Johannes Calvin - 500 Jahre Wirkung und Präsenz

Page 1

1

500 Jahre Wirkung und Pr채senz >>>


Calvin-Auditorium, Genf.

2


Inhalt

Johannes Calvin in Kürze Calvins Bedeutung für den Protestantismus Fokus: Die Zeitenwende Calvins Theologie – Gnade und Geheimnis Fokus: Die vier Wahrheiten der Reformation Fokus: Prädestination

5 7 9 11 13

Calvins Ethik Fokus: Calvin und Genf

15 17

Calvin und die Kirche – Mutter der Gläubigen Fokus: Der Streit um das Abendmahl

19 21

Calvin – ein Theokrat? Fokus: Der Fall Michel Servet

23 25

Calvin – Vater der Moderne? Fokus: Calvin und der Kapitalismus Fokus: Calvin und die Demokratie

27 29 31

Calvins Erben – Calvinisten, Hugenotten, Puritaner

33

Zeittafel

36

3


Kathedrale Saint-Pierre, Genf.

4


Calvins Bedeutung für den Protestantismus Der Franzose Johannes Calvin war einer der einflussreichsten Theologen des Reformationszeitalters, ja der ganzen frühen Neuzeit. Er war ein Reformator der zweiten Generation, das heisst, er baute auf den Ideen von Martin Luther auf, setzte sie um und verbreitete sie. Während Martin Luthers Reformation vor allem in den deutschen Gebieten Anhänger gewinnen konnte, Zwinglis Reformation in Zürich, Bern und Basel wirkte, trug Calvin die Reformation nach Frankreich, Holland, England, Schottland, Polen, Ungarn und Italien. Als Calvin starb, gab es bereits 100 000 Reformierte calvinischer Prägung. Und weil später englische Puritaner in die Neue Welt auswanderten, beeinflusste Calvin indirekt auch die entstehenden USA (u Calvins Erben, S. 33). Humanist und Reformator Calvin war vor allem als Jurist ausgebildet worden, verfügte aber über eine breite Gelehrsamkeit und war ausserordentlich bibelfest. Er war in seiner Studienzeit mit den Ideen Martin Luthers in Berührung gekommen und vom Feuer des Humanismus angesteckt worden. Wie die meisten Humanisten hatte er sich in Rhetorik ausbilden lassen, war also sehr redegewandt. All diese Fähigkeiten setzte er ein, um die Genfer von den Ideen der Reformation zu überzeugen und aus Genf das leuchtende Beispiel einer wahrhaft erneuerten Gesellschaft zu machen (u Fokus: Calvin und Genf, S. 17). Reformation auf den Punkt gebracht Sein Hauptwerk, die Institutio Religionis Christianae (Unterricht in der christlichen Religion), kurz Institutio, war die erste Schrift, die den evangelischen Glauben derart umfassend erklärte. Die Institutio wurde von Calvin mehrmals überarbeitet und erweitert; später wurde sie in viele Sprachen übersetzt. Neben der ursprünglichen lateinischen verfasste Calvin auch eine französische Version der Institutio, denn sein Hauptanliegen war immer vor allem die Verbreitung der Reformation in seinem Heimatland Frankreich gewesen. Die französische Fassung leistete durch die Klarheit und Einfachheit ihres Stils einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der französischen Sprache. 5


Laurent de Normandie (ca. 1510–1569).

Heinrich Bullinger (1504–1575).

Gezielte Verbreitung der Lehre Genf wurde, vor allem auch durch den Zustrom von Religionsflüchtlingen aus Frankreich, aber auch aus anderen Ländern, zu einem wichtigen Zentrum des Protestantismus (u Fokus: Calvin und Genf, S. 17). Durch die Gründung der Genfer Akademie, einer Hochschule für Theologen, trug Calvin wesentlich zur Verbreitung des reformierten Protestantismus bei. Calvin stand in Kontakt mit wichtigen Reformatoren und Gelehrten in ganz Europa und sein Freund, der Unternehmer Laurent de Normandie, liess seine Predigten und Schriften über ein Netzwerk von reisenden Handelsleuten überall in Frankreich verbreiten. Neuer Zweig des Protestantismus Calvin und der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger konnten sich auf eine gemeinsame Sichtweise des Abendmahls einigen (u Fokus: Streit um das Abendmahl, S. 21) und legten so zum einen den Grundstein für einen geeinten schweizerischen Protestantismus und begründeten zum anderen den reformierten Zweig des Protestantismus.

Huldrych Zwingli (1484–1531). Guillaume Farel (1489–1565) im Gespräch mit Calvin. ©LIFE.

Martin Luther (1483–1546).

6


Die Zeitenwende

Calvins Bedeutung für den Protestantismus

FO KUS

Die Reformation war Höhepunkt von über 200 Jahren christlicher Reformbestrebungen. Sie ist ohne die Erfindung des Buchdrucks nicht denkbar und wurde stark von den mobilen und gut vernetzten Humanisten geprägt, die sich über Kulturgrenzen hinweg in der Gelehrtensprache Latein austauschten. 200 Jahre Reformbestrebungen Bereits im 12. Jahrhundert postulierten die Waldenser die alleinige Autorität der Bibel und verwarfen Marien-, Heiligen- und Reliquienverehrung, Ablasshandel sowie das Fegefeuer. Im 14. Jahrhundert doppelten die Wyclifiten nach – auch sie vertraten ein strenges Schriftprinzip. Ausserdem förderten sie volkssprachliche Bibelübersetzungen und waren gegen Zölibat und Mönchtum. Auch in den geistlichen Orden gab es diverse Reformbestrebungen, denn bei vielen waren die Ideale der Ordensgründer in Vergessenheit geraten. Das klösterliche Gemeinschaftsleben hatte nach Pest und Papst-Schisma gelitten und die Sitten hatten sich gelockert. Als Reaktion darauf entstand innerhalb des Franziskanerordens die Observanzbewegung, die das Ordensleben gründlich erneuern wollte: Die Mönche und Nonnen sollten sich wieder an die ursprünglichen Ordensregeln halten. Nach und nach schlossen sich auch andere Orden der Bewegung an. Martin Luther selbst lebte als Mitglied des AugustinereremitenOrdens lange in einem solchen Kloster. Es ging diesen Reformern nie darum, sich von der Römischkatholischen Kirche abzuspalten. Sie wollten die Kirche lediglich erneuern. Die Reform konnte sich allerdings in der Römisch-katholischen Kirche nicht durchsetzen, was schliesslich zur Gründung von neuen Kirchen führte. Humanismus und Reformation Auch die Humanisten strebten danach, die Welt sittlich zu erneuern. Sie sahen die Antwort auf die Probleme der Gegenwart in der Rückbesinnung auf die klassische Kultur Europas. Um diese Wurzeln wiederzuentdecken, entwickelten sie hochdifferenzierte literarische und geschichtliche Methoden, um beispielsweise die ursprüngliche Form des römischen Rechts freizulegen und seine Veränderungen und Entwicklungen aufzuzeigen. 7


