zu sein, arbeite ich sechzig Prozent in einer Modeboutique. Es braucht nicht nur extrem viel Geld und Energie, alle sechs Monate eine neue Kollektion zu kreieren, sondern das Saisonale ist eigentlich auch gegen meine Prinzi8  EB NAVI #9

pien. Die Mode kreiert ein Bedürfnis, denn eigentlich brauchen wir nicht so viele Kleider. Ich habe dieses Jahr nicht an der Mode Suisse teil­genommen. Stattdessen will ich mich vermehrt auf kleinere Projekte konzentrieren und meine Kleidungsstücke weiterhin eins zu eins nach Mass verkaufen. Je länger ich im Modebusiness bin, desto weniger interessiert mich Mode an sich. Sondern andere Werte: weniger, langsamer, bedachter. Meine wenigen Pullis sollen sich von den Millionen Pullis, die täglich unter schrecklichen Umständen hergestellt werden, unterscheiden. Zwischen Überleben und Kunst

Der Kapitalismus und die Ausbeutung in der Branche beschäftigen und beängstigen mich. Manchmal wünschte ich mir, ich wüsste nicht so viel über die Modewelt. Es ist aber schwierig, mit idealisierten Vorstellungen ein Gleichgewicht zu finden und auch noch künstlerisch genug herausgefordert zu bleiben. Ich könnte irgendwelche Pullis machen, die sich besser verkaufen würden, aber dazu habe ich keine Lust. Ich mache gerne bunte Sachen, die nicht allen gefallen. Es ist eine krasse Gratwanderung: Ich will überleben können, aber ich habe doch nicht dieses absurde Studium gemacht, um wieder im Alltagstrott zu landen. Trotz Ritterschlag ins Ausland?

Ende 2016 kaufte das Zürcher Museum für Gestaltung Werke von mir. Sie werden ab 2018 in die neue Dauerausstellung aufgenommen. Das fühlt sich an wie ein Ritterschlag. Mein Werk wird noch dort sein, wenn ich schon lange tot bin. Trotzdem kann ich mich nicht auf meinem Erfolg ausruhen. Die Schweiz war ein guter Nährboden, aber meine Sprösslinge können hier nicht mehr wachsen. Vielleicht ziehe ich ins Ausland. Nicht zurück nach Paris, denn dort herrschen die Luxuskonzerne wie Diktatoren. Ich bin nicht mehr bereit, diese Alleinherrschaft zu akzeptieren. Ich werde sicher einen Ort finden, der weniger prätentiös ist und trotzdem in der Modebranche etwas bedeutet.  n


QUIZ

Wer hat das gesagt? Ordnen Sie den Prominenten die Aussagen zu und tragen Sie den entsprechenden Buchstaben in die Kreise ein. Schicken Sie das Lösungswort an quiz@eb-zuerich.ch. Einsendeschluss ist der Freitag, 19. Mai 2017. Die Lösung findet sich ab dem 22. Mai 2017 auf www.eb-zuerich.ch/aktuell. Unter den richtigen Einsendungen werden drei Bildungsgutscheine im Wert von je 100 Franken verlost.

S

R   Vor lauter Globalisierung und Computerisierung dürfen die schönen Dinge des Lebens wie Kartoffeln oder Eintopf kochen nicht zu kurz kommen.

I

Aus einem Irrtum wird keine Wahrheit, auch wenn man ihn noch so weit verbreitet. Aus einer Wahrheit wird kein Irrtum, selbst wenn kein Mensch sie sieht.

E Die Probleme, die es in der Welt gibt, sind nicht mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie erzeugt hat.

E

Man preist immer den heimischen Herd. Sie sind aber Infektionsherde.

I

Egal welche Religion, Farbe oder Nationalität: Wir haben alle eine Beziehung zu Sex und Liebe.

E Ich staune, wie viele Dinge ich habe, die ich nicht brauche.

B

Es gibt zu viele Beispiele dafür, wie der Marsch zur Globalisierung auch die Marginalisierung von Frauen und Mädchen bedeutet hat. Und das muss sich ändern.

Konnektivität ist ein Menschenrecht.

E

Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.

Wenn du es träumen kannst, kannst du es tun.

Mahatma Rosa Angela Merkel Luxemburg Gandhi indischer deutsche deutsche Bundes­ sozialistische WiderstandsPolitikerin kanzlerin kämpfer

Hillary Clinton USPolitikerin

T

Albert Einstein Physiker und Nobelpreisgewinner

Walt Disney Filmproduzent

R   Weil meine Mutter aus Südafrika kommt und dort sehr viel Zeit mit mir verbracht hat, fühle ich mich mit diesem Teil der Welt am meisten verbunden.

Mark Josef Vital Enrique Roger Sokrates Iglesias Zuckerberg Kopp griechischer Federer Philosoph Tennis-Star Schweizer Popsänger FacebookGründer Theologe und Schriftsteller

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GLOK ALISIERUNG

Nur noch schnell die Welt verbessern

Doch, wir können etwas tun! Armut, Klimawandel, Krankheiten, Menschen auf der Flucht, Artensterben, Massentierhaltung, Politikversagen – immer mehr Menschen fragen sich, wie sie einen Beitrag zu einer besseren Welt leisten können, statt ohnmächtig an den globalen Problemen zu verzagen. Es gibt vielversprechende neuere Ansätze, wie man hier und jetzt schon mal anfangen kann. Eine Auslegeordnung.

Text Christian Kaiser 10  EB NAVI #9


Für Eva Kelemen war eine Radiosendung im Jahr 2012 der Startschuss in ein völlig neues Leben. Der Bericht handelte von einer Frau, die sich einen Buchtitel hatte eintätowieren lassen: «Tiere essen» von Jonathan Safran Foer. «Ich dachte nur: Dieses Buch muss ich auch lesen», sagt Kelemen. Im Buch beschreibt Foer akribisch die aktuellen Zustände in der landwirtschaftlichen Lebensmittelproduktion: Massentierhaltung, Fischerei, Schlachtung. Foer stellte einfach nur die Methoden dar, ohne selber die Moralkeule zu schwingen. Mit den Recherchen zu dem Buch fing der US-Schriftsteller an, als er Vater wurde; er wollte bewusst entscheiden können, was er seinem Sohn zu essen gab und was nicht. Der Spiegel lobte das Buch als «verstörendes und berührendes Dokument der Suche nach einem besseren Leben». Als Eva Kelemen das Buch las, war sie «eine ganz normale Fleischesserin», ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Projektleiterin im Online-Marketing. Mit dem Autor verband sie einzig die Suche nach etwas Besserem. «Nachdem ich Foers Buch gelesen hatte, wusste ich, dass ich das, was jetzt ist, nicht mehr unterstützen will und vegan werde.» Aber damit fingen die Probleme erst an, denn um konsequent vegan einzukaufen, musste sie viel Kleingedrucktes auf Verpackungen lesen und bei Verkäuferinnen nachfragen. Fünf Jahre später betreibt sie unter dem Label «Eva’s Apples» drei eigene vegane Läden. Hineinwachsen in eine neue Aufgabe

Eva Kelemen wurde zu einer lokalen Pionierin des Veganismus; bevor sie am Schaffhauserplatz den ersten Laden eröff-

nete, gab es in Zürich kein einziges Geschäft mit rein veganen Produkten. «Vieles war schlicht nicht verfügbar. Und ich dachte mir, es kann doch nicht so schwer sein, einen Laden zu betreiben, wo im Vorfeld schon abgeklärt ist, dass alles garantiert vegan produziert ist.» War es dann aber doch: Kelemen hatte weder im Lebensmittelhandel noch im Verkauf Erfahrung und keine Vorstellung davon, was es alles braucht, um einen Laden aufzubauen und zu betreiben. Ihr ganzes Kapital war ihre Motivation und ihr Lerneifer. Im September 2016 eröffnete sie im ehemaligen Reformhaus in Wollishofen bereits ihr drittes Ladenlokal. Zuvor war auf den ersten Laden in Zürich (2013) einer in Bern (2015) gefolgt. «Finanziell ist das jedes Mal ein grosser Challenge für uns, aber wir sind zuversichtlich, dass wir es auch diesmal schaffen», sagt Kelemen. Ihr Team umfasst inzwischen acht

BUCHTIPPS

Welzer / Weber /Giesecke FUTURZWEI – Zukunfts­ almanach 2017/2018 – Geschichten vom guten Umgang mit der Welt Fischer Taschenbuch 2016

William MacAskill Gutes besser tun – Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können Ullstein 2015

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Leute mit demselben Credo: «Wir verwenden praktisch unsere gesamte Lebenszeit, um die vegane Lebensweise voranzubringen. Viele von uns arbeiten freiwillig oder für einen geringen Lohn. Das tun wir, weil wir daran glauben, die Menschen, welche bei uns einkaufen, für das Thema Tierausbeutung zu sensibilisieren.» Sie stehen damit ganz in der Tradition der 1944 in England gegründeten Vegan Society, die in ihrem Manifest die vegane Lebensweise so definiert: «So weit wie möglich und praktisch durchführbar, alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Tieren für Essen, Kleidung oder andere Zwecke zu vermeiden und darüber hinaus die Entwicklung tierfreier Alternativen zu fördern, was dem Nutzen der Tiere, Menschen und der Umwelt dienen soll.» Think global, buy local

Für Eva Kelemen geht es beim Thema «Tiere essen» um ethisch-moralische, tierrechtliche, gesundheitliche und ökologische Aspekte. Gern wirft sie die grossen Fragen auf: «Warum sind uns Haustiere mehr wert als Nutztiere, was macht ein Pferd wertvoller als eine Kuh?» Oder auch: «Warum wird in der Schweiz so viel Steuergeld in die Produktion von Milch und Käse gebuttert, wenn man doch weiss, dass Mandelmilch viel besser ist für die Gesundheit und das Klima?» Sie weiss, dass man sich nicht beliebt macht, wenn man anfängt, solche heiligen Schweizer Kühe zu hinterfragen – und tut es trotzdem. Ja, es ist wahr, die Schweiz hat eine der strengsten Tierschutzgesetzgebungen weltweit und der Anteil an Bioprodukten am Gesamtkonsum ist international spitze. Trotzdem kann sich der bewusste Konsument nicht einfach 12  EB NAVI #9

darum foutieren, wie tierische Lebensmittel anderswo produziert werden – denn der Löwenanteil dessen, was bei uns auf den Tellern angerichtet wird, stammt aus dem Ausland. Einzig bei Milch und Schweinefleisch produzieren die einheimischen Bauern mehr als im Inland gebraucht wird (➝ Infografik Seite 16 ). Dennoch bekommt man selten einmal eines dieser Schweine auf freiem Feld zu Gesicht. Auch die einheimischen können also nicht alle glückliche Schweine sein. Während bei den Begründern des Veganismus vor allem das Mitgefühl für die Tiere und ihre Leiden im Vordergrund standen, ernähren sich heute viele der Kundinnen und Kunden von «Eva’s Apples» auch aus ökologischen Gründen vegan: «Wenn etwas für die Umwelt tun, dann das, was am meisten bringt. Und das Fleisch wegzulassen ist nun mal viel effizienter, als immer das Velo zu nehmen oder kalt zu duschen.» Der Beitrag der tierischen Lebensmittelproduktion auf Fussabdruck, Klimaerwärmung und Regenwaldabholzung ist ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Einige Kommentatoren sehen darum im Veganismus gar schon eine der wichtigsten globalen Bewegungen des 21. Jahrhunderts. Eva Kelemen stimmt dem zu: «Die vegane Bewegung ist sicher eine globale, aber eben auch eine, welche die lokalen Produzenten unterstützt.» Ihre Kundschaft setzt bewusst auf lokal produzierte, gesunde pflanzliche Lebensmittel, darin sieht sie auch künftig ihre Nische. «Auch wenn wir damit eher im höheren Preissegment liegen, es gibt genügend Leute, die das zu schätzen wissen.» Im Vergleich zu London oder Berlin aber sei die Schweiz «totale Provinz»: «Für mich


Das ist die Sonnenseite der Globalisierung: Im Wettbewerb der Ideen von kreativen, genialen, mutigen Lösungsansätzen rund um den Globus zu lernen wird einfach.

dauert der gesellschaftliche Bewusstseinswandel in der Schweiz viel zu lange und für die Tiere sowieso», sagt sie. Das Beispiel von Eva Kelemen erinnert an einen Satz von Mahatma Gandhi: «Sei selber die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.» Und führt uns zum ersten Ansatz, was man lokal tun kann für ein besseres Leben: Das bereitstellen, was man selber vermisst, um ein ethischeres Leben zu führen.

Eine weitere Möglichkeit zeigt auch Jonathan Safran Foer auf: Ein Buch zu schreiben über die eigene Suche, das so überzeugend ist, dass es die Menschen dazu bewegt, ihr Leben umzustellen. Ähnliches gilt für die Radiosendung, die am Anfang von Evas Geschichte steht; auch Geschichten über Menschen, die unkonventionell gehandelt haben, anscheinend verrückte, neue Wege gegangen sind, können andere zum Nachahmen animieren.

die ihre Welt verändern, indem sie Ideen über andere Formen des Produzierens, Wirtschaftens, Lernens und Spielens umsetzen (➝ Kasten Seite 15). Zukunftsfähigkeit bedeutet für Futurzwei immer auch, «den anderen Menschen mitzudenken». Was wäre zum Beispiel, wenn in Zürich Flüchtlinge zu Museum-Guides ausgebildet würden, welche Menschen aus ihren Heimat­ ländern in ihrer Muttersprache durch die Zürcher Museen führen? In Berlin passiert das schon; im Projekt Multaka zeigen Geflüchtete aus Syrien und Irak ihren Landsleuten die kulturhistorischen Schätze der Stadt. Oder wenn man das bedingungslose Grundeinkommen einmal ausprobieren würde, statt es von vornherein als weltferne Utopie zu verwerfen? Seit Januar 2017 wagen die vier holländischen Städte Groningen, Tilburg, Utrecht und Wageningen dieses Experiment – als Ersatz für die traditionelle Sozialhilfe. Nachzulesen sind solche Beispiele aus der ganzen Welt auf der Website www.futureperfectproject.org, welche Futurzwei zusammen mit dem Goethe-Institut betreibt. Das ist die Sonnenseite der Globalisierung: Im Wettbewerb der Ideen von kreativen, genialen, mutigen Lösungsansätzen rund um den Globus zu lernen wird einfach.

Die Vorzukunft beginnt heute

Letzteren Ansatz verfolgt Futurzwei mit Sitz in Berlin: Futurzwei ist eine «Stiftung für Zukunftsfähigkeit», welche sich den Slogan «Wir fangen schon mal an.» auf die Website geschrieben hat und «ihre Mittel für das Projekt einer zukunftsfähigen, enkeltauglichen Gesellschaft einsetzt». Futurzwei führt ein Zukunftsarchiv, das «Geschichten des Gelingens» erzählt: über Menschen,

Wer will ich gewesen sein?

Der zweite Ansatz für lokales Handeln zum Wohl des Ganzen lautet darum: Mit Menschen den Dialog suchen, wichtige Fragen stellen und die Erfolgsgeschichten, wie es sich enkeltauglich leben lässt, weiter­ erzählen und selber nachahmen.

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Der Knackpunkt dabei ist das Fragenstellen mit der Zukunft im Blick. Dazu Dana Giesecke, die wissenschaftliche Leiterin von Futurzwei: «Wir stellen die Frage: Wer möchten wir – von einem zukünftigen Zeitpunkt aus betrachtet – heute gewesen sein? Etwa derjenige, der alles zwar gewusst und kommen gesehen und dennoch nichts getan hat?» Jede und jeder könne das für sich in eine ganz persönliche Frage übersetzen: «Wer will ich gewesen sein?» Für Giesecke ist es genau diese Frage, die «den Antrieb bildet für die Veränderung der gegenwärtigen Leitkultur der Verschwendung und Zukunftslosigkeit». Viele haben sich solche Fragen schon gestellt und für sich eine Antwort gefunden. Auch Matthias Meier. Der HSG-Absolvent mit einem Master in Buchhaltung und Finanzen beriet grosse Unternehmen, wie sie Kosten senken können. In der Praxis bedeutete das meist: Leute entlassen. «Irgendwann kam ich zum Schluss: So auf ein ganzes Leben gesehen ist das energietechnisch nicht so interessant.» Was er eigentlich wollte, war das Gegenteil: «Menschen aufbauen, entwickeln helfen, etwas bewirken.» 2009 begann er darum ehrenamtlich für Aiducation zu arbeiten, eine Organisation, welche begabten Schülerinnen und Schülern in Kenia und auf den Philippinen einen Highschool-Abschluss ermöglicht. Heute ist er Geschäftsführer bzw. «CEO» des Schweizer Chapters von Aiducation International mit Sitz in Zürich. Bildung als Treiber für Wandel

Obwohl die Highschool-Stipendien über Spenden finanziert werden, ist Aiduca14  EB NAVI #9

tion kein Hilfswerk im herkömmlichen Sinn, sondern eine «For-impact»-Organisation, die wie ein klassisches «Forprofit»-Unternehmen aufgebaut ist. «Wir sprechen bei uns von ‹Customer Relations›, ‹Produkten› oder ‹Verkauf›, erzielen auch Gewinne: der wesentliche Unterschied besteht aber darin, dass wir diese Gewinne nicht an Aktionäre ausschütten, sondern wieder in unsere Projekte und den Aufbau der Organisation investieren.» Meier gehört der relativ neuen Garde der «Social Entrepreneure» an; statt Profit verfolgen soziale Unternehmerinnen und Unternehmer soziale Wirkung (= impact). Aiducation tut das recht erfolgreich, hat bisher 1300 Stipendien vergeben, die für die vier Jahre bis zum Highschool-Abschluss 3200 Franken kosten. Rund 600 haben bereits abgeschlossen, und Aiducation kümmert sich auch darum, dass die jungen Kenianer und Philippininnen den Einstieg ins Berufsleben schaffen: Zum Beispiel können sie sich im «Corporate Career Training» auf ein Praktikum in einem internationalen Unternehmen vorbereiten oder in einem Start-up-Kurs einen Businessplan für ihr eigenes Mikrounternehmen ausarbeiten, etwa als Velokurier oder Fruchtsaftfabrikantin. 2010 war Aiducation selbst noch ein Start-up und hat als erstes nicht gewinn­ orientiertes Unternehmen den Schweizer Firmengründerpreis «Venture Kick» gewonnen. Damals, als ehrenamtlicher Mitarbeiter, hätte sich Meier nicht träumen lassen, dass er sich einmal als Geschäftsführer einen, wenn auch bescheidenen Lohn für seine Arbeit würde auszahlen können. Heute sieht er


Geschichten für eine enkeltaugliche Welt Die veröffentlichten «Geschichten des Gelingens» sind für Futurzwei «Erfahrungswissen, das wir künftig brauchen werden». Denn «Futurzwei» ist durchaus im grammatikalischen Sinn zu verstehen; wir leben in einer Vorzukunft, vieles, was wir heute für normal halten, «wird in der Zukunft gewesen sein», neue praktische Umsetzungen «werden angefangen haben», Probleme «werden gelöst sein» usw.

