bulletin calvin09 (deutsch)

Page 1

b

bulletin sek·feps

2 | 2009

Eine Publikation des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes

Sonderausgabe «calvin09»


EDITORIAL

Liebe Leserinnen Liebe Leser IMPRESSUM Beilage zur «Reformierten Presse» Nr. 22/2009 bulletin sek • feps Offizielles Informationsorgan des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes Postfach, CH-3000 Bern 23 Telefon 031 370 25 01 Fax 031 370 25 80 info@sek.ch, www.sek.ch Erscheinungsweise 4-mal jährlich Auflage 6000 deutsch 3000 französisch 1500 englisch Redaktion Matthias Herren, Monika von Grünigen, Simon Weber Übersetzungen Hartmut Lucke Elisabeth Mainberger-Ruh Esther Rubio Korrektorat Elisabeth Mainberger-Ruh Gestaltung / Produktion www.medienpark.ch Bilder medienpark, Zürich Umschlag Adequa Communication, Laurent Donner Druck Schläfli & Maurer AG Autoren dieser Ausgabe Gustàv Bölcskei, Leopoldo CervantesOrtiz, Meehyun Chung, Jean-Arnold de Clermont, Achim Detmers, Serge Fornerod, Pawel Gajewski, Eduardo Galasso Faria, Matthias Herren, Sheilagh Kesting, Joseph D. Small, Dirkie Smit, Douwe Visser, Aiming Wang

Von Australien bis Simbabwe: In zwölf Etappen führt Sie diese Sondernummer zu Kirchen, die ihr reformatorisches Selbstverständnis von Johannes Calvin herleiten. Das ist Calvin global: In Kuba soll zu Ehren Calvins eine Büste errichtet werden; in Australien wird die auf www.calvin09.org angebotene Mini-Expo für Gemeinden übersetzt und angepasst; in China ist Calvin Anlass für eine vorsichtige Annäherung zwischen der protestantischen Kirche auf dem Festland und den Presbyterianern auf Taiwan; im Karpatenbecken wird mit Calvin die Zusammengehörigkeit der ungarischsprachigen reformierten Kirchen gefeiert; in Deutschland lädt sich Calvin zu den in wenigen Jahren stattfindenden Luther-Feiern ein; in den Niederlanden und in Frankreich (wer hätte es gedacht?) drängen sich die Staatsoberhäupter, um der Figur des grossen Intellektuellen und Reformators die Ehre zu erweisen; in der Schweiz schliesslich wird die Frage des Glaubensbekenntnisses in den Mitgliedkirchen des SEK erneut in die Tagesordnung aufgenommen. Die – erfreuliche – Feststellung drängt sich auf: Die Bedeutung Calvins und seines Werkes hat den französisch-schweizerischen Rahmen endgültig hinter sich gelassen und erreicht weltweite Dimensionen. Das Jubiläum calvin09 zeigt auch auf lokaler Ebene in der Schweiz erstaunliche Wirkung: In den Kirchgemeinden und in der Seelsorge, in den Fakultäten und in der Presse wird Calvins Denken wiederentdeckt. Dieses Denken bietet einen Zugang zum Verständnis der modernen Welt und Anstösse zur Auseinandersetzung mit dem Leben und der Berufung der

Kirche heute. Im multireligiösen Supermarkt der Gegenwart und angesichts des weichen und unscharfen Konsenses der Kirchen über Glaubensinhalte bietet die Einfachheit und Klarheit des calvinischen theologischen Profils unseren Kirchgemeinden Wegzehrungen an und weist sie auf vergessene, unbekannte oder verlorengegangene Quellen hin. Nein, Calvins Platz ist nicht im Museum. In der Kultur- und Medienwelt, in Thinktanks und Finanzkreisen ist der 500. Geburtstag Johannes Calvins Anlass, unsere Lebensgewissheiten, unser schöpferisches Potential und unsere grosse Verantwortung zu reflektieren. Also «Calvin gegen die Calvinisten!». Nieder mit den Miesmachern! Calvins Erbe ist voller Widersprüche und auch die Schattenseiten fehlen nicht. Niemand bestreitet dies und es ist auch nicht erstaunlich. Und dennoch: Trotz allem zu feiern und zu ehren, ohne Lärm und Getöse, aber auch ohne falsche Bescheidenheit und gespielte Schuldgefühle – diese Vorstellung bereitet noch vielerorts Kopfzerbrechen. Gemeinsam mit der Église protestante de Genève, die ihre Gastgeberrolle mit grossem Einsatz und hoher Kreativität wahrnimmt, und den im Reformierten Weltbund zusammengeschlossenen Kirchen begeht der Schweizerische Evangelische Kirchenbund dieses Jubiläum, getragen vom Gefühl der Freude und der Dankbarkeit gegenüber Gott.

Serge Fornerod Leiter des Projekts calvin09 im SEK


b

INHALTSVERZEICHNIS

INTERVIEW MIT XAVIER COMTESSE 4

«Ich bin ein Calvinist, der gerne Feste feiert»

500 JAHRE WIRKUNG UND PRÄSENZ 6

Calvin in Brasilien Glaube, praktisch umgesetzt

8

Calvin in China Der die Eliten erobert

10

Calvin in Deutschland Delikates Verhältnis unter den Reformatoren

12

Calvin in Frankreich Der verkannte Prophet im eigenen Land

14

Calvin in Italien Protestantismus in der Allgegenwart des Papstes

16

Calvin in Korea Heilen, was zerrissen ist

18

Calvin in Mexiko Im Schlepptau des Liberalismus

20

Calvin in den Niederlanden Calvinistischer als man denkt

22

Calvin in Schottland Identitätsstiftend in der säkularen Gesellschaft

24

Calvin in Südafrika Lange Zeit zutiefst ambivalent

26

Calvin in Ungarn Als Unbekannter einflussreich

28

Calvin in den USA Calvin zum Erwachen

INTERVIEW MIT ADRIAN KÜNZI 30 «Wir alle müssen uns heute doppelt anstrengen»

Bulletin gratis abonnieren: www.sek.ch/shop

www.calvin09.org

Die Informationen über Rats- und Abgeordnetenversammlungsbeschlüsse sowie Personalfragen, die wir in den regulären Ausgaben des Bulletins publizieren, können auf unserer Webseite www.sek.ch eingesehen werden. Dort können Sie auch unsere verschiedenen Email-Newsletter gratis abonnieren.


INTERVIEW

«Ich bin ein Calvinist, der gerne Feste feiert» Calvins Toleranz und Veränderungswillen faszinieren den Leiter des Genfer Büros von «Avenir Suisse», Xavier Comtesse. Ihn ärgert, dass der Genfer Reformator hauptsächlich als sittenstrenger Moralist in Erinnerung ist.

Herr Comtesse, verehren Sie Johannes Calvin? Xavier Comtesse*: Ich kann Calvin nicht verehren. Es widerspricht meiner religiösen Haltung, einen Menschen zu verehren. Calvin selbst hätte es mir auch verboten, ihn zu verehren. Doch Sie sind zumindest ein Fan von Calvin. (lacht) Nein, ich bin stolz auf Calvin und ich fühle mich einigen seiner Ideen sehr nahe. Sie kritisieren öffentlich, die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin seien zu wenig attraktiv. Das 500-Jahr-Jubiläum von Calvin zu feiern, ist ein Paradox. Auf der einen Seite ist man nicht imstande, sein Jubiläum wirklich zu feiern. Denn eine Feier für Calvin wäre eine Art, ihn zu verehren. Um dies zu respektieren, begeht man auf der andern Seite das Jubiläum mit etwas missglückten Veranstaltungen. Doch das stört mich nicht wirklich: Der einzige Punkt, der mir nicht passt, ist, dass man Calvins Gedanken anlässlich des Jubiläums nicht modernisiert. Was meinen Sie damit? Ich hielt im Januar eine Rede mit dem Titel «Calvin hätte das Internet verehrt». Wieso das Internet? Das Internet nimmt viele von Calvins Ideen in der modernen Welt auf: das Konzept der Gemeinschaft und die Idee, dass alle Zugang zum Wissen haben und das erst noch gratis. Hier zeigt sich, wie sich Calvins Gedanken modernisiert haben. Darauf hätte man anlässlich des Jubiläums hinweisen sollen. Wie aber würden Sie den 500. Geburtstag von Johannes Calvin feiern? Diese Frage zu beantworten, ist nicht einfach. Für die Calvinisten aus dem Ausland, die Presbyterianer, ist Genf das protestantische Rom. Doch hier in Genf wissen die wenigsten, dass diese Stadt protestantisch ist. Dennoch dürfte Calvin etwas mehr gefeiert werden, als es nun vorgesehen ist. Ist es überhaupt möglich, ein Fest für den puritanischen Calvin zu veranstalten?

Ja, auf jeden Fall. Doch ich weiss nicht, ob es in dieser Stadt möglich ist. Beispielsweise würden die amerikanischen Presbyterianer das Jubiläum anders begehen als wir. Wenn Genf in einem andern Land der Welt wäre, würde das Jubiläum sicher ausgiebiger gefeiert werden. Ich habe auch dieses Bedürfnis: Ich bin ein Calvinist, der gerne Feste feiert und mit andern fröhlich ist. Ihre Begeisterung für Calvin erstaunt. Sie sind Vertreter der neoliberalen Denkfabrik Avenir Suisse. Dabei machte Calvin aus Genf einen Gottesstaat. Wie geht das zusammen? Da habe ich kein Problem. Avenir Suisse ist keine religiöse Organisation. Calvin war der Erste, der sich für den freien Handel einsetzte. Ein Anliegen, das wir mit ihm teilen. Den Kapitalismus verbot er nicht. Dazu war Calvin sehr offen und hat viele neuen Ideen angestossen, die später andere wie Rousseau, Voltaire oder auch Avenir Suisse und Klaus Schwab mit dem World Economic Forum aufgegriffen haben. Sie schildern Calvin als Erneuerer und Liberalen. Was aber ist mit dem puritanischen Calvin, der Sittengebote einführte und die Bevölkerung kontrollierte? Es ist wahr, dass Calvin auch ein kleiner Ayatollah war. Seine Strenge war Teil des Kampfes gegen die Katholiken, die Genf von allen Seiten umgaben. Das machte Angst. Unter diesen Umständen ist ein Hang zu einem autoritären System verständlich. Was aber nach 500 Jahren von Calvin geblieben ist, ist nicht seine Sittenstrenge, sondern sind seine Werte. Ich bezeichne mich deshalb als Calvinist der Werte und nicht als Calvinist des Glaubens. Sind es denn auch die Werte von Calvin, die in Genf geblieben sind, im Gegensatz zu Calvins Strenge, welche die Stadt abgelegt hat? Da bin ich mir sicher. Der Puritanismus überlebte einige Jahrzehnte. Was aber in Genf blieb, das sind Calvins Toleranz und Offenheit und seine Idee, dass sich Strukturen und Zusammenleben ständig erneuern müssen. Calvin war der erste Führer, der Veränderung und Wandlung zum Programm machte. Er gab den Leuten, den Organisationen und der Geschichte die Kraft, sich zu verändern. Das macht ihn so wunderbar.


