Open Forum Davos 2010 bulletin SEK

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Nr. 1 2010

bulletin

sek · feps

Das Magazin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes

Sonderausgabe zum Open Forum Davos 2010 4 Sonderling Schweiz

24 Wahrheitsanspruch von Religionen

30 «Yes we can»

Interview zu Steuerflucht und Bankgeheimnis

Vorschlag für einen Grundkonsens der Religionen

Das Evangelium des Barack Obama

9

26

36

Nach der Finanzkrise

Ideen für ein neues Wirtschaftsmodell

Alternde Gesellschaften

Ist gut altern eine Frage der Planung?

Menschen im Porträt

Ökoaktivistin Vandana Shiva kämpft gegen Global Players.


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bulletin Nr. 1 / 2010

EDITORIAL

Willkommen am Open Forum Davos 2010 Liebe Leserinnen, liebe Leser, liebe Besucherinnen und Besucher

IMPRESSUM © Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK Postfach CH-3000 Bern 23 Telefon 031 370 25 01 Fax 031 370 25 80 info@sek.ch, www.sek.ch Erscheinungsweise: 4-mal jährlich Auflage: 6 500 deutsch, 1 200 französisch, 500 englisch Leiter Kommunikation: Simon Weber Administration: Nicole Freimüller-Hoffmann Redaktion: Maja Peter Gestaltung/Layout: Meier Mediadesign Silvan Meier Übersetzung: Aus dem Französischen: Elisabeth Mainberger-Ruh Aus dem Englischen: Dorothea Beck, Jana Dichelle Korrektorat: Elisabeth Mainberger-Ruh Druck: Schläfli & Maurer AG, Interlaken Titelbild: Open Forum Davos 2009 Alessandro della Valle / Keystone

Im neuen Jahr präsentiert sich das SEK-Bulletin in neuem Kleid. Dies um den gewandelten ästhetischen Vorstellungen und Lesegewohnheiten unserer Leserinnen und Lesern entgegenzukommen. Es ist uns aber auch wichtig, mehr Farbe in eine Welt hineinzubringen, die sich uns allzu oft in Schwarz-Weiss präsentiert. Klimawandel, Finanzkrise, Streit unter Religionen, Überalterung unserer westlichen Gesellschaften und damit verbundene Herausforderungen: Die schlechten Nachrichten verderben uns schon früh am Morgen den Alltag, und die Antworten auf die Probleme bleiben oft einem Schwarz-Weiss-Denken verhaftet, nuancenlos und simpel. Unsere Umwelt wird immer komplexer, das Vokabular aber, mit dem wir diese Komplexität ausdrücken, schrumpft. Das irritiert, denn mit einfachen Rezepten oder eindimensionalem Denken lassen sich unsere komplexen Probleme auf Dauer nicht lösen. «Komplexität verlangt, dass wir uns bis auf ihre Ebene hochstemmen, und sie kommt uns dabei in keiner Weise entgegen», schreibt der französische Physiker und Philosoph Marc Halévy. In dieser komplexen und stürmischen Welt bietet nun das vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund SEK und dem World Economic Forum gemeinsam organisierte Open Forum Davos eine Plattform, auf der Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion öffentlich debattieren, Vorschläge machen und Themen reflektieren, die uns unter den Nägeln brennen. Kurz, das Open Forum Davos regt uns zum eigenständigen Denken an. Auch Sie, liebe Besucherin, lieber Besucher, sind eingeladen, den Ball aufzunehmen, sich nicht mit Schwarz-Weiss-Anworten oder einfachen Rezepten abspeisen zu lassen, sondern sich in die Debatte einzubringen. Natürlich nimmt die evangelische Kirche ebenfalls teil an dieser Debatte. Auf den folgenden Seiten legen kirchliche Verantwortliche, Theologinnen und Ethiker ihre Überlegungen zu Themen dar, die am Open Forum zu reden geben. Sie werfen einen neuen Blick auf das Alter, präsentieren einen anderen Standpunkt zur Finanzkrise und eine theologische Reflexion über das Evangelium des Barack Obama. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre! Simon Weber Pfarrer, Leiter Kommunikation SEK


Inhalt

Panel 1 Sonderling Schweiz

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24

Nach der Finanzkrise

Zur Diskussion gestellt

Könnte moralisch verantwortungsvolles Handeln eine Krise verhindern? Von

4

«Wir profitieren alle von den Geschäften der Finanzindustrie.»

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Beat Kappeler und Denis Müller

Panel 7 Nuklearwaffen

Für einen Konsens der Religionen.

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Panel 5

Bild von Shigeo Hayashi

Von Thomas Wipf

Nuklearwaffen: Wie weiter?

Altern Menschen

Panel 3 Klimawandel

Maja Peter im Gespräch mit Wirtschaftsethiker Christoph Weber-Berg

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Panel 2 Nach der Finanzkrise

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Die Klimapolitik der Kirchen. Von Otto Schäfer und Hella Hoppe

Kontrolle bis zuletzt? Von Ivana Bendik Panel 6 «Yes we can»

9

Ideen für ein neues Wirtschaftsmodell. Von Hella Hoppe und Otto Schäfer

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Der SEK

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund am Open Forum Davos. Von Theo Schaad

20

«Wahrheit ist Gott.» Von Rajmohan Gandhi

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Vandana Shiva

«Wer die Natur zer­stört, vernichtet seine Lebensgrundlage.» Von Stephanie Riedi

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Panel 4 Wahrheitsanspruch von Religionen

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30

Das Evangelium des Barack Obama.

Schlusspunkt

Alternde Gesellschaft: Herausforderung und Chance für die Kirche.

Von Helen Gucker-Vontobel

Von Matthias D. Wüthrich

Wann ist eine Reli­gion eine Religion? Von Christopher Caldwell

bulletin Sonderausgabe zum Open Forum Davos 2010

Zum achten Mal organisieren der Schweizerische Evangelische Kirchenbund und das World Economic Forum das Open Forum Davos. Die Themenschwerpunkte des vorliegenden «bulletins» nehmen Bezug auf das Programm des Open Forum. Mehr Informationen zu den einzelnen Panels und den Podiumsgästen unter www.openforumdavos.ch


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Panel 1 –

Sonderling Schweiz

«Wir profitieren alle von den Geschäften der Finanzindustrie.» Theologe und Wirtschaftsethiker Dr. Christoph Weber-Berg zeigt im   Interview Verständnis für Aspekte des Bankgeheimnisses, erklärt,   warum sich Gewinn und Ethik ergänzen, und skizziert seine Vision eines Unternehmensmodells der Zukunft. Von Maja Peter *

H

err Weber, wie beurteilen Sie das Bankgeheimnis aus ethischer Perspektive? Ich sehe einerseits den Schutz des Individuums: Persönliche Daten sind aus ethischer Sicht schützenswert. Andererseits finde ich es problematisch, wenn das Bankgeheimnis zu Missbrauch führt und dieser im Regelwerk schon fast eingeschlossen ist. Das Bankgeheimnis soll nicht dazu missbraucht werden, sich vor der Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft zu drücken.