Abwässer aus dem Lötschbergtunnel nutzt, um Störe zu züchten und tropische Früchte wie Bananen, Mangos oder Kaffee in den Berner Oberländer Bergen gedeihen zu lassen. Auch das Projekt Stadttomaten von ProSpecieRara zur Erhaltung rarer Tomatensorten wird als in eine bessere Zukunft weisend angesehen: Seit fünf Jahren verschenkt ProSpecieRara in Zürich, Lausanne und Genf Tomaten-Starter-Kits mit Samen und Anleitung an städtische FreizeitLichtblicke wider die Verschwendung gärtner. Zu Wort kommen auch Bio- und Fairtrade-Pioniere Alle veröffentlichten Geschichten sind zum Weitererzählen wie Patrick Hohmann: Er hat schon 1991 begonnen, seine in und Nachahmen gedacht. Da ist zum Beispiel die Rotkreuz ansässige Textilfirma Remei AG so umzubauen, Geschichte von Carla das die KleiderprodukCargo, einem Fahrtion weder der Umwelt Die Berliner Stiftung Futurzwei zeigt in ihrem radanhänger mit Elektnoch den daran beteiligromotor, der Lasten von «Zukunftsarchiv» Beispiele auf, welche in die richtige, ten Menschen schadet über 150 Kilogramm – vom Baumwollfeld bis zukunftsfähige Richtung weisen. bewegt und Platz bietet hin zum fertigen Kleifür 30 Euronorm-Boxen dungsstück. In Indien voller Gemüse. Für Futurzwei ein Schritt in Richtung CO ² und Tansania verhilft er Kleinbauern zu einer selbstbeneutrale Lebensmittelversorgung in Innenstädten. Carla stimmten Existenz, u.a. mit Schulung und fairen Abnahmelässt sich auch ausbauen und im Nu in eine mobile Suppenpreisen für die produzierte Biobaumwolle. küche, Kaffeebar oder Disco umwandeln. Die Wegwerfpraxis rund um Baby- und Kindersachen vorgeknöpft hat sich Die Schockstarre überwinden hingegen die Firma Räubersachen in Halle; sie vermietet Futurzwei will mit solchen Geschichten vermitteln, «dass ökologische Kinderkleidung, solange sie gebraucht wird. jeder im Hier und Jetzt wirksame Veränderungen bewirken Auch die Kölner Innatura ist eine Antwort auf die Überkann, so klein sie fürs Erste auch scheinen mögen», erklärt fluss- und Wegwerfgesellschaft: Kleine Produktionsfehler, Zoe Herlinger vom Futurzwei-Team. Sie ist überzeugt: Solche falsche Etikettierungen, Überproduktionen – deutsche positiven Geschichten zeigen, dass die Welt eben nicht überFirmen entsorgen jährlich Produkte im Wert von sieben komplex und strapaziös und sowieso dem Untergang geweiht Milliarden Euro. Innatura rückt dieser Verschwendung zu ist. «Sie befreien aus der Schockstarre.» Messlatte für die Leibe, indem sie die neuwertigen, gut brauchbaren ProAuswahl der Geschichten ist die «Zukunftsfähigkeit» oder dukte sammelt und an gemeinnützige Organisationen vereben «Enkeltauglichkeit» der Ideen. Herlinger: «Das bedeutet teilt. Einen Lichtblick bietet auch das ehrenamtliche Team einen ressourcenschonenden Umgang mit der Welt und aus muslimischen Akademikern von NourEnergy, welches einen toleranten, offenen und interessierten Dialog mit den in Deutschland Solaranlagen auf Moscheen errichtet, damit anderen Menschen, mit denen wir diese Welt teilen.» Und es sich die Gotteshäuser selbst mit sauberer Energie versorbedeute auch, sich überhaupt ein Bild von der Zukunft zu gen können; Nour, das bedeutet «Licht» auf Arabisch. machen, sich also die Frage nach dem guten Leben zu stellen – und danach, wie man bereits jetzt so lebe, dass sich Schweizer Zukunftsbeiträge diese Vision verwirklicht haben werde. Was für die Enkel Auch ein paar Schweizer Geschichten des Gelingens haben tauglich ist, kann so schlecht für den Planeten nicht sein. es ins Zukunftsarchiv geschafft: zum Beispiel die Zürcher Äss-Bar, die Backwaren vom Vortag zum halben Preis www.futurzwei.org anbietet. Oder das Tropenhaus in Frutigen, das die warmen www.futureperfectproject.org

seinen Job als grosses Privileg, ist «hundertprozentig intrinsisch motiviert»: «Niemand anders setzt uns Ziele, wir können das Unternehmen ganz auf der Zweckebene führen.» Statt Aktionären

nachzurennen, kann er sämtliche Überschüsse wieder ins Unternehmen stecken. Und er erfüllt eine sinnstiftende Aufgabe, lebt seine Überzeugungen: «Bildung hilft Menschen, sich zu entfal-

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Globales und Lokales im Einkaufskorb Mit Milch und tierischen Fetten kann sich die Schweiz gut selbst versorgen. Doch bei allen anderen Produkten lässt sich der Schweizer Appetit nur mit ausländischen Lebensmitteln stillen. Infografik Daniel Röttele

1

Wie hoch ist der Anteil aus heimischer Produktion?

Anteil der Inlandproduktion am Gesamtverbrauch, Jahr 2014, nach verwertbarer Energie

100%

Der Netto­Selbstversorgungsgrad der Schweiz liegt bei 56%. Das heisst, die Schweiz kann mit der Inlandproduktion etwas mehr als die Hälfte des Kalorienbedarfs decken. Ohne den energiehaltigen Zucker läge der inländische Anteil bei etwa 49%.

80%

90% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10%

Fisch

alkohol. pflanzliche Getränke Fette

2

Früchte

Gemüse

Eier

Getreide

Fleisch

3

Gemüse: Was kommt von hier und was aus dem Ausland?

Anteil Schweizer Gemüse am Gesamtkonsum, 2015 Anteil ausländisches Gemüse am Gesamtkonsum

Produkt

Hauptherkunfsländer

Rüebli 85%

15%

Spanien, Italien

44%

Spanien, Marokko, Niederlande

51%

Spanien

55%

Spanien, Niederlande

Tomaten (ohne Cherrytomaten) 56%

Eisbergsalat

Kartoffeln

Zucker

tierische Fette

Salatgurken 45%

16  EB NAVI #9

0%

Fleisch: Von wo kommt es auf unseren Teller?

Anteil Schweizer Fleisch am Gesamtkonsum, 2015 Anteil ausländisches Fleisch am Gesamtkonsum

Produkt

Hauptherkunftsländer

Schweinefleisch 96%

Rindfleisch 84%

55%

Deutschland, Österreich, Irland

45%

Brasilien, Deutschland, Frankreich

65%

Neuseeland, Australien

Schaf-/Lammfleisch 35%

Deutschland, Portugal

16%

Geflügel 49%

Milch

Quellen: Bundesamt für Statistik, Bundesamt für Landwirtschaft (1), Landwirt. Informationsdienst (2), Proviande (3), Eidg. Zollverwaltung (2, 3)


Enkeltauglichkeit bedeutet einen ressourcenschonenden Umgang mit der Welt und einen toleranten, offenen und interessierten Dialog mit den anderen Menschen, ten und ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen.» Meier will die Chance, die er in der Schweiz scheinbar selbstverständlich erhalten hat, auch anderen eröffnen. Und erhofft sich davon auch Multiplikatoreffekte für ganz Kenia und die Philippinen. Start locally

Dabei gelte es, das globale Bild im Auge zu behalten. In Zeiten wie diesen, wo immer mehr Menschen aus ihren Heimatländern flüchten, sei es wichtig, an den Wurzeln anzusetzen. «Weltweit sind rund 100 Millionen Menschen ohne Zugang zu Bildung und jeder Einzelne wäre es wert.» Die Globalisierung biete aber eben auch die Möglichkeit, das Prob­lem hier und jetzt anzupacken, Menschen über Tausende von Kilometern zusammenzubringen. Spenderinnen und Spender bekommen regelmässige Updates zu den Fortschritten der Stipendiaten. Meier: «Wenn ich von hier aus dafür sorgen kann, dass Jimmy aus Mombasa sich irgendwann den ‹Graduierten-Hut› für seinen Abschluss auf den Kopf setzt, umso besser.» Der dritte Ansatz lautet demnach: Diejenigen Ressourcen, die uns ermöglichen, ein gutes Leben zu führen, auch anderen zur Verfügung stellen, die nicht so privilegiert sind: Bildung, Gesundheit, Nah­ rung, Behausung etc.

Wie das Beispiel von Matthias Meier und Aiducation zeigt, kann man dies auf zwei Arten tun: entweder, indem man beruflich sein Wissen, seine Erfahrung und

mit denen wir diese Welt teilen. seine Talente für eines dieser Ziele einsetzt, oder, indem man Geld zur Verfügung stellt, damit diese Ziele erreicht werden können. Entscheidet man sich für diesen dritten Ansatz, steht man allerdings erst einmal vor einer riesigen Auswahl. Allein bei der Stiftung Zewo in Zürich, die gemeinnützige Organisationen zertifiziert, sind über 500 Hilfswerke registriert, die sich für ganz unterschiedliche Anliegen einsetzen. Daneben gibt es unzählige kleine private Initiativen, die schnell und direkt Hilfe vor Ort leisten wollen; Schulen in den ehemaligen Bürgerkriegsgebieten der Elfenbeinküste wieder aufbauen und mit Schulbüchern versorgen oder hier nicht mehr gebrauchte Alltagsgüter an die Menschen in den Konfliktzonen der Ukraine liefern, denen es an so gut wie allem fehlt. Aber wo und wie kommt das Spendengeld am wirksamsten an? Und wofür soll man seine Zeit, seine Energie und sein Können einsetzen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die relativ neue Bewegung der «effektiven Altruisten». Einer ihrer wichtigsten Vertreter ist der erst 30-jährige William MacAskill, Professor für Philosophie in Oxford. In seinem Buch «Gutes besser tun» geht er der Frage nach, wie wir die Welt effektiv verändern können. Und entwirft einen Plan, wie jede und jeder für sich die nötigen Antworten finden kann (➝ Seiten 18 und 19). Antworten, um hier, jetzt und heute schon mal anzufangen.  n

GLOKALISIERUNG   17


GLOK ALISIERUNG

Die Welt zu einem besseren Ort machen – eine Denkanleitung «Sie sollten den heutigen Tag zu dem Tag machen, an dem Sie beginnen wollen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen», schreibt William MacAskill in «Gutes besser tun». Und liefert – für einen Philosophen eher unüblich – als Werkzeug­ koffer gleich einen praktischen Fragen­ katalog dafür mit: I. Die fünf Schlüsselfragen

1. Wie viele Menschen profitieren und in welchem Mass? Wir müssen herausfinden, wie gross der Nutzen verschiedener Aktivitäten ist, um Entscheidungen fällen zu können, wem wir helfen und wem nicht. 2. Was ist das Wirksamste, was ich tun kann? Es gibt gute und sehr gute Initiativen, die besten Gesundheits- und Bildungsprogramme wirken aber Hunderte Male besser. Man sollte sich auf die wirksamsten konzentrieren. 3. Welches sind die vernachlässigten Bereiche? In einigen Bereichen wie etwa für die Katastrophenhilfe oder Krebsbekämpfung wird bereits sehr viel gespendet und getan, darum ist dort zusätzliches Enga18  EB NAVI #9

gement nicht so wirksam wie in vernachlässigten Bereichen wie beispielsweise der Malariahilfe. 4. Was würde ohne mein Zutun geschehen? In vielen Bereichen übersteigt die Nachfrage die Anzahl an verfügbaren Jobs. Darum ist es besser, viel Geld zu verdienen, um es zu spenden, als eine soziale Aufgabe zu übernehmen, welche auch andere erfüllen würden. 5. Wie gut sind die Erfolgsaussichten, und wie viel wäre ein Erfolg wert? Einige Aktivitäten können sehr viel bewirken, wenn sie erfolgreich sind: politische Karrieren, Kampagnen zur Systemveränderung, Forschung zur Lösung globaler Probleme. II. Die Auswahl des Wirkfeldes

Auf welches Anliegen man sich konzentrieren sollte, lässt sich anhand folgender vier Kriterien herausfinden: 1. Ausmass Wie gross ist das Problem? Wie sehr wirkt es sich auf die Menschen aus, kurzund langfristig?


2. Lösbarkeit Was kann ich zur Lösung des Problems beitragen? Wie leicht lassen sich Fortschritte erzielen, und wie einfach kann ich feststellen, ob ich sie erziele? 3. Grad der Vernachlässigung Welche Ressourcen werden bereits in die Lösung des Problems gesteckt, und wie gut werden sie genutzt? Gibt es Grund zur Annahme, dass es sich auch ohne mein Zutun löst? 4. Persönliche Eignung Wie wahrscheinlich ist es, dass ich dank meinen Fähigkeiten, Kenntnissen, Inte­ ressen, Ressourcen und Verbindungen in diesem Bereich sehr viel bewirken kann? III. Fragen zum Berufsweg

1. Wie gut passt diese Tätigkeit zu mir? Begeistert mich diese Arbeit, wie zufrieden werde ich sein? Wie gut beherrsche ich die Arbeit im Vergleich zu anderen, wie gut könnte ich darin werden? 2. Was kann ich in dieser Tätigkeit bewirken? Wie viel Einfluss in Form von Finanzen, Verbindungen oder Publizität habe ich? Wie effektiv sind die Programme, in die ich diese Ressourcen lenken kann? 3. Was und wie trägt diese Tätigkeit dazu bei, meinen zukünftigen Einfluss zu erhöhen? Was kann ich dabei lernen, welche Kenntnisse, Erfahrungen, Qualifikationen und Kontakte kann ich erwerben, die mir später nützen?

IV. Fragen zum Einsatz von Spendengeld

1. Was tut die Hilfsorganisation genau? Wie viele unterschiedliche Programme betreibt sie? Was ist der Grund dafür, und was genau tut sie in jedem dieser Programme? 2. Wie kostenwirksam arbeitet die Organisation? Konzentriert sich die Organisation auf eines der wichtigsten Anliegen? Ausgehend von den Fakten: Wie wirksam ist das Programm im Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln? 3. Wie solide sind die Belege für die Wirksamkeit? Welche Beweise gibt es, dass die Hilfe funktioniert? Überwacht und bewertet die Organisation ihren Erfolg sorgfältig? 4. Wie gut werden die einzelnen Programme durchgeführt? Ist die Organisation transparent? Gibt es gute Gründe für die Annahme, das diese Organisation besser arbeitet als andere? Welche Alternative könnte ich stattdessen berücksichtigen? 5. Braucht die Organisation zusätzliche Mittel? Warum haben nicht bereits andere dieser Organisation so viel gespendet, dass sie keine weiteren Mittel mehr braucht? Wofür genau würden zusätzliche Spendengelder eingesetzt?  n

GLOKALISIERUNG   19


Chronik der Globalisierung Es gab keinen eigentlichen «Startschuss», mit dem die Globalisierung begann. Stattdessen waren es mehrere Ereignisse der Geschichte, die die Globalisierung angetrieben und beschleunigt haben. Unsere Grafik zeigt eine kleine Übersicht wichtiger Ereignisse und einige Kennzahlen. Infografik Daniel Röttele

Die Bereiche der Globalisierung = Technik = Politik = Markt

= Kultur

= Ereignisse/Kennzahlen der Schweiz

1. GLOBALISIERUNG

15./16. und 17. Jh.: Entdeckungsreisen und europäische Expan­ sion. Austausch von Nutzpflanzen (z. B. Kartoffeln). Kolonialer Dreieckshandel. 1500

1600

1700

1769 Patentierung der Dampfmaschine von James Watt. Sie kann neu ein Schwungrad antreiben. 1750

1602 Gründung der Niederländischen OstindienKompanie. Sie gilt als der erste multinatio­ nale Konzern und finanziert sich durch Aktien.

1800

1764 Die «Spinning Jenny» ist die erste mechanische Spinnmaschine. Beginn der ersten industriellen Revolution.

1792 Gründung der New Yorker Börse.

Mitte 15. Jh. Erfindung des Buch­ drucks mit bewegli­ chen Lettern.

Quellen: Le Monde Diplomatique: «Die Globalisierungsmacher», Norman Backhaus: «Globalisierung» (Westermann), Historisches Lexikon der Schweiz, Konjunkturforschungsstelle der ETH, Bundesamt für Statistik, WTO, Eidg. Zollverwaltung

20  EB NAVI #9

1825 Erste öffentliche Eisenbahnstrecke in England. Beschleunigung der Mobilität und Verkürzung der Transportzeiten.

1779 Adam Smiths «Wohlstand der Nationen» begründet klassische Nationalökonomie und freie Marktwirtschaft.

1817 David Ricardo entwickelt die Theorie der komparativen Vorteile und wird zum Erfinder des Freihandels.


1848 Gründung des Schweizer Bundesstaats. Der Abschluss von Zoll- und Handelsverträgen mit dem Ausland ist neu in der Kompetenz des Bundes. Handels- und Gewerbefreiheit werden in der Verfassung verankert.

1875 Die Schweiz verpflichtet sich, die inter­ nationalen Massein­ heiten (Meter und Gramm) zu benutzen.

1851 Erste Weltausstel­ lung in London. Sie zeigt einerseits das Zusammenwachsen der Welt, aber auch nationale Besonderheiten.

1866 Erste dauerhafte Telegrafenverbin­ dung zwischen Europa und USA mittels Unterseekabel.

1840 Erste Dampf­ schifflinie über den Atlantik. Grosse Steigerung der Mobilität.

1876 Alexander Graham Bell erfindet das Telefon.

1913 Erstes Fliessband bei Fords Autofabrik. Rationalisierung und Beschleunigung. Beginn der industriellen Massenfertigung.

1882 Eröffnung des Gotthardtunnels. Der Personentransport durch die Alpen nimmt stark zu. Das Bild einer modernen und fortschrittlichen Schweiz wird in die Welt getragen.

1895 Erste draht­ lose Nachrich­ tenübermittlung (Funk).

1928 Erste Telefonverbindung von der Schweiz in die USA.

1900 1850 1846 Aufhebung der «Corn Laws» in Grossbritannien. Die hohen Importzölle auf Getreide werden abgeschafft. 1844 Die erste Telegrafenver­ bindung wird in den USA durch Samuel Morse in Betrieb genommen.

1869 Eröffnung des Suezkanals. Handel zwischen Asien und Europa erlebt einen starken Aufschwung.

1886 Bau des ersten Autos durch Carl Benz. Beschleunigung des Transports.

1884 Die Weltzeit (Greenwich Mean Time) wird eingeführt.

1880/81 Die Erzählung «Heidi» von Johanna Spyri erscheint. Sie wird in mehr als 50 Sprachen übersetzt und trägt den Mythos der Schweizer Bergwelt in die Welt hinaus. Auch der gleichnamige japanische Trickfilm von 1974 wird in vielen Teilen der Welt ausgestrahlt. Das «Heidiland» Schweiz wird touristisch vermarktet.

1918/19 Die Spani­ sche Grippe erreicht die Schweiz. Die Pandemie fordert in der Schweiz rund 24 500 Tote. Die Spanische Grippe und ihre Folgen bewirken auch eine Änderung der Mentalität: Die zuvor weltoffene Schweiz beginnt sich gegen die «schädlichen» Einflüsse von aussen abzuschotten.

1914 Schweizer Firmen weben in den USA ebenso viele Seidenstoffe wie in der Schweiz. Die Schweizerisch­Amerikani­ sche­Stickerei­Industrie­ Gesellschaft (Sastig) ist das grösste multinationale Unternehmen der Schweiz. 1914 Erste Durchfahrt des Panamakanals.

GLOKALISIERUNG   21


2. GLOBALISIERUNG

1944 Konferenz von Bretton Woods. Welt­ bank und IWF sollen reibungslosen Welthandel ermöglichen.

1966 Die Schweiz tritt dem GATT definitiv bei.

1957 Erster Satellit (Sputnik) in Erdumlaufbahn. Zeitalter der Satellitenkommunikation bricht an. 1948 Das Allgemeine Zoll­ und Handelsab­ kommen (GATT) tritt in Kraft. Es sorgt für einen schrittweisen Zollabbau.

1940

1950

1952 Die Europäi­ sche Wirtschafts­ gemeinschaft (EWG) wird gegründet. Sie strebt die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und den Abbau von Handelschranken an. Sie ist der Vorläufer der EU.

1958 Erfindung des Mikrochips. Die digitale Revolution geginnt. 1960

1956 Erster Schiffscontainer. Seine Erfindung führt zu einer starken Rationalisierung und Beschleunigung des Seehandels und zur Verbilligung des Transports.

1976/77 Die ersten PCs kommen auf den Markt.

1967 Gründung der ersten Billigflugge­ sellschaft.

1989 Fall der Berliner Mauer. Sozialistischer Block zerfällt. Beginn der Monopolstellung des kapitalistischen Systems. Der Neoliberalismus gewinnt geografisch und politisch stark an Einfluss. 1989 Gründung der Asiatisch­Pazifi ­ schen Wirtschafts­ gemeinschaft (APEC).

1970

1970 Durch die Hochkonjunktur rekrutiert die Schweiz nach dem 2. Weltkrieg viele Arbeitskräfte aus dem Ausland. 1970 sind 17,2% der Wohnbevölkerung ausländischer Herkunft.

1980

1986 Gründung der Vereinigung «Slow Food», die sich als Gegenkraft zum globalisierten Fastfood sieht und unter anderem den lokalen Anbau von Lebensmitteln befürwortet. 1974 Erster Strichcode in einem US-Supermarkt.

1945 Gründung der UNO.

1972 Der Club of Rome veröffentlich den Bericht «Die Grenzen des Wachstums», der eine grosse weltweite Beachtung findet. 22  EB NAVI #9


3. GLOBALISIERUNG

2016 Die Schweiz ist gemäss der Konjunkturforschungsstelle der ETH das am fünfstärksten globali­ sierte Land der Welt. An der Spitze stehen die Niederlanden.