Diese Suche nach den unverfälschten Wurzeln wendeten die Reformatoren auf die Bibel an. Sie übersetzten sie und wagten neue Auslegungen. Gut vernetzte Vordenker Die humanistisch geprägten Reformatoren waren in ganz Europa gut vernetzt und kannten sich gegenseitig. Guillaume Farel (1489–1565) beispielsweise – er konnte Calvin dazu bewegen, in Genf zu bleiben (u Fokus: Calvin und Genf, S. 17) – war in Frankreich zusammen mit dem Theologen und Universalgelehrten Jacques Lefèvre d’Étaples Mitglied des sogenannten Cénacle de Meaux. Lefèvre d’Étaples gab eine französische Übersetzung des Neuen Testaments heraus und stand in der Rechtfertigungslehre Luther nahe. Er hatte sich mehrere Jahre in Florenz aufgehalten, wo er bedeutende italienische Humanisten kennen lernte. Nicht alle Reformgesinnten waren allerdings bereit, gleich weit zu gehen. Nachdem die konservative Pariser Universität scharf gegen Luther Stellung bezogen hatte, spaltete sich die Gruppe – Farel und Lefèvre d’Étaples gingen nach Strassburg; anschliessend zog Farel weiter nach Genf. Er beendete seine Karriere als Reformator von Neuenburg.

8


Calvins Theologie – Gnade und Geheimnis Gott ist herrlich. Diese Herrlichkeit Gottes leuchtet für Calvin in der Schöpfung auf, in den Menschen, in der Natur. Sie ist ein Kunstwerk, dem wir mit Staunen und Ehrfurcht begegnen sollen. «Wohin man die Augen blicken lässt, es ist ringsum kein Teilchen der Welt, in dem nicht zumindest irgendwelche Fünklein seiner Herrlichkeit zu sehen wären», schreibt er in der Institutio (I,5,1). Gnade, Rechtfertigung und Heiligung Gott ist bedingungslose Liebe. Aus der Gemeinschaft mit Christus erwächst dem Menschen ein zweifaches Geschenk: die Gnade der Rechtfertigung und die Gnade der Heiligung. Der Mensch ist in seiner ganzen Sündhaftigkeit bedingungslos angenommen (gerechtfertigt) und kann das Heil nicht durch eigene Werke verdienen. Durch den Glauben, die rückhaltlose Ausrichtung des Tuns am in der Bibel beschriebenen Weg Jesu Christi und mit der Hilfe des Heiligen Geistes wird der Mensch mehr und mehr wie Christus selbst – er wird geheiligt (u Calvins Ethik, S. 15). «Denn durch die Gnade seid ihr gerettet aufgrund des Glaubens, und zwar nicht aus euch selbst, nein, Gottes Gabe ist es: nicht durch eigenes Tun, damit niemand sich rühmen kann. Denn sein Gebilde sind wir, geschaffen in Jesus Christus zu einem Leben voller guter Taten, die Gott schon bereitgestellt hat» (Paulus im Epheserbrief 2,8–10). Trost in unsicheren Zeiten Mit der Reformation verloren die Menschen jahrhundertealte geistige Gewissheiten und oft auch ihre Heimat, denn im Lauf der Auseinandersetzungen zwischen den entstehenden Konfessionen wurden viele Menschen zur Flucht gezwungen. Calvin war sowohl Theologe als auch Seelsorger: Er wollte den Menschen dabei helfen, neuen Halt im Glauben zu finden. Für Calvin sind die Menschen in Gottes Hand aufgehoben – alles entspringt Gottes Vorsehung, nichts geschieht ohne Seinen Willen, auch nicht das Schlechte (u Fokus: Prädestination, S. 13). 9


Zentrale Bedeutung des Heiligen Geistes Da Jesus Christus zur Rechten Gottes im Himmel sitzt, vermittelt er in Gestalt des Heiligen Geistes zwischen Gott und den Menschen. Der Heilige Geist spielt für Calvin eine zentrale Rolle beim Verständnis der Worte Gottes in der Bibel. Calvin meinte: Man kann disputieren und Beweise für die Glaubwürdigkeit der Schrift aufführen, so lange man will – schliesslich muss man daran glauben. Und nur der Heilige Geist kann diesen Glauben schaffen: «Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist» (Institutio I,7,4). Calvin und die Bibel Die Bibel war für Calvin der «Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet», die «Schule Gottes». Im Unterschied zu Luther waren für Calvin beide Bibelteile gleichermassen durch den Heiligen Geist inspiriert, weshalb er dem Alten Testament mehr Bedeutung beimass als die anderen Reformatoren. Calvin legte die Bibel mit allen Methoden aus, die zu seiner Zeit modern waren. Er verwahrte sich gegen die damals weit verbreitete theologische Spekulation und beharrte darauf, dass die Suche nach einer subtileren, geistlichen Bedeutung hinter den Bibeltexten falsch sei. Er wollte Wort und Text zusammenhalten, interpretierte die Texte allerdings vor dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung (u Calvins Erben, S. 33).

Eigenhändige Unterschrift Calvins (22. Dezember 1559), Musée Calvin in Noyon.

10


Die vier Grundwahrheiten der Reformation

Calvins Theologie – Gnade und Geheimnis

FO KUS

Die Reformation wollte die Menschen von der Bevormundung durch die römische Kirchenhierarchie befreien. Die Gläubigen sollten die Rechtfertigung und Versöhnung mit Gott, die Erneuerung ihres Lebens nicht mehr mit der Teilnahme an der Messe, durch den Kauf von Ablässen und durch das Verrichten von guten Werken erreichen. Dabei waren die grossen Reformatoren zwar in Theologie, Frömmigkeitspraxis, christlicher Ethik und politischer Grundhaltung nicht in allem einer Meinung, doch sie waren alle davon überzeugt, dass die Gläubigen das Heil durch das vierfache «Allein» erlangen. 1. solus Christus – allein durch Christus Allein Christus erwirkt durch sein Heilswerk die Erlösung des sündigen Menschen, andere Heilsvermittler (Priester, Heilige) sind unnötig. 2. sola gratia – allein durch die Gnade Gottes Allein durch Gnade wird der Mensch bedingungslos von Gott angenommen und gerecht gesprochen. 3. sola fide – allein durch den Glauben Allein durch Gott, an den wir glauben, in der vollkommenen Hinwendung zu Gott, werden wir angenommen. Gute Werke und Vorleistungen sind dazu nicht nötig, sondern werden aufgrund des Glaubens getan. 4. sola scriptura – allein durch die Bibel Allein die Schrift ist der Massstab der Verkündigung, der Lehre und Praxis der Kirche. Weder kirchliche Tradition und Lehramt noch menschliche Vernunft können neben der Bibel Geltung beanspruchen. Die Kirche muss sich immer wieder selbst kritisch an der Bibel messen, sie ist eine reformierte und sich durch neues Hören auf die Schrift ständig reformierende Kirche.