b

Fotos: Luc Georgi

XAVIER COMTESSE

Ihre Begeisterung für Calvin teilen viele nicht. Ein welsches Wochenmagazin schreibt, die Feststellung könne schockieren, die französische Schweiz sei calvinistisch. Woher kommt dieser Anti-Calvin-Reflex? Die puritanische und strenge Seite von Calvin dominiert die Erinnerung an Calvin noch heute, obschon der Puritanismus längst vorüber ist. Das ärgert mich. Mit einem richtigen Fest für Calvin hätte man dieses Bild des Reformators loswerden können. Warum hängen die Leute so sehr an Calvins Puritanismus? Die Leute sind zu faul, um unter die Oberfläche zu schauen. Sie bleiben lieber an dem hängen, was man in Gratiszeitungen lesen kann. Das finde ich schade. Denn die Gesellschaft, die Werte und die Kultur sind etwas, das in die Tiefe geht. Es braucht Zeit, Energie und Denkarbeit, um dahinter zu kommen. In einer Welt, die Promis und mediales Kurzfutter liebt, hat Calvin ein Problem. Ist es nicht umgekehrt, dass Calvins Ideen heute überholt sind? Im Gegenteil: Sie sind nach wie vor wegweisend. Seine Aufteilung der Macht beispielsweise ist ein System, nach dem heute die so genannten «soft institutions» funktionieren. Wie eine Kirchgemeinde sind diese weder ausschliesslich demokratisch noch ausschliesslich hierarchisch organisiert. Das trifft auf die Organisation des Internets zu, auf Umweltbewegungen, die Finanzindustrie und vieles mehr. Calvin hat mit seinen verschiedenen Positionen den Kritikern unzählige Angriffpunkte geliefert. Was mochte ihn dazu bewogen haben? Barack Obama kann man in dieser Hinsicht mit Calvin vergleichen. Auch er muss die verschiedenen Positionen und

Bedürfnisse unter einen Hut bringen und wird damit kritisierbar. In einer anspruchsvollen Welt hat man aber keine andere Wahl. Die Dinge sind nicht einfach weiss oder schwarz. Wir müssen akzeptieren, dass die Veränderung nicht einfach ist, weil die Organisationen, die Kultur, die Gesellschaft anspruchsvoll sind. Das war wohl zu Calvins Zeit noch anders? Jedenfalls mutete Calvin seinen Zeitgenossen auch viel zu. Er war der Meinung, jeder müsse die Bibel in seiner Sprache lesen können. Die Bibel zu verstehen, ist eine hochkomplexe Angelegenheit – nicht anders als das Internet heute. Calvin war überzeugt, dass die Leute genügend intelligent, mündig und tolerant sind, um diese zu lesen, ohne dass jemand ihnen sagt, wie sie den Text verstehen müssen. Wenn Sie auf das 600-Jahr-Jubliäum von Calvin im Jahr 2109 blicken, welche Facette von Calvin wird dann wichtig sein? Vielleicht sind wir in 100 Jahren so weit, dass wir über Werkzeuge verfügen, um mit der Komplexität der Welt besser umzugehen. Ich hoffe, dass wir dann definitiv das Bild des strengen und autoritären Calvin hinter uns gelassen haben und auch wir in Genf fähig sind, ein richtiges Fest für Calvin zu feiern. *  Xavier Comtesse (60) studierte Mathematik und Informatik an der von Calvin gegründeten Universität Genf. Seit Anfang 2002 ist Comtesse stellvertretender Direktor und Leiter des Genfer Büros der Stiftung Avenir Suisse. Xavier Comtesse ist verheiratet, hat drei Söhne und lebt in Genf.

Das Interview führte Matthias Herren.


CALVIN09

Brasilien

Glaube, praktisch umgesetzt Im katholischen Brasilien fasste der Presbyterianismus erst im 19.  Jahrhundert wirklich Fuss. Verfolgt wurden protestantische Gemeinden, als sie Mitte des 20. Jahrhunderts das soziale Unrecht unter dem Militärregime kritisierten. Das CalvinJubiläum soll Anstoss sein, die ethischen Folgerungen des Evangeliums aufzuzeigen.


b

CALVIN IN BRASILIEN

Eduardo Galasso Faria

Der erste Versuch, den reformierten Protestantismus in Brasilien zu etablieren, fand im 16. Jahrhundert in der Guanabara-Bucht bei Rio de Janeiro als Teil eines französischen Siedlungsprojekts statt. In jener Bucht landeten damals 14 von Calvin entsandte Hugenotten, um «eine Kirche gemäss dem Wort Gottes zu etablieren» und den Ureinwohnern das Evangelium zu predigen. Ein zweiter Versuch fand im 17. Jahrhundert unter der Leitung holländisch-reformierter Christen statt. Beide Versuche waren jedoch erfolglos. Erst im 19. Jahrhundert gelang es dem Presbyterianismus, in Brasilien wirklich Fuss zu fassen. 1859 verbreiteten amerikanische Missionare ihre demokratischen und freiheitlichen Ideale, getragen von einer puritanischen und antikatholischen Haltung. Verfolgung unter dem Militärregime Geschichtlich von Bedeutung war die Brasilianische Evangelische Konföderation, in der sich 1934 die wichtigsten Denominationen des Landes vereinigten. In den 1950er- und 1960er-Jahren verkündeten die Gemeinden der Konföderation das Evangelium ökumenisch und prophetisch und prangerten das soziale Unrecht an. Unter dem neuen Militärregime (1964) hatte dann die Konföderation stark zu leiden, wurde Opfer von Verfolgungen und löste sich schliesslich auf. Seither kam es bei den Presbyterianern zu weiteren Abspaltungen: so im Jahre 1975 unter dem Einfluss der Pfingstbewegung und 1978 in Folge von Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen. In Brasilien gibt es etwa 800  0 00 Presbyterianer und Reformierte, die sich auf 14 verschiedene Denominati-

onen aufteilen. Die Mitglieder der kleinen historischen Kirchen der Reformation gehören hauptsächlich der Mittelschicht an, während die Angehörigen der Pfingstkirchen die Mehrheit unter den Protestanten ausmachen und in allen Volksschichten zu finden sind. Erstarrter Calvinismus in Lateinamerika In Brasilien, wie überall in Lateinamerika, ist das Bild Calvins seit langem durch den Einfluss des späteren Calvinismus geprägt. In ihrer traditionsgebundenen Gestalt feiern die Kirchen eine Liturgie, der es an partizipatorischen und dynamischen Elementen fehlt. Diese Kirchen erweisen sich als unfähig, dem Wunsch des Volkes nach einer spontaneren, symbolträchtigeren und weniger rationalen Spiritualität entgegen zu kommen. Rückbesinnung auf Calvin Als Kirche, die dazu berufen ist, Jesus in einer von Ungleichheit und Ungerechtigkeit geprägten lateinamerikanischen Gesellschaft zu bezeugen, sind die Jubiläumsfeiern ein willkommener Anlass zur Rückbesinnung auf Calvins Vermächtnis: • Erstens sind wir uns bewusst, dass es nicht angeht, Calvins Aussagen heute einfach zu wiederholen. Vielmehr sollten wir versuchen, uns etwas von seiner Geisteskraft und seinem aus tiefstem Herzen stammenden Gottesgehorsam anzueignen und in der praktischen Umsetzung dieses Gehorsams das Kennzeichen einer konsequenten Spiritualität zu erkennen. • Zweitens sollten wir uns bemühen, das stereotype Bild des Reformators abzubauen, um seine menschliche und sensible Persönlichkeit besser zu verstehen. Dazu gehörte auch seine Fähigkeit,

auf die grossen Fragen und Nöte seiner Zeit angemessen zu reagieren. • Drittens sollten wir unsere missionarische Aufgabe als eine Gelegenheit verstehen lernen, die ethischen und gesellschaftlichen Folgerungen der Botschaft vom Reich Gottes aufzuzeigen – dies als Ausdruck unserer Solidarität mit der marginalisierten Bevölkerung Lateinamerikas. • Und viertens sollten wir uns bewusst sein, was für ein Problem Kirchenspaltungen darstellen, und uns bemühen, uns dem Geist Gottes zu öffnen und unseren Beitrag zur Einheit in Christus zu leisten.

Prof. Eduardo Galasso Faria ist Pfarrer der Presbyterianischen Kirche in Brasilien und Professor für Systematische Theologie am Theologischen Seminar in São Paulo, Brasilien.