1992 Umweltkonferenz in Rio. Erstmals werden Umweltfragen in globalem Rahmen diskutiert. Viele NGOs sind daran beteiligt. Nachhaltigkeit und Erderwärmung werden als wichtige Themen erkannt.

2016 Gemäss Global Competitiveness Report des WEF ist die Schweiz das wettbewerbsfähigste Land der Welt.

1994 Gründung der NAFTA (Nordamerikanische Freihandelsabkommen). Viele Zölle werden abgeschafft.

1997 Ausbruch der Asienkrise. Das globale Finanzsystem wird kurzfristig zum Erzittern gebracht.

1992

1994

1993 Gemeinsamer Binnen­ markt der EU tritt in Kraft. Einführung der Personenfreizügigkeit.

1991 Schaffung des World Wide Web. Das InternetZeitalter beginnt.

1996

1998

2008 Die Finanzkrise erschüttert die Staaten rund um den Globus und zwingt sie zu zahlreichen Massnahmen.

2000 Die GPS­Naviga­ tion wird für die Allgemeinheit verfügbar.

2000

1999 Die globalisierungskritische Bewegung «Attac» gründet eine Schweizer Sektion.

1995 Gründung der Welt­ handelsorganisation (WTO). Sie hat ihren Sitz in Genf. Sie will Zölle und Handelshemmnisse abbauen und einen weitgehenden Freihandel etablieren. Zahlreiche Abkommen über Dienstleistungen (u. a. Banken und Telekommunikation) zu geistigem Eigentum und zur Lebensmittelsicherheit werden beschlossen.

2002

2004

2002 Die Schweiz tritt der UNO bei.

2006

2008

2010

2007 Es gibt weltweit rund 7500 Non­Profi t­ Organisationen (NGOs). Sie stellen neben dem Markt und den Nationalstaaten eine dritte Kraft dar und sind teilweise global sehr gut vernetzt. Bekannt sind z. B.: Amnesty Internatio nal, Greenpeace, WWF.

2016 Unter den zehn umsatzstärksten Firmen der Schweiz sind sechs im Bereich Rohstoff-, Energieund Erdölhandel zu finden (fünf mit Sitz in Genf). Zwei sind im Bereich Chemie/ Pharma und zwei im Sektor Nahrungsmittel zu finden.

2012

2014

2016

2015 Nestlé ist der grösste Nahrungsmittel­ konzern der Welt. Etwa 3% der Mitarbeitenden arbeiten in der Schweiz. 2015 Der Anteil der ausländischen Wohnbe­ völkerung beträgt rund 25%. Die Schweiz liegt damit europaweit auf Rang 3 (hinter Luxemburg und Liechtenstein). 2015 Die Schweiz liegt bei den bedeutenden Exportnationen auf Platz 16 und exportiert für 203 Mrd. Franken Güter in alle Welt. Gleichzeitig importiert sie für 166 Mrd. Waren.

GLOKALISIERUNG   23


SERVICE

Nach Mundart des Hauses Sonderfall Schweizerdeutsch: Einwanderer werden mit einem «Chrüsimüsi» von Wörtern, Lauten und Ausdrücken konfrontiert. Der Dialekt lässt sich aber lernen wer jede andere Sprache auch. Die wichtigsten Tipps lieferte Expertin und EB-Zürich-Dozentin Esther Ochsner.

Text Katleen De Beukeleer 24  EB NAVI #9

Die amerikanisch-schweizerische Doppelbürgerin Tina Turner hat mal gesagt, Schweizerdeutsch klinge wie Vogelgezwitscher. Charmant und süss – oder doch eher grob und provinziell? Fakt ist: Schweizerdeutsch ist eines der wichtigsten Identifikationsmerkmale der Deutschschweizer. Die Mundart wird gehegt und gepflegt. Ihre Beliebtheit geht unter anderem auf die zwei Weltkriege und die Zwischenkriegszeit zurück, als sich die Deutschschweizer durch ihre Sprache von Deutschland abgrenzten. Auch oder gerade die Globalisierung konnte die «Mundartwelle» nicht aufhalten. Schweizerdeutsch ist mittlerweile überall: im Tram, an Rockkonzerten, in Talkshows, in Chats, im Kino. 2011 entschieden die Zürcher per Referendum, dass im Kindergarten nur noch Mundart gesprochen werden soll. Die Mundart ist aber eine hohe Hürde für Menschen, die aus dem Ausland kommen. Wer sich die deutsche Sprache mit ihrer komplexen Grammatik aneignet, hat noch längst keine Garantie, die Kassiererin im Supermarkt zu verstehen. Trotzdem gibt es eine gute Nachricht: Schweizerdeutsch ist erlernbar. Standarddeutsch als Basis

Da Schweizerdeutsch ein Dialekt – oder besser: eine Sammlung verschiedener Dialekte – des Standarddeutschen ist, empfiehlt es sich, zuerst Standarddeutsch («Deutsch als Fremdsprache») zu lernen. Tipp: Wenn Sie das Niveau B1 im Standarddeutschen erreicht haben, wird Ihnen das Erlernen des Schweizerdeutschen leichter fallen.


AUF KURS BLEIBEN

Erster Schritt: das Verstehen

Der erste und wichtigste Schritt beim Lernen des Schweizerdeutschen ist das Verstehen. Tipp 1: Man lernt viel übers Ohr. Hören Sie im Alltag aufmerksam zu und versuchen Sie herauszufinden, welche Wörter und Ausdrücke immer wieder vorkommen. Was ist ein «Chrüsimüsi»? Was bedeutet «isch guet gsi», «gället Sie» oder «viel ztue»? Solche rhetorischen Elemente spielen im Schweizerdeutschen eine wichtige Rolle. Sobald Sie ihre Bedeutung kennen, haben Sie schon einen wichtigen Schritt zum Verstehen gemacht. Sie werden sich sogar vom Charme des Schweizerdeutschen begeistern lassen. Tipp 2: Seien Sie nicht zu streng mit sich selber. Lernen Sie, den Sinn des Gesagten zu verstehen – auch wenn Sie nur einen Teil der Wörter verstanden haben. Die Aussprache

Jede Sprache bedient sich unterschiedlicher Stellen im Mund. Schweizerdeutsch zu sprechen erfordert viel Training. Laute wie das «ch», das «üe» oder das nahe Aufeinanderfolgen von Konsonanten wie in «sechzg» oder «gmacht» werden oft als schwierig empfunden. Tipp: Machen Sie viele Sprechübungen. Bei bestimmten Wörtern und Ausdrücken hilft nur ständige Wiederholung. Hilfreich sind Wortspiele wie: «De Brüeder backt en Chueche.» «Häsch mir en Stutz?» «Chomm, gömmer echli gaa go poschte.» Rhythmus und Betonung

Verschiedene Sprachen zu sprechen ist wie Instrumente zu spielen. Jede Sprache

Praktisches Schweizerdeutsch Eidgenössisch kommunizieren in Alltagssituationen Schreibwerkstatt Deutsch als Zweitsprache A2/B1 Schreibend in die neue Sprache eintauchen Deutsch für Secondos und Secondas Sicherer im Schriftdeutschen Konversation Deutsch als Zweitsprache B2/C1 Im Gespräch die richtigen Worte finden Anmelden: eb-zuerich.ch/ebnavi/glokalisierung

hat ihren Rhythmus. Der Rhythmus und die Melodie der Muttersprache schwingen beim Fremdsprachenerwerb meistens mit. Das ist in Ordnung und kein Grund, sich zu schämen – im Gegenteil: Mit der Melodie wird auch ein Teil der eigenen Kultur transportiert. Trotzdem ist die richtige Aussprache des Schweizerdeutschen wichtig: Man will ja verstanden werden. Tipp: Achten Sie von Anfang an auf die richtige Betonung. Nicht «Vorteil» sondern «Vorteil», nicht «ich arbeité» sondern «ich arbeite». Lassen Sie sich von Muttersprachlern korrigieren. Die Sprech-Schwelle

Nebst Training braucht es am Anfang viel Überwindung, Schweizerdeutsch zu sprechen. Man muss einen Weg finden, sich in der neuen Sprache wohlzufühlen. Die Sprache muss passen wie ein neues Kleidungsstück. Tipp: Wenn Sie sich nicht trauen, bei der Arbeit Schweizerdeutsch zu sprechen, versuchen Sie es dann mal in einer ganz anderen Umgebung, zum Beispiel abends bei einem Fondue mit Freunden. Eine andere Atmosphäre kann Ihnen helfen, Ihre Hemmschwelle zu überwinden.

GLOKALISIERUNG   25


BUCHTIPPS «Schoggi und Kafi – ein Kurs für praktisches Schweizerdeutsch», vom EB-Zürich-Dozenten Niklaus Umiger. Auch für Autodidakten empfehlenswert. Nebst praktischen Versteh- und Sprechübungen beinhaltet das Buch auch einen Grammatikteil.

Die Regeln des Schweizerdeutschen

Zwar kann man Schweizerdeutsch schreiben, wie man will – für die Schreibweise gibt es keine Vorgaben. Grammatikalisch hingegen gibt es durchaus Regeln. Die schweizerdeutsche Grammatik bietet Halt beim Lernen. Tipp: Sobald Sie sich mit der Rhythmik und dem Kontext des Schweizerdeutschen vertraut gemacht haben, können Sie sich die schweizerdeutsche Grammatik aneignen. Das hochdeutsche «au» zum Beispiel wird im Schweizerdeutschen in den meisten Fällen zu «uu» (Maus wird Muus, trauern wird truure). Spätestens hier werden Sie übrigens feststellen, dass Sie im Hochdeutschen schon ein beachtliches Niveau erlangt haben. Schweizerdeutsch als Integrationshilfe

Schweizerdeutsch hilft bei der Integration in die hiesige Gesellschaft. Sei es der südamerikanische Pfleger, der sich mit seinen Patienten unterhalten möchte, der deutsche Geschäftsmann, der seine Kunden besser verstehen möchte, oder die Französin, die am Tisch bei den Schwie-

gereltern mitreden will: Fast immer wünschen sich Schweizerdeutsch-Lernende, sich noch besser zu integrieren. Tipp: Ihre bisherigen Erfahrungen mit der Schweizer Kultur helfen Ihnen auch sprachlich. Achten Sie zum Beispiel darauf, immer wieder den Konjunktiv II einzusetzen («Das wäre vielleicht noch eine Idee»). Der Konjunktiv II bringt die typisch deutschschweizerische Vor- und Rücksicht zum Ausdruck. Schweizerdeutsch-Kurse

Obwohl der Weg zum Schweizerdeutschen oft ein «Learning-by-doing»-Prozess ist, geniessen Mundart-Kurse eine grosse Beliebtheit – so auch an der EB Zürich. Momentan gibt es drei Niveaus; jeder Kurs dauert zwei Lektionen pro Woche. Die Vorteile eines Kurses liegen in der Lernbegleitung und der intensiven Auseinandersetzung mit der Sprache. Teilnehmende beginnen oft bereits nach zwei Monaten zu sprechen und besser zu verstehen. Die Gruppen sind immer sehr international. Wörter, Ausdrücke und Kulturen werden zwischendurch auch mal miteinander verglichen – das macht den Kurs zu einer Entdeckungsreise: Wer weiss zum Beispiel schon, dass «Wischiwaschi» keine schweizerdeutsche Besonderheit ist, sondern auch auf Englisch existiert?   n

Esther Ochsner arbeitet seit fünfzehn Jahren an der EB Zürich als Kursleiterin in den Bereichen DaZ (Deutsch als Zusatzsprache) und Englisch für schulgewohnte und schulungewohnte Menschen. Zudem moderiert sie das Sprachencafé DaZ und ist Mitinitiatorin des «kleinen Sprachencafés» Deutsch am Mittag. Seit April 2016 unterrichtet sie den Schweizerdeutschkurs. Sie mag es, Menschen aus aller Welt vielfältig zu unterstützen – und von ihnen zu lernen. Eva Kläui

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GLOK ALISIERUNG

Verwurzelt und umgetopft Die Sehnsucht nach der Ferne und nach Selbstentfaltung macht viele Menschen zu Welt­ wanderern. Doch wo fühlen sie sich zu Hause, und was brauchen sie dafür? Eine Wurzel-Suche.

Text Katleen De Beukeleer  Bilder zVg

Die Globalisierung weckt die Weltwanderlust. Wir bereisen die Welt, so wie früher unsere Urgrosseltern im Dorf herumspazierten. Und wer träumte schon nicht mal vom Auswandern? Fernweh, Abenteuerlust, Karriereperspektiven oder die vielen tollen Erfahrungsberichte im Internet sind Gründe genug, die Haustüre hinter sich zu schliessen und in das Anderswo einzutauchen. Nach Schätzungen der UNO lebten 2015 weltweit 244 Millionen Menschen in einem anderen Land als dem, in welchem sie geboren wurden. Gegenüber dem Jahr 2000 bedeutet das einen Zuwachs von vierzig Prozent. Zwanzig Millionen der Gesamtzahl sind Flüchtlinge. Auch die Schweizer Zahlen sind eindrücklich. Gemäss Bundesamt für Statistik sind fast dreissig Prozent der hiesigen Bevölkerung im Ausland geboren. Und das Eidgenössische Departement für Auswärtige Angelegenheiten berechnete, dass Ende 2015 um die zehn Prozent der Schweizer Bürger dauerhaft im Ausland lebten. Der Volksmund aber warnt: «Jedes Wasser hat seine Quelle, jeder Baum seine Wurzel.» Entwur­ zelung – ein Nebenprodukt der Globalisierung? Oder

ist diese Idee sowieso altbacken? Moderne Welt­ bürger sind ja mit der ganzen Welt vernetzt, offen, innovativ und vor allem flexibel. Der Duden jedenfalls hat dem Wort «Heimat» eine Pluralform zugeschrieben, die es früher nicht besass: «Heimaten». Nachfolgend berichten Globetrotter über das, was ihnen Wurzeln gibt. Tim Hermans ist Konsul. Im Dienste des belgischen Staates zieht er mit seiner Familie im Vierjahrestakt von Land zu Land. Philipp Meier ist ein digitaler Nomade, der mit seiner Firma im Rucksack die Welt erkundet und selten mehrere Monate am gleichen Ort bleibt. Tom und Rita Heynemann waren bestens in der US-Gesellschaft integriert, als sie sich nach zwanzig Jahren trotzdem entschieden, in die Schweiz zurückzukehren. Drei Lebensrhythmen, drei WeltenbummlerTypen von klassisch bis modern. Sie erzählen von Heimat und Heimaten, Häusern und Zuhausen; über die Welt als Entfaltungsraum fürs Individuum, dessen Wurzeln dennoch immer im gleichen, weltumspannenden Bedürfnis zu finden sind: in der Gemeinschaft mit Mitmenschen.   ➝

GLOKALISIERUNG   27


Der digitale Nomade Der 35-jährige Philipp Meier wollte zwei Dinge: reisen und Geld verdienen. Und zwar gleichzeitig. Vor drei Jahren kündigte er seinen Job als Verkaufsmanager, gründete eine eigene Firma im Bereich Verkaufs- und Marketingunterstützung für ITBetriebe – und ging. Seither ist er mit seiner Frau unterwegs und führt von allen Weltteilen aus seine Firma. Sein Laptop ist Büro, Konferenzraum, Kundenschalter und Telefon in einem. Hawaii, Ecuador oder Singapur: Das Einzige, was er braucht, ist eine schnelle Internetverbindung. Philipp Meier und

seine Frau, die teils als Journalistin, teils in der Firma arbeitet, sind typische «digitale Nomaden»: Ihr Arbeitsmodell und ihren Lebensstil haben sie der weltweiten Digitalisierung zu verdanken. Philipp Meiers Plan ging auf, und zwar besser als erhofft. Während das Paar die Begegnungen mit fremden Kulturen über alles liebt, floriert auch die Firma. Meier hat mittlerweile vier Mitarbeiter. Sie arbeiten alle im Schweizer Büro des Unternehmens, obwohl Meier auch sie dazu anspornt, Arbeit und Reisen zu kombinieren.

Der Konsul Der Belgier Tim Hermans wollte eine internationale Karriere. Mit 27 wurde er Konsul, ein Beruf mit garantiertem Kulturaustausch. Der mittlerweile 42-Jährige lebte seither schon in Südafrika, Burundi, an der Elfenbeinküste, zwischendurch zwei Jahre

in Brüssel, dann in Finnland und nun in Bern. Seine Frau begleitet ihn überallhin, die drei Kinder zwischen einem und neun Jahren mittlerweile auch. Hermans’ Leben und Arbeit folgen dem Drei- bis Vierjahresrhythmus, der – wie in den meis-

Die Amerika-Rückkehrer 1997 nahmen die Winterthurer Tom und Rita Heynemann an der Greencard-Lotterie teil. Mit dieser US-Aufenthaltsbewilligung-Verlosung, die immer noch existiert, ziehen die USA Einwohner aus von ihnen erwünschten Ländern an. Die Heynemanns gewannen, unverhofft. Sie verliessen die Schweiz, weder mit der Absicht, lange zu bleiben, noch mit dem Plan, schnell zurückzukommen. Tom Heynemann fand schnell einen Job als Ingenieur, seine Frau managte den Haushalt. Das Paar bekam zwei Kinder, die Tochter ist mittlerweile sechzehn und ihr Bruder zehn. Obwohl die ganze Familie bestens in der US-Gesellschaft integriert war, zog sie letzten Sommer nach neunzehn Jahren in die Schweiz um: Für die Eltern war es ein Zurückkommen, für die Kinder, die in den USA geboren 28  EB NAVI #9

wurden, ein Auswandern. Die grosse Entfernung zu den Verwandten sei mit der Zeit schwieriger geworden, so Tom und Rita Heynemann, beide 48. Vor allem aber seien die Kinder der Grund dafür gewesen, nach zwei Dezennien noch mal neu anzufangen. «Wie wollten auch sie die wertvolle Erfahrung machen lassen, eine neue Kultur, Mentalität und Sprache zu erleben», sagt Rita Heynemann. Zuversicht inmitten von Zügelkartons

Die Heynemanns wohnen seither in einer möblierten Mietwohnung in Baden. Die Wohnung ist nur für ein Jahr zu haben. Bis im Juli muss die Familie wieder ausziehen und eine neue Bleibe suchen; gut möglich, dass die Kinder nochmals die Schule wechseln müssen. Die Umzugskartons stehen noch über-


Heimat und Langeweile

«Home is where my computer is» also – oder ist es auch für den modernen, freien und selbstbestimmten Globetrotter nicht so simpel? «Ich bin kein Weltbürger», sagt Meier. Heimweh habe er nicht, aber er komme gerne zurück nach Hause. Hier könne er die sozialen Kontakte pflegen, die ihm beim Reisen fehlen, denn «richtige Freundschaften kann man unterwegs nicht aufbauen». Ein- bis zweimal jährlich ist Meier wieder in der Schweiz, für die Kundenakquise und um sich mit seinen Mitarbeitern abzusprechen. «Ich merke jedes Mal, dass mein Herz und meine Wurzeln in der Schweiz sind.» Die Heimat, das seien seine Familie, der Freundeskreis, die Sprache, das Klima. «Und eine gewisse

ten Ländern üblich – vom belgischen Aussenministerium vorgegeben wird. Die Idee hinter den stetigen Wohnortwechseln: Botschaftspersonal soll sich nicht zu sehr in die jeweilige Gesellschaft verankern, damit keine zu grossen Affinitäten mit der lokalen Bevölkerung entstehen und die Berichterstattung über das Aufenthaltsland objektiv bleibt. Was vor allem für Kon-

fliktgebiete gedacht ist, gilt in diesem System automatisch für alle Wohnorte: Bitte keine Wurzeln fassen. Hermans jedoch, ein herzlicher, spontaner Mann, der schnell zum Du wechselt, sagt: «Ich muss jedes Land immer mit schwerem Herzen verlassen.» Die drei bis vier Jahre liefen bei ihm immer nach dem gleichen Schema ab: Ein Jahr suchen, ein Jahr festigen,

all herum. Dazu kommt, dass die Familie im Moment kein festes Einkommen hat – Tom Heynemann ist nach wie vor auf Jobsuche. Was bei vielen Menschen Existenzängste auslösen würde, ist für das Paar aber kaum ein Grund zur Sorge. «Eins nach dem anderen», lacht Rita Heynemann. «Das kommt schon gut.» Tom und Rita Heynemann finden die Heimatfrage nahezu irrelevant. Sie seien jetzt wieder in der Schweiz, würden aber vielleicht irgendwann wieder auswandern, sagt Rita Heynemann. «Ich schätze die Umstände so, wie sie sind», sagt ihr Mann. In Kalifornien, in Colorado und nun in Baden: Natürlich seien sie immer wieder durch schwierige Phasen gegangen. Aber: «Man soll sich nie die Frage stellen: Ist das hier besser oder schlechter? Es ist einfach anders. Ich könnte es wahrscheinlich fertigbringen, überall unglücklich zu sein, wenn ich mich an allem stören würde. Das ist Einstellungssache.» Heynemann findet es bereichernd, Orte und Kulturen

was man hat, und zwei Jahre profitieren. Heimatbasis bringt Stabilität

Mit zunehmendem Alter empfindet Hermans diesen Rhythmus als immer schwieriger. Er spricht von den vielen Freunden und Orten, wo er sich wohlgefühlt habe; davon, immer wieder zu verlassen, was er aufgebaut

schätzen zu können im Wissen, dass es nirgendwo ideal sei. «Weil ich versuche, weder zu bewerten noch zu idealisieren, brauche ich keine Angst um meine Essenz zu haben, wenn etwas im Moment gerade nicht optimal ist.» Ferien, aber zu lange

Auch die sechzehnjährige Tochter habe schnell den Anschluss in der Schweiz gefunden, wie sie sagt. Ob sie später auch im Ausland arbeiten wolle? Ihr Vater lacht und sagt: «Die erste Frage ist schon mal: Was ist Ausland? Denn für die Kinder ist die Schweiz in vieler Hinsicht immer noch das Ausland.» Die Tochter zuckt die Schultern: «Keine Ahnung. Ich schaue zuerst mal, was ich nächstes Jahr machen werde.» Auch sie lässt die Zukunft gerne auf sich zukommen. Der zehnjährige Sohn scheint am meisten mit der tiefgreifenden Veränderung in seinem Leben zu hadern. Die Ankunft in der Schweiz sei wie Ferien

GLOKALISIERUNG   29


Langeweile», fügt er an. «Weil ich hier aufgewachsen bin, probiere ich weniger Neues aus, obwohl es hier auch vieles zum Erkunden gäbe.» Dann kommt Meier auf den Trott und sein schnell zurückkehrendes Konsumverhalten zu sprechen und sagt: «Nach drei Monaten kann ich dann jeweils wieder gehen.»

ich nicht, sonst komme ich nicht mehr weg aus der Schweiz.» Irgendwann jedoch würden dann mal Kinder da sein, sagt Meier, «dann geht das alles nicht mehr». Bis dahin versuche er sich weiterhin für seine Firma entbehrlich zu machen, denn: «Das Nomadentum ist ein Teil meiner Identität geworden.»  n

Firmenstrategie Wachstumsstopp

Philipp Meier kann sich noch viele Jahre als digitaler Nomade vorstellen. Um seinen bewusst gewählten Lebensstil weiterführen zu können, hat er entschieden, seine Firma möglichst nicht mehr weiter, wachsen zu lassen. «Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich sage: Das reicht mir. Mehr brauche

habe. Halt gebe ihm die Heimat. «Ich kann mich an vielen Orten zu Hause fühlen, aber meine Heimat bleibt Belgien.» Obwohl er mittlerweile auf der ganzen Welt Freundschaften geschlossen habe, gebe es in Belgien immer noch den harten Kern an Freunden und Verwandten, auf die er immer zählen könne.