Das Bankgeheimnis unterscheidet zwischen Steuerhinterziehung und Steuerbetrug. Ist das ethisch vertretbar? Aus dem schweizerischen Rechtsverständnis heraus ist es ethisch vertretbar, aber die Schweiz ist keine Insel. Wenn durch die Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Strafrechtsdelikt Ausländern die Möglichkeit zum Missbrauch eröffnet wird, ist sie nicht mehr legitim. Wozu dient diese Unterscheidung? Damit Sie nicht sofort kriminalisiert werden, wenn Sie Ihre Steuererklärung nicht ganz korrekt ausfüllen und ein geerbtes Kässeli der Grossmutter nicht deklarieren. Bestraft würden Sie ja auf jeden Fall, je nachdem sogar recht hart, aber sie wären deswegen nicht im strafrechtlichen Sinn kriminell.

Es gibt aber die eine oder andere Schweizerin, die das Kässeli der Grossmutter auf ein vom Bankgeheimnis geschütztes Konto in Liechtenstein verschiebt und dort «vergisst». Auch in Liechtenstein verändert sich vieles. Und: Sobald Steuervermeidung aktiv betrieben wird, handelt es sich um Steuerbetrug. Ich will das Bankgeheimnis nicht heiligsprechen, aber ich habe Verständnis für gewisse Aspekte. Wo es gegenüber dem Ausland zum Missbrauch einlädt, ist es jedoch nicht mehr haltbar. Es ist nicht nur das Bankgeheimnis, das einlädt zum Missbrauch, sondern es waren Schweizer Bankangestellte, die mit beträchtlicher krimineller Energie die Kunden dazu animiert haben, wie die Unterlagen aus dem Vergleich USA–Schweiz im Fall UBS belegen. Ich schiebe die Schuld nicht den Ausländern zu. Es ist illegitim, wenn ein Geschäftsmodell darauf beruht, dass sich ausländische Kunden gegenüber dem Gesetz ihrer Herkunftsländer strafbar machen. Kein Wunder, haben gewisse Schweizer Bankangestellte Angst, ins Ausland zu reisen. Ist es ethisch vertretbar, dass das Bundesamt für Justiz nun diesen Bankern hilft, abzuklären, ob sie vor Verhaftung Angst haben müssen?


dominic ott

Wirtschaftsethiker und Dozent Christoph Weber-Berg zeigt im Gespräch auf, dass ineffizientes Wirtschaften nicht nur ökonomisch «falsch» ist, sondern auch ethisch «schlecht».

hat vor Jahren geschrieben, man sollte und könnte Der Staat hat bis jetzt stark in Kauf genommen, auf das Bankgeheimnis verzichten. Warum hat es dass Banken auf dieser Basis geschäften. Die Banker dennoch so lange gedauert, bis es gefallen ist? sind so gesehen mit Recht davon ausgegangen, dass sie Es haben zu lange zu viele Leute davon profisich im geschützten Rahmen bewegen. Deshalb kann tiert – im In- und Ausland. Es liegt in der Natur vieman sagen, der Staat sei ihnen etwas schuldig. Ich wehler Menschen, dass man Dinge, re mich allerdings gegen den Gedie gut funktionieren, nicht verneralverdacht gegenüber allen, die ändern mag. Die letzte Chance, im Privatbanking Auslandkunden «Es haben zu lange zu das Bankgeheimnis zu erhalten, betreuen. Ich kenne viele Entscheiviele Leute vom wären die Verhandlungen zum dungsträger bei Schweizer Banken, welche die Situation nicht ausgeBankgeheimnis profitiert.» Zinsbesteuerungsabkommen in den Jahren 2002–2004 gewesen. reizt und dabei sogar Nachteile in Doch man spielte auf Zeit, und Kauf genommen haben. Die Ethik viele Akteure haben es verpasst, und der Ruf der Bank waren ihnen ihr Geschäft rechtzeitig auf eine Zukunft ohne Bankwichtiger. Auch solche Leute sind jetzt verunsichert. geheimnis auszurichten. Das krampfhafte Festhalten am BankgeheimKirchen, Entwicklungshelfer und linke Politikenis hat vielleicht auch mit der Art der Kritik zu tun. rinnen kritisieren das Bankgeheimnis seit langem. Kirchenvertreterinnen, Linke und EntwicklungsorSogar Hans Bär, der Doyen der gleichnamigen Bank


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ganisationen haben das Bankgeheimnis fundamental kritisiert. Die Reaktion auf diese Kritik war entsprechend fundamental. Beide Seiten waren nicht willens und nicht in der Lage, die Situation differenzierter zu betrachten. Ihre Kritik am Bankgeheimnis ist zurückhaltend. Für mich steht nicht das Bankgeheimnis im engen Sinn, sondern die Frage der Steuergerechtigkeit im Zentrum. Nehmen wir das Beispiel Deutschland. Es gibt Deutsche, die durch das Wirtschaftswunder, das durch den Staat ermöglicht wurde, sehr reich geworden sind. Nun ziehen einige beleidigt aus ihrem Land und bezeichnen es als unethisch, dass der Staat von ihnen hohe Steuern verlangt. Das finde ich absurd. Sie haben eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, in der sie reich geworden sind. Vor dieser Verantwortung drücken sie sich, wenn sie ihr Vermögen ausser Landes schaffen. Das ist ungerecht, solches Verhalten darf das Bankgeheimnis nicht fördern.

men, um soziale Pflichten kümmert. Jesus hat sich aus meiner Sicht vor allem situativ geäussert. Er sagte zum Beispiel, man soll dem Kaiser das Geld geben, das ihm zustehe, also Steuern. In einer anderen Geschichte muss Jesus Kritik einstecken, weil er sich mit einem reichen Zöllner an einen Tisch setzt. In der Folge macht dieser seinen Betrug rückgängig und gibt die Hälfte seines Vermögens den Armen. Zu nennen wäre auch das Gleichnis der Arbeiter im Weinberg. Die Arbeiter beginnen zu verschiedenen Zeiten mit der Arbeit, trotzdem bekommt jeder einen Denar Lohn. Das ist zwar keine ethische Weisung, sondern ein Gleichnis über das Himmelreich. Aber ich denke, dass Jesus diese Metapher nicht zufällig gewählt hat. Er sagt damit gewiss auch etwas über die Frage eines existenzsichernden Lohns.