11


Der Garten der Lüste, Hieronymus Bosch (~1450– 1516) (Ausschnitt).

12


Prädestination

Calvins Theologie – Gnade und Geheimnis

FO KUS

Gott hat im Voraus bestimmt, welche Menschen in Christus das Heil erlangen und welche verloren gehen. Diese sogenannte «Lehre von der doppelten Prädestination» ist eine der bekanntesten – und umstrittensten – Hinterlassenschaften Calvins und einer der Gründe, warum viele Menschen nicht gut auf ihn zu sprechen sind. Eine alte Lehre Die Prädestinationslehre stammt nicht von Calvin, sondern geht auf den Theologen Augustinus (†430) zurück, der sich wiederum auf den Römerbrief von Paulus berief (8,30; 9,15–18). Augustinus hatte eine Antwort gesucht auf die Frage, weshalb einigen Menschen die Augen für den christlichen Glauben geöffnet wurden, anderen aber nicht. Auch Luther und Zwingli beschäftigten sich mit der Prädestination. Die Lutheraner verwarfen die doppelte Prädestination allerdings 1577 in der Konkordienformel und Zwingli vertrat sie nur in abgeschwächter Form. Erwählung und ökonomischer Erfolg Die Erwählungslehre stellt die Menschen vor ein grundlegendes Problem: Wie soll man sicher sein, dass man zu den Erwählten und nicht zu den Verdammten gehört? Als Antwort auf diese Verunsicherung begannen Calvins Nachfolger zu behaupten, dass man die Erwählten an ihrem wirtschaftlichen Erfolg erkennen könne (u Calvins Erben, S. 33). Gleichzeitig trug diese Behauptung eine Abwertung der Armen in sich. Offenbar waren die Armen arm, weil sie von Gott verdammt waren, Gott hatte ihre Armut also gewollt. Halt für Glaubensflüchtlinge Eine solche Verachtung der Armen entspricht nicht dem Geist der Bibel und auch Calvin interpretierte die Prädestinationslehre positiv. Für Calvin zeigt sich die Erwählung nicht am Erfolg, sondern im Glauben. Christus und nicht weltlicher Reichtum ist der Spiegel der Erwählung. Calvin wollte mit der Prädestinationslehre den angefochtenen Glaubensflüchtlingen Sicherheit geben und sie trösten: «Haltet durch! Euch kann nichts geschehen, was Gott nicht gewollt hat, denn der Mensch kann den Plan Gottes nicht durchschauen. 13


Auch Leid, Tod und die Schwachheit der Menschen angesichts von Folter und Verfolgung haben einen verborgenen Sinn.» Die Lehre der Prädestination kann aber auch als Ausdruck des Staunens und der Dankbarkeit für das Geschenk des Glaubens gesehen werden: «Ich darf dazu gehören, das ist ganz und gar nicht mein Verdienst, sondern der Wille Gottes!» «Die er aber vorherbestimmt hat, hat er auch berufen; die er aber berufen hat, hat er auch gerechtfertigt; und die er gerechtfertigt hat, hat er auch verherrlicht» (Römer 8,30).

Internationales Reformationsmuseum, Genf.

14


Calvins Ethik Ein hagerer, verhärmter Apostel der Lust- und Leibfeindlichkeit – dieses Bild von Calvin ist weit verbreitet. Ganz unschuldig ist Calvin an diesem Ruf nicht, denn er führte in Genf einen vehementen moralischen Feldzug gegen Ausschweifung und Sünde. Lebensfreude mit Mass In der Institutio ist über den Gebrauch der Dinge dieser Welt aber zu lesen, dass «Elfenbein, Gold und Reichtümer gute Geschöpfe Gottes» und den Menschen von Gott geschenkt worden seien. Auch sei es nirgendwo untersagt, «zu lachen oder sich zu sättigen [...] oder sich am Klang der Musik zu erfreuen oder Wein zu trinken». Geniessen ja, meinte Calvin, aber in Massen. Die Menschen sollten «die unmässige Gier, die masslose Vergeudung, die Eitelkeit und Anmassung fahren lassen und mit reinem Gewissen Gottes Gaben rein anwenden» (Institutio III,19,9). Heilsgewissheit und Freiheit Eine Grundspannung prägte die ganze Reformation: Die protestantische Theologie wollte den Menschen die Angst nehmen und Heilsgewissheit vermitteln. Die Menschen sollten sich des Heils nicht immer wieder durch eigene Leistungen und durch Ablässe versichern müssen. Aber: Wenn die Menschen ohnehin gerettet (oder verdammt) sind, dann haben sie keinen Grund mehr, sich anzustrengen. Wenn alles in Gottes Hand liegt, kann der Mensch nur noch fatalistisch werden. So sah das Calvin aber nicht. Für ihn hatte ein sittliches, an den Geboten Gottes ausgerichtetes Leben nichts mit Zwang zu tun, sondern war eine natürliche Folge der Liebe und des Vertrauens der Menschen zum gnädigen Gott. Es ging also nicht darum, nichts mehr zu tun, sondern um die Motivation: Die Menschen sollten freiwillig, aus Liebe und nicht getrieben von Angst gute Werke tun. Gesetz und Tugend Man kann Calvins ganze Ethik als Ethik der Dankbarkeit zusammenfassen. Weil Gott die Menschen gerechtfertigt und ihnen ein neues Leben geschenkt hat, sollen sie ihn ehren und die biblischen 15


Gebote einhalten. Sie sollen vollkommen verantwortlich handeln, als ob alles von ihnen selbst abhinge, wohl wissend, dass letztlich alles in Gottes Hand ist. Sie werden nicht durch ihre Werke erlöst, aber es ist wie bei einem Baum: Die Qualität der Früchte verweist auf die Beschaffenheit des Baums. Verantwortung und Gerechtigkeit Das Heilsversprechen Gottes führt also zu einer Verantwortung der Menschen. Die Menschen sind aber nicht nur für sich selbst verantwortlich, sondern auch für ein gerechtes soziales und politisches Leben. Kein zweiter Reformator hat in seinen Predigten mit vergleichbarer Entschlossenheit in Wirtschaft und Politik eingegriffen. Ob Calvin für den rechtmässigen Gebrauch der Gaben der Schöpfung oder für einen auch für arme Menschen zumutbaren Zins eintrat, ob er für die Gleichheit aller vor dem Gesetz oder für die Einschränkung königlicher Willkürherrschaft kämpfte – immer bezog er sich auf das Leben Jesu Christi, das ihm, neben dem Gesetz, als Massstab für gerechtes Handeln galt.