Ein Balance-Akt

Wenn alles nach Plan läuft, kann Hermans in 3,5 Jahren nach Belgien umziehen. «Für wie lange, weiss ich noch nicht.» Im Heimatland ermögliche das Aussenministerium längere Aufenthalte. Viele Faktoren gäben ihm zu denken: Seine Eltern werden älter, seine Kinder wachsen auf und würden sich vielleicht nicht mehr aus ihrer vertrauten Umge-

bung wegziehen lassen, und es sei möglich, dass seine Frau wieder eine Stelle finde. «Es ist eine grosse Gleichgewichtsübung», sagt er. Dass er irgendwann wieder gehen werde, stehe jedoch fest. «Ich erlebe so viel im Ausland. Dieses reiche Gefühl würde ich zu sehr vermissen.»  n

gewesen, «bis sie zu lange wurden». Er habe Anpassungsschwierigkeiten gehabt in der Schule, vermisse die Freunde in den USA. «Es war wie: Eins, zwei, drei, bum – und alles ist weg», sagt er. Was es brauche, damit er sich am neuen Ort wohlfühle? «Ich glaube, soziale Unterstützung», sagt er wie ein Erwachsener. Seine Eltern vertrauen ihren eigenen Erfahrungen und sind überzeugt, dass der Sohn seinen Weg finden wird. «Eins nach dem anderen», sagen sie ihm. «Das kommt schon gut.»  n

30  EB NAVI #9


GLOK ALISIERUNG

«Dazugehören ist ein seelisches Grundbedürfnis» Das Leben im neuen Land kann ermüdend und deprimierend sein. Expat-Beraterin Martina Famos erklärt warum – und wie trauern und Kaffee trinken Abhilfe schaffen können. Text Katleen De Beukeleer

Frau Famos, Expat-Beratungen scheinen einem grossen Bedürfnis zu entsprechen. Wo genau haben Expats und ihre Partnerinnen oder Partner Schwierigkeiten? Oft fühlen sie sich ausgeschlossen. Dazugehören ist ein seelisches Grundbedürfnis – nebst körperlichen Grundbedürfnissen wie Essen und Schlafen. Expats und ihre Partner müssen ihr soziales Umfeld meist komplett neu aufbauen. Sie müssen dabei immer wieder ihre Komfortzone verlassen und einen Schritt auf die anderen zu machen. Das braucht viel Mut und kann sehr ermüdend sein. Was passiert, wenn das Zugehörigkeitsgefühl fehlt? Es kommt Heimweh auf, und man fängt leichter an, an sich selber zu zweifeln. Es kann zu einer negativen Gefühlsspirale kommen. Wie können Sie Betroffenen helfen? Zuerst erkläre ich ihnen die drei Lebensaufgaben des Menschen, so wie die Individualpsychologie sie unterscheidet: Liebe, Arbeit und Gemeinschaft. Nur wer diese drei Lebensaufgaben gut löst, fühlt sich ausgeglichen und erfüllt. Zur Lebensaufgabe Liebe gehören die Partnerschaft sowie die Beziehung zu den Kindern und der Ursprungsfamilie. Durch Arbeit hat man einen Auftrag im Leben und fühlt sich wichtig. Die Lebensaufgabe Gemeinschaft sind Freunde, Freizeit und Vereine.

Das klingt theoretisch – kann diese Einsicht konkret etwas bewirken? Ja, sie wirkt wie eine Diagnose. Dem Betroffenen wird bewusst, in welcher Lebensaufgabe ihm etwas fehlt. Das beruhigt, die Situation wird erträglicher, und er kann einen Plan für sich aufstellen. Wie kann so ein Plan aussehen? Um eine Gemeinschaft aufzubauen, helfen Rituale wie die Wiederholung: jeden Morgen ins Yoga gehen oder täglich im gleichen Café einen Kaffee trinken. Wenn man Leute schon öfter gesehen hat, ist die Chance grösser, in Kontakt zu kommen. Oft braucht es aber auch eine gewisse Selbstentwicklung: etwa dann, wenn Menschen sich schon zu Hause wenig um die Gemeinschaft gekümmert haben. Sie müssen ihre Angst, auf die Leute zuzugehen, abbauen. Oder sie müssen lernen, nicht mehr alles auf die Karriere zu setzen und der Work-Life-Balance mehr Sorge zu tragen. Die Schweiz ist bekannt als Land, in dem es schwierig ist, eine Gemeinschaft aufzubauen. Warum unterschätzen Expats das? Der Mensch biegt sich sein Wissen so zurecht, dass er optimistisch bleiben kann. Er denkt: Die anderen machen etwas falsch, ich weiss, wie man es tut. Das ist übrigens gut so, sonst würden wir viel weniger Risiken eingehen. Aber die Integration in

GLOKALISIERUNG   31


der Deutschschweiz ist tatsächlich nur schon sprachlich wahnsinnig schwierig. Hochdeutsch alleine bringt noch keine Erfolgserlebnisse, das ist demotivierend.

Partner noch schlechter geht, wenn der Trauer Platz gegeben wird. Das Gegenteil ist aber der Fall: Trauern heilt. Diese Einsicht kann die Situation entschärfen.

... und gleichzeitig wird die Heimat verherrlicht? Genau. Das machen wir alle. Zu Hause denken wir: Nichts wie weg. Und sobald wir im Ausland sind, idealisieren wir die Heimat. Für Menschen, die in verschiedenen Ländern gearbeitet haben, kann das bei der Pension zum Problem werden. Ihre Heimat ist immer noch da, wo sie herkommen. Mit 65 wollen sie zurück nach Hause und nehmen die ganzen Idealvorstellungen über ihre Heimat mit. Die Konfrontation mit der Realität kann sehr enttäuschend sein. Die Heimat wird zum Neuland.

Was passiert, wenn das Zugehörigkeitsgefühl auch nach langer Zeit ausbleibt? Dann gehen Expats früher als vorgesehen wieder in ihr Sicherheitssystem, in ihre Heimat zurück. Es ist den Unternehmen aber wichtig, dass diese Menschen sich hier wohlfühlen. Da Betriebe zum Teil viel Geld investieren, um Expats in die Schweiz zu holen, geht jeder Weggang von Kapazitäten schlussendlich auch aufs Konto der Wirtschaft. Viele zugezogene Kaderleute bekommen zum Beispiel Hilfe in Form eines Relocation-Services, der sie bei der Wohnungssuche und amtlichen Angelegenheiten unterstützt.

Wie können Sie solchen Paaren helfen? Ich erkläre ihnen, dass ein Umzug in ein neues Land mit Trauer verbunden ist. Obwohl wir im Leben andauernd mit Loslassen konfrontiert werden, wird das Trauern in unserer Kultur unterdrückt. Wenn die eine Seite trauert, während die andere Seite total beflügelt ist vom neuen Job, dann sind die beiden ganz weit voneinander entfernt. Der Expat hat Angst, dass es der Partnerin oder dem 32  EB NAVI #9

zVg

Was ist mit der Lebensaufgabe Liebe? Wie wirkt sich ein gemeinsamer Umzug in ein fremdes Land auf eine Partnerschaft aus? Das ist immer eine grosse Herausforderung. Oft ist der Expat für die Partnerin oder den Partner auf einmal alles: Geliebte(r), Familie, Freund(in) und vielleicht auch noch Karrierecoach. Das sind zu viele Rollen für eine Person. Wenn der Expat nach einem langen Arbeitstag nicht die vielen Erwartungen des anderen erfüllen mag, fühlt die Partnerin oder der Partner sich einsam, weggestossen und nicht verstanden.

Gelingt es den meisten Expats und Expat-Paaren trotz den grossen Herausforderungen, Anschluss zu finden? Irgendeine Gemeinschaft baut sich jeder auf. Am Anfang ist es natürlich, dass sich viele Expats Freunde im eigenen Kreis aussuchen. Aber mit der Zeit findet jeder auch bei Schweizern Anschluss. Nur die wenigsten geben auf. In den meisten Fällen lohnt sich der Mut, den diese Menschen hatten, den Traum vom Auswandern zu wagen.  n

Martina Famos (50) ist individualpsychologische Beraterin. Sie spezialisierte sich auf die Bedürfnisse von Expats und ihren Partner/innen, ein Umfeld, mit dem sie bereits als Kind im Hotel ihrer Eltern und später als Managerin vertraut wurde. Um die zweitausend Expats stand sie als Beraterin schon zur Seite. Beruflich und privat bezeichnet sich die gebürtige Engadinerin als Weltbürgerin: Ihre Familie kommt aus drei Kontinenten, zu Hause bei ihr in Zürich werden fünf Sprachen gesprochen.


BER ATUNG

Konfliktfrei inmitten der Menschen-Palette Im besten Fall schätzen wir Diversität als eine Bereicherung, im schlechtesten Fall bringt sie uns an die Grenzen unseres Verständnisses für das andere. Die EB-Zürich-Dozenten und -Experten in interkultureller Kommunikation, Consolata Peyron und Holger Specht, erklären, wie es gelingen kann, kulturbedingte Konflikte zu lösen oder zu vermeiden.

Im Stockwerk unter mir wohnt eine fünfköpfige indische Familie. Sie kocht zweimal täglich ausgiebig und lüftet selten. Die Gerüche hängen ständig bei mir in der Wohnung. Soll ich sie darauf ansprechen? Regula S., Rheinfelden

Es ist unangenehm, nachbarschaftliche Probleme anzusprechen. Dazu kommt, dass Angehörige der Mehrheitsgesellschaft befürchten können, als kulturell intolerant angesehen zu werden. Dadurch bleiben solche Probleme oft unangesprochen. Starke Gerüche können das Wohlbefinden aber sehr beeinträchtigen. Sagen Sie Ihren Nachbarn, dass die Gerüche stören. Bestimmt können Sie auf Haus­ regeln zurückgreifen. Aber nicht nur: Es lohnt sich, dass Sie sich mit dieser Familie an den Tisch setzen und schauen, wie das Zusammenleben verbessert werden kann. Falls die Familie nicht gut Deutsch kann, können Sie einen indischen Mediator um Unterstützung bitten. Er kann vermeiden, dass die Familie sich wegen ihrer Herkunft angegriffen fühlt. Solche Hilfe von aussen kann uns wegbringen von der Tabusphäre, in der man sich aus Angst vor Rassismusvorwürfen nicht traut, etwas zu kritisieren. Übrigens widert auch der Geruch von Raclette viele Ausländer an – wenn starker Käsegeruch stört, sollte das genauso thematisiert werden.  CP

GLOKALISIERUNG   33


Asylsuchende statt Asylanten, Menschen mit Migrationshintergrund statt Migranten: Nur schon bei der Wortwahl habe ich Angst, Fehler zu machen. Anina P., Burgdorf

Auf der einen Seite ist die politische Korrektheit schwierig, weil sie sich manchmal wie ein Dogma anfühlt. Ausserdem wird die Liste politisch unkorrekter Wörter immer länger. Auf der anderen Seite möchten wir uns grundsätzlich so äussern, dass wir niemanden verletzen. Wörter können schnell etwas Ausschlies­ sendes ausdrücken. Es ist gut, sich über die Sprache Gedanken zu machen und für sich zu entscheiden, welche Wortwahl für einen die richtige ist. «Migrant» reduziert einen Menschen auf ein einziges Merkmal. Ein «Mensch mit Migrationshintergrund» hingegen stellt die Person als Menschen ins Zentrum. Wenn Sie weiterhin das Wort «Migrant» benutzen möchten, ist das in Ordnung – Sie müssen aber damit rechnen, dass Sie mit Ihrer Wortwahl Leute verärgern könnten.  HS

Ich bin Italiener. Weil ich gerne meine Meinung sage, höre ich bei Diskussionen schnell: Typisch der Italiener, immer laut und immer diskutieren. Warum werde ich in solchen Situationen so rasch auf meine Herkunft reduziert? Gianluca R., Liestal

In einer Eskalation ist es typisch, dass unser Denken enger wird. Wir wenden einfache Erklärungsmuster an und greifen auf Klischeebilder des Gegenübers zurück. Wir sehen dann keine Gemeinsamkeiten mehr, sondern nur noch das, was uns trennt. Das führt oft dazu, dass Konflikte, die eigentlich keinen kulturellen oder religiösen Hintergrund haben, extra-kulturalisiert werden. In Ihrem Fall denkt Ihr Gegenüber: Das geht mit ihm überhaupt nicht, weil er aus Italien kommt – obwohl Sie, komplett unabhängig von Ihrer Herkunft, einfach anderer Ansicht sind. Sie können in einem solchen Moment kurz innehalten, um dem eigenen Ärger innerlich Platz zu geben. Anschliessend können Sie auf die Emotionen und Bedürfnisse des Gegenübers eingehen und ihn zum Beispiel fragen: «Fällt es Ihnen schwer weiterzureden, wenn ich laut werde, weil Sie Ruhe zum Weiterdenken brauchen?»  CP

AUF KURS BLEIBEN Mediation und kulturelle Vielfalt Bildungsgang für konstruktive Lösungswege trotz Kulturunterschieden Integration gelingt gemeinsam Transkulturelle Handlungskompetenzen für Berufsbildungsverantwortliche Transkulturelle Kommunikation Umgang mit Diversität, privat und im Beruf Gewaltfreie Kommunikation Respekt und Gleichwertigkeit im Fokus der Kommunikation Coaching: Diversity in Bildung und Beruf Persönliche Begleitung für Bildungsverantwortliche und Führungskräfte Anmeldung: eb-zuerich.ch/ebnavi/glokalisierung

34  EB NAVI #9


Ich bin Kindergärtnerin. In meiner Klasse gibt es Kinder aus neun verschiedenen Nationen. Der Umgang mit den Eltern ist nicht immer einfach: Manche sind zum Beispiel nicht damit einverstanden, dass ihre Kinder im Kindergarten Weihnachtslieder singen. Wie kann ich kulturell geprägte Konflikte minimieren? Nicole M., Altstetten

Ich finde interkulturelle Konflikte besonders schwierig und hartnäckig. Lassen sie sich überhaupt lösen? Jean-Paul C., Basel

Bringen Sie mögliche Streitpunkte auf den Tisch, bevor sie zum Konflikt führen können. Die Schule kann die Regeln in einem Konzept festlegen und diese am Anfang des Schuljahres den Eltern mitgeben. Sie zeigt damit, wo Verhandlungsspielraum besteht und wo nicht: Zum Beispiel, dass die Eltern mitbestimmen können, welches Fleisch ihre Kinder am Mittagstisch essen, aber nicht, dass keine Weihnachtslieder gesungen werden. Beide Seiten bleiben so länger gesprächsbereit. Es ist auch hilfreich, wenn Sie sich als Kindergärtnerin mit interkulturellen Instrumenten vertraut machen, um mit den Eltern kommunizieren zu können.  CP

Der Schlüssel liegt in der Kommunikation. Eine Lösung ist nur möglich, wenn Konfliktparteien einander verstehen wollen – was nicht heisst, mit dem anderen einverstanden sein zu müssen. Zeigen Sie sich lösungsbereit, auch wenn das Kommunizieren in einer Auseinandersetzung nicht immer einfach ist. Es ist hilfreich zu wissen, dass die Kommunikation in den meisten Fällen eigentlich problemlos klappt. Im Normalfall fällt uns gar nicht auf, dass wir gut miteinander reden können. Beachten Sie auch, dass wir als Persönlichkeiten unterschiedlicher sind als die kulturellen Hintergründe, die wir mitbringen. Mediatoren sprechen nicht von interkulturellen Konflikten, sondern von Konflikten mit interkulturellen Aspekten. Ob der Konflikt interkulturell geprägt ist oder nicht – die Bedürfnisse und Wünsche, die mitspielen, sind für alle Menschen ähnlich. Häufig ist es sogar so, dass der eigentliche Grund einer Ausei­nandersetzung unangesprochen bleibt, weil die Konfliktparteien ihn zu Unrecht in interkulturellen Unterschieden suchen.  HS

Consolata Peyron (CP) ist Politologin, Mediatorin, Mediationsausbilderin und Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation. Sie wurde in Italien geboren, studierte in Deutschland und arbeitet nun – drei­sprachig – in Deutschland, Italien und in der Schweiz. Es ist ihr ein grosses Anliegen, ihren Kindern beizubringen, wie unterschiedlich man die Strassen in Deutschland und Italien überquert, sodass alle sicher auf der anderen Seite der Strasse ankommen. Eva Kläui

GLOKALISIERUNG   35


Oft bin ich bei Verhandlungen mit ausländischen Geschäftspartnern etwas unsicher, was als angebracht oder höflich gilt. Darf ich sie ganz offen fragen? Anja S., Trogen

Gewisse kulturell bedingte Gewohnheiten lösen bei mir als Service-Angestellten schon mal Irritation aus. Zum Beispiel dann, wenn arabische Frauen den Blickkontakt meiden oder japanische Gäste lächeln, statt meine Fragen zu beantworten. Ist die Irritation fehl am Platz? Mathias F., Villmergen

Es braucht Mut, aber wenn Ihre Geschäftspartner Sie komisch anschauen, dürfen Sie schon mal nach­ fragen, ob etwas nicht stimmt. Sie können sich auf solche Begegnungen zwar etwas vorbereiten, aber Sie können ja nie alles wissen. Wichtiger als Sachwissen ist es, sich eine interkulturelle Kompetenz anzueignen. In Kommunikationsund Mediationskursen wird oft mit der sogenannten «kulturellen Intelligenz» gearbeitet. Nach diesem Prinzip reflektiert man die eigene Wahrnehmung über sich und über die anderen. Selbstverständlichkeiten kommen auf den Prüfstand, die eigene Kultur ist nicht mehr die einzig richtige Referenz. Das macht einen Menschen toleranter gegenüber kulturellen Unterschieden und offener für Mehrdeutigkeit. Man ist flexibler eingestellt, was gerade in Verhandlungen von Vorteil sein kann. Und weil man sich nicht mehr ständig fragen muss, was richtig oder falsch ist, wird man effizienter.  CP