Und wie interpretieren Sie die oben zitierte Geschichte von der Vertreibung der Geldwechsler? Sie ist keine Verteufelung des Handels, sondern wendet sich gegen das Geschäftemachen mit dem Glauben. Theologisch ist die Frage «Was macht das Eine ähnliche Situation haben wir mit UBSGeld mit dem Menschen?» interessanter als die Frage Spitzenmanagern, die mit dem Hochrisikospiel «Was macht der Mensch mit dem Geld?». Es gibt das Unmengen Geld verdient haben, die Bank danach Beispiel vom reichen Jüngling, der vom Staat retten liessen, selbst Jesus fragt, was er tun müsse, um aber keinen Rappen zur Rettung ins Himmelreich zu kommen. Jeder UBS beigetragen haben. «Die Rechnung sus fragt ihn, was er dafür schon Das ist ein Systemproblem: unternommen habe. Er antwortet, Privatisieren von Gewinn und der Krise haben wir noch er befolge alle jüdischen Gesetze. sozialisieren von Verlusten sollnicht bezahlt.» Jesus fordert ihn auf, sein ganzes te nicht sein. Aber im Fall der Geld den Armen zu geben und Finanz­industrie stellt sich die Fraihm zu folgen, worauf der Jüngge, ob der Gewinn nur privatisiert ling betrübt weggeht. Darauf fragen die Jünger Jesus, wurde. Schätzungen gehen davon aus, dass sechzehn wer denn überhaupt in den Himmel kommen könne. Prozent der Steuerbeiträge in der Schweiz aus der FiDas ist für mich eine wichtige Pointe. Es geht um die nanzindustrie kommen. Dann halten die PensionskasEinstellung zum Geld, um «die Ausrichtung des Hersen acht bis zehn Prozent der Börsenkapitalisierung zens», wie es in der Rabbinischen Tradition heisst. der Schweizer Börse, das heisst, auch sie profitieren vom Aktienaufschwung der Grossunternehmen. Dazu Joe Ackermann, Leiter der Deutschen Bank, sagt, kommen die Lebensversicherungen. Es sind also nicht es gehe im Bankenwesen einzig darum, Gewinn zu nur die Manager, die sich die Taschen vollstopfen. Wir machen. Haben ethische und moralische Überleprofitieren alle direkt oder indirekt von den Geschäfgungen in Wirtschaftsfragen nichts zu suchen? ten der Finanzindustrie. Doch, natürlich. Überall, wo Menschen mit Menschen zu tun haben, spielt Moral eine Rolle. Die WirtHans Geiger, emeritierter Professor der Universchaft ist ein wichtiges Tätigkeitsfeld des Menschen, sität Zürich schreibt, der Vorwurf der Gier an die aus dem man Ethik nicht herausnehmen kann. EthiBanker sei uralt, schon Jesus hätte die Geldwechssches Handeln und Wirtschaften sind auch keine unler vertrieben. Er folgert daraus, dieser Einwand sei vereinbaren Widersprüche. (Er skizziert.) Es gibt die irrelevant, «die Banker waren schon früher gierig, Dimension von der Wirtschaft, in der etwas «falsch» ohne dass eine derartige Krise entstand». Wie stand oder «richtig» ist, und die Dimension der Ethik, in der Jesus tatsächlich zum Handel mit Geld? etwas «gut» oder «schlecht» ist. Jedes wirtschaftliche Es gibt keine neutestamentliche Geldethik, aber Handeln ist einem der vier Quadranten zuzuordnen. eine Kritik am Reichtum, der sich nicht um die Ar-


Wenn man aus sozialen Überlegungen wirtschaftlich ineffizient handelt, macht man auch aus ethischer Perspektive etwas falsch. Wie das? Wenn sie eine soziale Einrichtung wirtschaftlich ineffizient führen, ist das wirtschaftlich «falsch» und ethisch «schlecht». Sie können nämlich mehr machen für die bedürftigen Menschen, wenn sie effizient wirtschaften. Ethisch legitime Lösungen sind in der Tendenz moralisch «gut» und wirtschaftlich «richtig», man kann auch sagen nachhaltig. Ist Gewinnmaximierung demnach ethisch gut? Ich unterscheide zwischen dem, was wirtschaftlich richtig ist, und Gewinnmaximierung. Mit Gewinnmaximierung nimmt man Lösungen in Kauf, die moralisch schlecht sind. Das ist unethisch. Sie waren vor Jahren Kreditsachbearbeiter bei der Credit Suisse. Wie haben Sie die Arbeit erlebt, war da Platz für ethische Überlegungen? Die Arbeit bei der Credit Suisse ist der biografische Auslöser für meinen Werdegang. Ich war Springer in der Abteilung, die ausländische Firmenkunden betreute, und stellte Informationen für die Beurteilung von Länder- und Firmenrisiken zusammen. Bei den Länderrisiken hatten viele Kriterien ethischnormative Qualitäten, zum Beispiel die Situation der Menschenrechte in einem Land. Ich fand, dass dies damals noch zu wenig systematisch geschah. Deshalb wollte ich ursprünglich meine Doktorarbeit darüber schreiben, welche ethischen Kriterien in Kreditentscheide einfliessen. Wie kann ein Mitarbeiter, dem ethische Werte wichtig sind, diese einbringen, ohne Nachteile in der Karriere in Kauf zu nehmen? Ich sage den Studierenden, sie sollen nicht resignieren angesichts der grossen Probleme, die sie alleine nicht angehen können, sondern jene Probleme lösen, die in ihrem Einflussrahmen liegen. Ich mache mit ihnen Übungen, die sie sensibilisieren sollen für ihre ethischen Handlungsspielräume. Auf Managementebene gilt trotzdem mehrheitlich Gewinnmaximierung über alles. Die Anreize sind falsch. Es gibt zwar in den meisten Firmen einen ethischen Kodex, den die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschreiben müssen. Aber die lohnwirksamen Anreize ignorieren den Kodex vollständig. Oftmals führen sie sogar dazu, dass Mitarbeiter, die sich an den Code of conduct im Leit-

Panel 1: Sonderling Schweiz

bild halten, weniger Bonus kassieren. Ich habe das damals bei der Credit Suisse beobachtet. Was müsste geändert werden? Professor Josef Wieland, Wirtschaftsethiker an der Universität Konstanz, beschreibt das Unternehmen als Kooperationsprojekt. Viele Firmenleiter, gerade in der Finanzindustrie, organisieren das Unternehmen hingegen als grossen Wettbewerb nach dem Motto «alle gegen alle». Finanzielle Anreize fördern dies. Wieland zeigt auf, dass interner Wettbewerb von einem gewissen Punkt an weder ethisch noch wirtschaftlich erwünscht sein kann. Hohe Löhne und Boni sind Transaktionskosten, die sich für das Unternehmen im Grunde oft nicht lohnen. Eigentlich müssten die Leute dazu gebracht werden, besser und mehr zu kooperieren und weniger nur auf individuelle finanzielle Anreize zu reagieren. Für mich ist dies das Zukunftsmodell. Die Schweizer Banken scheinen die Krise einigermassen gut überstanden zu haben. Schon wehren sie sich mit allen Mitteln gegen stärkere Regulierung. Wird alles beim Alten bleiben? Wenn ich einen schlechten Tag habe, glaube ich ja. An einem guten Tag hoffe ich, dass sich etwas verändern wird. An beiden Tagen denke ich: Die Rechnung der Krise haben wir noch nicht bezahlt. <

* Dr. Christoph Weber-Berg ist Theologe und

Wirtschaftsethiker. Seit April 2009 leitet er an der Hochschule für Wirtschaft Zürich das Center for Corporate Social Responsibility, wo er unterrichtet und forscht. Maja Peter ist Redaktorin beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund SEK.