16


Calvin und Genf

Calvins Ethik

Runde Uhr, achtlappig, Anfang 17. Jh., Uhrwerk signiert Martin Duboule, Genf. Zifferblatt in Silber, an einer Uhrplatte aus vergoldetem Messing, verziert mit feinem Laubwerk, in dem sich zwei Kinder, ein Vogel und eine Maske verbergen; geschaffen im Stil der Entwürfe von Ornamentmalern wie Antoine Jacquard. Im Zentrum des Zifferblatts eine Ansicht der Kathedrale SaintPierre in Genf. Quelle: MIH, La Chaux-de-Fonds.

FO KUS

Johannes Calvin kam 1536 zu einem entscheidenden Zeitpunkt nach Genf: Ein Jahr zuvor hatten die Genfer die Reformation angenommen und nach langjährigen Kämpfen den Bischof verjagt. Dies war möglich geworden durch ihr Bündnis mit den erstarkenden Eidgenossen. Genf wurde eine selbstregierte Stadtrepublik. Genf – Strassburg – Genf Als der protestantische Prediger Guillaume Farel hörte, dass der Verfasser der Institutio in Genf weilt, tat er alles, um ihn zum Bleiben zu bewegen. Denn mit einem Schlag mussten in Genf die weltliche Macht und das geistliche Leben neu geordnet werden. Calvin blieb, aber es kam schnell zum Konflikt über die Kompetenzen von weltlicher und kirchlicher Autorität. Calvin wurde zusammen mit Farel aus Genf vertrieben und verbrachte drei Jahre in Strassburg. 1541 flehte ihn der Genfer Rat an, zurückzukommen. Innerhalb der Stadtregierung hatten sich die Machtverhältnisse verschoben und niemand anders war fähig, auf ein Pamphlet von Bischof Sadoleto zu antworten, das die Genfer zur Rückkehr zum alten Glauben aufforderte. Bis zu seinem Tod 1564 setzte Calvin alles daran, aus Genf eine Modellgemeinschaft von gottesfürchtigen, sittsamen Menschen zu formen, welche durch ihr leuchtendes Vorbild zur Verbreitung des reformierten Glaubens beitragen sollten. Mittels Predigt, strenger Kirchenzucht und neuen Gesetzen reformierte er Genfs kirchliche Institutionen und das Verhalten der Bürger. Zufluchtsort für Flüchtlinge 1555 rebellierte eine Gruppe von Genfern. Sie wehrten sich gegen das strenge Sittenregime und die zahlreichen Fremden in der Stadt – zeitweise machten die Glaubensflüchtlinge die Hälfte der Stadtbevölkerung aus. Die Aufständischen unterlagen und vier von ihnen wurden hingerichtet. Die Flüchtlinge brachten aber vor allem positive Impulse. Unter ihnen waren wohlhabende italienische Kaufleute und geschickte französische Handwerker, welche die Textil-, Druckerei- und Uhrengewerbe aufbauten, die in den folgenden Generationen den Wohlstand der Stadt ausmachen sollten. In weniger als drei Jahrzehnten hatte 17


sich Genf von einer unbedeutenden Provinzstadt in das wirtschaftlich florierende Zentrum der am raschesten wachsenden religiösen Bewegung Europas verwandelt. Verderbte Nation oder perfekte Schule Christi? Am Ende seines Lebens scheint es allerdings, als sei Calvin an den Genfern verzweifelt. Noch auf seinem Sterbebett bezeichnet er die Genfer als eine «verderbte und unglückliche Nation». Dabei hatte er einiges erreicht: Die Zahl der illegitimen und vorehelichen Geburten bewegten sich auf dem tiefsten Stand, der je in Europa erfasst wurde. Fromme Besucher waren bezaubert vom Verhalten der Genfer. Der schottische Reformator John Knox nannte das neue Genf «die perfekteste Schule Christi seit den Tagen der Apostel». Auch an anderen Orten werde Christus wahrhaft verkündet, doch Verhalten und Religion seien an keinem anderen Ort so ernsthaft erneuert worden wie in Genf.

Calvin nimmt Abschied vom Genfer Bürgermeister, Joseph Hornung, um 1831. © Musée historique de la Réformation, Genf.

18


Calvin und die Kirche – Mutter der Gläubigen Wie sah der Jurist Calvin die Kirche? Zum einen war sie für ihn nicht mehr und nicht weniger als ein Hilfsmittel, das Gott benutzt, um Menschen durch die Verkündigung des Evangeliums und durch die Sakramente zu Christus zu führen. Zum anderen konnte Calvin aber auch liebevolle Töne anstimmen, wenn er etwa die Kirche als Mutter aller Gläubigen bezeichnete. Sichtbares Wesen der Kirche Calvin war klar, dass zwar Gott der Ursprung der Kirche ist, dass aber die Menschen diese Kirche gestalten mussten. Das unsichtbare Wesen der Kirche sollte im kirchlichen Leben sichtbar werden. Deshalb verwandte er viel Energie auf die Organisation der Kirche. Im Verlaufe seines Wirkens ist das vierte Buch seiner Institutio «Über die äusseren Mittel oder Hilfen, mit denen Gott uns zur Gemeinschaft mit Christus einlädt und erhält» stark angewachsen. Vier Dienste Für Calvin war das Haupt der Kirche Jesus Christus. Er leitet seine Kirche mittels Vertretern, die vier verschiedene Dienste verrichteten: Pfarrer (pasteurs), Lehrer (docteurs), Diakone (diacres) und Älteste (anciens). Calvin war insofern modern, als er das kirchliche Amt nicht von vornherein auf das Pfarramt zuspitzte – vielfältige Aufgaben erforderten eine Vielfalt an Diensten. Mit dem Dienst der Ältesten räumte Calvin auch Menschen ohne theologische Ausbildung eine wichtige Rolle in der geistlichen Leitung der Kirche ein: Sie waren zusammen mit den Pfarrern für die Kirchenzucht verantwortlich, für die seelsorgerliche Ermahnung von Gemeindegliedern, die mit ihrem Lebenswandel öffentlich für Ärgernis sorgten. Daraus ist später der Dienst der Kirchenpflege, auch Kirchenvorsteherschaft oder Kirchgemeinderat genannt, erwachsen (u Fokus: Calvin und die Demokratie, S. 31). Gottesdienst mit allen Sinnen Das Zentrum des kirchlichen Lebens war für Calvin die Versammlung derer, die sich zu Christus beken19