Interkulturelle Unterschiede irritieren immer einigermassen. Diese Irritation ist also normal, kann sich auch positiv auswirken, zum Beispiel dann, wenn ein Schweizer mit einem Deutschen spricht: Beide müssen sich darauf konzentrieren, einander zu verstehen, und kommunizieren dadurch aufmerksamer miteinander. Zwischen dem westlichen und dem arabischen oder japanischen Kulturraum sind die Kulturunterschiede jedoch grösser, sie sind weniger leicht zu entziffern. Beispiel Blickkontakt: Im westlichen Kulturraum schaut man sich viel und deutlich in die Augen und setzt dies mit Respekt gleich. Für Menschen aus dem arabischen Kulturraum ist genau das Gegenteil der Fall – wenn sie jemandem respektvoll begegnen wollen, meiden sie den Blickkontakt. Seien Sie sich immer bewusst, dass Bedürfnisse wie Liebe, Achtsamkeit und Zugehörigkeit bei allen Menschen gleich sind, egal aus welcher Kultur. Dies gilt auch, wenn das nicht sofort erkennbar ist.  HS

Holger Specht (HS) ist anerkannter Mediator und Ausbilder für Mediation. Ausserdem ist er Fachkraft für strukturelle Prävention sexueller Gewalt in der Kinder- und Jugendarbeit. «Das Schöne an meinem Beruf ist», so sagt er, «dass ich eigentlich nur zuhören muss. Die Lösung liegt bei den Konfliktparteien; ich helfe nur, sie zu finden.» Eva Kläui

36  EB NAVI #9


Das GlobalisierungsDas GlobalisierungsDas Globalisierungsgewinner-Quartett gewinner-Quartett gewinner-Quartett

Die Globalisierung bringt Gewinner und Verlierer hervor. Auch im Pflanzen- und Tierreich. Dabei gibt es «gute» und «schlechte» Immigranten. Aber auch, was aus der Schweiz ausgewandert ist, bringt nicht nur Segen für die Welt. Unser Quartett in der Heftmitte versteht sich als augen­zwinkernde Metapher auf die Vor- und Nachteile der Globalisierung. Text Christian Kaiser Illustrationen Jan Zablonier

Die Erde ist rund, damit man sich rundherum auf ihr bewegen kann. Migrationsströme in alle Himmelsrichtungen gab es darum schon immer. Zu Lande, übers Wasser und durch die Luft. Was sie letztlich wo an Gutem und an Schlechtem bringen, lässt sich oft erst im Nachhinein erfassen, wie ein kleiner Ausflug in die heimische Botanik, Zoologie und Landwirtschaft zeigt. Ab wann sind «gute» Einwanderer gut? Der Mais für die Tessiner Polenta oder den Rheintaler Ribel kam vor 450 Jahren aus Amerika und gilt heute als heimische Getreideart. Die aus den Anden stammende, leicht giftige Kartoffel brauchte hingegen rund 200 Jahre, um von den Schweizern auf dem Speisezettel akzeptiert zu werden. Unser beliebtestes Gemüse, die Tomate, wurde hierzulande ursprünglich als exotische Zierpflanze in Gärten angepflanzt, die Früchte hielt man lange Zeit für giftig. Vielen Fremdlingen, die heute als «gute» Einwanderer akzeptiert sind, begegnete man anfänglich mit Skepsis. Gute Einwanderer, die sich als Bösewichte entpuppen Umgekehrt können sich einmal als Nützlinge hereingelassene Exoten irgendwann als unerwünschte Schädlinge entpuppen. Der asiatische Marienkäfer etwa wurde zur biologischen Bekämpfung von Blattläusen in Gewächshäusern eingeführt. Einmal aus den Treibhäusern entwichen, rottet er nicht nur die einheimische Marienkäferpopulation aus, er nistet sich auch in Häusern ein und kann Traubenernten ruinieren. Auch der aus China und Tibet als Zierpflanze für Gärten eingeführte Schmetterlingsflieder breitet sich in der freien Natur in Winde­seile aus und figuriert heute als invasive Art auf der schwarzen Liste des Bundes; er ist eine Gefahr für die heimische Artenvielfalt. Eindeutig «böse» Einwanderer Von solchen bedrohlichen Neuankömmlingen, die beobachtet und bekämpft werden müssen, gibt es eine ganze Reihe: Als

«invasiv», also eine Invasion gegen die Schweiz führend, gelten rund 85 Arten. Zu den bekanntesten und auch für den Menschen gefährlichsten, weil gesundheitsgefährdenden gehören etwa der Riesen-Bärenklau und die Ambrosie. Letztere gilt als sehr heimtückisch und perfid: Zwar trägt sie eine griechische Götterspeise im Namen, ist aber alles andere als ein Leckerbissen, auch wenn sie u. a. über körnerhaltiges Vogelfutter in die Schweiz eingeschleppt wurde. Die klitzekleinen Pollen der Ambrosie schädigen die Bronchien, rufen Allergien und schwere Asthmaanfälle hervor. «Problem-Einwanderer» sind Einzelfälle Nun ist es aber nicht so, dass man von solchen Bad Guys auf der schwarzen Liste gleich auf die Gesamtheit aller Neuzuzüger schliessen sollte. Auf der schwarzen Liste der bedrohlichen Neupflanzen stehen 41 Arten, angesiedelt haben sich aber rund 550 Arten, die sich mehrheitlich gut integriert und die heimische Flora sogar bereichert haben, wie etwa die allseits beliebte Rosskastanie. Also immer schön die Relationen im Auge behalten: Das Gros der Neophyten hat sich gewissermassen für eine erleichterte Einbürgerung qualifiziert. Invasive Schweizer Exporte Auch die Beiträge der Schweizer Flora zum pflanzlichen Bewuchs der Landschaften auf der Erde sind nicht ohne: Es gibt einige Arten, die hier als Heil- und Zierkräuter geschätzt sind, die aber andernorts als unwillkommene Gäste gelten wegen ihrer teils verheerenden Auswirkungen auf die Artenvielfalt. Zu solchen invasiven Auswanderern aus der Schweiz zählt zum Beispiel das Echte Johanniskraut, ein geschätztes heimisches Heilmittel bei Depressionen, Rheuma oder Blutergüssen. In über 20 Ländern (z. B. Südafrika, Kanada) gilt es aber als schädlicher, invasiver Neophyt, der die natürliche Vegetation sowie Futterpflanzen verdrängt und bei Pferden, Kühen und Schafen zu Vergiftungen führt.

GLOKALISIERUNG   37


Gute heimische Auswanderer Mittlerweile bereichern auch Büffel, Yaks und Alpakas die Vielfalt auf Schweizer Weiden, während die Zuchterfolge der Schweizer Landwirtschaft im Ausland für Anerkennung sorgen: Braunvieh-Kühe, Freibergerpferde oder Weisse Alpenschafe (WAS) grasen auch auf ausländischen Wiesen. Nur:

Das Erfolgsgeheimnis für solche Schweizer Exportartikel ist auch im Ausland zu suchen; erst die Einkreuzung von ausländischen Rinder-, Pferde- und Schafrassen hat diese «Schweizer» Nutztiere auf den Qualitätsstandard gebracht, für den sie heute in der Welt bekannt und geschätzt sind. Die Erde bleibt rund, damit sich die Vielfalt vermischen kann.

DAS GLOBALISIERUNGSGEWINNER-QUARTETT Auf den nächsten vier Seiten finden Sie 32 Quartett-Karten zum Ausschneiden: acht Kategorien von «A Schlechte Einwanderer» bis «H Gute Auswanderer» à je vier Karten – jeweils mit Punkte-Angaben zu den Kriterien: Ausbreitung / Verdrängungseffekt Nutzwert Gefahrenpotenzial Angaben ohne jeden Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit!

So wird gespielt

Das Globalisierungsgewinner-Quartett

Variante 1: Als klassisches Quartett

Ziel ist es, möglichst viele Quartette zu bilden: Vier Karten einer Kategorie (z. B. A1 bis A4) bilden ein Quartett.

– Die Karten werden gemischt und verteilt. – Die Spielende fragt eine Mitspielerin, ob sie eine bestimmte Karte, die ihr zu einem Quartett fehlt, auf der Hand hat («Hast du die Karte E3?»). Falls ja, bekommt sie diese Karte und darf weiterfragen, falls nein, ist die befragte Spielerin an der Reihe. Man darf nur nach Karten aus Quartetten fragen, aus welchen man mindestens eine Karte selbst besitzt. – Wer ein Quartett beisammenhat, legt es vor sich ab. – Wer die letzte Karte aus der Hand legt, ist aus dem Spiel. Die Nachbarin links macht weiter. – Gewonnen hat, wer bis zum Ende am meisten Quartette gebildet hat. Spiel bei nur zwei Spielerinnen – Jede erhält zehn Karten. – Die restlichen Karten bleiben als Stapel verdeckt auf dem Tisch. – Wer eine gesuchte Karte nicht erhält, nimmt die oberste Karte des Stapels in sein Blatt; weiterfragen darf die andere Spielerin.

Variante 2: Als Supertrumpfspiel (analog Autoquartett) – Die Karten werden gemischt und gleichmässig verteilt. – Die Spielerinnen halten ihre Karten als verdeckten Stapel in der Hand und decken jeweils die oberste Karte nur für sich sichtbar auf. – Die Spielerin links von der Geberin nennt den Wert einer beliebigen Kenngrösse («Ausbreitung» oder «Nutzwert» oder «Gefahrenpotenzial»). – Die Mitspielerinnen nennen nun ihren Wert auf der obersten Karte. Die Spielerin, welche den höchsten Wert hat, gewinnt die Karten der anderen und schiebt sie zuunterst unter ihren Stapel. Sie darf nun ihre nächste Karte aufdecken und nach einem Wert fragen. – Bei gleichen Kartenwerten werden die Karten auf den Tisch gelegt, und die nächste Runde entscheidet darüber, wer diese Karten gewinnt. – Wer alle Karten verloren hat, gilt als Globalisierungsverliererin und scheidet aus. – Globalisierungssiegerin ist, wer am Schluss alle Karten gewonnen hat.

Anmerkung: Da der Titel und der Text zum Spiel in der männlichen Form sind (Gewinner/Einwanderer ...), ist die Spielanleitung bewusst in der weiblichen Form gehalten (Spielerin). Natürlich soll es auch Gewinnerinnen und Einwandererinnen sowie Spieler geben. Quellen: www.neozoen.ch, www.neophyt.ch, www.bafu.ch, Botanischer Garten Bern, www.landwirtschaft.ch, www.berggetreide.ch, www.wikipedia.org

38  EB NAVI #9



A1

A2

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Pflanzen

Ambrosie

Via verunreinigtes Saatgut und Vogelfutter aus den USA eingeschleppt. Bekämpfungspflichtiges Allergen.

Ausbreitung / Verdrängung: Nutzwert: Gefahrenpotenzial:

B1

80 0 90

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Sträucher

Sommerflieder

A3

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Pflanzen

Riesen-Bärenklau

STAUDENKNöterich

Als Zierpflanze und Bienenweide im 19. Jh. aus dem Kaukasus eingeführt. Macht Hautentzündungen.

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Pflanzen

Riesenaronstab

Als Zier- und Futterpflanze im 19 Jh. aus Asien eingeführt. Problem: Erosion und Verbreitung.

Aus den Sümpfen in Nordamerika stammend und in Deutschland illegal angepflanzt.

Ausbreitung / Verdrängung:

70

Ausbreitung / Verdrängung:

50

Ausbreitung / Verdrängung:

Nutzwert:

20

Nutzwert:

10

Nutzwert:

Gefahrenpotenzial:

60

Gefahrenpotenzial:

Gefahrenpotenzial:

B2

100

B3

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Sträucher

Kanadische goldrute

Als Zierpflanze für Gärten verkaufter Schmetterlingsstrauch. Gefahr für Artenvielfalt.

A4

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Pflanzen

B4

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Sträucher

Kirschlorbeer

Als Zierpflanze und Bienenweide aus USA und Kanada eingeführt. Gefahr für Artenvielfalt.

30 0 20

Schlechte Einwanderer: invasive Neophyten: Sträucher

Essigbaum

In Asien beheimatete Hecken- und Zierpflanze für Gärten. Ganze Pflanze giftig.

Beliebtes Ziergehölz in Gärten aus Nordamerika. Haut-, Augenentzündungen.

Ausbreitung / Verdrängung:

55

Ausbreitung / Verdrängung:

90

Ausbreitung / Verdrängung:

60

Ausbreitung / Verdrängung:

70

Nutzwert:

30

Nutzwert:

10

Nutzwert:

20

Nutzwert:

25

Gefahrenpotenzial:

40

Gefahrenpotenzial:

45

Gefahrenpotenzial:

75

Gefahrenpotenzial:

60

C1

C2

Schlechte Einwanderer: invasive Neozoen: Insekten

Asiat. Marienkäfer

Kartoffelkäfer

Zur biolog. Bekämpfung von Blattläusen eingeführt. Löscht einheimische Art aus.

Mit der Kartoffel eingeführt, mit Insektiziden eingedämmt. Frisst auch andere Nachtschattengew.

Ausbreitung / Verdrängung:

70

Ausbreitung / Verdrängung:

Nutzwert:

10

Nutzwert:

Gefahrenpotenzial:

65

Gefahrenpotenzial:

D1

C3

Schlechte Einwanderer: invasive Neozoen: Insekten

Schlechte Einwanderer: inv. Neozoen: Wasserlebewesen

Amerik. Flusskrebs

D2

20 0 40

Schlechte Einwanderer: inv. Neozoen: Wasserlebewesen

Schmuckschildkröte

Aus Amerika eingeführte Krebsart, verdrängt einheim. Krebse. Verbreitet Krebspest.

Beliebtes Heimtier aus dem Mississippi. Verfressen, vermehrt sich hier aber nicht.

Ausbreitung / Verdrängung:

65

Ausbreitung / Verdrängung:

Nutzwert:

25

Nutzwert:

Gefahrenpotenzial:

55

Gefahrenpotenzial:

50 5 30

C4

Schlechte Einwanderer: invasive Neozoen: Insekten

Buchsbaumzünsler

Asiat. Laubholzbockkäfer

Mit Topfflanzen im letzten Jahrzehnt aus Ostasien eingeschleppt. Vernichtet Buchsbaumbestände.

Ausbreitung / Verdrängung: Nutzwert: Gefahrenpotenzial:

D3

Schlechte Einwanderer: invasive Neozoen: Insekten

Mit Verpackungsholz aus China eingeschleppt. Lässt alte Laubbäume absterben.

80 0 55

Schlechte Einwanderer: inv. Neozoen: Wasserlebewesen

Wandermuschel

Aus dem Schwarzen und Kaspischen Meer stammend. Verstopft Leitungen, behindert Schiffsverkehr.

Ausbreitung / Verdrängung: Nutzwert: Gefahrenpotenzial:

D4

80 0 90

Schlechte Einwanderer: inv. Neozoen: Wasserlebewesen

körbchenmuschel

Ursprünglich zu Speisezwecken aus Asien exportiert. Verdrängt einheim. Arten, verstopft Leitungen.

Ausbreitung / Verdrängung:

40

Ausbreitung / Verdrängung:

50

Nutzwert:

10

Nutzwert:

20

Gefahrenpotenzial:

20

Gefahrenpotenzial:

30


E1

Schlechte Auswanderer: inv. Neophyten mit Ursprung CH

Dach-trespe

E2

Schlechte Auswanderer: inv. Neophyten mit Ursprung CH

Koblauchhederich

Heimische Grasart, via Saatgut in die ganze Welt verschleppt. Verdrängt einheimische Arten.

Im 19. Jh. als Gewürz- und Heilpflanze verschleppt (USA, Neuseeland). Bedroht einheimische Arten.

E3

Schlechte Auswanderer: inv. Neophyten mit Ursprung CH

Blutweiderich

E4

Schlechte Auswanderer: inv. Neophyten mit Ursprung CH

Echtes Johanniskraut

Als Zier-, Heil- und Nutzpflanze exportiert (USA, Neuseeland).

Gilt in über 20 Ländern als schädlicher, invasiver Einwanderer. Verdrängt Futterpflanzen, giftig für Tiere.

Ausbreitung / Verdrängung:

65

Ausbreitung / Verdrängung:

60

Ausbreitung / Verdrängung:

80

Ausbreitung / Verdrängung:

50

Nutzwert:

10

Nutzwert:

25

Nutzwert:

30

Nutzwert:

30

Gefahrenpotenzial:

65

Gefahrenpotenzial:

50

Gefahrenpotenzial:

60

Gefahrenpotenzial:

55

F1

Gute Einwanderer: Nutzpflanzen Anbau von Immigranten

MAis

Aus Amerika nach Europa gekommen, hier seit 450 Jahren angebaut. Futterpflanze-Monokultur.

F2

Gute Einwanderer: Nutzpflanzen Anbau von Immigranten

Kartoffel

Seit Mitte des 18. Jh. in CH akzeptiertes Nahrungsmittel aus den Anden, Chile. Leicht giftig.

F3

Gute Einwanderer: Nutzpflanzen Anbau von Immigranten

Tomate

F4

Gute Einwanderer: Nutzpflanzen Anbau von Immigranten

Aprikose

Im 16. Jh. als Zierpflanze (!) in Gärten aus Mexiko, Mittelamerika eingeführt. Kraut mässig giftig.

Aus China stammende Frucht mit Anbaugebieten im Wallis. Kern leicht giftig.

Ausbreitung / Verdrängung:

15

Ausbreitung / Verdrängung:

10

Ausbreitung / Verdrängung:

Nutzwert:

60

Nutzwert:

70

Nutzwert:

80

Nutzwert:

Gefahrenpotenzial:

20

Gefahrenpotenzial:

10

Gefahrenpotenzial:

15

Gefahrenpotenzial:

G1

G2

Gute Einwanderer: Nutzvieh Zuchtvieh-Exoten in der CH

YAK

Büffel

Sehr genügsames Rindvieh aus dem Himalaya. 10

Ausbreitung / Verdrängung:

Nutzwert:

85

Nutzwert:

H1

0

Gefahrenpotenzial:

H2

Gute Auswanderer: Nutzvieh mit Ursprung CH

Braunvieh / Brown Swiss

Die Nr. 1 punkto Lebensleistung unter den Rindviechern made in Switzerland. Mit Treibhauseffekt.

5

0

Freiberger

Die letzte ursprünglich schweizerische Pferderasse mit ausländischen Einkreuzungen.

5

Gute Einwanderer: Nutzvieh Zuchtvieh-Exoten in der CH

Gourmet-Fleischlieferanten aus dem südlichen Afrika.

Ausbreitung / Verdrängung:

25

Ausbreitung / Verdrängung:

10

Nutzwert:

60

Nutzwert:

80

Gefahrenpotenzial:

15

Gefahrenpotenzial:

H3

Gute Auswanderer: Nutzvieh mit Ursprung CH

0 75

Strausse

Kinderliebende Lastentiere und Wolllieferanten aus den Anden.

90

Ausbreitung / Verdrängung:

G4

Gute Einwanderer: Nutzvieh Zuchtvieh-Exoten in der CH

Lama, Alpaka

Anspruchslose Milchlieferanten aus Italien oder Rumänien.

Ausbreitung / Verdrängung:

Gefahrenpotenzial:

G3

Gute Einwanderer: Nutzvieh Zuchtvieh-Exoten in der CH

5

5

H4

Gute Auswanderer: Nutzvieh mit Ursprung CH

Saanenziege

Die erfolgreichste Ziegenrasse der Welt aus dem Berner Oberland.

Gute Auswanderer: Nutzvieh mit Ursprung CH

Weisses Alpenschaf

Das verbreitetste Schweizer Schaf mit französischem und deutschem Blut.

Ausbreitung / Verdrängung:

30

Ausbreitung / Verdrängung:

20

Ausbreitung / Verdrängung:

45

Ausbreitung / Verdrängung:

15

Nutzwert:

90

Nutzwert:

95

Nutzwert:

85

Nutzwert:

90

Gefahrenpotenzial:

25

Gefahrenpotenzial:

5

Gefahrenpotenzial:

0

Gefahrenpotenzial:

0



SERVICE

«Lehr- und Wander­jahre» fürs 21. Jahrhundert Berufslernende brauchen Auslanderfahrung – mehr denn je. Die Schweizer Wirtschaft ist bis in die Kleinbetriebe im hintersten Winkel mit der Welt vernetzt. Höchste Zeit, dass auch die Berufslernenden den Sprung über die (inneren und äusseren) Grenzen wagen, um sich das anzueignen, was ihnen und ihrem Betrieb in einer globalisierten Arbeitswelt zugutekommt. Warum das für alle so wichtig ist, erklärt unser Experte Kari Wüest-Schöpfer.