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NICHOLAS ROBERTS / Getty Images

Der Konkurs der Bank Lehman Brothers im September 2008 machte es deutlich: Die Finanzindustrie braucht neue Spielregeln.


Panel 2 –

Panel 2: Finanzkrise

Nach der Finanzkrise

Ideen für ein neues Wirtschaftsmodell Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist eine Herausforderung für die   Neuordnung weltwirtschaftlicher Strukturen. Die Kirchen stellen die Frage nach den Wertbezügen der Weltwirtschaft und des internationalen Finanzsystems. Die soziale Marktwirtschaft muss um eine ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft erweitert werden. Dieser Global Green New Deal ist die entscheidende Perspektive.

von Hella Hoppe und Otto Schäfer  *

S

o deutlich die Folgen der aktuellen Finanzund Wirtschaftskrise für unzählige Menschen weltweit spürbar sind, so unverständlich bleibt, wie es dazu kommen konnte. Ratlosigkeit macht sich auch breit bei der Frage, wie sich die Lage weiterentwickeln wird. Wo muss angesetzt werden, um zukünftige Finanzkrisen zu verhindern? Liegt das Hauptproblem bei einzelnen Vertreterinnen und Vertretern bestimmter Wirtschaftsbereiche? Oder sind die Börsen mit ihren schwer durchschaubaren Abläufen schuld? Hat die Politik versagt oder verweist die Krise auf fundamentale Defekte des ökonomischen Systems selbst? Diese Fragen zeigen, dass die Ursachen der Krise nur erfasst werden können, wenn die unterschiedlichen Ebenen des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems in den Blick genommen werden. Das gilt auch für die Frage nach Verantwortung, also für die ethische Beurteilung. Ist die Schuld bei Einzelnen zu suchen, wie dem zu mehr als lebenslänglicher Haft verurteilten US-amerikanischen Milliardenbetrüger Bernard Madoff oder dem Franzosen Jérôme Kerviel, dem vorgeworfen wird, der Grossbank Société Générale mit Spekulationsgeschäften einen Schaden von 4,9 Milliarden Euro zugefügt zu haben? Aus dieser indivi-

dualethischen Sicht sind die Auslöser der Finanzkrise Gier, eine Mentalität des schnellen Geldes und das unmoralische Verhalten von Spekulanten, Bankern und Anlegern, die nach maximaler Rendite streben. Diese Sicht ist nicht falsch, aber einseitig.

Unternehmenskultur ist entscheidend

Als Vertreter von Berufsgruppen und als Angehörige von Unternehmen sind Einzelne immer auch Teil eines Kollektivs mit seinen Handlungsbedingungen, Gewohnheiten und Interessen, seinem Anpassungsdruck. Spielräume für abweichende Meinungen sind minimal. In seinem Buch «Nach der Krise» zitiert der Publizist Roger de Weck den ehemaligen Kapitalmarktchef der Dresdner Bank, Jens-Peter Neumann: «Wissen Sie, was passiert wäre, wenn ich in den guten Zeiten gesagt hätte, diese Papiere sind gefährlich? Man hätte mich rausgeschmissen.» Unternehmenskulturen können Betriebsblindheit ebenso fördern wie, umgekehrt, eine offene, angstfreie, den Wert des kritischen Einspruchs achtende Atmosphäre. Ethikkodizes, wie sie für Ärzte oder Ingenieure gelten, könnten auch in anderen Berufsvereinigungen dem Gewissen des Einzelnen Rückhalt geben. Diese berufs- und unternehmens­

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geln, bei denen alle Spielenden auch zu ihrem Recht ethische Ebene betrifft übrigens nicht nur das Milieu kommen. Der Aufstellung und Prüfung einer solchen der Banker und Börsianer, sie bezieht sich zugleich Hausordnung und solcher Spielregeln dient die ethiauf die Wirtschaftswissenschaften. Denn die Krise hat sche Reflexion. Sie ist, als Dienst am Gemeinwohl, auch zum Vorschein gebracht, wie sehr in den verganauch eine Aufgabe der Kirchen. genen Jahren eine regulierungsfeindliche, neoliberale Wird dem Ansatz der evangelischen Sozialethik Grundströmung abweichende und warnende Stimnach Arthur Rich gefolgt, sind christliche Kirchen somen an den Rand gedrängt und eine produktive wiswohl einer sachgerechten als auch einer menschengesenschaftliche Meinungsvielfalt behindert hat. rechten Beurteilung gesellschaftlicher und politischer Dass die Finanzkrise (vorläufig) aufgefangen und Fragen verpflichtet. Sachgerecht geht die evangelische abgemildert werden konnte, dass die Rezession der Sozialethik vor, wenn sie in der Beschreibung des ProWeltwirtschaft (wenn es gut geht) bei voraussichtlich blems die Sachlage erfasst. Menschengerecht ist das 1 bis 3 Prozent Wachstumseinbruch statt (wie 1929) ethische Urteil im Sinne der evangelischen Sozial­ethik, bei 20 bis 30 Prozent liegen wird, ist der Rettung der indem es sich für die Bedingungen einsetzt, unter deGrossbanken durch staatliche Finanzhilfen zuzunen menschliches Leben gelingt, die menschliche Perschreiben. Letztlich Entscheidendes geschieht demson geachtet, die Gemeinschaft der Menschen und die nach auf der Ebene der globalen Strukturen. Diese irdische Schöpfungsgemeinschaft gefördert wird. werden von «globalen Mitspielern» (global players) der Wirtschaft, aber auch von Nationalstaaten bestimmt. Der vielgeschmähte, von manchen ZukunftsReform der Rentensysteme spielt eine Rolle forschern zum allmählichen Absterben verdammte Ausgelöst wurde die globale Finanzkrise durch Staat hat sich als unverzichtbar erwiesen, besonders eine Immobilienblase in den USA. Grund für die Fibezüglich seiner Fähigkeiten, sich international abnanzkrise ist jedoch nicht ein einzelnes Ereignis. Ihr zugleichen. Zugleich ist der Staat ging eine latente Wirtschaftskrise an seine Grenzen gekommen, voraus. Die Volkswirtschaften der nicht zuletzt durch die erhebliwestlichen Länder weisen schon Hohe Renditen von che Erhöhung der Verschuldung. seit Ende der Siebzigerjahre nur Finanzprodukten kompen- noch ein geringes reales WachsDie Stärkung völkerrechtlich verbindlicher Strukturen einer Welt- sierten (scheinbar) die Stag- tum auf – im Gegensatz etwa zu politik (global governance) ist für den aufstrebenden Volkswirtnation der Realwirtschaft. ein funktionierendes globales Fischaften asiatischer und erdölnanzsystem dringend notwendig. produzierender Länder. Dies zeigt «Eine Globalisierung der Märkte sich in immensen globalen volksohne Globalisierung des Rechtsstaats führt dazu, dass wirtschaftlichen Ungleichgewichten, insbesondere das Finanzsystem macht, was es will», sagt der franzwischen China und den USA. Die hohen Renditen zösische Politikberater Jacques Attali. Er fordert einen von Finanzprodukten kompensierten (scheinbar) «planetaren Rechtsstaat». Diese ordnungsethische die Stagnation der Realwirtschaft in den westlichen Ebene des Problems ist die wichtigste. Die individuVolkswirtschaften. Zugleich öffneten sich die nationaalethische Ebene (Stärkung der eigenverantwortlichen len Finanzmärkte mehr und mehr, es entstanden aufPersönlichkeit) und die berufs- und unternehmens­ geblähte globale Finanzmärkte von hoher Liquidität: ethische Ebene (Stärkung von kollektiven HandlungsWeniger als 5 Prozent der verfügbaren Mittel reichen richtlinien) sind ihr zugeordnet. aus, um den Umsatz des globalen Welthandels und der ausländischen Direktinvestitionen zu finanzieren. Eine Rolle spielt auch die Reform der Rentensysteme. Der Finanzkrise ging latente In den vergangenen Jahren wurden sie weitgehend in Wirtschaftskrise voraus kapitalgedeckte Systeme überführt. Dadurch hat sich Die christlichen Kirchen haben sich weltweit imdie Nachfrage nach langfristigen Anlagemöglichkeimer wieder in wirtschaftsethischen Fragen zu Wort ten auf den Kapitalmärkten deutlich erhöht. gemeldet. Ökonomie und Ökumene haben dabei viel Ohne die Verantwortung für die Ursachen der Figemeinsam, beide Ausdrücke enthalten das griechinanzkrise zu tragen, werden Menschen in zahlreichen sche Wort «oikos» (= Haus). Ökonomie und ÖkuEntwicklungsländern von den harten realwirtschaftmene befassen sich mit einem Haushalt von globalen lichen Folgen der Finanzkrise getroffen. Sie werden Ausmassen. Wirtschaft ist folglich als rechtes Hausbeteiligt an einem gewaltigen Gewinn- und Risikohalten in einem Haus mit Hausordnung zu verstehen. spiel, bei dem sie mehr riskieren als die Spielenden In diesem Haus darf gespielt werden, aber mit Spielre-