nen – der Gottesdienst. Hier wird Kirche, hier werden ihre Mitglieder erbaut. «Wir müssen nämlich zuerst in Christus eingeleibt sein, damit wir unter uns geeint sein können» (Kommentar zum 1. Korintherbrief 10,16). Die Teilnehmenden hören im Gottesdienst nicht nur das Wort in der Predigt, sie singen auch die Psalmen und erhalten im Abendmahl durch Brot und Wein Anteil an der Gegenwart Christi. Für Calvin hatte auch die Musik im Gottesdienst einen grossen Stellenwert, was so gar nicht zum sinnesfeindlichen Calvin-Bild passt. Die Musik war für ihn eine Gottesgabe, die den Menschen Erholung und Genuss verschafft, die Herzen der Menschen bewegt und zum Gotteslob entflammt. Der Genfer Psalter, eine Vertonung aller 150 Psalmen, ist einer der wichtigsten kulturellen Schätze, die Calvin hinterlassen hat.

Universitätschor Lausanne. © P Blotti.

Zehn Ozeane für die Einheit der Kirche Die Einheit der Kirche lag Calvin sehr am Herzen. Wie wichtig ihm diese Einheit war, zeigt sein Ausspruch, dass er zehn Ozeane überqueren würde, um die Einheit der Kirche zu sichern. Er war deshalb auch bereit, unterschiedliche Auffassungen zu dulden. Im Zusammenhang mit dem Abendmahlsstreit (u Fokus: der Streit um das Abendmahl, S. 21) schrieb er an Bullinger: «Obwohl mir nun eine innigere Gemeinschaft mit Christus im Sakrament, als du sie in deinen Worten ausdrückst, feste Überzeugung ist, so wollen wir deswegen nicht aufhören, denselben Christus zu haben und in ihm eins zu sein. Vielleicht wird es uns doch einmal gegeben, uns zu vollständigerer Übereinstimmung zusammenzufinden» (CO 14,314). 20


Der Streit um das Abendmahl

Calvin und die Kirche – Mutter der Gläubigen

FO KUS

Der Streit um das Abendmahl war die bedeutendste innerreformatorische Auseinandersetzung überhaupt. Martin Luther und Huldrych Zwingli vertraten verschiedene Auffassungen vom Abendmahl, die sich auch am Marburger Religionsgespräch von 1529 nicht zusammenbringen liessen. Johannes Calvin war besorgt über diese Kluft. Er hoffte, mit seiner Auslegung eine Versöhnung der beiden Positionen herbeiführen zu können – vergeblich. Calvin konnte sich zwar 1549 mit Heinrich Bullinger, dem Nachfolger von Zwingli, im «Consensus Tigurinus» einigen, doch löste dies 1552 den zweiten Abendmahlsstreit mit den Lutheranern aus. Neben dem Luthertum entstand ein eigenständiger evangelischer Kirchentyp – die Reformierten. Wie ist Christus unter uns präsent? Der Streit wurde sehr leidenschaftlich ausgefochten, weil er eine Kernfrage des Glaubens berührte: Wie lassen sich Göttlichkeit und Menschlichkeit Christi denken? Martin Luther blieb mit seiner Interpretation des Abendmahls näher bei der römisch-katholischen Auslegung. Für ihn war Christus in Brot und Wein real präsent – mit dem Abendmahl verleiben sich die Gläubigen also Jesus Christus ein. Für Huldrych Zwingli konnte Christus jedoch nicht leiblich im Abendmahl anwesend sein, weil seine menschliche Natur zur Rechten des Vaters im Himmel sitzt. Das Abendmahl war für Zwingli deshalb lediglich eine Erinnerung an den Opfertod von Jesus Christus. Die Zürcher Übereinkunft Der «Consensus Tigurinus» war ein Kompromiss. Calvin musste seine ursprüngliche Auffassung, dass Jesus Christus zwar nicht leiblich, aber durch den Heiligen Geist im Abendmahl gegenwärtig sei, etwas abschwächen. Der «Consensus» hielt fest, dass der Heilige Geist die Gläubigen im Abendmahl in Gemeinschaft mit Christus bringt.

21


Institutio Christianae religionis nunc uere demum suo titulo respondens. Strassburg: Vuendelinus Rihelius, M채rz 1545.

Mauer der Reformatoren, Genf.

22


Calvin – ein Theokrat?

Welche Rolle nahm Calvin in der Genfer Stadtrepublik ein? War er der religiöse Tyrann, als der er manchmal beschrieben wird? Getrennte Machtbereiche Die evangelischen Kirchen der Reformationszeit kannten zwei Modelle des Verhältnisses von Kirche und Staat: Entweder lehnten sie sich so stark an den Staat an, dass der Fürst (oder die städtischen Obrigkeiten wie in Bern und Zürich) praktisch das Oberhaupt der Kirche war, oder sie verzichteten demonstrativ auf jegliche Einbindung in ein politisches System. Calvins Position stand dazwischen: Zum einen achtete er sehr auf die Unabhängigkeit der Kirche in ihren eigenen Angelegenheiten. Zum anderen verstand er den Staat als Schutzmacht der Kirche. Der Staat sollte die reformierte Kirche bei der Erfüllung ihres Auftrages unterstützen, indem er sie schützt und die Häretiker bekämpft (u Fokus: Der Fall Michel Servet, S. 25). Soweit die Theorie – und wie verhielt sich Calvin in Genf? Nach der Niederschlagung des Aufstands von 1555 (u Fokus: Calvin und Genf, S. 17) hatte Calvin in Genf keinen Widerstand mehr zu befürchten. Trotzdem machte er sich nicht zu einem Bischof und übte keine weltliche Macht aus, sondern war nie mehr als der Vorsitzende des Pastorenkollegiums. Genf wurde also nie zur Theokratie, die Behörden konsultierten die Pfarrerschaft in wichtigen Fragen, wahrten aber akribisch ihren eigenen Kompetenzkreis.