Zur Feier des Calvin-Jubiläums hat die reformierte Kirchenfamilie Brasiliens am 21. März 2009 gemeinsam der ersten calvinischen Abendmahlsfeier in Amerika gedacht und will dieses gemeinsame Feiern am 10. Juli wiederholen. Anlässlich des Jubiläumsjahrs werden unbekannte Predigten und Bibelkommentare Calvins veröffentlicht, wird eine Konferenz über Calvins theologische Gedankenwelt veranstaltet (September 2009) und Unterrichtsmaterial zu Calvin für Sonntagsschulen und theologische Seminare herausgegeben. Infos: www.ipib.org/calvin09


CALVIN09

China

Der die Eliten erobert F체r chinesische Protestanten ist Calvin das, was Konfuzius f체r ganz China ist. Sein Verst채ndnis der Kirche, seine Auffassung von Diakonie und seine Wirtschaftsethik pr채gen die protestantische Kirche stark. Unter Intellektuellen gilt es in China derzeit sogar als modern, ein Protestant zu sein.


b

CALVIN IN CHINA

Aiming Wang

Es mag anmassend erscheinen, nach dem Einfluss Johannes Calvins, des Genfer Reformators aus dem 16. Jahrhundert, im China des 21. Jahrhunderts zu fragen – in einem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern, das sich mit in der Geschichte der Menschheit nie da gewesenen Fragen und Problemen auseinander zu setzen hat. Eliten interessieren sich für Calvin Jedenfalls interessieren sich die chinesischen Intellektuellen für die Gestalt Calvins. Sie haben an angesehenen amerikanischen, europäischen und japanischen Universitäten studiert und dort begonnen, immer neugieriger nach den Ursachen des westlichen Wohlstands zu fragen. Sollte es einen – wenn auch indirekten – Zusammenhang zwischen Calvin und dem chinesischen Modernisierungsprojekt geben? Hier ist zunächst auf einen wesentlichen Unterschied hinzuweisen: Calvin, wie er in der sich gerade entfaltenden chinesischen protestantischen Theologie gesehen wird, ist nicht gleichzusetzen mit Calvin im ökonomischen Denken der chinesisch geprägten Welt – ob in China, Taiwan, Hongkong oder auch in der chinesischen Diaspora der grossen Weltmetropolen. Für die chinesische protestantische Theologie stellt Calvin eine zentrale und grundlegende Schlüsselfigur dar. Genf und das Reformationsdenkmal sind hier vielleicht noch prägender als sie es für die Genfer sind. Calvin mit seinen Vorstellungen, seinem Kirchenverständnis, seinen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Staat, seiner

Auffassung von Diakonie, seiner Volksbildung und Wirtschaftsethik ist für die chinesische protestantische Kirche das, was Konfuzius für die ganze Nation ist: eine Bezugsbasis, ein «Vater». Sowohl in der Missionsarbeit vor 1949 als auch in der heutigen Lehre und in der Verkündigung auf Gemeindeebene nimmt die calvinische Tradition breiten Raum ein. Den chinesischen Protestantismus bewegen typische calvinistische Fragen: Amtsdisziplin und kirchliche Vorschriften in einer vom amerikanischen Fundamentalismus beeinflussten Kirche; die Demokratie; die Regelung der Beziehungen zwischen Kirche und Staat nach der reformierten Tradition der autonomen Kooperation; die Gewissens- und Gedankenfreiheit. Auseinandersetzung unter Calvinisten Zurzeit findet innerhalb der chinesischen Theologie eine intensive Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der calvinischen Lehre der staatsbürgerlichen Verantwortung und den Vertretern einer eher puritanischen, pietistischen bzw. fundamentalistischen Theologie statt. Die hauptsächlich durch das Prisma Max Webers (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus) wahrgenommene Gedankenwelt Calvins beschäftigt breite intellektuelle Kreise in China. Unter diesem Gesichtspunkt wird die Frage gestellt: Warum erlebte eine grosse Nation wie China am Ende der Kaiserherrschaft einen Niedergang und riegelte sich völlig von der Welt ab, während der Westen einen Aufschwung

nahm, vor allem in den von der calvinistischen und kapitalistischen Ethik geprägten Ländern? Könnte man von der westlichen Ethik etwas für eine förderliche Entwicklung in China übernehmen? Anders als im europäischen Westen gilt es derzeit in China als «modern», Christ – und speziell Protestant – zu sein. Calvin neben Konfuzius Ebenso wird an den Universitäten sowohl die calvinisch-protestantische Ethik als auch die konfuzianische diskutiert. Lässt sich bei Konfuzius bzw. bei Calvin eine Ethik finden, die das sozial Konservative mit dem gesamtgesellschaftlich Fortschrittlichen verbindet, die sowohl eine starke Loyalität zum Staat und zur Nation als auch eine gleich starke individuelle Verantwortung beinhaltet? In einem Land mit über 60 Millionen Protestanten, die im Wesentlichen arme Landbewohner sind, gewinnt der Protestantismus innerhalb der intellektuellen Eliten rasch an Boden. Calvins Lehre beschäftigt die Leute ebenso wie die von seiner Reformation inspirierten calvinistischen, puritanischen und presbyterianischen Strömungen, die die letzten 500 Jahre protestantischen Denkens bestimmt haben.

Prof. Rev. Dr. Aiming Wang, Nanjing, Vizepräsident und Dekan des Unierten Theologischen Seminars von Nanjing in China.


10

CALVIN09

Deutschland

Delikates Verh채ltnis unter den Reformatoren Erst nach dem Westf채lischen Frieden 1648 waren in Deutschland die Reformierten neben den Lutheranern anerkannt. Dabei verehrte Calvin Luther als trefflichsten Diener der Kirche, kritisierte aber auf der andern Seite dessen masslose und kirchenpolitisch kontraproduktive Polemik gegen die schweizerische Abendmahlslehre.


b

CALVIN IN DEUTSCHLAND

Achim Detmers

In Deutschland, dem Mutterland der Reformation, ist der Einfluss der Protestanten in Politik und Gesellschaft nach wie vor gross, wenngleich im Osten 40 Jahre Sozialismus den dort traditionell vorherrschenden Protestantismus deutlich zurückgedrängt haben. Insgesamt sind etwa 32 Millionen der deutschen Bevölkerung Protestanten. Davon sind knapp 2 Millionen dem reformierten Bekenntnis und 10 Millionen dem lutherischen Bekenntnis zuzurechnen. Die übrigen deutschen Protestanten leben dagegen in unierten Landeskirchen, die aus dem Zusammenschluss lutherischer und reformierter Gemeinden hervorgegangen sind. Darüber hinaus gibt es weitere protestantische Gruppen und Kirchen wie die Baptisten, Herrnhuter Brüdergemeine, Mennoniten, Methodisten oder Quäker. Langes Ringen um Gleichberechtigung Die «Zwinglianer» und «Calvinisten» hatten es historisch gesehen zunächst schwer, in Deutschland Fuss zu fassen. Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 waren sie reichsrechtlich als Konfession nicht zugelassen. Trotzdem wurde die Pfalz 1562 «calvinistisch» und im Jahr 1604 Hessen-Kassel. Auch in Anhalt, Lippe, Bremen, Holstein-Gottorp und Brandenburg gab es starke calvinistische Einflüsse. Aber erst nach dem Westfälischen Frieden 1648 wurde der «Calvinis-

mus» im Deutschen Reich als gleichberechtigt neben Katholiken und Lutheranern anerkannt. So sah Calvin Luther Durch das intensive Neben- und Miteinander von Lutheranern und Reformierten in Deutschland ist das Verhältnis Calvins zu Luther im Calvinjahr von besonderem Interesse. Calvin verehrte Luther sehr, sah aber auch Schwächen beim späten Luther, wie die folgenden sieben Punkte zeigen: • Der 26 Jahre jüngere Calvin ist Luther nie persönlich begegnet. Es gibt einen einzigen Brief an Luther. Leider hat Melanchthon es nicht gewagt, Luther diesen Brief zu überreichen. • In dem Brief bezeichnete Calvin Luther als trefflichsten Diener der Kirche, der sich durch ausserordentliche Geistesgaben auszeichne und immer tapfer, unerschütterlich und geschickt gelehrt und wirksam an der Ausbreitung des Evangeliums gearbeitet habe. • Einige von Calvins Schriften hat Luther anfangs mit grossem Wohlwollen gelesen. Später hat ihm Luther vorgeworfen, er rede in der Abendmahlsfrage nicht klar genug. Luther hat Calvin verdächtigt, den Irrtum der «Sakramentarier» zu teilen, die Brot und Wein nur als Symbol betrachten. In diesem Zusammenhang hat Luther von der Lektüre der Schriften Calvins abgeraten.

• Luthers Kritik an Calvin brachte den Genfer Reformator nicht davon ab, Luther für einen ganz hervorragenden Knecht Gottes zu halten. • A llerdings sah Calvin auch Fehler an Luther: So dessen Leidenschaftlichkeit und schäumende Worte, wenn er von den Scharfmachern in seiner Umgebung aufgehetzt werde. Calvin hätte sich gewünscht, dass sich Luther bemüht hätte, sein stürmisches Wesen besser im Zaum zu halten und seine Fehler einzusehen. • Calvin kritisierte Luther und Zwingli, dass sie im Abendmahlsstreit nicht die Geduld hatten, aufeinander zu hören, um sich dann ohne Leidenschaft auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Besonders Luther hätte sich stärker von der räumlichen Gegenwart Christi im Abendmahl distanzieren müssen. • Dass Luther ausgerechnet in der Situation, als der zahlenmässig schwache Protestantismus von Feinden umringt war, erneut über die abweichenden Schweizer Theologen herfallen musste, verletzte Calvin sehr.

Dr. Achim Detmers ist Pfarrer der Evangelischen Landeskirche Anhalts sowie Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Reformierten Bundes für das Calvinjahr 2009.

11


12

CALVIN09

Frankreich

Der verkannte Prophet im eigenen Land Aus Frankreich musste Calvin fliehen und noch heute ist der Genfer Reformator dort weitgehend unbekannt. Dennoch sind die franzรถsischen Protestanten stolz darauf, dass der theologische Entwurf eines Landsmanns weltweit in die verschiedensten Bereiche ausstrahlt.


b

CALVIN IN FRANKREICH

Jean-Arnold de Clermont

Muss der 500. Geburtstag Johannes Calvins wirklich feierlich begangen werden? Jedenfalls in Frankreich ist der Reformator viel zu wenig bekannt, um für die Protestanten als Zugpferd zu dienen. Setzen wir uns mit dieser Feier nicht der Gefahr aus, mit Ewiggestrigen verwechselt zu werden, die die Vergangenheit kultivieren, um ihre mangelnde Anpassung an die Gegenwart zu verbergen? In Frankreich weitgehend vergessen Die französischen Protestanten haben sich im Calvin-Jubiläumsjahr von einem ganz anderen Motiv leiten lassen. Da Johannes Calvin sowohl bei den Protestanten als auch bei den Franzosen weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wollen wir auf die französische und reformierte Dimension Calvins aufmerksam machen. Die Feier dient der Besinnung auf eine historische Wahrheit, und zwar sowohl für das Heimatland Calvins, das ihn nicht halten konnte, als auch für die aus der calvinischen Reformation hervorgegangenen französischen Kirchen, die ihre Identität immer wieder aus den Augen verlieren. Für Frankreich ist Calvin zweifellos einer der «Geburtshelfer» der modernen Welt; und zwar in erster Linie durch seine Sprache. «Calvins monodische Prosa», schreibt Bernard Cottret, «überrascht immer wieder durch die Modernität ihres Tons; bei allen Unterschieden behalten seine Sätze eine Unmittelbarkeit und einen Sinn für das Konkrete, die sie eigentümlicherweise verständlich machen, selbst wenn sie die scheinbar kompliziertesten Ideen ausdrücken . . . Viele seiner Wortschöp-