«Ich begriff die Vorteile des Handwerks sehr bald, und mein Körper, durch Arbeit ausgebildet, war imstande, alles zu übernehmen, was dabei gefordert wurde. […] Mein Meister war zufrieden mit mir und meine Eltern auch. Schon hatte ich das Vergnügen, auf meinen Wanderungen manches Haus zu sehen, das ich mit aufgeführt, das ich verziert hatte.»

Aus «Wilhelm Meisters Wanderjahre» von J. W. v. Goethe

Handwerk hat Tradition, und eine dieser schönen Traditionen war es, junge Handwerker auf die «Walz» zu schicken, bevor sie die Meisterprüfung machen durften. Zimmerleute, aber auch Goldschmiede, Steinmetze oder Köche – an die 30 verschiedene Gewerbe ermunterten bis im

20. Jahrhundert ihre «Gesellen» zur Wanderschaft; damit sie neue Welten und Realitäten kennenlernen, Freundschaften knüpfen, an Selbständigkeit und Flexibilität gewinnen und sich in fremder Umgebung zu behaupten lernen. Wanderjahre verbinden Abenteuer und Arbeit miteinander. Die Persönlichkeit reift an Lebens- und Lernerfahrungen in fremder Umgebung und kann sich entfalten. Aber vor allem: Ein Arbeits­ einsatz in einem anderen Land birgt die grosse Gelegenheit, zu einem echten PROFI zu werden, auch heute noch. Vorhandene Kenntnisse und Arbeitstechniken werden unter Beweis gestellt und mit

GLOKALISIERUNG   43


neuen Berufserfahrungen angereichert. Man wird mit anderen Ansichten konfrontiert, neue Problemlösungstechniken und Werkzeuge können ausprobiert und kennengelernt werden. Und nicht zuletzt lassen sich auch ganz reale internationale Netzwerke knüpfen: Oft sind solche Kontakte für den weiteren Verlauf einer Karriere zentral. Was sind die grossen Heraus­ forderungen für Lernende im 21. Jahrhundert? Die Schweiz ist ein kleines und hoch­ entwickeltes Land, das traditionell stark vom internationalen Handel abhängig ist. Unsere Arbeitswelt gleicht einem Dorf, das mit jedem Winkel der Welt verbunden ist; das erfordert immer mehr Beweglichkeit und internationale Erfahrung. Der Megatrend in Richtung Globalisierung ist ungebrochen und unaufhaltsam. Globalisierung sowie Mobilität und Flexibilität in den Arbeitsbeziehungen gelten heute als zwei der wichtigsten Herausforderungen für die Berufsbildung der Zukunft (www.berufsbildung2030.ch). Denn: Vernetzung, Industrie 4.0 und Migration machen nicht halt an der Schweizergrenze; Globalisierung und Digitalisierung beschleunigen den Wandel der Arbeitswelt stetig. Von jungen Berufsleuten wird darum vor allem Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Innovation, Selbständigkeit und Problemlösungskompetenz gefordert. Auch Sprachkenntnisse und soziale Kompetenzen gewinnen an Bedeutung. All das lässt sich mit 44  EB NAVI #9

einem Praktikum oder einem Lehrjahr im Ausland hinzugewinnen. Führt der Auslandaufenthalt also nach wie vor zu Meisterschaft im Beruf? Wer heute während der Berufsausbildung ins Ausland geht, tut dies nicht mehr, um Meister zu werden, sondern um die zentralen Herausforderungen zu meistern: sich ständig wandelnden Märkten und Rahmenbedingungen flexibel anzupassen, geistig mobil zu sein und über die notwendigen interkulturellen Kompetenzen zu verfügen. Wanderjahre helfen, diese Fähigkeiten schon in jungen Jahren zu erwerben und so gut vorbereitet zu sein auf den Wandel. «Wandern» und «sich wandeln» gehen sprachlich ja auf dieselbe Wurzel zurück: sich wiederholt wenden. Wer in der heutigen Berufswelt bestehen will, braucht diese Wandlungsfähigkeit mehr denn je. Unterstützung für den Auslandeinsatz 1. Fach- und Beratungsstellen, Informationen In den letzten Jahren sind verschiedene Beratungs- und Fach­stellen entstanden, welche Jugendliche und Lehrbetriebe bei der Realisierung eines Auslandeinsatzes unterstützen.
Intermundo führt als Dach­ organisation eine Liste von Austauschorganisationen: www.intermundo > Austauschprogramm 2. Unterstützung und Förderung von Mobilitätsprojekten In allen Kantonen gibt es Fachstellen zur Förderung der Mobilität von Berufslernenden, welche konkrete Projekte mit Geld und Know-how unterstützen: www.movetia.ch > Netzwerke


Tagung: « Ab ins Ausland für junge Berufsleute»

Wie gut gehen die Lernenden mit dem Wandel um, sind sie auf einen Auslandeinsatz vorbereitet? Die jungen Menschen von heute haben gelernt, dass die Schweiz keine Insel ist und um uns herum die Musik abgeht. Ihre Berufsausbildung findet immer häufiger auch in internationalen Konzernen und in Firmen mit ausländischen Arbeits- und Führungskräften statt. Da gibt es wenig Berührungsängste: Zu den beliebtesten Arbeitgebern zählen Google, IKEA, McDonalds, SAP. Längst werden in Foren und Chats grenzenlos und grenzüberschreitend Erfahrungen, Bilder und Informationen getauscht. Interkulturelle Kompetenz ist für junge Menschen nicht bloss ein Schlagwort; sie wachsen gemeinsam mit Freunden aus verschiedenen Ländern und Kulturen auf, sprechen recht gut Englisch und können sich international mobil verständigen. Sie sind also für einen Einsatz ausserhalb der Landesgrenzen bereit. Es braucht aber ein Umdenken – im Selbstverständnis der Lernenden, aber auch aufseiten der Ausbildungsbetriebe und Berufsschulen: Dass die Lehrzeit unterbrochen werden kann, damit die Lernund Lebenserfahrung Platz hat, muss selbstverständlich werden. Welche Formen des Auslandeinsatzes kommen infrage? Von wenigen Wochen bis hin zu einem ganzen Jahr mit Unterbruch der Lehre stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Intermundo, der Dachver-

Die Berufs- und Arbeitswelt wird immer internationaler und mobiler. Damit steigen die Anforderungen an zukünftige Fachkräfte bezüglich beruflichem Wandel, Mobilität und Transkulturalität. Wie können junge Berufsleute darin gefördert werden? Wie können sie bereits während der beruflichen Grundbildung Erfahrung sammeln? Antworten auf solche Fragen liefert eine Tagung des SDBB (Schweizerisches Dienstleistungszentrum Berufsbildung) am 25. August 2017 unter der Leitung von Kari Wüest-Schöpfer in Zürich. Die Veranstaltung richtet sich an Mitarbeitende der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung, Berufsbildungsverantwortliche und Lehrkräfte, die sich für Themen der Berufswahl engagieren. Infos und Anmeldung: www.sdbb.ch > Weiterbildung

band für Jugendaustausch, hat einen Leitfaden erstellt, in dem drei verschiedene Modelle unterschieden werden: 1. einen Kurzaustausch mit einem Arbeitseinsatz von wenigen Wochen, der auch ohne Zustimmung der Berufsfachschulen in den Ferien stattfinden kann, 2. ein mehrmonatiger Arbeitseinsatz in einem Gastbetrieb im Ausland oder einem Auslandsstandort des Ausbildungsbetriebs, 3. ein Austauschjahr mit Unterbruch der Lehre, das für ein Berufspraktikum, einen Freiwilligeneinsatz oder ein Highschool-Jahr genutzt wird. Wann ist der für einen Ausland­ aufenthalt am besten geeignete Zeitpunkt? Damit später darauf aufgebaut werden kann, findet die Lernerfahrung im Ausland idealerweise bereits während der Lehre statt. Viele jungen Leute sind mit 16 bis 18 reif für diese Erfahrung; sie haben das Rüstzeug meistens schon in der ersten Hälfte ihrer Ausbildung mit­ bekommen. Die Qualität der Grund­ ausbildung in der Schweiz ist so hoch, dass Jugendliche jetzt auf die Walz gehen können. Es gibt gute Beispiele dafür, wie

GLOKALISIERUNG   45


junge Polymechaniker in den USA an CNC-Maschinen beeindrucken, weil sie sofort und ohne Einführung produktiv arbeiten können. Allerdings sind die Hürden während der Lehre leider oft recht gross. Die Berufsfachschule findet regelmässig statt, und Absenzen werden ungern bewilligt. Im Lehrbetrieb herrscht häufig die Meinung, dass die Lernenden sowieso schon zu viel vom Arbeitsplatz weg seien – mit überbetrieblichen Kursen, Berufsschule, Freifächern und Projektwochen. Es gibt jedoch kreative Modelle, wie der ortsunabhängige Besuch der Berufsschule möglich ist. So hat beispielsweise der BühlerKonzern in Uzwil gemeinsam mit einer Berufsschule eine Unterrichtsgestaltung entwickelt, welche es erlaubt, Lernende über Kontinente hinweg auszubilden. Hier wurde erkannt, wie gross der Nutzen für alle Beteiligten ist, wenn ein Teil

AUF KURS BLEIBEN Berufsbildner/innen-Kurs Basis-Kurs mit eidgenössisch anerkanntem Abschluss Berufsbildner/in SVEB-Zertifikat PLUS Kompetent Lernveranstaltungen mit Jugendlichen und Erwachsenen durchführen Gelungene Rekrutierung – gelungene Lehrzeit Lernende auswählen, die zur Lernfirma passen Bildungsgang Praxis-Ausbilder/in mit SVEB-Zertifikat Lernbegleitungen mit Einzelpersonen durchführen Anmeldung: eb-zuerich.ch/ebnavi/glokalisierung

46  EB NAVI #9

der Ausbildung in einem Partnerbetrieb im Ausland absolviert wird. Und nach der Lehre? Nach der Lehrzeit wären Wanderjahre zwar immer noch wichtig und jederzeit möglich. Die meisten Ausbildungsbetriebe ermutigen ihre jungen Berufsleute allerdings nicht dazu, den Schritt ins Ausland zu machen. Junge Berufsleute sind gefragt als günstige und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Firmen machen «ihren» Lernenden gerne ein «Angebot», dass sie nach der Lehre bleiben können. Dabei wäre gerade jetzt ein Loslassen und ein In-die-Welt-hinaus-ziehen-Lassen für ihre Entwicklung eminent wichtig! Die Erfahrung zeigt zudem, dass die Hürden, ins Ausland zu gehen, auch aufseiten der Lehrabgänger eher zunehmen: Dem Wunsch nach Mobilität im Weg stehen finanzielle Verpflichtungen, eine eigene Wohnung, erste Weiterbildungen und natürlich Freundschaften. Daher muss die Förderung der Mobilität bereits während der Lehrzeit stattfinden. Die Komfortzone zu verlassen wird mit dem Alter nicht einfacher, je früher man den Mut «zu neuen Wegen» lernt, desto besser. Wer weiss schon, wie lange der heutige Komfort und die bequeme Umgebung bleiben? Für wen eignet sich ein Ausland­ einsatz besonders? Ein Auslandjahr empfehle ich Jugendlichen, die Potenzial haben. Ich meine damit nicht die besten Schulnoten, son-


dern das Interesse, die Persönlichkeit und den Mut, um ein solches Abenteuer zu wagen. Denn sich in einer fremden Kultur zurechtzufinden, verlangt Mut, Flexibilität und Energie. In der Berufsbildung haben wir zum Beispiel einen hohen Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Oft befinden sich da­r unter leistungsstarke Talente mit Potenzial. Dieses Potenzial kann durch einen Auslandaufenthalt richtig zum Blühen gebracht werden. Von welchen Erfahrungen berichten Jugendliche, die sich auf das Abenteuer Wanderschaft eingelassen haben? Das Fazit ist immer positiv im Stil von: «Es hat sich gelohnt!» Dabei stehen nicht die Fremdsprachenkenntnisse im Vordergrund. Viel mehr werden die Entwicklung zur Selbständigkeit und die Stärkung der eigenen Persönlichkeit betont. Sie lernen, Verantwortung zu übernehmen und verlässlich zu sein. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit werden in einem hohen Mass geübt. Die Persönlichkeitsentwicklung in dieser Zeit in Richtung

Selbständigkeit und Selbstbewusstsein hat eine Langzeitwirkung. Alle Jugendlichen, die einen Auslandeinsatz machten, berichten aber auch von Anstrengung und Durststrecken, die sie überwinden mussten, um sich zu entwickeln. Wie viele machen von der Möglichkeit Gebrauch? Bisher machen nur etwa fünf Prozent der Berufslernenden in ihrer Lehrzeit eine erste Auslanderfahrung. Der Anteil an Gymniasiasten oder Studentinnen, die ins Ausland gehen, liegt viel höher. Die Mittelschulen haben Wege gefunden, wie sie Jugendliche unterstützen können, diese wichtigen Lern- und Lebenserfahrungen zu machen. In der Berufsbildung stehen wir mit der Mobilitätsförderung erst am Anfang, ich bin aber davon überzeugt, dass der Anteil mindestens gleich hoch sein könnte und sollte wie an Gymnasien. Das setzt aber voraus, dass die Firmen, Berufsverbände und Berufsfachschulen ihre Hausaufgaben machen und gemeinsam ihre Anstrengungen in Richtung mehr Mobilität verstärken.  n

Kari Wüest-Schöpfer ist ein ausgewiesener Fachmann in unseres Berufsbildungssystems. An der EB Zürich bildet er seit 18 Jahren Berufsbildnerinnen und Berufsbildner aus und engagiert sich mit der «Drehscheibe für BerufsbildungsPROFIS» für eine bessere Vernetzung unter den Akteuren in der Berufsbildung. Er ist gelernter Elektroniker und hat u.a. bei der Swissair auch selber Lernende ausgebildet. Eva Kläui

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Philip Schaufelberger (www.daslip.ch)

CAR TOON

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CARTE BL ANCHE

Erste Reise nach Istanbul Text Yusuf Yesilöz

Die erste Erfahrung mit der andern, mir unbekannten Welt machte ich in Istanbul. Meine Reise in die Grossstadt am Bosporus war im Sommer 1976. Ich war zwölf Jahre alt, besuchte die erste Sekundarklasse. In dem Jahr hatte mein Vater nach langer Zeit dem starken Druck meiner Mutter nachgegeben und sich bereit erklärt, ein Haus mit Giebeldach zu bauen. Mutter hatte in einem Nachbardorf ein Musterhaus gesehen, als sie Wolle zum Weben färben ging. Ihr Haus musste nun auch vier Zimmer und eine grosse Eingangshalle haben. Den Umriss der Zimmer hatte sie mit einer Schnur aus ihrem Webstuhl gemessen und diese monatelang in ihrer Truhe versteckt. Die zwei vorderen Zimmer zum Sonnenaufgang hin sollten je zwei grosse Fenster haben. Schon drei Jahre zuvor hatte sie Vorhänge aus geschmuggeltem Kaschmirstoff aus dem syrischen Aleppo nähen lassen. Um das Haus zu bauen, brauchte es aber viel Geld. Vater hatte begonnen, vom Frühling bis zum Sommer rund zweihundert Lämmer zu mästen, daru­nter auch weibliche Tiere. Deren Verkauf an die Metzger galt im Dorf eigentlich als eine grosse Sünde. Schon im März jenes Jahres versprach mir der Vater, dass ich im Sommer mit ihm nach Istanbul gehen dürfe, wenn er dort die Lämmer verkaufen würde. Welch eine grosse Freude! Von diesem Moment an beneideten mich meine Kollegen. Bilder aus Istanbul kannte ich bis anhin nicht, denn ich hatte nie einen Fernseher zu Gesicht bekommen. In meiner Fantasie schuf ich mir ein eigenes Bild von Istanbul: Ich glaubte, die berühmte Stadt sei nur um weniges grösser als unser Dorf mit zwanzig Familien. Ich war fest davon überzeugt, dass ich bei einem Brunnen mitten in Istanbul dem Fussballer Metin Oktay begegnen würde. Im GLOKALISIERUNG   49


Café nebenan würde ich den Filmschauspieler Yilmaz Güney beim Teetrinken sehen und die schöne Schauspielerin Gülsen Bubikoglu beobachten, wie sie im Schatten unter einem Baum Nargile, Schischa, raucht.

zVg

Meine Aufgabe beim Lämmermästen bestand darin, dreimal pro Tag mit einem Zweihundertliterfass Wasser vom Brunnen in den Stall zu bringen. Das Fass musste man rollen, vom Dorfbrunnen, der etwa dreihundert Meter von unserem Stall entfernt war. Wenn der Brunnen nicht floss, was häufig vorkam, mussten wir weit weg gehen, um von einem Ziehbrunnen in rund zwei Kilometern Entfernung Wasser zu holen. Kaum hatte ich mich über die strenge Arbeit beklagt, folgte auch schon der besänftigende Satz meiner Mutter: «Du willst ja schliesslich nach Istanbul!» Ein zweites Argument brauchte sie nicht, um mich zu motivieren. Und wenn sie selber müde war, was selten vorkam, fluchte sie über die Istanbuler Frauen mit ihren grossen Gesässen, für deren hohen Fleisch­ konsum sie Tag und Nacht arbeiten müsse. Und darauf hatte mein Vater seine Antwort parat: «Du willst ja ein neues Haus!» Er selber ging tagsüber seiner Arbeit bei der staatlichen Salzverarbeitung nach. Abends erklärte er in der Männerrunde beim Tee die Welt. Eines Morgens, die Sonne war noch nicht aufgegangen, brachte der Vater drei Lastwagen. Mehrere Männer luden die rund zweihundert gut gemästeten Lämmer auf die Ladefläche. In jedem Laderaum sollte noch ein Wächter mitfahren, für alle Fälle, als Schutz vor Diebstahl oder auch, falls ein Lamm krank würde. Neben zwei angestellten Hirten war ich der dritte Wächter im offenen Laderaum. Vater selbst fuhr in der komfortableren Fahrerkabine. Die Reise nach Istanbul dauerte zwölf Stunden.

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Yusuf Yesilöz’ erster Kulturschock hat sich in sein Gedächtnis gebrannt. Als Kind träumte er von Istanbul. Als er die Stadt mit zwölf Jahren zum ersten Mal sah, traf er auf Sünde und Erbarmungslosigkeit – einen starken Kontrast zu den Werten, die er in seinem kurdischen Dorf im türkischen Mittelanatolien mitgekriegt hatte. Mittlerweile ist Yesilöz 53 und lebt seit dreissig Jahren in der Schweiz. Während sowohl Istanbul als auch seine kurdische Heimat nicht aus den Schlagzeilen kommen, erinnert sich Yesilöz in «Erste Reise nach Istanbul» an die prägende Begegnung mit dem Fremden. Yesilöz lebt mit seiner Familie in Winterthur. Er arbeitet als Schriftsteller und Dokumentarfilmer. Sein letzter Roman «Soraja» erschien 2014 im Zürcher Limmat Verlag. Zuletzt realisierte er in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Fernsehen den Dokumentarfilm «Der Wille zum Mitgestalten – Migranten in der Politik».