23


Michel Servet (1511–1553).

Johannes Calvin, szenische Nachbildung 2008.

24


Der Fall Michel Servet

Calvin – ein Theokrat?

FO KUS

Auch die Genfer Reformation forderte ihre Opfer. Das bekannteste unter ihnen ist Michel Servet, der 1553 als Ketzer verbrannt wurde. Was war geschehen? Der Arzt, Geograf und Theologe Michel Servet wandte sich in verschiedenen Veröffentlichungen anonym gegen die Trinitätslehre. Jesus Christus war für ihn nicht der ewige Sohn Gottes, sondern das Wort, das aus Gott fliesst. Er versuchte erfolglos, Calvin und andere Reformatoren von seiner Lehre zu überzeugen. Nachdem er 1553 in Frankreich von einem bischöflichen Gericht angeklagt und zum Tod verurteilt worden war, flüchtete er nach Genf, wo er ebenfalls festgenommen wurde. Er bat, in Genf vor Gericht erscheinen zu dürfen. Das weltliche Gericht holte bei Calvin sowie in Zürich, Basel und Bern Gutachten ein. Alle befürworteten die Todesstrafe und Servet wurde noch im selben Jahr hingerichtet. Es ist nicht zu leugnen: Calvin trug wesentlich zum Tod Servets bei. Der Hinweis, durch den Servet als Verfasser aufgedeckt wurde, kam aus Genf und Servets Briefe an Calvin dienten im Prozess als Beweismaterial. Und es war Calvin, der Servet in Genf verhaften liess. Gerechterweise muss man den Fall vor dem Zeithintergrund betrachten. Die Rechtslage war eindeutig: Auf die Leugnung der Trinitätslehre stand die Todesstrafe. Servet wäre wohl in jeder Stadt Europas hingerichtet worden. Genf war bereits in ganz Europa als Zufluchtsort der gefährlichsten Häretiker in Verruf geraten, was die Stadtregierung sehr besorgte. Und Calvin selbst war gerade derart politisch unter Druck, dass er fürchtete, wieder ausreisen zu müssen. Er sah die Reformation in elementarer Weise gefährdet und tat alles, um ihr Scheitern zu verhindern.

25


Adlernebel.

26


Calvin – Vater der Moderne?

Kritische Weltzugewandtheit Viele Menschen – unter ihnen auch Martin Luther – waren im 16. Jahrhundert überzeugt, dass die Welt kurz vor ihrem Ende steht. Calvin nicht. Zusammen mit einer Ethik, die die Verantwortung des Menschen betonte, wurde eine kritische Weltzugewandtheit das hervorstechende Merkmal der Reformierten. Die calvinistische Arbeitsethik trug ein Übriges dazu bei, eine dynamische Beteiligung am wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben freizusetzen. Deshalb spielten die Reformierten bei der Gestaltung der neuzeitlichen westlichen Kultur eine unverhältnismässig grosse Rolle, selbst wenn sie in der Minderheit waren. Kapitalismus und Demokratie Calvins Werk ist sehr umfangreich und er hat sich sowohl über theologische als auch über weltliche Fragen Gedanken gemacht. Und obwohl sich aus Calvins Schriften sehr gegensätzliche Positionen ableiten lassen (u Calvins Erben, S. 33), lieferte er wichtige Impulse sowohl für die Ausgestaltung der neuen kapitalistischen Wirtschaftsform (u Fokus: Calvin und der Kapitalismus, S. 29) als auch für die sich später entwickelnde Demokratie (u Fokus: Calvin und die Demokratie, S. 31).

27


Calvins Stuhl in der Genfer Kathedrale.

1529 Zwingli und Luther beim Marburger Religionsgespr채ch.

28


Calvin und der Kapitalismus

Calvin – Vater der Moderne?

FO KUS

Wie bedeutend war Calvins Beitrag zur Entwicklung des Kapitalismus? Lange ging man davon aus, dass Calvins Beitrag gross gewesen war. Dies geht vor allem zurück auf Max Webers Werk «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» (1905/1920). Für Weber hatte die calvinistische Lebenseinstellung die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsweise stark begünstigt: Die Calvinisten sahen in der Arbeit einen wichtigen Wert, weil sie im wirtschaftlichen Erfolg einen Hinweis auf ihre Erwählung zu finden hofften (u Fokus: Prädestination, S. 13). Die Gewinne aus ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit verprassten sie nicht für Luxusgüter, sondern steckten sie in ihre Betriebe und pflegten einen betont einfachen Lebensstil. Keuschheit, Armut und Gehorsam – die Calvinisten haben, so Weber, die asketischen Lebensideale der Klöster in ihren weltlichen Alltag übertragen. Er nannte diese Lebenshaltung deshalb «innerweltliche Askese». Puritaner, Banken und Zins Es gibt allerdings einige gewichtige Argumente, die gegen Calvin als Vater des Kapitalismus sprechen. Zum einen hatte Calvin selbst ausdrücklich ausgeschlossen, dass man den eigenen Gnadenstand an seinem Besitz abschätzen kann (Kommentar zum 1. Thessalonicherbrief 2,9). Max Weber berief sich denn auch nicht auf Calvin, sondern auf spätere puritanische Zeugnisse aus dem 17. Jahrhundert (u Calvins Erben, S. 33). Zum anderen gab es Regionen – beispielsweise in Italien oder im Rheinland –, in denen eine kapitalistische Wirtschaft blühte, die aber nicht reformiert geprägt waren. Die Ursprünge des für den Kapitalismus notwendigen modernen Bankwesens liegen ebenfalls nicht im Calvinismus, sondern im katholischen Norditalien. In Bezug auf das Zinsnehmen zeigte Calvin allerdings eine pragmatische Haltung. Zur Zeit Calvins wurden in Genf Handwerk (Buchdruck, Goldschmiede) und Handel immer kapitalintensiver. Deshalb begannen die Händler und Handwerker, einander Geld gegen Zins zu leihen. Die mittelalterliche Kirche lehnte das Zinsnehmen als unchristlich ab und auch Luther verurteilte den Zins. 29


Calvin war einer der ersten Theologen, der das Geldleihen gegen Zins in einem sorgfältig abgewogenen Rahmen erlaubte. Er befürwortete aber keineswegs den gewinnorientierten Geldverleih und den Armen sollte man zu einem zumutbaren Zins Geld leihen. Eigentliche Banken konnten sich in Genf erst entwickeln, als die Pfarrerschaft im 17. Jahrhundert aufhörte, auf die Regulierung der Geldwirtschaft zu pochen. Orientierung an der Gemeinschaft Die protestantische Arbeitsethik reformierter Prägung kam der kapitalistischen Wirtschaftsform zwar entgegen, hatte aber zugleich von Anfang an ein kapitalismuskritisches Potential. Die calvinische Soziallehre hatte nämlich immer das Wohl des Gemeinwesens und nicht das materielle Glück des Einzelnen im Blick. Nächstenliebe und nicht Erwerbsstreben motivierte die reformierte Auffassung von Arbeit und Beruf und den Umgang mit Geld und Eigentum.