fungen sind in die Umgangsprache eingegangen: ‹tergiverser›, ‹hyperbolique›, ja sogar ‹manigance› und ‹antiquailles›.» Mitten in einem internationalen Netz Noch berührender ist Calvins internationale Wirkung. Calvin rückte rasch in den Mittelpunkt eines internationalen Netzes, das er durch seine Briefe sowie durch die unzähligen Besucher, Hörer und Studenten pflegte. Calvin hat nach Luther neu über das Verhältnis von «heilig» und «profan» nachgedacht. Auf der Grundlage der reformatorischen Überzeugung vom Heil durch den Glauben werten beide gleichermassen die profane Pflicht der Arbeit auf; der Beruf wird zur Berufung. Calvin verleiht dieser Revolution im christlichen Denken noch mehr Kraft, indem er die ethische Dimension der Arbeit betont. Ebenfalls von Calvin lernten die Reformierten, dass die Religion selbst der ureigenste Bereich der Versuchung ist, da sie falsche Bilder von Gott errichtet, und dass die Bibel auffordert, die Ergebnisse der religiösen Kultur ständig infrage zu stellen. Deswegen ist die «reformierte Welt» so vielfältig und verschiedenartig; sie passt ebenso gut nach Südkorea wie nach Lateinamerika – hier als «Presbyterianer», dort als «kongregationalistische Kirche». Starke Identität und flexibel genug Calvin hat eine dynamische und offene Konzeption der Charismen und Dienste innerhalb der Kirche entwickelt, damit deren Identität stark genug ist, um das Evangelium weiterzutragen. Zugleich hat er aber auch ein Gefüge ent-

worfen, das flexibel genug ist, um sich verschiedenen Zeiten und Orten anzupassen. Die Stärke seines Entwurfs erweist sich in einer so unsteten Zeit wie der gegenwärtigen als hilfreich, weil sich unsere Kirchen ständig neu anpassen müssen, ohne dabei ihre eigene Substanz zu verlieren. Lebendige Quelle der Inspiration Es liegt uns fern, aus Calvin einen verkannten «Heiligen» machen zu wollen, der, einmal von den gegen ihn erhobenen Klagen reingewaschen, heute anlässlich seines 500. Geburtstages verehrt werden sollte. Calvin ist ein Mann seiner Zeit, der Schöpfer eines Werkes, das die moderne Welt mit begründet hat; er bleibt eine lebendige Quelle der Inspiration für die Kirchen und für die christliche Spiritualität. Wir wollen uns darauf besinnen, dass er Franzose war und dass er der Nachwelt Fragen hinterlassen hat, die immer noch aktuell sind: Welcher Platz kommt dem Religiösen in der Gesellschaft der Gegenwart zu? Wie können Christen in dieser Gesellschaft ethische Verantwortung wahrnehmen? Welchen Freiraum gibt es, Kirchenformen zu entwickeln, die der Verkündigung des Evangeliums angemessener sind? Calvin kann die Antworten heute nicht geben, aber er hat die richtigen Fragen gestellt.

Pfarrer Jean-Arnold de Clermont ist Koordinator des Calvin-Jubiläumsjahres 2009 der Fédération Protestante de France und Präsident der Konferenz Evangelischer Kirchen Europas (KEK) in Paris, Frankreich.

13


14

CALVIN09

Italien

Protestantismus in der Allgegenwart des Papstes Die Waldenserkirche ist die st채rkste protestantische Gemeinschaft in Italien. Als kleine Minderheit binden Italiens Reformierte in das Calvin-Jubil채um bewusst auch staatliche und katholische Institutionen ein, aber auch die Pfingstkirche und die Evangelikalen.


b

CALVIN IN ITALIEN

Pawel Gajewski

Für die protestantischen Kirchen Italiens begann die Geburtstagsfeier Calvins bereits im Dezember 2004 in der Aula der Theologischen Waldenserfakultät in Rom. Dort wurde der erste Band der «Ausgewählten Werke» Calvins mit dem Titel «Dispute con Roma» offiziell vorgestellt. Der Verlag, der das Buch publiziert hat, wird von der waldensischen, der methodistischen, der baptistischen und der lutherischen Kirche gemeinsam geführt. Diese vier Kirchen zählen insgesamt 35 000 Mitglieder und stellen in Italien einen direkten Bezug zur Reformation des 16. Jahrhunderts sowie zur europäischen und weltweiten protestantischen Ökumene her. Die Evangelische Waldenserkirche (Kirchenunion der Waldenser und Methodisten) ist mit 20 000 Mitgliedern die stärkste protestantische Glaubensgemeinschaft in Italien und beruft sich sowohl auf das Erbe der mittelalterlichen Waldenserbewegung als auch auf die theologische Position der reformierten Kirchen. Calvins gesellschaftliche Reform

Die Entscheidung, die Jubiläumsfeierlichkeiten mit einer Ausgabe der Streitschriften Calvins unter dem Titel «Dispute con Roma» zu beginnen, hat auch einen symbolischen Wert. Denn der italienische Protestantismus muss sich ständig mit der Allgegenwart des Vatikans und des Papstes auseinander setzen. Das Projekt «Calvin 2009» in Italien trägt dieser Besonderheit dadurch Rechnung, dass es nicht nur die protestantischen Kirchen in die Feiern zum Calvinjahr einzubinden versucht, sondern auch das ganze Spektrum der kul-

turellen Welt – also auch weltlich bzw. katholisch geprägte Institutionen. Kern des Jubiläumsprojekts ist eine aus elf Schautafeln bestehende Wanderausstellung mit dem Titel «Johannes Calvin, Entwurf einer Gesellschaft». Auf der Grundlage dieser Ausstellung sollen die Kirchen vor Ort eigene Vorschläge und Überlegungen zum Thema entwickeln und präsentieren. Sowohl der Titel als auch der Inhalt der Ausstellung sollen das Werk Calvins nicht nur als einen gelungenen Versuch zum Entwurf eines neuen Kirchenmodells darstellen, sondern auch als ein grosses gesellschaftliches Reformprojekt. Dieser letzte Aspekt gewinnt besondere Bedeutung in der gegenwärtigen politischen und sozialen Situation Italiens, die von einer schweren Krise der politischen Institutionen und der Zivilgesellschaft gekennzeichnet ist. Reformierte sind mehrheitlich Ausländer

Eine überaus wichtige Initiative im Jubiläumsjahr war die von der Theologischen Waldenserfakultät organisierte Studientagung zum Thema «Johannes Calvin und der Calvinismus: Die Migration von Menschen, Ideen, Büchern», die vom 26. bis 28. März 2009 in Rom stattfand. Zahlreiche italienische Reformatoren (Vermigli, Zanchi, Turrettini) haben einen gewichtigen Beitrag zur Entwicklung der reformierten Theologie geliefert. Heute bietet die Präsenz von Zuwanderern protestantischen Ursprungs in Italien eine historische Chance für den italienischen Protestantismus. Die Zahl der aus dem Ausland (Osteuropa, Lateinamerika, Asien, Afrika) zugewanderten Reformierten

wird auf über 60 000 geschätzt und liegt somit höher als die Zahl der einheimischen. Die Einbeziehung staatlicher Institutionen in die Projekte des Calvinjahres ist wichtig. Dem Centro Culturale Valdese wurde z. B. eine ehrenamtliche Helferin des Nationales Zivildienstes zur Verfügung gestellt, und die Nationale Zentralbibliothek in Florenz nahm in Abstimmung mit dem Ministerium für Kulturgüter und kulturelle Aktivitäten eine Ausstellung über die verschiedenen Editionen der Werke Calvins und anderer italienischer Reformatoren ins Programm. Evangelikales Lager einbeziehen

Wünschenswert wäre noch, dass sich auch die Kirchen der Pfingstbewegung und des evangelikalen Lagers und somit die überwiegende Mehrheit des italienischen Protestantismus (rund 200 000 Mitglieder) für das Erbe Calvins interessieren. Die ersten positiven Signale in diese Richtung kamen Anfang des Jahres 2009. Zwei bedeutende theologische Zeitschriften, die dem Bund der Pfingstkirchen in Italien nahestehende Zeitschrift «Oltre» und die der Brüderversammlung (einer Freikirche) verbundene Zeitschrift «Il Cristiano», haben sich bereits eingehend mit Calvin beschäftigt.

Dr. Pawel Gajewski ist Pfarrer der Waldenser Gemeinde in Florenz und Lehrbeauftragter für Systematische Theologie an der Theologischen Waldenserfakultät in Rom, Italien.

15


16

CALVIN09

Korea

Heilen, was zerrissen ist Die protestantischen Kirchen in Korea sind untereinander und ideologisch tief gespalten. Dahinter steht die wettbewerbsmässig betriebene Missionspolitik der USA und die antikommunistische Haltung gegenüber Nordkorea. Eine Rückbesinnung auf Calvin könnte wertvoll sein.


b

CALVIN IN KOREA

Meehyun Chung

Die allererste protestantische Kirche in Korea wurde von einem Koreaner gegründet, der das Evangelium selber in China empfangen hatte. Darauf sind koreanische Christen stolz. Aber die presbyterianische oder evangelischreformierte Kirche bekam ihre Struktur erst durch amerikanische Missionstätigkeit. Der erste presbyterianische Missionar war Horace Grant Underwood aus den USA mit britischem Hintergrund, der zusammen mit seinem methodistischen Freund und Missionar Henry G. Appenzeller (schweizerischer Hintergrund) am 5. April 1885 Korea betrat. Prädestinationslehre wirkte prägend

Heute sind in Südkorea 18 Prozent Protestanten, wovon sich 69 Prozent zur presbyterianischen Kirche zählen. 11 Prozent sind Katholiken. Daneben gibt es noch Buddhisten, Taoisten, Anhänger der koreanischen Donghak-Religion, Konfuzianer oder Schamanisten. Obwohl die reformierte Kirche Südkoreas ihre Wurzeln bei Zwingli und Calvin hat, ist Martin Luther als Reformator viel bekannter als seine Kollegen aus Zürich und Genf. Calvin wird zwar weniger verehrt als Luther, aber er hat die Kirche innerlich stark geprägt mit seiner Prädestinationslehre, seinem christlichen Verständnis, seiner Ämterlehre und Kirchenstruktur. Leider wurde seine Lehre durch eine «made in USA Kirche» mit einseitiger, teilweise pervertierter Theologie ins koreanische Christentum eingeführt. Wettbewerbsmässige Missionspolitik

Die reformierte Kirche in Südkorea setzt bei ihrem Kirchenaufbau einen klaren Akzent auf Frömmigkeitsformen wie Hauskreise, Bibelstunden und Frühmorgengebet. Tüchtig in der Arbeit stehen, diszipliniert leben, den Beruf als Berufung akzeptieren – dies sind einige positiv calvinistisch geprägte Elemente in Korea.