selbst. So wird das Menschenrecht auf Entwicklung in vielen Entwicklungsländern durch die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise verletzt: Die Einnahmen aus Exporten aus dem Verkauf von Rohstoffen gehen zurück, und die sinkende Nachfrage nach verarbeiteten Exportgütern führt zu massiv einbrechenden Produktionen in der Exportindustrie und damit zu steigender Arbeitslosigkeit. Die Einkommenssituation verschärft sich dadurch, dass die Rücküberweisungen von Arbeitsmigrantinnen und -migranten aus dem Ausland niedriger ausfallen. Besonders gravierend entwickelt sich auch die Verschuldungssituation von Entwicklungsländern. Durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise wird auch das Menschenrecht auf Nahrung gefährdet. Bereits die asiatische Finanzkrise hat gezeigt, dass viele Frauen und Mädchen unter der Krise besonders litten.

Neue Würdigung der Arbeit tut not

Eine menschengerechte ethische Beurteilung fragt danach, inwiefern ein Sozialsystem, in diesem Fall das internationale Finanz- und Wirtschaftssystem, dem Menschen dient. Welche Wertbezüge muss es berücksichtigen, um der Würde und dem Sinn menschlicher Existenz förderlich zu sein? Sehr grundsätzlich sind sogenannte Wert-Voraussetzungen. Dazu gehört das Vertrauen, das überhaupt erst den sozialen Zusammenhalt sichert und verlässliche Austauschbeziehungen möglich macht. Die Finanzkrise ist ganz wesentlich eine Vertrauenskrise (Vertrauen in den Wert von Wertpapieren und in die Verlässlichkeit von Geldinstituten, aber auch von Schuldnern bis hin zu ganzen Staaten). Die staatlichen Finanzhilfen hatten letztlich den Zweck, das Finanzsystem und einzelne Grossbanken als wesentliche Teile dieses Systems wieder vertrauenswürdig zu machen. Dieser Prozess einer dauerhaften Wiederherstellung des Vertrauens in die Finanzmärkte ist bei weitem noch nicht definitiv gesichert. Eine weitere wesentliche Wert-Voraussetzung ist die Würdigung der Arbeit und damit der Realökonomie. Arbeit gehört zu den menschlichen Entfaltungsmöglichkeiten, die dem Leben Sinn und Inhalt geben. Aus der Bedeutung des Vertrauens und der Arbeit ergeben sich zwei Konsequenzen: – Vertrauenswürdigkeit und Vertrauensfähigkeit sind unersetzbare kapitalbildende Faktoren im Finanzsystem, die sich in gewaltigen Bilanzen niederschlagen, ohne je selbst in Zahlen fassbar gewesen zu sein. – Sinn und Berechtigung der Finanzwirtschaft ist es, der Realwirtschaft zu dienen.

Panel 2: Finanzkrise

Beide Feststellungen zeigen die notwendige Einbindung der Finanzökonomie in funktionierende Sozialbeziehungen und Kultursysteme sowie die Abhängigkeit der Ökonomie von Voraussetzungen wie Vertrauen, die sie selbst nicht garantieren kann. Bemerkenswert ist weiter, dass beide Wert-Voraus­ setzungen eine christliche, theologische Komponente haben. Aus biblischer Sicht ist Vertrauen die Grundhaltung, die menschliches Leben gelingen lässt, und Arbeit – auch Handarbeit, ganz im Widerspruch zum Intellektualismus der griechischen Philosophen – eine Berufung.

Global Green New Deal

Das klingt weihevoller, als es ist. In Wirklichkeit besteht die theologische Sicht nämlich darin, den Menschen ganz Mensch sein zu lassen, indem er gerade nicht Gott ist, sondern Gott gegenübergestellt wird. Der Mensch und alles Menschliche sind Geschöpf, ehrbar, aber nicht verehrbar. Das gilt auch für alle Sozialsysteme, die Menschen erfinden und erschaffen: Geld muss etwas Nüchternes sein, es darf nicht zum Götzen Mammon werden, dem das Leben zu weihen und zu opfern wäre. Kirchliche Stellungnahmen, vor allem aus der Ökumene, bringen diesen Protest gegen jede Vergötzung des Geldes zum Ausdruck. «Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken», schreibt der Philosoph Walter Benjamin 1921. Von Gott reden heisst dann, gegen diese Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf zu protestieren, Widerspruch dagegen einzulegen, dass ein System sich seine Welt erschafft und alles dieser seiner Welt unterwirft. Stark ideologisierte und polarisierende Debatten über Wirtschaftssysteme, die angesichts der Finanzund Wirtschaftskrise neuen Zulauf erfahren, führen dazu, dass notwendige Reformprozesse der nationalen und internationalen Politik nicht mit der nötigen breiten gesellschaftlichen Unterstützung eingefordert und umgesetzt werden können. Erstrebenswert sind deshalb entideologisierte, säkulare und sozial engagierte Strategien für eine soziale und menschengerechte Globalisierung. Klar ist: Die Finanzkrise kann nicht auf Kosten der Klimakrise gelöst werden, sondern soll als Chance für einen Wechsel zu einer nachhaltigen Ökonomie verstanden werden. Die Realität spricht allerdings (noch) eine andere Sprache. Eine Studie der HSBC Global Research von Februar 2009 zeigt auf, dass nur etwa 15 Prozent der globalen finanziellen Mittel in der Höhe von über 2 Billionen Euro für Konjunkturprogramme ökologisch nachhaltig ausgerichtet und klimapolitischen Zielen verpflichtet sind. Bemerkenswerte Ausnahmen sind immerhin – ausser der Euro­