Calvindrier 2009. © Zep.

30


Calvin und die Demokratie

Calvin – Vater der Moderne?

FO KUS

«Nun steht aber fest, dass Gottes Gesetz, das wir das ‹sittliche› nennen, nicht anderes ist als [...] jenes Gewissen, das den Menschen von Gott ins Herz eingegraben ist [...]. Deshalb muss es auch allein Richtpunkt, Regel und Grenze für alle Gesetze sein» (Institutio IV,20,16). Calvin war kein Verfechter der Demokratie. Doch Calvins Denken öffnete Türen zur demokratischen Lebensform. Nicht Calvin selbst, sondern andere nach ihm setzten diese Lebensform dann um. Widerstandsrecht Was heisst Gehorsam gegen Gott für Kirchenmitglieder, die gleichzeitig Untertanen einer weltlichen Obrigkeit sind, der sie ebenfalls Gehorsam schulden? Mit dieser Frage war Calvin als Kirchenleiter in Genf direkt konfrontiert. Er kam zur Einsicht, dass alles Politische den göttlichen Gesetzen nachgeordnet sein muss. Man habe sich zwar den weltlichen Autoritäten zu unterwerfen – sogar wenn sie grausam und habgierig seien. Alles, was man tun könne, sei, die Hilfe des Herrn anzurufen, in dessen Hand die Herzen der Könige letzlich liegen. Gleichzeitig war für ihn klar, dass der Mensch Gott mehr zu gehorchen habe, als irgendwelchen menschlichen Autoritäten. Er gestand den Untertanen deshalb ein Recht auf Widerstand zu, wenn sie durch ihren Gehorsam gegen Gottes Gebote verstossen müssten. Calvin stellte damit die Autorität der Obrigkeit nicht in Abrede, relativierte sie aber. Das bedeutet, dass bei Calvin bereits die Idee eines Rechtsstaates, in welchem sich alle denselben Gesetzen beugen müssen – auch die Herrschenden – durchscheint. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Idee, dass alle vor dem Gesetz gleich sind. Gewaltenteilung Auch bei der Organisation der Kirche machte sich Calvin Gedanken über den richtigen Umgang mit der Macht. Bewusst konstruierte er die Kirchenleitung mit ihren unterschiedlichen Diensten und Räten so, dass keine Machtkonzentration auf Einzelne stattfinden konnte. Weil in seinen Augen alle Menschen grundsätzlich fehlbar sind, ist es 31


notwendig, dass sie sich gegenseitig kontrollieren, kritisieren und verbessern. Seine Kirchenordnung verweist also auf ein Regierungssystem, in welchem sich die Mächte gegenseitig überwachen und so im Gleichgewicht halten. Gewissen und Glaubensfreiheit Das Gewissen war für Calvin der innere Richterstuhl des Menschen. Allerdings sollte sich das Gewissen für Calvin nicht wie heute an individuellen Massstäben orientieren, sondern an den sittlichen Gesetzen Gottes. Gleichzeitig forderte Calvin die Glaubensfreiheit für diejenigen, die sich zur «wahren Religion» – dem reformierten Glauben – bekannten. Zu seinem grossen Zorn verlangte sein vormaliger Mitpastor Sébastien Castellion die Glaubensfreiheit für alle gerade auch im Zusammenhang mit dem Fall Michel Servet (u Fokus: Der Fall Michel Servet, S. 25). Für Calvin öffnete Castellions Haltung Tür und Tor für sämtliche Irrlehren, weil damit auch diejenigen geschützt würden, die das – seiner Ansicht nach – «Falsche» glauben. Trotzdem bildete sich mit der Betonung des Gewissens und der Glaubensfreiheit für die Reformierten eine kritisch-prüfende Haltung gegenüber den menschlichen Befehlen heraus, von der ein Widerstandsrecht abgeleitet werden konnte und die später den Toleranzgedanke unterstützte.

Der Garten der Lüste, Hieronymus Bosch (~1450–1516) (Ausschnitt).

32


Calvins Erben – Calvinisten, Hugenotten, Puritaner «Auf der einen Seite war er der Humanist, der die starren und leblosen Dogmen seiner Zeit kritisierte, der zu Flexibilität und Toleranz riet und der für eine Offenheit dem Mysterium gegenüber argumentierte. Auf der anderen Seite stand ein Mann, dem ein chaotisches Zeitalter ohne Ordnungsstrukturen Angst einjagte, ein Konservativer, der hart darum kämpfte, der ungeordneten Welt eine Ordnung aufzuerlegen.» Christopher Elwood Calvinistische Orthodoxie Nach Calvins Tod wurde der Calvinismus mehr und mehr zu einem geschlossenen theologischen Denksystem verdichtet. Es ist fraglich, ob Calvin mit diesen Entwicklungen einverstanden gewesen wäre. Er hatte immer versucht, auch die Herzen der Menschen zu erreichen – seine Nachfolger verliessen sich vermehrt auf die streng logische Argumentationsweise der Scholastik, von der sich Calvin einst abgewandt hatte. Auf der Synode von 1618–1619 in Dordrecht (Holland) wurde der Grundstein zum orthodoxen Calvinismus gelegt. Die Prädestinationslehre rückte ins Zentrum und die Vorstellung, dass die Menschen frei sind, um mit Gottes Gnade zu kooperieren, wurde aufgegeben. Liberale und fundamentalistische Theologie Calvins Erbe ist widersprüchlich. Einerseits sah sich Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der «Vater der modernen Theologie», als Nachkomme Calvins. Andererseits beriefen sich auch fundamentalistische theologische Strömungen auf ihn. Wie einst Calvin betonen die Fundamentalisten die Bedeutung der biblischen Gebote. Für sie ist aber die Heilige Schrift ohne Fehler und Irrtum, weshalb ihr wörtlich nachgelebt werden muss. Hugenotten «Hugenotten» war eine spöttische Bezeichnung für die französischen Calvinisten. Möglicherweise geht der Name auf das französische Wort «aignos» (Eidgenossen) zurück, das auf Genf verweist. 33