Die tiefe Zerrissenheit der reformierten Kirche in Korea ist eine chronische Krankheit. Dahinter steht wettbewerbsmässig betriebene Missionspolitik der USA. Konzentration auf die gemeinsamen Wurzeln könnte die Heilung von Verschiedenheit und Verzettelung fördern. Calvins Lehre ist dafür kein Allheilmittel. Dennoch wären einige thematische Akzente aus dem Erbe Calvins für die Zukunft in Südkorea besonders hervorzuheben: Humanitäre Hilfe, antikommunistische Propaganda

Überwindung des ideologischen Dualismus: Calvins Lehre von der doppelten Prädestination hat in Korea verhängnisvolle Auswirkungen gehabt. Sie wurde gegenüber ideologisch Andersdenkenden und religiös Andersgläubigen zur Einteilung in Freund und Feind missbraucht. Statt dass die antikommunistisch orientierten südkoreanischen Kirchen ihre nordkoreanischen Geschwister als Achse des Bösen bezeichnen, gälte es humanitäre Hilfe zu leisten und vermehrt Annäherungsversuche zu unternehmen. Pflicht des Einsatzes zugunsten wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung: Calvins christliche Sozial- und Wirtschaftsethik sind sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche sehr wichtig. Heute wäre in Südkorea von den Kirchen etwa nachhaltiger Protest gegen Umweltzerstörung durch den Bau eines Golfplatzes oder der Einsatz in der Migrationsarbeit aus Solidarität mit den Schwachen gefragt. Verankerung demokratischer Kirchenstruktur: Die vom konfuzianischen Erbe geprägten Kirchen in Korea haben westliche Strukturen und einen calvinisch geprägten Puritanismus erfolgreich integriert. In der Kirche darf es keine Diskriminierung geben – egal ob nach Geschlecht, Herkunft oder so-

zialer Schicht. Vielmehr ist es die Aufgabe der Kirche, allen Menschen Wertschätzung entgegen zu bringen. Mit Calvin gesprochen: Jedes Glied des Leibes Christi ist wertvoll, denn der Heilige Geist belebt alle Glieder unterschiedslos. Dialog der Defizite und Stärken

Einheit in versöhnter Vielfalt: Jede übertriebene Konzentration auf die eigene Konfession führt zur Spaltung der Gesellschaft. Heute werden diese innerevangelischen Trennungen in alle Welt exportiert durch eine Missionstätigkeit, die die Fehler der euro-amerikanischen Mission des 19. Jahrhunderts wiederholt. Annäherungsversuche für Kooperation und Koalitionen jeglicher Art, die gegensätzliche Spiritualität und Theologie zu überwinden trachten, sind nötiger denn je. Die Schweiz ist das Ursprungsland der reformierten Kirchen. Die globale Ausstrahlung und Wirkung sind viel mächtiger, als dies in der Schweiz allgemein bewusst ist. Es wäre weiterhin sinnvoll, wenn die reformierten Kirchen in der Schweiz mit den jungen Kirchen in der Welt einen theologischen Dialog führen würden, um gegenseitig eigene Defizite und Stärken zu entdecken. Dann bliebe diese Tradition nicht bloss Geschichte oder gar negativ belastet, sondern würde kreativ und situationsbezogen wieder belebt.

Dr. Meehyun Chung ist seit 2005 Leiterin der Frauen- und Genderstelle bei mission 21, evangelisches missionswerk Basel, Schweiz und Pfarrerin der Presb. Kirche in der koreanischen Republik (PROK).

17


18

CALVIN09

Mexiko

Im Schlepptau des Liberalismus Der Einzug der reformierten Tradition in Mexiko ging im 19. Jahrhundert Hand in Hand mit dem politischen Liberalismus. Obschon die Reformierten nur eine kleine Minderheit sind, hat ihre demokratische Praxis die mexika足nische Gesellschaft und den Staat wesentlich beeinflusst.


b

CALVIN IN MEXIKO

Leopoldo Cervantes-Ortiz

Johannes Calvin ist in Mexiko kein Unbekannter. Die Kämpfer für die Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft, Miguel Hidalgo und José María Morelos, wurden als «Anhänger von Luther und Calvin» angeklagt und exkommuniziert. Es wurde ihnen vorgeworfen, sie seien «Anhänger der Sekte der französischen Freiheit». Es handelte sich hierbei um eine lächerliche Anschuldigung. Denn beide waren katholische Priester, und die Anschuldigungen waren Teil der generellen Ablehnung all dessen, was nach Reform oder Protestantismus klang. Nachweislich gelangten nur wenige Vertreter des Calvinismus nach Mexiko. Belege für die Präsenz der reformierten Tradition im Land sind erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorhanden. Damals begannen die liberalen Regierungen dem Katholizismus Privilegien abzuringen. Ihr politisches Modell für Mexiko waren die USA. Für die Liberalen war der protestantisch-calvinistische Hintergrund der USA kein Problem. Sie hielten es für möglich, die politischen Elemente in das mexikanische Staatswesen einzuführen. Allerdings berücksichtigten sie den spanisch-katholischen Hintergrund von Mexiko zu wenig. Als dann die USA im September 1847 militärisch intervenierten, fühlte sich die mexikanische Bevölkerung in ihrem Verdacht bestätigt, die religiösen Ideen des Nordens würden als Instrument einer kulturellen Beeinflussung gebraucht werden. Protestanten als Eroberer

Nach vertrauenswürdigen historischen Quellen wurde der erste presbyterianische Gottesdienst ausgerechnet in

dem vom Invasionsheer eingenommenen Nationalpalast in Mexiko-Stadt gefeiert. Das Bild, das vom Einzug der ausländischen protestantischen Mission vermittelt wird, ist geprägt von der Überzeugung, dass mit ihr das wahre Evangelium kam, um dem «römischen Aberglauben» ein Ende zu bereiten. Jedenfalls hat das Modell, der protestantischen Gemeinden, die eine partnerschaftliche Gemeinschaft pflegen, einen wichtigen Einfluss in Mexiko. Die manchmal unbewusste Suche nach einer wirklichen demokratischen Praxis bildete eine ideologische Achse inmitten der Gesellschaft. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf das Erziehungswesen sagen. Es bestand Gewissheit darüber, dass ein in den Händen der Kirche verbleibendes Erziehungswesen dem Land schwerwiegende Probleme auf seinem weiteren Entwicklungsweg bereiten würde. Von daher ist der so charakteristische Einsatz der Protestanten für einen laizistischen Staat verständlich. Protestanten im ganzen Land

Geografisch haben sich die protestantischen Kirchen in einem ansehnlichen Teil des Landes verbreiten können. Ein speziell hohes zahlenmässiges Wachstum verzeichneten sie in den Bundesstaaten Chiapas und Tabasco. In Chiapas kann festgestellt werden, dass viele indigene Gemeinden am Fundament calvinischen Glaubens und calvinistischer Praxis teilhaben, auch wenn sie kaum Grundkenntnisse davon haben. Vor 100 Jahren, anlässlich des Gedenkens des 400. Geburtstages von Calvin, hielt der angehende presbyterianische Politiker Aarón Sáenz eine Rede.

Er ging dabei darauf ein, wie die Protestanten vor der mexikanischen Revolution die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hatten, um die Sehnsucht nach Veränderung zu wecken, die sie für das Land als notwendig erachteten. Ende der 1920er-Jahre, als das aus der mexikanischen Revolution hervorgegangene Regime sich zu stabilisieren begann, wurde Sáenz als Kandidat für das Amt des Staatspräsidenten portiert. Allerdings scheiterte er schon bei den Vorwahlen – offenbar wegen seiner reformierten Bildung. Eigenständiger Platz in Mexiko

Trotz grossem Widerstand hat die reformierte oder calvinistische Tradition einen eigenständigen Platz innerhalb der mexikanischen Gesellschaft erlangt, auch wenn die protestantische Bevölkerung sich ihrer theologischen Wurzeln nicht immer hinreichend bewusst ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Erbe Calvins sehr wohl die Bildung eines religiösen, politischen und kulturellen Profils beeinflusst hat, das mittlerweile untrennbar zum heutigen, pluralistischen und vielfältigen Mexiko gehört.

Prof. Leopoldo Cervantes-Ortiz ist presbyterianischer Theologe, Schriftsteller und Herausgeber. Er koordiniert das Forschungszentrum Basileia in Mexiko-Stadt. Er hat eine Anzahl von Büchern und Essays verfasst und arbeitet mit mehreren ökumenischen Organisationen zusammen. Er ist Mitglied der Kommission für ökumenische Ausbildung des Ökumenischen Rates der Kirchen.

19


20

CALVIN09

Niederlande

Calvinistischer als man denkt Nachdem in den Niederlanden ßber Jahrhunderte ein orthodoxer Calvinismus herrschte, ist das Land heute eines der liberalsten der Welt. Doch das calvinistische Erbe ist immer noch unschwer erkennbar: in der holländischen Kultur wie im Gottesdienstbesuch, der hÜher ist als anderswo in Europa.


b

CALVIN IN DEN NIEDERLANDEN

Douwe Visser

Anlässlich des Calvin-Jubiläums hat die holländische Zeitung reformierter Herkunft «Trouw» einen Calvintest veröffentlicht. Wer die 25 Fragen beantwortet, kann herausfinden, wie hoch sein «C-Faktor» ist. Mit einem Ergebnis von 75 Prozent ist man als «echter Calvinist» qualifiziert. Wie Reaktionen von Lesern zeigen, störten sich manche daran, dass ihr «C-Faktor» höher ausfiel als sie vermutet hatten. Offenbar sind diese Menschen calvinistischer, als sie es sein möchten. Das zeigt, dass «calvinistisch» oft einen negativen Beigeschmack hat. Dennoch erreicht das Calvin-Jubiläum in den Niederlanden einen hohen Grad an Aufmerksamkeit. Mit einem vielfältigen Programm, das von Vorträgen bis zu einer speziellen Theateraufführung reicht, wird das Jubiläum begangen. Das «Calvinbuch auf Glanzpapier» war schon wenige Tage nach seinem Erscheinen ausverkauft. Langer Kampf für Calvinismus