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päischen Union (59 Prozent) – Südkorea (80 Prozent) und, was überraschen mag, China (38 Prozent). Der vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) propagierte Global Green New Deal ist demnach in Ansätzen bereits politische Realität. In diese Richtung muss die Entwicklung weitergehen. An einer interreligiösen Konferenz schmeichelte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, den Vertreterinnen und Vertretern von Bahais, Muslimen, Juden, Christen, Buddhisten, Hinduisten, Sikhs, Shintoisten und Taoisten, sie seien in dieser Hinsicht «die Führungspersönlichkeiten, die den breitesten, weitreichendsten und tiefsten Einfluss» ausüben könnten. Das wäre wunderbar. Aber auch wenn die Kirchen nur ein bisschen in diese Richtung wirken können, dann wenigstens mit Überzeugung: Sie verirren sich hier nicht auf Nebengeleisen, sondern verkündigen in einem entscheidenden Bereich das Evangelium, das zum Leben befreit. < Dieser Text ist eine Zusammenfassung der Studie zur Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2010 beim SEK erscheinen wird.

* Die Ökonomin Dr. Hella Hoppe ist

Beauftragte für Ökonomie am Institut für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK. Otto Schäfer ist Theologe, Pfarrer und Doktor der Biologie (Pflanzenökologie). Er arbeitet als Beauftragter für Ethik und Theologie am Institut für Theologie und Ethik des SEK.

Die Forderungen der evangelischen Kirche

Ethisch Wirtschaften Die Grundwerte Freiheit und Verantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität, Partizipation sowie Nachhaltigkeit sind Quelle einer menschengerechten ethischen Beurteilung. Aus diesen Grundwerten lassen sich Praxisnormen ableiten: Dazu gehören das Menschenrecht auf Entwicklung, das Menschenrecht auf Nahrung und das Menschenrecht auf Schutz vor Diskriminierung. Praxisnormen lassen sich auch, unabhängig von verbindlichen Texten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, als «Maximen» (A. Rich) formulieren. Es lassen sich drei generelle ethische Maximen aufstellen: – Deregulierte, intransparente und am «schnellen Geld» orientierte Finanzmärkte gefährden die Effizienz der Volkswirtschaften und sind mit dem Vorrang der Realökonomie vor der Finanzökonomie unvereinbar. – Eigentum ist sozialpflichtig (so wie Freiheitsrechte allgemein mit Verantwortung verknüpft sind). – Rechtsstaatliche Grundsätze und Organisationsformen sind auch – als verbindliches Völkerrecht – für die Austauschbeziehungen in der globalisierten Welt zu entwickeln. Davon abgeleitete spezielle ethische Maximen lauten: – Subsistenzwirtschaft (Eigenversorgung) und die öffentliche Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern sind als elementar wichtige Aspekte von Realökonomie besonders zu fördern und zu achten. – Analog zum umweltpolitischen Vorsorgeprinzip ist ein finanzpolitisches Vorsorgeprinzip zu fordern, das den Kollaps des Finanzsystems mit geeigneten Vorsorgemassnahmen verhindert (zum Beispiel Erhöhung des Eigenkapitals der Banken; klare Trennung von Kontrollinstanzen und Ratinginstanzen). – Verteilungsgerechtigkeit ist Bedingung sozialen Friedens und damit einer prosperierenden Wirtschaft (das gilt auch für den Umgang mit Boni und Gratifikationen aller Art). – Steuergerechtigkeit muss auch auf der globalen Ebene herrschen (sogenannte Steueroasen sind zu bekämpfen). – Das bewährte Konzept der sozialen Marktwirtschaft soll zu einer auch ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft erweitert werden. – Indikatoren für qualitatives Wachstum müssen veraltete Wachstumsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ersetzen und verbindlich anerkannt werden. – Die Regulierung des internationalen Finanzsystems muss subsidiär (ebenengerecht), transparent und effizient erfolgen. – Die Finanzflüsse zugunsten der armen Länder dürfen nicht miteinander verrechnet werden, wenn sie unabhängig voneinander begründet sind (Ausgleichszahlungen für Schäden; Kompensierung für die Übernutzung von universalen Gütern wie Klima, Ozeanen, Biodiversität usw.; wirtschaftliche und soziale Solidarität).


Open Forum Davos

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– Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund am Open Forum Davos Zum achten Mal organisieren der Schweizerische

Evangelische Kirchenbund und das World Economic Forum gemeinsam das Open Forum Davos. Es ist Teil des gesellschaftlichen Engagements der evangelischen Kirchen.

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m Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund SEK haben sich 1920 die 24 Evangelisch-reformierten Kantonalkirchen, die Evangelischmethodistische Kirche und die Église Évangélique libre de Genève eine Plattform geschaffen, auf der sie ihren kirchlichen Auftrag besprechen und durch die sie nach aussen vertreten werden. Seither ist der SEK anerkannter Gesprächspartner für die Bundesbehörden, die Ökumene und für die Partnerkirchen im Ausland. Er engagiert sich in gesellschaftspolitischen Fragen, in Vernehmlassungen zu neuen Gesetzesvorschlägen und ist national und international reli­gions- und kirchenpolitisch aktiv. Zudem gibt er vier Mal pro Jahr das «bulletin» heraus und unterhält eine Website, auf der alle Studien und Stellungnahmen sowie Informationen zu aktuellen Themen zu finden sind.