Ich weiss heute nur noch, dass die Ortschaften der Strasse entlang grüner waren als unser karges Dorf. In Istanbul im riesigen Schlachthof in Sütlüce angekommen, stellten wir mit Entsetzen fest, dass in einem Laderaum drei Lämmer gestorben waren. Vom häufigen starken Bremsen, meinte einer der Hirten, während er die leblosen Tiere vom Laderaum hinu­nterwarf. Wie herbeigerufen, erschienen plötzlich vier hagere Männer. Einer zog ein Messer und trennte die Kehlen der drei toten Lämmer durch. «Das ist mindar. Die Tiere waren schon tot, man darf sie nicht mehr essen», liess mich der verdutzte alte Hirte seinen Satz vom Kurdischen ins Türkische übersetzen. Der Mann mit breitem, schwarzem Schnauz, der noch immer das blutige, im Schein der Strassenlaterne glänzende Messer in der Hand hielt, entgegnete: «Nicht mindar, Dummkopf! Hier ist Istanbul, du bist nicht in deinem Dorf.» Nach einer kurzen Pause fügte er fast flüsternd hinzu: «Die Tiere bewegten sich noch, als ich ihnen das Messer an die Kehle setzte.» Das stimmte natürlich nicht. Im Nu häutete er mit der Hilfe seiner Freunde die drei Tiere ab. Sie liessen nur die Gedärme neben dem Lastwagen zurück, luden das Fleisch und die Häute auf einen Skoda Pick-up und fuhren davon, aber erst nachdem mehrere Männer das Fahrzeug angeschoben hatten, bis der Motor ansprang. Auch wenn sie dem Vater Geld angeboten hätten, er hätte es nicht genommen. Daheim hätte man das Fleisch den Hunden gegeben. Wir aus dem Dorf waren alle sprachlos, sassen auf Steinen und blickten auf das Meerwasser im Goldenen Horn. Der fromme Hirte rezitierte bis zum Morgen Verse und bat mehrmals den Allmächtigen, diesem Mann seine Sünden zu vergeben. Ein Muslim hätte dieses Fleisch weder essen noch verkaufen dürfen. Der Ort Sütlüce, wo sich der Schlachthof befand, roch nach Tiermist, genau wie unser Dorf. Sehr enttäuschend, dass Istanbul wie unser Dorf roch! Nach drei Tagen konnte der Vater seine Lämmer verkaufen. Er wickelte die vielen Geldscheine in ein aus dem Dorf mitgebrachtes Tuch ein und band dieses sorgfältig um seine Taille. Erst dann durften wir in Sirkeci ein Auberginenkebab und reichlich Lokum essen. Von meiner ersten Istanbulreise kam ich doch noch bereichert ins Dorf: Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Möwen und Frauen in Bluejeans gesehen. Vor allem das Letztere hat bei den Jungs im Dorf mein Ansehen enorm gesteigert.  n GLOKALISIERUNG   51


GLOK ALISIERUNG

Die verlängerten Arme der Globalisierung Freihandelsabkommen, Zollabbau – nichts hat die globalen Handelsströme so beschleunigt wie der Container. Und so können die Verladekräne in den Häfen als Sinnbild gelten für die globalen Warenströme und die Globalisierung an sich.

Erst eine per Kran verladbare, leicht zu stapelnde Metallbox im Format 2,4 × 2,6 × 6 m machte den Güterverkehr über weite Strecken rationell und rentabel: Der Schiffscontainer ist das Transportmittel der Globalisierung. Die Weltmeere sind seine Verkehrsstrassen, und die Hafenkräne die langen Arme einer globalen Wirtschaft, welche das Stückgut in Stahlkisten auf den Landweg umladen. Redaktor und Kursleiter Christian Kaiser hat aus seinem Fotoarchiv eine Bilderreise über den globalen Handels52  EB NAVI #9

verkehr zusammengestellt: etwa vom kleinen spanischen Güterhafen Santurtzi bei Bilbao auf der MB Europe über den Atlantik zum kanadischen Saint John, wo ursprünglich amerikanische Güter mit Bestimmungsort Havanna verladen wurden, um das amerikanische KubaEmbargo zu umgehen ... Eine Ironie der Geschichte liegt darin, dass die Hafenkräne an einigen Orten der Welt zum Opfer ihrer eigenen Funktion wurden. Sprich: zu Verlierern der Globalisierung. Etwa im französi-


54/55: Verladearbeiten in Santurtzi, dem kleinen baskischen Containerhafen bei Bilbao. 56: China ist der grösste Containerumschlagplatz der Welt, die grössten Häfen sind Schanghai, Singapur, Shenzhen und Hongkong. 57: Sicherungsarbeit nach einem Sturm über dem Atlantik auf der MB Europe. 58/59: Jahrhundertelang war La Ciotat in der Provence ein wichtiger Werftplatz, heute werden dort noch Luxusjachten produziert. 60/61: Zeitzeugen eines ehemals bedeutenden Ostseehafens; Hafenkräne in Rostock. 62: Landemanöver mit Pilotboot in Havanna. Schon im 16. Jahrhundert war Havanna ein bedeutender Umschlagplatz für Güter aus der «Neuen Welt». 64/65: Der Containerterminal Burchardkai in Hamburg verfügt auf 1,4 Kilometern Länge über 30 Containerbrücken für den Umschlag auf Bahn und LKWs.

schen La Ciotat oder im deutschen Rostock. Beide Standorte gehörten bis in die 80er-Jahre zu den renommiertesten Schiffbauhäfen der Welt und beschäftigten Tausende von Arbeitskräften. Bis andere, grössere, wirtschaftlichere Häfen ihre Funktion als Werk-, Werftund Umschlagplatz übernahmen. Die grossen Frachter werden heute in Asien gebaut, die europäischen Werften mussten sich auf dem Weltmarkt eine Nische suchen: In La Ciotat werden heute Luxusjachten gebaut, in Rostock Flusskreuzfahrtschiffe. Die Kräne von einst sind bis auf wenige Mahnmale abgebaut. Der zweitwichtigste Umschlaghafen Europas nach Rotterdam steht heute in Hamburg: Pro Jahr werden dort rund 10 Millionen Standardcontainer umgeschlagen, gut 27 000 pro Tag. Zum Vergleich: In Basel kommen auf dem Wasser pro Jahr insgesamt rund 100 000 Container an. 15 der 20 weltweit grössten Containerhäfen befinden sich heute in Asien. Schanghai und Singapur sind mit einem Jahresumschlag von über 30 Millionen

Containern mehr als dreimal so gross wie Hamburg. China verdankt seine heutige Wirtschaftsmacht zu einem guten Teil auch der Erfindung des Containers und der Hafenkräne. Erfunden wurde der Container übrigens 1956 in den USA: von einem gewissen Malcolm McLean, einem cleveren Speditionsunternehmer aus North Carolina, der aus gebrauchten Tankern der US Marine auch die ersten Containerschiffe bauen liess. In den USA ist heute allerdings nur noch ein Hafen an der Welt­spitze zu finden: derjenige von Los Angeles, der aber kleiner ist als die drei grossen Europäer Rotterdam, Hamburg und Antwerpen.  n

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POR TR ÄT

Mission dritte Dimension

Vom Bauarbeiter über Psychologe bis zum 3D-Spezialisten: Rafael Koss liebt den Perspektivenwechsel. Der Dozent für 3D-Visualisierungen und -Animationen ist ein Pionier in einer Technologie, die ihre Entfaltung der Globalisierung zu verdanken hat.

Text Katleen De Beukeleer Bild Reto Schlatter

Rafael Koss drückt Play. Auf dem Bildschirm jongliert eine Frau mit einer Kaffeekapsel. Die Kapsel rollt über ihre Fingerknöchel, dreht sich auf ihrem Zeigefinger, wirbelt in der Luft und landet mit einem «Plopp» in einer Tasse. Zwanzig Sekunden dauert das Werbevideo für eine Kaffeemarke. Vierzig Stunden brauchte Rafael Koss, um die 3D-animierte Kapsel mitsamt Bohnen, Kaffee und Schachteln in das Video hineinzuzaubern. Koss ist ein Pionier der dritten Dimension. Schon 1997 experimentierte er mit der ersten Software, kurz darauf leitete er die ersten Virtual-Reality-Kurse an der EB Zürich. Mittlerweile ist er Leiter des Bildungsgangs «3D-Visualisierung und -Animation» und lockt mit seinem Angebot sogar Kundschaft aus Deutschland und dem Tessin nach Zürich. Von der Kaffeekapsel bis hin zu astronomischen Nebeln: Industrie und Wissenschaft lieben die 66  EB NAVI #9

3D-Technologie für ihre Fähigkeit, Produkte und Sachverhalte schön sauber darstellen zu können. Aber nicht nur: 3D führt uns auch Träume, Vergangenheit und Zukunft vor Augen. Sie zeigt die adrett eingerichtete Wohnung, die erst noch gebaut werden muss. Oder Fantasiewelten, in denen Gamer die Zeit vergessen. Alles sieht so echt aus, dass unsere Vorstellungskraft kaum noch nachhelfen muss. Die da Vincis der Moderne

Mal tönt Koss wie ein Physiker, wenn er von Spiegelung, Beschleunigung und Schwerkraft spricht. Mal wie ein Künstler, wenn er über das StorytellingTalent und die gestalterische Raffinesse seiner Schüler redet. 3D-Spezialisten wie Koss sind das, was zu Leonardo da Vincis Zeiten noch eine selbstverständliche Berufsgattung war: Wissenschaftler, Künstler und Tüftler in einem.


Globaler Trend Ideenklau

Was für da Vinci noch unerreichbar war, ist das natürliche Biotop der 3D-Technologie: die ganze Welt. Neue Entwicklungen kommen von überall her und sind für jeden übers Web zugänglich. 3D als eine Art Weltsprache, das hört sich schön an. Koss, der neben seinem Lehrerberuf für Privatkunden arbeitet, kennt aber auch die Kehrseite. Er erinnert sich an Restaurantbetreiber, die ihr Angebot mit Erlebnisgastronomie auffrischen wollten und ihn um Rat baten. Koss präsentierte in einer Prävisualisierung – alles Gratisarbeit – seine Idee: Die Restaurantgäste würden während des Essens das Gefühl bekommen, durch Manhattan zu fliegen, indem ihnen in 360 Grad ein Film vorgeführt würde. «Die Restaurantbesitzer waren fasziniert», erzählt Koss. «Zwei Tage später bekam ich ein Mail: Wir haben uns entschlossen, diese Idee mit unseren pol-

nischen Mitarbeitern umzusetzen.» Auch Frechheit kennt keine Grenzen, Ideenklau ist gang und gäbe in der Grafikindustrie. «Trotzdem kenne ich auch viele Betriebe, die ihre Aufträge nicht mehr ins billigere Ausland vergeben», sagt Koss. Es sei schwierig, einem Mitarbeiter in Indien übers Telefon zu erklären, was man wolle. Und nur wer in der Schweiz wohne, kenne die kulturellen Eigenheiten. «Die Frau mit den Kaffeekapseln zum Beispiel, auf irgendeine Art ist sie doch eine richtige Schweizerin? Vielleicht sind es ihre Augenringe», lacht er. Eine viel dimensionierte Karriere

Wie bei so vielen Pionieren war auch Rafael Koss’ Werdegang keine lotrechte Linie. Mit achtzehn brach er, nach zwei Jahren in einem Internat in Grossbritannien, die Mittelschule ab und fing in der Schweiz

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AUF KURS BLEIBEN 3D-Grundlagen – Einstieg Ein erster Einblick in die 3D-Technologie 3D-Creatures Virtuelle dreidimensionale Wesen bauen und animieren Bildungsgang: 3D-Visualisierung und -Animation Eine Rundum-Ausbildung für berufliche oder künstlerische 3D-Projekte

als Bauarbeiter an. Sein handwerkliches Geschick wurde geschätzt, und die Muskelkraft, die Sommersonne auf dem Dach und die gesunde Müdigkeit am Anmeldung: www.eb-zuerich.ch/ebnavi/glokalisierung Abend gefielen ihm. Einige Jahre später wollte er dann doch seinen Abschluss Tech-affin mit Vorsicht nachholen und setzte mit dem angesparten Geld Aller Begeisterung zum Trotz war Koss nie ein die Mittelschule fort. gedankenloser Technikverehrer. Fernseher, SmartDer Personal Computer, die Cyberbrille: Koss phone, soziale Medien: «Meine Kinder hätte ich am besass sie schon, als die meisten Menschen noch das liebsten von all dem ferngehalten, weil ich als PsyGefühl hatten, mit Science-Fiction zu tun zu haben. chologe weiss, wie verheerend das für die PersönEr ist aber nicht nur von technologischen Entwicklichkeitsentwicklung sein kann.» Nicht nur, weil lungen, sondern auch von den Dimensionen der man in dieser Zeit weder zeichne noch lese, bastle, menschlichen Psyche fasziniert. Als er sich mit 23 an an die frische Luft gehe oder über die Welt nachder Universität anmeldete, wählte er nebst Informadenke, sondern auch, weil man sich mit falschen tik auch Psychologie und Psychopathologie. VielBildern fülle. «Meine Kinder fingen irgendwann an, leicht ist es dieses bedingungslose Interesse am die komische Mimik der amerikanischen Fernseh­ Menschen, das Koss zum hervorragenden Lehrer soaps zu imitieren.» Mit dem ersten Smartphone der macht. Obwohl er auf den ersten Blick etwas zurückKinder kam der gleiche Frust, der schon in vielen haltend wirkt, schätzen seine Schüler seine warme Familien Einzug hielt: Handy-Besessenheit, ausund unbefangene Art. ufernde Rechnungen, Streit, Tränen. «Trotzdem verAls Koss nach dem Studium für zwei Jahre in den stehe ich meine Kinder», sagt Koss. Er hatte selber Vereinigten Staaten landete, «um ein bisschen Luft mit 22 seinen ersten Fernseher, nachdem er bildzu schnappen», lernte er als Gasthörer an der Universchirmlos aufgewachsen war. «Ich hatte plötzlich sität Berkeley die junge Virtual-Reality-Welt kennen. unbeschränkten Zugang zu zweihundert Sendern. Was er sonst noch brauchte, um zum 3D-Experten Da habe ich ganze Abende lang nichts anderes mehr zu werden, brachte er sich selber bei. gemacht als fernzusehen.» Das Ende der Pionierzeit

Inzwischen ist die Pionierphase der 3D-Technologie vorbei. «Es ist heute nicht mehr möglich, auf allen Gebieten der 3D-Anwendung gleichzeitig top zu sein», sagt Koss. «Diese Programme haben mehr Knöpfe, als wir Gehirnzellen haben.» Er versuche, Allrounder zu bleiben; inzwischen unterrichten für den 3D-Bildungsgang aber noch sieben weitere Dozenten ihre Spezialgebiete. Die grosse Bandbreite sei ein wichtiger Grund für den Erfolg der 3D-Angebote an der EB Zürich. 68  EB NAVI #9

Stecker raus

Der Rücken, die Augen – Rafael Koss’ Körper spürt die vielen Computerstunden, die noch folgten. Ausgleich findet er im Sport, draussen an der frischen Luft. Er macht anspruchsvolle Wandertouren, die an bestimmten Abschnitten dem Klettern nah kommen. Zu Hause in einem alten Bauernhaus, im Gemüsebeet oder auf der Weide bei den sechs Schafen: Koss beherrscht die Fähigkeit, rechtzeitig ausund abzuschalten.  n


SERVICE

Handle with care: Diplome im Gepäck Die weltweite Gültigkeit von Diplomen und Berufsabschlüssen bleibt ein weit entfernter Zukunftstraum. Dennoch sind viele Länder bestrebt, ihren Zuwanderern die Anerkennungs­ verfahren zu vereinfachen. Expertin Marlise Leinauer gibt eine kurze Übersicht über die Situation in der Schweiz.

Text Marlise Leinauer, Katleen De Beukeleer

Kochgeschirr, das Klavier, das Rennvelo, den Kerzenständer: Wer in die Schweiz einwandert, bringt einiges an Gepäck mit. Die kostbarsten Habseligkeiten jedoch lassen sich auch ohne Koffer transportieren: Diplome, Kompetenzen und Erfahrungen. Darf die diplomierte Krankenschwester aus den Philippinen aber gleich in einem Schweizer Spital anfangen? Wie kann der kroatische Maurer sich zum Führungsfachmann mit eidgenössischem Fachausweis ausbilden las-

sen? Wer hier arbeiten oder studieren will, muss Bildungsinstitutionen oder Arbeitgebern zuerst einmal zeigen, was sein Gepäck wert ist. Reicht das ausländische Diplom aus, gilt der Berufsabschluss? Das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) bietet Orientierung (www.sbfi.admin.ch). Grundsätzlich verläuft die Anerkennung ausländischer Diplome und Berufsabschlüsse nach dem folgenden Schema:

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AUF KURS BLEIBEN Beratung: Mit E-Portfolio potenzielle Arbeitgeber überzeugen Gute Chancen mit übersichtlich aufgeführten Kompetenzen Sprachkompetenzen anerkennen: Englisch/Deutsch/Französisch Mit einer Fachperson ein aussagekräftiges Profil erstellen Weiterbildungsberatung Hilfe auf der Suche nach dem richtigen Kurs Anmeldung: eb-zuerich.ch/ebnavi/glokalisierung

Arbeiten in der Schweiz

Bei einer Niederlassung in der Schweiz gibt es zwei Möglichkeiten: Reglementierte Berufe Dies sind Berufe, die an rechtliche oder behördliche Vorschriften gebunden sind. Anwälte müssen das Schweizer Recht kennen, Buschauffeure die hiesigen Verkehrsregeln und Pflegefachleute sollen nach Schweizer Qualitätsstandards und Hygienevorschriften arbeiten. Berufe in den Bereichen Gesundheit, Pädagogik, Recht, Sozialarbeit und Technik sind in der Schweiz reglementiert. Wer einen solchen Beruf ausüben möchte, muss ein Anerkennungsverfahren einleiten. Ein ausländischer Abschluss wird anerkannt, wenn er im Vergleich mit dem entsprechenden schweizerischen Abschluss die folgenden Voraussetzungen erfüllt: –– die Bildungsinhalte sind vergleichbar, –– die Bildungsstufe und die Dauer der Ausbildung sind gleich, –– es wird praktische Erfahrung nachgewiesen, entweder im Bildungsgang oder im Beruf. Ausserdem muss der Zuzüger eine Schweizer Landessprache sprechen. Je nach Beruf ist das SBFI oder der Berufsverband für die Anerkennung 70  EB NAVI #9

zuständig. Bei wesentlichen Unterschieden zur entsprechenden Schweizer Ausbildung müssen sie Ausgleichsmassnahmen vorschlagen. Nichtreglementierte Berufe Berufe wie Soziologin, Journalist oder Schreiner sind in der Schweiz nicht reglementiert. Arbeitsmarkt und Arbeitgeber entscheiden, welche Qualifikationen gebraucht werden. Eine offizielle Anerkennung braucht es nicht. Trotzdem ist es auch für eine Soziologin von Vorteil, ihre Kenntnisse nachweisen zu können. Für eine bessere Positionierung auf dem Schweizer Arbeitsmarkt empfiehlt es sich auch in diesen Berufen, eine Anerkennung einzuholen. Kurzfristige Dienstleistungen

Ein norwegischer Snowboardlehrer, der jedes Jahr im Januar und Februar in Engelberg unterrichtet, braucht für die zwei Monate keine Diplomanerkennung. Er muss seine Tätigkeit aber beim SBFI melden. Dies gilt für alle EU/EFTA-Bürger, die in der Schweiz während maximal neunzig Tagen pro Kalenderjahr eine Dienstleistung in einem reglementierten Beruf erbringen. Ein italienischer Maler hingegen, der ein paar Wochen im Tessin arbeitet, hat keine Meldepflicht. Im Gegensatz zum Schneesportlehrer/-lehrerin ist der Malerberuf in der Schweiz nicht reglementiert.


Studieren in der Schweiz

Akademische Anerkennung Der Bologna-Prozess unterstützt die zunehmende Mobilität von Studierenden. Vor 18 Jahren unterzeichneten die Schweiz und 28 andere europäische Länder diese Erklärung. Ziel ist es, Universitäts- und Hochschulstudien international aufeina­ nder abzustimmen. Trotz Fortschritten in der Harmonisierung ist es aber noch lange nicht so, dass etwa eine Spanierin, die in Madrid ein Ingenieursstudium abgeschlossen hat, problemlos an einer Schweizer Universität doktorieren kann. Für die Schweizer Nachbarländer wurde die Situation zwar vereinfacht. Die französischen und Schweizer Rektorenkonferenzen haben ein Rahmen­ abkommen über die Anerkennung von Diplomen und Studienleistungen ausgehandelt; mit Deutschland, Österreich und Italien gibt es bilaterale Anerkennungsabkommen auf Regierungsebene. Für alle anderen Länder aber ist es immer noch den Schweizer Hochschulen und Universitäten überlassen, welche Qualifikationen ausländische Studierende mitbringen sollen, um für ein Studium oder Doktorat zugelassen zu werden.