Historisch betrachtet sind die Niederlande ein calvinistisches Land. Allerdings konnte sich der Calvinismus erst nach langen und harten Kämpfen um die religiöse Freiheit festigen, nachdem er sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden ausgebreitet hatte. Vielleicht ist das der Grund, weshalb der Calvinismus in den Niederlanden oft recht orthodox auftrat, was sich auch in vielen moralischen Prinzipien zeigt. Möglicherweise wendeten die niederländischen Protestanten sogar strengere Massstäbe an als Calvin selbst. Die Sonntagsheiligung war selbstverständliche Pflicht. Dazu

gehörte der Besuch von zwei Gottesdiensten. An sportliche Aktivitäten war noch vor wenigen Jahrzehnten nicht zu denken, abgesehen von einem kurzen Spaziergang. Heute hat sich die Situation völlig gewandelt. Es scheint, dass die Niederlande ihr calvinistisches Erbe abgeschüttelt haben. Auf jeden Fall sind die Niederlande eines der am stärksten säkularisierten Länder der Welt. Jeder Mensch verteidigt seinen Lebensstil so dezidiert wie möglich und beruft sich auf die persönliche Freiheit. In Sachen Ethik und Moral gilt der höchste Grad an Toleranz. So waren die Niederlande das erste Land, wo homosexuelle Paare eine offiziell anerkannte Ehe schliessen konnten. Dennoch lassen sich die calvinistischen Wurzeln in der holländischen Gesellschaft und Kultur unschwer erkennen. Die Mitgliederzahlen der reformierten Kirche haben zwar in den letzten Jahrzehnten beträchtlich abgenommen. Doch wer einer Kirche angehört, fühlt sich zu aktiver Teilnahme verpflichtet. Deshalb ist in den reformierten Kirchen der Niederlande der sonntägliche Gottesdienstbesuch im Vergleich zu Ländern wie der Schweiz oder Deutschland nach wie vor hoch. Wer aber den Gottesdienst nicht mehr regelmässig besucht, tritt oft auch aus der Kirche aus.

Ursprung nicht im reformierten Christentum hat. Damit umzugehen, fällt der säkularisierten holländischen Gesellschaft schwer, die sich eben erst vom alles kontrollierenden Calvinismus befreit hat. Die Auffassung, dass die Religion eine private Angelegenheit sei, ohne jegliche Auswirkung auf das gesellschaftliche und politische Leben, hat sich als falsch erwiesen. Diesmal ist die Situation anders als im 17. Jahrhundert, als viele religiös Verfolgte ins freiheitliche Holland strömten. Damals leistete die calvinistische Tradition einen entscheidenden Beitrag für eine erfolgreiche Integrationspolitik. Diese historische Leistung könnte inspirierend wirken, um nach Lösungen für heutige Integrationsprobleme zu suchen. Hohe Aufmerksamkeit fürs Jubiläum

Jedenfalls wäre das Calvin-Jubiläumsjahr dazu eine gute Gelegenheit. Calvins Vermächtnis schenkt man dieses Jahr in den Niederlanden eine erhöhte Aufmerksamkeit. Der Genfer Reformator scheint volkstümlicher zu sein, als es sich viele lange Zeit vorgestellt hatten. Ein weiterer Grund, das Gedenkjahr als Anlass zur Rückbesinnung auf die Wurzeln der heutigen niederländischen Gesellschaft zu nutzen.

Muslime sind heute streng religiös

Ein interessantes Phänomen ist die Tatsache, dass sich in den Niederlanden mit der Einwanderung von zahlreichen Muslimen ein strenger religiöser Lebensstil herausgebildet hat, der seinen

Dr. Douwe Visser ist Pfarrer der Protestantischen Kirche in den Niederlanden und Beauftragter für Theologie und Ökumene beim Reformierten Weltbund RWB in Genf, Schweiz.

21


22

CALVIN09

Schottland

Identitätsstiftend in der säkularen Gesellschaft Es brauchte mehr als 100 Jahre, bis Schottland seine reformierte Identität gefunden hatte. Das war erst nach langem Hin und Her zwischen dem Episkopalismus der Anglikaner und dem Presbyterianismus von Calvin möglich. Letzerer prägt die schottische Gesellschaft bis heute.


b

CALVIN IN SCHOTTLAND

Sheilagh Kesting

Als John Knox von seinem Exilaufenthalt in Genf nach Schottland zurückkehrte, war niemandem bewusst, wie stark Calvin Schottland beeinflussen sollte. Im Jahr 1560 schloss sich die Schottische Generalversammlung den Reformatoren an. Mehr als 100 Jahre lang schwankte die Kirche zwischen Presbyterianismus und Episkopalismus hin und her. Im Jahr 1689 wurde die Kirche von Schottland als presbyterianisch in ihrem Kirchenregiment anerkannt, und bis auf diesen Tag bekräftigt die Königin oder der König an der Generalversammlung der Kirche den Willen, das presbyterianische Kirchenregiment in Schottland hochzuhalten.

weniger offensichtlich, doch als identitätsstiftender Faktor spielt sein Erbe in Schottland weiterhin eine Rolle. Calvin ins Rampenlicht

Angesichts der Tatsache, dass dieses Vermächtnis bis heute spürbar ist, bietet das Jahr 2009 eine gute Gelegenheit zur Rückbesinnung auf Vergangenes. Dabei soll eher Calvin als der Calvinismus im Rampenlicht stehen. Denn im Unterschied zu dem, was aus Calvins Ideen im Calvinismus entstanden ist, ist seine Theologie in ihrer Spannbreite katholischer und ökumenischer angelegt, als gemeinhin angenommen wird.

Eine grosse, viele kleine Kirchen

Die Kirche von Schottland mit 490 000 Mitgliedern ist mit Abstand die grösste reformierte Kirche in Schottland. Zu den Reformierten zählen sich auch die Unierte Freikirche Schottlands, die Freikirche Schottlands und die Unierte Reformierte Kirche mit je rund 4000 Mitgliedern sowie die zahlenmässig kleinen Assoziierten Presbyterianischen Kirchen und die Freie Presbyterianische Kirche. Innerhalb der protestantischen Gemeinschaft sind die in der anglikanischen Tradition stehenden schottischen Episkopalier mit 40 000 Mitgliedern das grösste kirchliche Gegenüber zur Kirche von Schottland. Zu den kleineren protestantischen Kirchen im Land gehören die Methodistenkirche, die Kongregationalistische Föderation, die Heilsarmee und die Religiöse Gemeinschaft der Freunde. Alle protestantischen Kirchen zusammen machen etwa die Hälfte der christlichen Bevölkerung Schottlands aus. Der Calvinismus hat die schottische Gesellschaft, ihr kulturelles Ethos und ihre politische Entwicklung entscheidend geprägt. In der heutigen säkularen und religiös pluralistischen Gesellschaft ist dessen Status und Einfluss

Dr. Sheilagh Kesting ist die Beauftragte für Ökumene der Kirche von Schottland in Edinburg.

Veranstaltungen im Calvinjahr in Schottland Im Januar führte die Theologische Gesellschaft der Kirche von Schottland (Scottish Church Theological Society) eine einwöchige Konferenz durch. Diese hat sich mit vielen Themen befasst: so mit Calvins Leben, seiner Epoche und seinem Platz innerhalb der Reformation, seinem Einfluss auf Schottland, seinem bleibenden theologischen Vermächtnis, den politischen und wirtschaftlichen Dimensionen des Calvinismus und mit dem zeitgenössischen Beitrag der Reformierten zur weltweiten Kirche. Im November wird ein ökumenisches Symposium unter dem Titel «Calvin: katholisch und reformiert» mit der Römisch-Katholischen Kirche in Schottland durchgeführt. Der Vortrag eines römisch-katholischen

Referenten wird sich dem Einfluss der Theologie Bernards von Clairvaux auf Calvins Denken widmen. Ein zweites Referat wird sich in umfassenderer Weise mit der Theologie Calvins aus römisch-katholischer Perspektive befassen. Die beiden Vorträge aus reformierter Sicht werden die Themen «Calvin und die Liturgie» sowie «Die Kirche als Mutter in Calvins Institutio» behandeln. Da das Jahr 2010 auch das 450. Jubiläum der Reformation in Schottland markiert, werden die Cunningham Lectures (Vorträge) an der Universität Edinburg von November 2009 bis Januar 2010 stattfinden und sich nochmals eingehend mit den Auswirkungen der Reformation auf Schottland befassen.

23


24

CALVIN09

S端dafrika

Lange Zeit zutiefst ambivalent Auch Kirchen in der calvinistischen Tradition st端tzten in S端dafrika die Apartheid. Genauso beriefen sich die Apartheidgegner auf den Genfer Reformator. Heute stehen die Kirchen vor der Herausfordung, ihre Einheit im Gottesdienst und in den Strukturen noch sichtbarer zu leben.


b

CALVIN IN SÜDAFRIKA

Dirkie Smit

Der Calvinismus kam gegen Mitte des 17. Jahrhunderts nach Südafrika, als die erste holländische Niederlassung am Kap der Guten Hoffnung gegründet wurde. Während der Kolonialzeit gelangten mit den Einwanderern verschiedene Zweige der reformierten Kirche und ihrer Tradition nach Südafrika, sodass man von einem bedeutenden Einfluss Calvins reden darf. Der holländische Calvinismus war dabei der prägende Faktor. Dazu kam, dass ab 1688 auch eine stattliche Anzahl französischer Hugenotten einwanderte und sich allmählich presbyterianische und kongregationalistische Gruppen hinzugesellten, die wichtige Funktionen im öffentlichen Leben übernahmen. Ein Fünftel ist reformiert

Noch heute ist die Bevölkerung von Südafrika weitgehend religiös und mehrheitlich christlich geprägt. Rund ein Drittel der Einwohner zählt sich zu einer der unabhängigen afrikanischen Kirchen, etwa ein Zehntel ist römischkatholisch. Der Rest gehört den verschiedenen protestantischen Bewegungen an, von denen die Kirchen niederländisch-reformierten Ursprungs mit rund einem Fünftel der Bevölkerung bei weitem die grösste konfessionelle Gemeinschaft sind. Bis Ende der Apartheidzeit waren die Geschichte und das öffentliche Auftreten der reformierten Gemeinschaft in Südafrika zutiefst ambivalent. Seit 1857 wurde das Abendmahl in den niederländisch-reformierten Gemeinden unter Weissen und Schwarzen separat gefeiert. Diese Gemeinden trennten die Gläubigen wegen ihrer Rasse. Viele Forscher sind der Ansicht, dass diese Entwicklung in der Kirche entscheidend

zur späteren Einführung der politischen Ideologie der Apartheid (wörtlich übersetzt: Trennung) beitrug. Die Apartheid wurde von reformierten Theologen und Pfarrern biblisch und theologisch begründet und von einer Mehrheit der weissen Mitglieder dieser Kirchen unterstützt. Wegweisendes Bekenntnis von Belhar