Der SEK nimmt Stellung

Im Jahr 1971 gründete die Abgeordnetenversammlung, also die Legislative des SEK, das Institut für Sozialethik ISE. Das war damals eine Pionierleistung, denn in der Zeit der Nachkriegs-Hochkonjunktur waren ethische Diskurse weitgehend den theologischen und philosophischen Fakultäten vorbehalten. Der SEK aber nahm rasch Stellung zu Fragen des politischen und wirtschaftlichen Alltags. In dieser Tradition steht die Gründung des Open Forum Davos, das dieses Jahr zum achten Mal vom SEK und vom World Economic Forum durchgeführt wird. Auch mit der Studie «Globalance – Christliche Perspektiven für eine menschengerechte Globalisierung» hat sich der SEK 2005 zu Fragen der wirtschaftlichen Globalisierung geäus­ sert. Heute ist das Thema Sozialethik im

Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund wieder stärker verbunden mit der theologischen Argumentation. Entsprechend wurde das In­stitut – nun unter dem Namen Institut für Theologie und Ethik ITE – als Abteilung in die Geschäftsstelle eingebunden. Es erarbeitet Grundlagenstudien sowohl zu ethischen als auch zu theologischen Themen. Für das innerkirchliche und ökumenische Gespräch entstanden in den letzten Jahren grundlegende Texte zur Taufe, zum Abendmahl und zur Frage des Amtes in der Kirche. Im sozialethischen Bereich waren es Veröffentlichungen zu den Grundwerten gesellschaftlichen Lebens, zum Beispiel zur Religionsfreiheit, zur Energiefrage oder zu Fragen um Anfang und Ende des Lebens: von der Stammzellenforschung bis zur Suizidbeihilfe.

Rat der Religionen

Zum gesellschaftlichen Diskurs in der Schweiz tragen Stellungnahmen zu Vernehmlassungen des Bundes und zu Volksabstimmungen bei. Der letzte grosse Beitrag ist ein Argumentarium und ein Flyer gegen die Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten». Der Ausgang dieser Abstimmung zeigt, dass die Kirchen das Gespräch über das Sichtbar-Werden von Religion in der Öffentlichkeit weiter beschäftigen muss. Zum Teil geschieht das in der Zusammenarbeit von Christen, Juden und Muslimen im Schweizerischen Rat der Religionen, zu dessen Gründungsmitgliedern der SEK zählt. Neu gefordert ist damit aber auch die Fachstelle für Migration im SEK, die sich seit Jahren den Fragen der Einwanderung widmet. Zurzeit arbeitet der SEK an einer Revision seiner Verfassung. Dadurch soll der Kirchenbund auf die Zukunft ausgerichtet

werden, um weiterhin als Verkündiger der christlichen Botschaft auf gesamtschweizerischer Ebene wirken zu können. Theo Schaad

Pfarrer und Geschäftsleiter SEK

Open Forum Davos

Das Open Forum Davos setzt aktuelle Akzente in der kritischen Auseinandersetzung mit der Globalisierung und ihren Auswirkungen. Wie jedes Jahr ist das Mikrofon offen: Nach einer ersten Diskussionsrunde unter den Panelisten ist das Publikum jeweils aufgerufen, diese mit kontroversen Fragen und Positionen herauszufordern. www.openforumdavos.ch

Der SeK in Kürze

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK ist der Zusammenschluss von 26 Kirchen mit über 2 Millionen Mitgliedern. Legislative ist die Abgeordnetenversammlung mit 70 Delegierten. Die Exekutive, der Rat SEK, besteht aus einem vollamtlichen Präsidenten und 7 nebenamtlichen Mitgliedern. In der Geschäftsstelle in Bern arbeiten 35 Mitarbeitende auf 27 Vollzeitstellen. Sie besteht aus den Abteilungen Kirchenbeziehungen, Institut für Theologie und Ethik, der Stabstelle Kommunikation und den Zentralen Diensten. Alle Publikationen können von der Website heruntergeladen werden: www.sek.ch


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bulletin Nr. 1 / 2010

– Eine Frage, zwei Antworten

Könnte moralisch verantwortun  Handeln eine Krise verhindern? vestmentbanker, Kader mit ihren Boni, Hedge-Funds und alle andern keine Geschäfte gemacht. Die dritte politisch veranlasste Ursache war das blosse Papiergeld, mit dem seit dem Ende der Golddeckung des Dollars 1971 die Staaten ihre Bürger abfertigen. Nichts steht dahinter, und den grösseren Teil davon lässt man erst noch die Banken schöpfen, welche kurze Einlagen in langfristige Kredite wandeln. Das Vertrauen hierin fiel im September 2008 aus. Das war die Finanzkrise. Was die Politik als Abhilfe anbietet, ist unmoralisch. Sie gibt nicht zu, dass Gratishäuser oder Papiergeldschöpfung durch Kreditbanken grundsätzlich faule Versprechen sind. Die Politik flieht zu ihren Lieblingsthemen wie Boni, Devisenumsatzsteuer, noch mehr Regulierung. Es bräuchte dagegen die Pflicht für alle Käufer von Bankobligationen, diese im Krisenfall in Bankaktien umzuwandeln. Dann wäre Geld auch in normalen Zeiten teuer, und in Krisen kämen die Banken ohne Steuergelder zu Kapital. Und das Papierie Finanzkrise 2008 hätte durch morageld sollte von den Notenbanken allein ausgegeben lisches Handeln tatsächlich vermieden werden. Die Banken sollten Gelwerden können, aber der der Kunden direkt in produkaufseiten unerwartetive Anlagen weiterleiten, wie die ter Akteure. Was die Politik heutigen VermögensverwaltungsWoher kam die Krise? Die als Abhilfe anbietet, ist banken. Die Bankbilanz würde US-Behörden veranlassten die unmoralisch. nicht für Kredite strapaziert. Fizwei ihnen nahestehenden Hyponanzmärkte, wie alle Märkte, sind thekargiganten, an grundsätzlich technisch anspruchsvoll, sie halten zahlungsunfähige Haushalte gegen Egoismen in Schach, wenn sie richtige Rahmenset2 000 Milliarden Dollar auszuleihen. Die asiatischen zungen haben. Die Politik schuldet dies, nur dies. < und arabischen Staatsfonds ihrerseits kauften solche Dollarschulden und drückten seit Jahren die Zinsen. Deshalb wurde es verlockend, ein grosses Rad zu drehen, sich zu verschulden als Haushalt, als Firma, als * Beat Kappler ist Ehrendoktor der Universität Basel, Konsument. Zwei politische Akteure waren die Quelle Kommentator der «NZZ am Sonntag» und Buchautor. des Unglücks. Ohne diese Manövriermasse hätten In-

Beat Kappeler *

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Sein jüngstes Buch, «Sozial, sozialer, am unsozialsten», ist 2007 beim NZZ-Verlag erschienen.