Es könnte aber auch der Genfer Freiheitskämpfer Besançon Hugues bei der Namensgebung Pate gestanden haben oder der Wortursprung liegt in der Bezeichnung «Huis Genooten» (Hausgenossen) für flämische Protestanten, die im Geheimen zusammen die Bibel lasen. 1562 begannen in Frankreich die Bürgerkriege zwischen den französischen Protestanten und der Krone (Hugenottenkriege). Sie erlebten einen traurigen Höhepunkt in der Bartholomäusnacht, einem landesweiten Massaker an Hugenotten, und endeten erst 1598 mit dem Edikt von Nantes, das den Hugenotten Glaubensfreiheit zusicherte. Das Edikt wurde allerdings 1685 widerrufen und es sollte weitere rund hundert Jahre dauern, bis das Toleranzedikt von Ludwig XVI. wieder Glaubensfreiheit herstellte. Die Puritaner Die Puritaner waren englische Calvinisten, denen die Anglikanische Kirche zu römisch-katholisch und zu wenig reformiert war. Sie wurden zeitweise zu einer starken politischen Kraft in England, konnten sich aber nicht lange an der Regierung halten. Viele Puritaner wanderten zu Beginn des 17. Jahrhunderts in die Neue Welt aus und siedelten vor allem in Neuengland. Dort zersplitterte der Puritanismus mit der Zeit in verschiedene Denominationen (Presbyterianer, Kongregationalisten etc.). Die Puritaner machten etwa ein Drittel der Siedler in ihrer neuen Heimat aus, hatten aber beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung von Politik, Universitäten und nationalem Selbstverständnis der USA. Das Gefühl, eine erwählte Nation zu sein, die der Welt als Vorbild dienen soll, der nüchterne Pragmatismus und die weitverbreitete christliche Frömmigkeit, die sich in den Dienst des Gemeinwohls stellt, spiegeln puritanischcalvinistische Wurzeln.

34


Vorplatz der Kathedrale Saint-Pierre, Genf.

35


Zeittafel der Reformation / Calvin: Lebenslauf in Kürze 1176

Beginn der Waldenser-Bewegung (Armenspeisung durch Pierre Valdès)

1330–1384

John Wyclif – englischer Reformer

1347–1352

Grosse Pestepidemie in Europa (Schwarzer Tod)

1368

Beginn der Observanzbewegung (Franziskanerorden spaltet sich)

1378–1417

Grosses Schisma (zwei Päpste; einer in Rom und einer in Avignon)

1509

10. Juli: Geburt in Noyon (Picardie)

1517

Luthers Thesenanschlag in Wittenberg – Beginn der Reformation

1520

Das Edikt von Worms verurteilt Luthers Lehre

1525

Bauernkrieg/Entstehung des Täufertums/Streit zwischen dem Humanisten Erasmus von Rotterdam und dem Reformator Martin Luther über die Willensfreiheit

1528

Studium der Jurisprudenz in Orléans

1529

Marburger Religionsgespräch – Luther und Zwingli können sich in der Abendmahlsfrage nicht einigen

1530

Augsburger Bekenntnis

1531

Huldrych Zwingli stirbt im zweiten Kappelerkrieg

1533

Abkehr von der Römisch-katholischen Kirche

1534

Plakataffäre in Frankreich – Verfolgung der Protestanten; erste Flüchtlingswelle

1534

Gründung der Anglikanischen Kirche (Englische Kirche sagt sich von Rom los)

1535

Flucht aus Frankreich; Aufenthalte in Basel und Ferrara

1536

Wittenberger Konkordie des Luthertums; Erstes Helvetisches Bekenntnis von Zwingli

1536

Erste Auflage des Werkes «Unterricht der christlichen Religion» (Institutio Christianae Religionis)

1536

Erste Tätigkeit als Pfarrer in Genf

1538

Ausweisung aus Genf nach einem Streit mit dem Stadtrat um die Kompetenzen von Staat und Kirche 36


1538

Pfarrer der französischen Flüchtlingsgemeinde in Strassburg

1540

Heirat mit Idelette de Bure

1541

Beginn der zweiten Tätigkeit als Pfarrer in Genf

1541

Ordonnances ecclésiastiques (Kirchenordnung)

1545–1563

Konzil von Trient

1546

Martin Luther stirbt

1546/47

Schmalkaldischer Krieg – Niederlage der protestantischen Fürsten

1547

Beginn der Gegenreformation

1548

Erneute Verfolgung der Protestanten in Frankreich; zweite Flüchtlingswelle

1549

Consensus Tigurinus

1549

Idelette de Bure stirbt

1555

Augsburger Religionsfrieden unter Ausschluss der Reformierten. Grundprinzip: Die Fürsten wählen die Religion ihres Territoriums (cuius regio eius religio)

1559

Erste geheime Nationalsynode der französischen Protestanten «Confession de Foy» (Confessio Gallicana)

1559

Gründung der Académie (Hochschule), endgültige Fassung der Institutio

1562–1598

Hugenottenkriege in Frankreich

1564

27. Mai: Calvin stirbt nach jahrelanger Krankheit in Genf. Um einen Gedenkkult zu vermeiden wird er wunschgemäss ohne Pomp in einem nicht gekennzeichneten Grab beigesetzt

1566

Zweites Helvetisches Bekenntnis von Heinrich Bullinger

1572

Bartholomäusnacht – Massaker an Hugenotten in Paris und anderen französischen Städten

1598

Edikt von Nantes – Glaubensfreiheit für Hugenotten (1685 widerrufen)

1618–1619

Synode von Dordrecht

Vorreformatorische Zeit Dauer des Konzils von Trient Dauer der Hugenottenkriege

37


38


>nützliche Adressen

Internationales Portal in vier Sprachen www.calvin09.org calvin09 in der Schweiz SEK-FEPS Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund Sulgenauweg 26 Postfach CH-3000 Bern 23 T +41 (0)31 370 25 25 www.sek.ch info@sek.ch

© Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK-FEPS, 2009 www.calvin09.org Verantwortlicher Redaktor: Simon Weber Text «Johannes Calvin in Kürze» Monica Jeggli Photokredit: MIH, La Chaux-de-Fonds. P. Bohrer. Fotolia. L.Donner. MIR, Genf. P. Blotti. LIFE. Zep. Gestaltung: adequa.ch

39


Johannes Calvin, Mauer der Reformatoren, Parc des Bastions, Genf.


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.