Gleichzeitig jedoch bildete sich in der ökumenischen Bewegung ausserhalb und innerhalb Südafrikas eine vehemente Widerstandsbewegung gegen die Apartheid. Interessant ist, dass dieser Widerstand sich ebenfalls auf Calvin berief und sich der reformierten Tradition verpflichtet fühlte. Während der 1980er-Jahre wurde mit dem Bekenntnis von Belhar ein neues reformiertes Bekenntnis angenommen, das drei entscheidende Punkte der Apartheidtheologie und des Apartheidglaubens kritisiert: Es stellt sich gegen die Weigerung, eine wirkliche Einheit der Kirche zu praktizieren, gegen den Mangel an Vertrauen in die versöhnende Macht Christi zur Überwindung natürlicher und kultureller Trennungen und gegen die tiefverwurzelten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Formen von Unrecht, welche die Apartheid mit sich brachte. Das Bekenntnis dankt dem Dreieinigen Gott der Bibel für das Geschenk der Einheit, ruft jedoch zugleich die Gläubigen auf, sichtbare Einheit, wahre Versöhnung und barmherzige Gerechtigkeit Wirklichkeit werden zu lassen.

ne Einheit sichtbarer durch die Erneuerung ihrer kirchlichen Struktur und ihrer Kirchenordnung zu demonstrieren. Dasselbe gilt auch für die gottesdienstliche Gemeinschaft und das gemeinsame Glaubensbekenntnis. Nur so lassen sich die zerstörerischen Spaltungen der Vergangenheit überwinden. Bedauerlicherweise ist nach wie vor keine Einheit da, was tiefe und schmerzvolle Auswirkungen auf das Zeugnis der reformierten Kirchen als vereinte oder sich vereinigende Kirchen hat. Gottes Gerechtigkeit bezeugen

Schliesslich stehen die Kirchen auch vor der Herausforderung, in Wort und Tat öffentlich Gottes barmherzige Gerechtigkeit zu bezeugen, sei es durch ihre eigene Nachfolge, sei es durch Aufrufe an den Staat, die Gesellschaft und die öffentliche Meinung. Auf diese Weise können und sollen sie nicht nur die Last vergangenen Unrechts abbauen, sondern sich auch den gegenwärtigen Herausforderungen von Armut, Not, Aids, Missachtung der Menschenwürde, Gewalt und Verbrechen stellen. Die südafrikanischen Calvinisten sind sich bewusst, dass sie diese Ziele nur gemeinsam mit Christen und Andersgläubigen in Südafrika und auf der ganzen Welt erreichen können.

Nach wie vor keine Einheit

In der gegenwärtigen Periode des Gesellschaftswandels stehen die Kirchen immer noch vor der Aufgabe, ihre eige-

Dr. Dirkie Smit ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Stellenbosch in Südafrika.

25


26

CALVIN09

Ungarn

Als Unbekannter einflussreich Obschon Luther in der Reformationszeit in Ungarn weit bekannter als Calvin war, wurde 1567 das reformierte Bekenntnis angenommen. Calvins Gedanke der Reformation des ganzen Lebens bot eine bessere Perspektive im damals chaotischen Ungarn, wo der Calvinismus bis heute positiv besetzt ist.


b

CALVIN IN UNGARN

Gustàv Bölcskei

Die Verbreitung und schnelle Expansion der calvinischen Reformation in Ungarn erstaunt auf den ersten Blick. Calvin kannte weder Hauptfiguren der ungarischen Reformation persönlich, noch führte er einen Briefwechsel mit ihnen. Man berief sich ziemlich spät auf ihn, nämlich im Jahre seines Todes 1564. Während eines Abendmahlsstreites wurden seine Erörterungen über das Abendmahl zitiert – freilich ohne Erwähnung des Namens des Verfassers. Das städtische Bürgertum in der ungarischen Gesellschaft nahm vor allem die lutherische Gedanken auf und wurde zunächst von der süddeutschen Reformation kaum beeinflusst. Entsprechend überraschend ist es, dass in Ungarn in den 1550er-Jahren der helvetische Zweig der Reformation bestimmend wurde und auf der Synode in Debrecen im Jahre 1567 der Heidelberger Katechismus und das Helvetische Bekenntnis als offizielle Bekenntnisschriften der ungarischen Reformierten angenommen worden sind. Reformation des ganzen Lebens

Suchen wir eine Erklärung für diese nicht selbstverständliche Wende, ist sie in den damaligen chaotischen poli-

tischen, wirtschaftlichen und sozialen Zuständen und im verworrenen Staatswesen Ungarns zu suchen. In dieser instabilen Situation war der vom Calvinismus vertretene Grundgedanke der Reformation des «ganzen» Lebens eher geeignet, auf die existenziellen Fragen der Zeit eine Antwort zu geben als die bloss innere Reformation und Erneuerung, die das Luthertum anstrebte. Calvins Erneuerung ging weit über die Lehrentscheidungen und kirchlichen Strukturen hinaus. Seine Überzeugung, die ganze Welt sei «Schauplatz von Gottes Herrlichkeit» (theatrum gloriae Dei), hatte daher wirkliche Gestaltungskraft in unserem Lande. Dies ist auch der Grund dafür, dass die Person von Calvin in der ungarischen Politik- und Kulturgeschichte positiv besetzt ist, im Gegensatz zu den weitverbreiteten negativen Vorurteilen in andern Ländern. Unter den positiven Assoziationen spielen Freiheit, Unabhängigkeit, politische, kulturelle und wirtschaftliche Autonomie eine eminente Rolle. Die reformierten Gemeinden und die von ihnen unterhaltenen Schulen waren von Anfang an Träger der nationalen Unabhängigkeit, der ungarischen Kultur, der Muttersprache und der puritanischen Lebensführung.

Aus ihrem Verantwortungsbewusstsein heraus haben die Reformierten sich erfolgreich gegen diktatorische und libertinistische Tendenzen gewehrt. Immer waren sie bereit, dafür Opfer zu bringen. Einheit der Kirche ist zentral

Es ist bekannt, wie sehr Calvin die Einheit der Kirche am Herzen lag. Dieses Erbe trug auch dazu bei, dass es in der Geschichte der ungarischen Reformierten nie zur selbstverschuldeten Kirchenspaltung kam, obwohl dies in der weltweiten reformierten Familie des Öfteren geschah. Selbst in der historisch bedingten Zerrissenheit blieb die Zusammengehörigkeit der verschiedenen Kirchen im Karpatenbecken erhalten. Diese Tatsache berechtigt uns natürlich nicht, uns als Hüter der reformierten Tradition zu betrachten. Vielmehr sehen wir auch darin unsere Verantwortung bestätigt, das lebendige reformierte Erbe in der Form einer ausserhalb der Landesgrenzen tätigen, das Gemeinwohl fördenden Kirche zur Geltung zu bringen.

Bischof Dr. Gustàv Bölcskei ist Hauptbischof der Reformierten Kirche Ungarns in Debrecen.

27


28

CALVIN09

USA

Calvin zum Erwachen In den USA hat Calvin ein ambivalentes Image. Dabei könnte sein Vermächtnis wertvolle Impulse geben: Einheit für die zersplitterten US-Kirchen, Stärkung des Priestertums aller Gläubigen, soziales Engagement statt Konkurrenzkampf und Gnade anstelle von Selbstbehauptung.


b

CALVIN IN DEN USA

Joseph D. Small

Der Hinweis auf Johannes Calvins 500. Geburtstag löst bei vielen Presbyterianern Gähnen oder Stirnrunzeln aus, wenn nicht gar abschätziges Naserümpfen. Woher kommt diese negative Einstellung gegenüber Calvin? Lutheraner lieben Martin Luther. Die Herzen der Methodisten werden bei der Erwähnung des Namens von John Wesley warm. Presbyterianer dagegen wissen wenig mit Johannes Calvin und dessen Vermächtnis anzufangen. Calvin ist für Reformierte kein Idol. Calvin ist einflussreich ohne Podest

Nun hätte sich Johannes Calvin ja über unsere Zurückhaltung gefreut. Er wollte nicht verehrt werden. Aber wir brauchen Calvin gar nicht auf ein Podest zu heben, um anzuerkennen, dass sein Verständnis des christlichen Glaubens und Lebens die reformierten Kirchen weltweit bis heute prägt. In den Vereinigten Staaten dürften in diesem Jubiläumsjahr vor allem vier Schwerpunkte aus Calvins Vermächtnis für die Erneuerung kirchlichen Lebens von Bedeutung sein. Einheit: Calvin hat den Ruf eines Unruhestifters, der die katholische Kirche mit flammender Rhetorik und bitteren Schmähungen verwarf. Mit seiner Kritik an der katholischen Kirche und ihren Praktiken wollte er sich jedoch nicht von ihr trennen, sondern sie reformieren. Calvin ging davon aus, dass die wiederhergestellte Einheit der Kirche ein Gebot des Evangeliums sei. Er zählte die mangelnde Einheit der Kirche «zu den Grundübeln unserer Zeit». Diese Einsicht ist für die Situation in den Vereinigten Staaten besonders relevant. Kennzeichnend für das kirch-

liche Leben ist hier die Zersplitterung in unzählige Denominationen, die marktorientierte Kirchenkonkurrenz als Normalfall und der Widerstand gegen ökumenische Bemühungen um sinnvolle Formen kirchlicher Einheit. Es gibt in Amerika mindestens 45 reformierte Denominationen – davon 22, die zur presbyterianischen Familie gehören. Keine Spaltung der Christen

Ämterordnung: Mit seinen kirchlichen Ämtern – Pastoren/Lehrer, Älteste und Diakone – wollte Calvin die Aufspaltung der Christen in «Priester und Laien» überwinden. Seine Ämterordnung in der Kirche verleiht dem «Priestertum aller Gläubigen» sichtbaren Ausdruck. Zwar sind die reformierten Kirchen Amerikas Calvins Vision treu geblieben. Allerdings ging deren Substanz weitgehend verloren. Zu oft wird das diakonische Amt herabgestuft zur Erbringung freundlicher Dienste zum Wohl der Gemeinde; das Ältestenamt wird in einen Gemeindeverwaltungsausschuss umfunktioniert, und Pastoren sehen sich in die Rolle von CEOs gedrängt. Soziales Engagement: Calvin bezeugte in Genf in Wort und Tat die Verantwortung der Kirche für wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Seine theologischen Überzeugungen sind Grundlage für sein Engagement zur Förderung des Erziehungs- und Gesundheitswesens, der Flüchtlingshilfe und Arbeitsbeschaffung oder eines fairen Kreditwesens. In einem Amerika, das sich nur zu gerne auf den Konkurrenzkampf und dessen Berechtigung beruft, schenkt Calvin

der Kirche neue Erkenntnisse für ihr gesellschaftliches Handeln. Gnade statt Selbstbehauptung

Gnade: In Amerika, wo das Gefühl von Eigenständigkeit und Selbstbehauptung vorherrscht, hat der Akzent, den Calvin auf die Gnade legt, befreienden Charakter. Anstelle angstvollen Strebens werden wir befreit von der Sorge um unsere eigene Gerechtigkeit vor Gott und die Tiefe unseres persönlichen Glaubens. Weder kann das, was wir tun, noch das, was wir glauben, unser Leben rechtfertigen. Keines von beiden ist eine Vorbedingung für Gottes Liebe. Calvin unterstreicht, dass die Dankbarkeit für die Gnade Christi uns frei macht für eine dankbare Antwort auf Gottes schrankenlose Liebe und in uns Raum schafft für liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen. In den Fussstapfen Calvins sind auch wir in der Lage, ein von Gnade erfülltes Leben zu führen, indem wir uns unsererseits selbstlos und ohne Vorbehalt für andere einsetzen.