Das SBFI gibt weitere Informationen und vermittelt Kontaktadressen. Bei Prob­ lemen mit der Anerkennung von Universitätsdiplomen kann die Swiss ENIC weiterhelfen (www.swissuniversities.ch). Höhere Berufsbildung Für viele Abschlüsse in der höheren Berufsbildung braucht es Voraussetzungen. Wer beispielsweise den eidgenössischen Fachausweis Führungsfachfrau/ Führungsfachmann erlangen will, muss einen Lehrabschluss (eidgenössisches Fähigkeitszeugnis) oder ein Maturitätszeugnis vorweisen. Ein ambitionierter kroatischer Maurer, der in seiner Firma eine Führungsposition übernehmen möchte und eine abschlussorientierte Weiterbildung in Management und Leadership ins Auge fasst, soll sich vorher gut informieren. So vermeidet er, viel Geld in eine Ausbildung zu investieren und nachträglich nicht an die Prüfung zugelassen zu werden. Sein kroatischer Berufsabschluss unterscheidet sich vom Schweizer Fähigkeitszeugnis – deswegen muss zuerst das SBFI entscheiden, ob sein Abschluss als gleichwertig anerkannt wird. Es empfiehlt sich, nicht nur bei der Weiterbildungsinstitution nachzufragen, sondern auch direkt bei der Stelle, die den Fachausweis ausstellt.

Marlise Leinauer ist Bereichsleiterin «Didaktik und Bildungsmanagement» an der EB Zürich. Sie engagiert sich in verschiedenen Verbänden und Vereinen für die höhere Berufsbildung. In der Freizeit reist sie um den Globus und nimmt dabei gerne ein besonderes Instrument mit, um in Beziehung mit anderen Menschen zu treten: ihr Alphorn in zerlegbarer Ausführung. Eva Kläui

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Deutsch A2 Kurzkurs Deutsch für Pflegeberufe A Deutsch Fit für C1 «Goethe-Zertifikat C2» Stan Training Deutsch / A1–B1 Fit in der Rechtsch Fit für die E-Mail-Kommunikation Drehbuch First Certificate in English (FCE) B2 TOEFL Prüf Gru geb Eng Internet der Dinge: Aufbau 1 – Komplexe Anwe A1 Stufe 1 Französisch für Gastgewerbe und H A1 intensiv für Sprachaufenthalte PC: Einstieg W am Arbeitsplatz, privat und unterwegs OneN Twitter und Co − Social Media geschickt Digitale Fotografie: Einstieg Photoshop – G Cascading Style Sheets – Grundlagen mit Res EB Zürich Web-Content-Management mit W Bildungsgang: Video PHP: Einführung C#: Einfü Überblick FileMaker: Einführung Docker Inte «Führungsfachfrau/-mann (SVF)» mit eidg. führen Selbständigkeit: Von der Idee zur Gründu terbildungsberatung Erfolgreich verhandeln Ges und digitale Werbung Modul-Bildungsgang «

55 auserlesene Angebote für Weiterbildung


A2/B1 ÖSD «Zertifikat B1» Prüfungsvorbereitung ndard Büro-Korrespondenz C1/C2 Aussprachehreibung Attraktiv und verständlich schreiben hschreiben: Grundlagen Englisch B1 Stufe 1 fungsvorbereitung Führung smart – Team- und uppenleitung Mit E-Portfolio potenzielle Arbeitber überzeugen Aufbauen einer eigenen Cloud glisch für Gastgewerbe und Hotellerie A2 endungen Video – Dokumentarfilm Französisch Hotellerie A1/A2 Italienisch A2 Stufe 3 Spanisch Word: Einführung Tabellen und Listen Outlook Note – die Online-Zettelwirtschaft Facebook, nutzen Dateien verschlüsseln leichtgemacht Grundlagen Beratung: Websites gestalten CSS sponsive Design Bildungsgang: Web-Publisher WordPress Video – Kamera und Filmsprache ührung Programmieren fürs iPhone Big Data – ernet der Dinge: Grundlagen Bildungsgang FA Projekte erfolgreich durchung Entscheidungen treffen Weisprächstraining Online-Marketing «Eidg. Fachausweis Ausbilder/in»

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SERVICE

Den Rubikon überschreiten Was gestern galt, ist heute schon passé – die Globalisierung stellt immer wieder unsere Beweglichkeit und Wandlungsfähigkeit auf die Probe. Doch wie kann es uns gelingen, alte Gewohnheiten durch neues Verhalten zu ersetzen und befreit auf neue Ziele hinzuarbeiten? Das Zürcher Ressourcen Modell ZRM liefert einen praxiserprobten und psychologisch fundierten Lösungsansatz. Expertin Elisabeth Gasser erklärt, wies funktioniert.

Text Elisabeth Gasser, Christian Kaiser

Der Rubicone ist nur ein kleines, unbedeutendes Flüsschen in der Emilia Romagna. Aber er hat es immerhin geschafft, in eine bekannte Redewendung Eingang zu finden. «Den Rubikon überschreiten» – das heisst, eine Entscheidung treffen, von der es kein Zurück gibt; nichts mehr wird so bleiben wie zuvor. Gaius Iulius Caesar hatte im Jahr 49 v. Chr. ausgerufen «der Würfel ist gefallen» («alea iacta est») und den Rubikon mit seinen Truppen Richtung Rom überschritten – im Bewusstsein, dass das den Bürgerkrieg mit Rom bedeutete. 74  EB NAVI #9

Vom Abwägen ins Planen kommen

Heute geht es nicht mehr um kriegerische Sachverhalte, wenn vom «Schritt über den Rubikon» gesprochen wird, sondern um den Moment des Entscheids eines Handelnden für eine seiner Handlungsoptionen. Der Rubikon ist überschritten, wenn ein starkes positives Gefühl dem Willen den Weg gebahnt hat; der Mensch ist sich seines Zieles so gewiss, dass er es handelnd umzusetzen beginnt. So hat die Metapher des Rubikons auch in die Motivations- und Handlungspsychologie Eingang gefunden, etwa im Rubikon-Modell


Phase 2 Motive

Phase 3 Intention

Phase 4 Präaktionale Vorbereitung

Phase 5 Handlung

Thema finden mithilfe des Unbewussten

Motive abwägen, Ziele wählen

Das Ziel handlungswirksam formulieren

Die gewünschte Handlung vorbereiten

Zielrealisierend handeln können

unbewusst

bewusst

der vier Handlungsphasen von Heckhausen (1989) und Gollwitzer (1990): Der Rubikon-Moment markiert den Übergang am Ende der Abwägephase (1) zum Planen (2), Handeln (3) und Bewerten (4). Die Intention formulieren

Auch das ZRM orientiert sich am Rubikon-Prozess aus der Motivationspsychologie, allerdings in einer auf fünf Phasen erweiterten Form (➝ Grafik). Die fünf Stufen entsprechen dabei dem Weg eines (Veränderungs-)Wunsches bis hin zur konkreten Handlung: 1. Bedürfnis, 2. Motiv, 3. Intention, 4. präaktionale Vorbereitung, 5. Handlung. Der Rubikon wird dann überquert, wenn das Thema gefunden ist, die Motive geklärt sind und Unbewusstes und Bewusstes durch die Formulierung eines Haltungsziels in Übereinstimmung (Synchronisation) gebracht werden können: Dieses formulierte Ziel, diese Absicht bildet die Richtschnur für alle weiteren Schritte. Doch wie gelangt man dorthin, wie gelingt es einem, den Rubikon endlich zu überschreiten, sprich von der zweiten in die dritte Phase zu springen?

R U B I KO N

Phase 1 Bedürfnisse

Unbewusstes und Bewusstes synchronisiert

Bis zur Überschreitung des Rubikons sind vier Schritte nötig: 1. Schritt: Unbewusste Bedürfnisse wahrnehmen aufgrund von Intuition und Selbstwahrnehmung Die Bilder aus der ZRM-Bildkartei werden ausgelegt: Die Teilnehmenden wählen für sich ein Bild, das bei ihnen eindeutig nur positive Gefühle auslöst: Weite in der Brust, Wärme im Bauch, guten Bodenkontakt (➝ somatische Marker) usw. Die ZRM-Trainerin achtet darauf, dass die Auswahl rasch und intuitiv erfolgt, also ohne lange zu überlegen.

Beispiel: Der Musterkursteilneh­ mer entscheidet sich für das Bild eines von Wellen umwogten Leuchtturms, beleuchtet vom Sonnenlicht.

GLOKALISIERUNG   75


2. Schritt: Freie Assoziation der Gruppe zum gewählten Bild Die ZRM-Trainerin bittet die Mitglieder der Gruppe darum, ihre Assoziationen zu dem gewählten Bild frei zu äussern. Die Kursleiterin achtet darauf, dass nur positive, unterstützende Ideen ausgesprochen werden. Ein Gruppenmitglied notiert die Assoziationen, sodass jeder Teilnehmende seinen schriftlichen «Ideenkorb» zu seinem Bild erhält.

3. Schritt: Die Teilnehmenden erweitern ihren Ideenkorb selbst Die Teilnehmenden ergänzen den von den Gruppenmitgliedern erhaltenen Ideenkorb mit eigenen Assoziationen und Ideen.

Der Musterteilnehmer empfängt den Ideenkorb mit den Äusserungen wie: «Fels in der Brandung», «Stürmen standhalten», «mit den Gezeiten im Flow», «Orientierungspunkt sein», «Licht verbreiten» usw.

4. Schritt: Die Teilnehmenden formulieren ihr Verhaltensziel Indem sie ihre Affekte bilanzieren, also erneut auf ihre positiven somatischen Marker achten (was verursacht in meinem Körper positive Gefühle?), wählen die Teilnehmenden die für sie wichtigsten Begriffe aus («Dessertwörtli»). Daraus und mit entsprechender Prozessbegleitung erkennen sie ihr Thema und verbinden so unbewusste Bedürfnisse und bewusste Motive. Stichwortartiges und Satzfragmente werden in ein klar formuliertes Haltungsziel überführt. Dieses muss drei Kriterien erfüllen: –– Es umschreibt positiv etwas, das man erreichen will (nicht etwas, das vermieden werden soll). –– Es unterliegt völlig der eigenen Kontrolle; die Teilnehmenden müssen es selber, aus eigener Kraft erreichen können (also ohne äussere Hilfe). –– Das Haltungsziel löst im Teilnehmenden eindeutig beobachtbare, positive Reaktionen aus (ist also mit einem starken somatischen Marker verbunden).

Was sind somatische Marker? Somatische Marker sind Signale aus dem Unbewussten, die uns helfen, mit ihm in Kontakt zu treten. Zwar entzieht sich das Unbewusste unserer bewussten Wahrnehmung, einige Reaktionen des unbewussten Systems lassen sich aber erspüren. Wenn wir etwa einen Entscheid zu fällen haben, wird alles an Sinneseindrücken abgerufen, was im Erfahrungs­ gedächtnis eines Menschen dazu gespeichert ist: Wir bekommen zur jeweiligen Handlungsoption eine biologische Bewertung in Form eines Körpersignals und/oder eines Gefühls. Für diese Signale hat der amerikanische Hirn­forscher Antonio Damasio die Bezeichnung «somatische Marker» eingeführt. Soma ist das griechische Wort für Körper, ein Marker macht etwas bemerkbar. Das Markierungssystem ist einfach zu entschlüsseln und hilfreich: Wenn ein Szenario mit einer positiven Bewertung verbunden ist, ist das Körpersignal gut, wenn es sich um etwas Negatives handelt, ist das Körpersignal unangenehm. Dieses System arbeitet wie eine Ampel: Es regelt das «Stop» und das «Go», ist also direkt verknüpft mit einem Handlungsvorschlag: annehmen oder vermeiden. Das ZRM nutzt diese Handlungsvorschläge ganz bewusst, um unbewusste und bewusste Motive miteinander in Deckung zu bringen. Neben Verhaltens- oder Mottozielen, Wenn-Dann-Plänen und Priming spielen die somatischen Marker eine zentrale Rolle im Methodenkoffer des ZRM.

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Der Musterteilnehmer fügt persönli­ che Ideen hinzu: «Richtung geben», «im Fluss des Lebens bleiben», «unverrückbares, festes Fundament», «den Überblick behalten / vermitteln».

Das Haltungs- oder Mottoziel des Kurs­ teilnehmers lautet: «Ich bin standhaft wie ein Leuchtturm und behalte den Horizont im Blick.»


Was ist ZRM?

Wer ein deutliches Ziel formuliert hat, welches die Kriterien erfüllt, ist einen entscheidenden Schritt weiter gekommen: Er hat sich ein klares Motto für den weiteren Weg gegeben, etwas, das ihn positiv motiviert und antreibt. Der Rubikon ist überschritten, und die präaktionale Vorbereitung der Handlungsphase kann beginnen. Nun geht es darum, einen Ressourcenpool aufzubauen, der hilft, dieses Verhaltensziel zu erreichen. Die weiteren Schritte ermächtigen die Teilnehmenden dazu, jederzeit zielrealisierend zu handeln, sodass ein Zurück in alte Muster ausgeschlossen ist. Priming: die Veränderung verankern

Eine wichtige Rolle spielt dabei das sogenannte «Priming». Priming bedeutet «Bahnung» oder «Aktivierung»: Es erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man aufgrund seines Haltungsziels reagiert und handelt, weil man regelmässig daran erinnert wird. Dafür setzt man im Alltag Zeichen, stationäre und mobile, die einen an das Haltungsziel erinnern. Bilder, Farben, Düfte, Kleidungs-, Musik- oder Schmuckstücke – die Kursteilnehmenden wählen aus einem breiten Spektrum passende Erinnerungshilfen, die das neu

Das Zürcher Ressourcen-Modell ZRM ist ein von Dr. Maja Storch und Dr. Frank Krause an der Universität entwickeltes SelbstmanagmentTraining. Es beruht auf neuen neurowissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen über menschliches Lernen und Handeln. Das Training nach ZRM hilft, das eigene Fühlen und Verhalten besser und selbstbestimmter zu steuern, sodass souveränes Tun auch in schwierigen Situa­ tionen immer besser gelingt. Als besonders nützlich erweist sich das ZRM-Selbstmanagement-Training bei privaten und beruflichen Fragestellungen, z.B. für angestrebte Verhaltensänderungen oder in Entscheidungsprozessen. Im Training finden Sie heraus, was Sie wirklich wollen, was Ihnen in Ihrer aktuellen Lebenslage besonders wichtig ist, und entscheiden, wohin Sie Ihre Energie und Aufmerksamkeit lenken wollen. Alle Teilnehmenden lernen die spezifischen Stärken der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Stils im Umgang mit Menschen kennen, entwickeln diese gezielt und bauen sie kreativ aus. Sie erarbeiten sich ihr persönliches Konzept, wie sie ihre eigenen Fähigkeiten und individuellen Begabungen am besten einsetzen können. Die Erweiterung des persönlichen Handlungsrepertoires trägt zu einem gestärkten Selbstbewusstsein bei.

gebahnte neuronale Zielnetz immer wieder aktivieren und so das Ziel im Gedächtnis zu einem Automatismus werden lassen. Unser Beispielteilnehmer könnte sich z. B. einen geprimten Leuchtturm auf den Schreibtisch stellen oder als Anhänger am Schlüsselbund in die Tasche stecken. Zusätzlich erarbeiten sich die Teilnehmenden ein sogenanntes Embodiment: Das Haltungsziel wird mittels einer Bewegung im Körper eingebettet, «verkörpert». Damit ist die Veränderung ganzheitlich verankert, d.h. auf drei Ebenen in Gang gesetzt: auf der kognitiven Ebene durch das Haltungs-/Mottoziel, auf der emotionalen Ebene durch die Primings und auf der körperlichen Ebene durch das Embodiment.

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AUF KURS BLEIBEN Zürcher Ressourcenmodell ZRM – Einstieg Das eigene Verhalten besser steuern und in gewünschter Weise handeln Zürcher Ressourcenmodell ZRM – Aufbau1 Die eigenen Schattenanteile integrieren und in Ressourcen umwandeln Professionelle Laufbahnplanung in 5 Schritten Ausgehend von einer Standortbestimmung die weiteren Schritte planen

spricht deutlich mehr Erfolgserlebnisse als ein Standardvorsatz wie: «Immer am Mittwoch um acht Uhr schwimme ich einen Kilometer.»

Anmelden: eb-zuerich.ch/ebnavi/glokalisierung Der neue Horizont winkt hinter dem Rubikon Wenn-Dann-Vorsätze nehmen den Erfolg vorweg

Ein weiteres wichtiges Werkzeug im Methodenkoffer des ZRM sind die Wenn-Dann-Pläne: «Wenn X passiert, dann werde ich Y tun», ist ihre sprachliche Struktur. Solche Wenn-Dann-Sätze sind Vorsätze, welchen ein kleines Wunderwerk gelingt: Sie verbinden eine Situation, die vom Ziel ablenken kann, im Unterbewussten direkt mit dem zielführenden Verhalten. So lassen sich allfällige Schwierigkeiten von vornherein vorausschauend abfedern, das konnte in zahlreichen Studien nachgewiesen werden. Ein Satz wie: «Wenn ich frischen Überblick gewinnen und festen Boden unter den Füssen spüren will, dann schwimme ich einen Kilometer», ver-

Solche Wenn-Dann-Pläne sind Bestandteile des Aktionsplans für die Handlungsphase: Es werden konkrete Handlungsziele erarbeitet und Ausführungshandlungen formuliert und geplant. Auch in Bezug auf den Kreis der Freunde, Bekannten und Geschäftspartnerinnen: Wie kann das soziale Netzwerk aktiviert werden, um sich die Unterstützung durch Dritte zu sichern? Wer sich einmal entschieden hat, den Rubikon zu überschreiten, der hat seinem Gehirn bereits den Auftrag erteilt, etwas Neues zu lernen, eine bessere, wohltuendere Rolle einzuüben. Jetzt geht es (nur noch) darum, seinem Hirn im Alltag die Aufgabe zu erleichtern, die geplante Verhaltensänderung auch herbeizuführen.  n

Elisabeth Gassers Palmares ist beeindruckend: Sie ist nicht nur ausgebildete ZRM-Trainerin, sondern u.a. auch qualifizierte Supervisorin BSO, Kunsttherapeutin, Organisationsberaterin und Konfliktmanagerin. Obwohl ihr als Beraterin und Coach mit eigener Praxis diverse andere Methoden zur Verfügung stehen, ist es ihr wichtig, mit dem ZRM (Zürcher Ressourcen Modell) zu arbeiten: «Es hilft, das eigene Fühlen und Verhalten besser zu steuern, zu verändern.» An der EB Zürich leitet sie die ZRM-Grund- und -Aufbaukurse. Eva Kläui

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VORSCHAU Weiterbildung – wie weiter?

Wir leben in einer Zeit der Youtubisierung der Weiterbildung. Vom Einbau eines Geschirrspülers über Gitarrengriffe bis hin zur App-Programmierung – Anleitungen zum Erwerb neuer praktischer Fachkenntnisse sind jederzeit und überall online verfügbar. Nicht nur als Kurzvideoinput – das Angebot reicht bis hin zu universitären Lehrgängen (MOOCs). Auf der ande- Rathausb r. ren Seite werden HR-Experten und tr. iess Die EB Zürich ist die grösste Weiterbildungsinstitution Arbeitgeber nicht müde zu betonen, dass inw Ste rstr. heute «Soft-Skills» das wichtigste Kapital Pfauen Kunsthaus lde Do Tram 3, 5, 8, 9, dererbr. Schweiz, die von der öffentlichen Hand getragen wird. der Arbeitskräfte sind; Organisations­ Bus 31 Kunsthaus Münst talent, Verhandlungsgeschick, Kreativität, Paradeplatz Kommunikationsfähigkeiten, Innovationsund Improvisationstalent usw. Besonders 15 9 Ze sse 8 4 wichtig: die Fähigkeit, überhaupt Neues ltw ra ist 5 eg äm zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Bellevue R Solche weichen Kompetenzen lassen 2 11 Quaibrücke ke se c ü sich aber schlecht allein vor dem Bildr as ib Bhf. Stadelhofen Qua st r h ac schirm erlernen. 11 15 sb Ka nto n

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EB Zürich Wege zur Weiterbildung

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Die Politik ist sich im Grundsatz einig, dass auch die Weiterbildung einen wichtigen Teil zur Qualität des Bildungsund Wirtschaftsstandortes beiträgt. Doch bei der Frage, ob und wie welche Weiterbildung gefördert werden soll, scheiden sich die Geister. EB Navi #10 versucht auszuloten, wo die Bedürfnisse und Bedarfslücken rund um Weiterbildung anzusiedeln sind.

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EB Zürich Kantonale Berufsschule für Weiterbildung Bildungszentrum für Erwachsene BiZE Riesbachstrasse 11 8008 Zürich So erreichen Sie uns Tram Nummer 2/4 bis Feldeggstrasse Bus 33 bis Höschgasse

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So kontaktieren Sie uns lernen@eb-zuerich.ch Telefon 0842 843 844 sse

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« Wir haben viel gelernt im Kurs. Mit Vergnügen » EB Zürich, die Kantonale Berufsschule für Weiterbildung Riesbachstrasse 11, 8008 Zürich www.eb-zuerich.ch


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