Dr. Joseph D. Small ist Leiter der Abteilung Theologie, Gottesdienst und Bildung der Presbyterianischen Kirche in Louisville KY, USA.

Informationen zum Calvin-Jubiläum in den Vereinigten Staaten sowie Studiendokumente mit Untertiteln in sechs Sprachen sind abrufbar unter www.pcusa.org/calvinjubilee.

29


30

INTERVIEW

«Wir alle müssen uns heute doppelt anstrengen» In Privatbankierkreisen der französischen Schweiz spielen calvinistische Werte auch heute noch eine Rolle. Für Adrian Künzi von der Bank Wegelin sind diese Werte in der Finanzkrise ein wichtiger Kompass. Er hofft auch auf Anstösse durch das Calvin-Jubiläum.

Herr Künzi, kommt das 500-Jahr-Jubiläum von Calvin mitten in der Finanzkrise gerade zum richtigen Zeitpunkt, weil die Banken in schlechten Zeiten etwas Ethik ganz gut vertragen? Adrian Künzi*: Tatsächlich zeigt die Finanzkrise, dass die Bankenbranche wieder mehr Ethik braucht. Die Überheblichkeit der Banken und der Banker war ein Mitauslöser der Finanzkrise. Man hatte das Gefühl, alles zu beherrschen. Die Zentralbanken meinten, durch die Geldmenge die Weltkonjunktur steuern und sogar Rezessionen zukünftig verhindern zu können. Die Grossbanken schliesslich gingen von einem grenzenlosen Wachstum aus. Die Überheblichkeit zeigte sich auch im persönlichen Rahmen. Banker forderten Boni, die keinen Bezug mehr zur Realität hatten. Was ist zu tun? Es wäre wichtig, wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Wer viel gewinnen kann, soll auch das Risiko tragen, viel verlieren zu können. Diese Symmetrie fehlt. Wie kann diese Symmetrie erreicht werden? Leute, die an der Spitze einer Bank stehen, sollten nicht nur Manager, sondern auch Eigentümer sein. Bei der Bank Wegelin kennen wir dieses System aufgrund unserer Rechtsform der Kommanditgesellschaft. Wir unterscheiden nicht zwischen Eigentümern und Managern. Wer diese Privatbank führt, ist auch Teilhaber und haftet mit seinem privaten Vermögen. Wir können viel gewinnen, aber auch alles verlieren. Entspricht dieses System auch Calvins Gedanken, dass Reichtum und Verantwortung zusammengehören? Auf jeden Fall. Zudem verhindert dieses System auch, dass ein Banker nur den kurzfristigen Gewinn im Auge hat. Wenn Sie Teilhaber der Bank sind, haben Sie ein vitales Interesse daran, dass die Bank langfristig Gewinne erzielt. Da gehen Sie deutlich weniger Risiken ein.

Vertreter Ihrer Bank haben sich schon früh kritisch zu den Übertreibungen an den Finanzmärkten geäussert. Haben Wegelin-Leute eine besonders gute Nase oder ist Zurückhaltung Teil der Hauspolitik? Wir haben nicht die bessere Nase als andere. Doch wir sind kritische Beobachter. Das können wir sein, weil wir auf verschiedene Geschäftstätigkeiten, die in letzter Zeit kritisiert worden sind, verzichten. Beispielsweise beschränken wir uns


b

Fotos: Luc Georgi

ADRIAN KÜNZI

mit unserem Niederlassungsnetz bewusst auf den Schweizer Markt. Andere Banken, die wie wir 600 Mitarbeiter beschäftigen und 21 Milliarden Franken verwalten, hätten längst Niederlassungen im Ausland. Weil wir nicht im Ausland tätig sind, hatten wir die nötige Distanz, um zu sehen, dass die Preisentwicklung im US-Immobilienmarkt und die weltweit zunehmende Verschuldung alarmierend waren. Wir sehen unsere Rolle nicht als Verkäufer von Finanzprodukten, sondern als Partner für das nachhaltige Anlegen von Vermögenswerten. Spielt hier auch der Gedanke von Calvin eine Rolle, dass Reichtum nie Selbstzweck sein darf? Dieser Gedanke ist eigentlich das Fundament der Schweizer Privatbanken. Was verdient wird, soll nicht nur konsumiert, sondern auch wieder investiert werden. Dieses Prinzip ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor unserer Branche. Steht heute nicht vielmehr die Maximierung des persönlichen Gewinns im Vordergrund? Der Reichtum ist tatsächlich oft mehr Selbstzweck und nicht mehr – wie zu Calvins Zeiten – ein Zeichen, dass man von Gott auserwählt ist. Es ist leider so, dass es heute eine grössere Rolle spielt, in welchem Wellnesshotel Sie das Wochenende verbringen, als wie Sie das verdiente Geld wieder investieren. Hier hat man sich stark vom Grundgedanken Calvins entfernt. Ich hoffe, dass das Jubiläum Anstösse bietet, Calvins gute Prinzipien wieder in Erinnerung zu rufen. Jedenfalls wird die überdurchschnittlich hohe Dichte an erfolgreichen Privatbanken in Genf und Umgebung als eine Folge des Calvinismus gesehen. Ist man sich in Bankierkreisen der französischen Schweiz dieser Tradition noch bewusst? Des kulturellen Erbes sind sich die Privatbanken sehr bewusst. Beispielsweise wurde das Reformationsmuseum in Genf von vielen Privatbankierfamilien finanziell unterstützt. Doch es geht nicht nur darum, ein schönes Museum zu haben, sondern auch darum, was Calvins Ideen heute noch zu sagen haben. Wie weit ist Calvins Haltung, dass der Reichtum auch zu Verantwortung für die Gesellschaft verpflichtet, in den Privatbanken noch präsent? Viele Privatbanken sind mit zahlreichen Stiftungen in ganz unterschiedlichen wohltätigen Projekten engagiert. Die Bank Wegelin unterstützt beispielsweise ein Projekt zur Aufbereitung von Trinkwasser in armen Ländern mittels des einfachen Prinzips von Pet-Flaschen und leistet Unterstützungsbeiträge an Stiftungen für die Ausbildung von Jugendlichen in Randregionen der Schweiz und in Mittelamerika. Das soziale Engagement in Ehren. Wie aber erklären Sie einem Bankkunden, dass er mit seinem Geld nicht nur eine möglichst hohe Rendite erzielen darf, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung trägt? Wir sind der Meinung, dass Investitionen, welche die gesellschaftliche Verantwortung berücksichtigen, auch im Interesse des Kunden sind. Bei einem Unternehmen, das mit seinen Mitarbeitern schlecht umgeht oder ökologisch bedenk-

lich handelt, ist das Risiko viel grösser, mit seinen Aktien Geld zu verlieren. Andererseits sind Investitionen im ökologischen Bereich wie beispielsweise in Unternehmen, die Wasser aufbereiten, interessant. Diese Firmen brauchen zur Zeit viel Geld für die Forschung. Zugleich kann diese Investition auch einmal gute Erträge liefern, weil diese Unternehmen aufgrund der demografischen Entwicklung in Zukunft Gewinne erzielen können. Könnten die Banken in der Finanzkrise auch von Calvins Arbeitshaltung profitieren: ein Eifer, der sich einsetzt, unabhängig vom Erfolg? Wir alle müssen uns heute doppelt anstrengen, um aus dieser Krise herauszukommen. Ich hoffe allerdings nicht, dass der Erfolg ausbleiben wird. Es nützt auch nichts, jetzt auf gewisse Sündenböcke wie das Bankgeheimnis zu zeigen, das als Ursache der Krise absolut irrelevant ist. Genauso falsch sind aus meiner Sicht die riesigen Stabilitätspakete. Es kann nicht die Aufgabe von Staaten sein, die Strukturen zu erhalten. Die Krise zeigt, dass wir auch in Kauf nehmen müssen, dass Teile von Banken geordnet in Konkurs gehen können. Ist das einmal durch, können wir auf einer gesunden Basis wieder starten. Das ist im Moment aber noch nicht der Fall. Bis es soweit ist, können wir von Calvins Arbeitshaltung und Eifer nur profitieren. Aber auch in guten Zeiten haben wir diesen nötig, damit wir nicht sofort in die nächste Krise schlittern. * Adrian Künzi (36), geschäftsführender Teilhaber bei Wegelin & Co. Privatbankiers, ist in Biel aufgewachsen und hat in St. Gallen und Cambridge Ökonomie studiert. Seit 2004 hat er Niederlassungen der Bank Wegelin in Lausanne und Genf aufgebaut. Das Interview führte Matthias Herren

31


calvin09

«Calvin ist ein Wasserfall, ein Urwald, ein Dämonisches, irgendetwas direkt vom Himalaja herunter, absolut chinesisch, wunderbar, mythologisch; es fehlen mir gänzlich die Organe, die Saugnäpfe, dieses Phänomen auch nur in mich aufzunehmen, geschweige denn richtig darzustellen. […] Ich könnte mich gut und gern hinsetzen und nun mein ganzes fernes Leben nur mit Calvin zuzubringen.»

Karl Barth in einem Brief an Eduard Thurneysen am 8. Juni 1922


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.