Panel 2: Finanzkrise

gsvolles

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thik hat nie den Anspruch oder die Naivität zu glauben, sie lasse sich in allen Lebensund Gesellschaftsbereichen umfassend und zeitgleich realisieren. Sie formuliert ein Ideal, ein anzustrebendes Ziel. In noch höherem Mass gilt das für die christliche Ethik; sie steht im Zeichen des Reiches Gottes – anders gesagt, im Zeichen einer letzten Wirklichkeit, auf die hin sich zu entwerfen alle vorletzten Wirklichkeiten aufgerufen sind. Im Namen einer derart radikalen und konzes­ sionslosen Ethik haben wir uns zu den Wirklichkeiten in Wirtschaft, Finanz und Politik zu äussern. Dabei geht es nicht darum, wie durch Zauberhand die anstehenden Probleme zu lösen, vielmehr darum, die uns in der aktuellen Finanzkrise auf eklatante Weise vor Augen geführte Ungerechtigkeit und Kurzsichtigkeit anzuprangern. Zwischen 1984 und 1990 ist Arthur Richs zweibändige «Wirtschaftsethik» erschienen. Obwohl zu eierneuern, doch der Wandel ist schmerzlich und tiefner Zeit konzipiert, da die kommunistischen Regimes greifend. Die Schweiz spürt das derzeit deutlich. Sie ein «Modell» unter anderen wazahlt für ihren Mangel an Klarheit, ren, kündigt Richs Werk ganz klar Übersicht und Mut einen hohen den Zusammenbruch der PlanDie Schweiz zahlt für ihren Preis. In ihre missliche Lage gerawirtschaft an (bei gleichzeitiger Mangel an Klarheit, Über- ten ist sie aufgrund der Irrtümer Würdigung ihres Solidaritäts- und (Stichworte Swissair und UBS) sicht und Mut einen hohen gewisser Verantwortungsträger in Gerechtigkeitsideals). Der Autor Preis. schreibt, allein die fundamental Finanz und Wirtschaft, aber auch demokratische und liberale Wirtwegen eines Teils ihres politischen schaft sei fähig, sich zu erneuern, Establishments. und er macht sich stark für eine «soziale MarktwirtEthik soll sowohl die liberale Demokratie als schaft», welche die Sackgassen eines entfesselten Liauch den Markt und die Finanzwelt inspirieren und beralismus zu überwinden vermag. In diesem Punkt regulieren: Wer ihr diese Rolle abspricht, ist entweder ist die Stossrichtung von Richs theologisch fundierter einem verantwortungslosen Zynismus oder einem Sozialethik nach wie vor exemplarisch und stichhaltig. trügerischen Pragmatismus verfallen. < In der Finanzkrise haben sich Richs ethische Intuitionen bewahrheitet: Die liberale Demokratie muss sich

Denis Müller *

* Denis Müller ist Theologe und Professor für Ethik, Universitäten Genf und Lausanne.

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bulletin Nr. 1 / 2010

Sammlung Gesellschaft für ökologische Forschung

1948

Panel 3 –

Klimawandel

Die Klimapolitik der Kirchen Die evangelischen Kirchen setzen sich seit den Achtzigerjahren für   Klimagerechtigkeit ein. Auch die Katholiken, allen voran die letzten   beiden Päpste, gehen der Gesellschaft mit gutem Beispiel voran.   Ethische Grundlage zur Verbesserung des Klimas sind fünf Prinzipen.


2002

Panel 3: Klimawandel

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2006

Die Erderwärmung gefährdet auch die Biodiversität der Schweiz: Der Triftgletscher am Sustenpass im Berner Oberland zieht sich rasant zurück. Aus dem Schmelzwasser bildet sich ein See, der das Schmelzen des Gletschers noch beschleunigt.

Von Otto Schäfer und Hella Hoppe *

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ie Kirchen gehören zu den global präsenten zivilgesellschaftlichen Kräften, die sich seit den Achtzigerjahren für Klimagerechtigkeit einsetzen. An Pfingsten 1989 fand in Basel die erste Europäische Ökumenische Versammlung statt. Schon damals wurde der Klimawandel als ernste Herausforderung bezeichnet und in Zusammenarbeit mit der Europäischen Physikalischen Gesellschaft und anderen Akteuren ausführlich diskutiert. Im Schlussdokument der Versammlung

heisst es: «Die reichen Länder des Nordens müssen ihre Verbrauchsgewohnheiten ändern. Der Treibhauseffekt und die Schädigung der Ozonschicht verlangen dringend international koordinierte Massnahmen.» Ein Jahr später unterstrich Papst Johannes Paul II. in seiner vielbeachteten Botschaft «Friede mit der ganzen Schöpfung» zum Weltfriedenstag die Notwendigkeit, den künstlichen Treibhauseffekt zu begrenzen und in den reichen Ländern einen nüchternen, massvollen Lebensstil zu praktizieren. Die Kirchen


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bulletin Nr. 1 / 2010

Anrecht auf die Nutzung lebensnotwendiger Ressourcen. – Prinzip der internationalen Gerechtigkeit Reiche Staaten sind zu besonderen finanziellen und technologischen Anstrengungen zugunsten schwächerer verpflichtet. – Verursacherprinzip Der Verursacher haftet für Schäden, in diesem Fall für Klimaschäden, auch wenn sie weit entfernt vom Entstehungsort der schädigenden Einwirkungen (Treibhausgas-Emissionen) auftreten. Grundsätzlich betrifft die Haftungspflicht auch zeitlich zurückliegende Schäden. Da es aber kaum sinnvoll ist, vor die Entstehung eines allgemeinen Umweltbewusstseins und die wissenschaftliche Einsicht in den Klimawandel zurückzugehen, wird pragmatisch meistens das Jahr 1990 angesetzt. – Vermeidungsprinzip und Vorsorgeprinzip Wichtiger als die Abwägung von Schaden und Nutzen der fossilen Energien in der Vergangenheit ist die Verpflichtung, zukunftsgerichtet zu handeln. Schäden, die unter bekannten Voraussetzungen Fünf Prinzipien der Klimagerechtigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten, soll vorEs ist allerdings klar: Nur mit Technik ist eine gebeugt werden (Vermeidungsklimagerechte Gesellschaft nicht prinzip). Besondere grosse Schäzu haben. Eine ressourcengerechte den können auch dann nicht Gesellschaft noch viel weniger – akzeptiert werden, wenn ihre denn über den Klimawandel hin­ Nur mit Technik ist eine aus werden uns in den kommenklimagerechte Gesellschaft Eintrittswahrscheinlichkeit gering oder noch schwer abschätzbar ist den Jahren knappe Rohstoffe, der nicht zu haben. (Vorsorgeprinzip). Vorkehrungen Verlust an Biodiversität sowie die bestehen sowohl darin, Treib­ weltweite Umweltverschmutzung hausgas-Emissionen zu reduziemit Kunststoffabfällen beschäftiren, als auch darin, die zu erwargen, von der Kernenergie ganz zu tenden Folgen von Klimaänderungen so verträglich schweigen. Zu Recht wird immer wieder darauf hingewie möglich zu gestalten. wiesen, dass eine reine «Effizienzrevolution» nur zur Verlagerung und Verstärkung der Ansprüche führt, wenn sie nicht mit einer «Suffizienzrevolution» einherZynischer Selbstschutz der Privilegierten geht, einem Umbruch zu einer neuen Genügsamkeit. Die Schweizer Bevölkerung ist sich nicht immer Die scheinbar paradoxe, in Wahrheit sehr treffende Debewusst, wie sehr diese klimabedingten Anpassungsvise «Vorwärts zur Mässigung» des Wirtschaftswissenmassnahmen auch die Alpenlandschaft betreffen, etwa schaftlers und Vaters der ökologischen Steuerreform, den Hochwasserschutz, den verstärkten Schutz vor Hans-Christoph Binswanger, gibt die Richtung an. SufErdrutschen und vor Felsstürzen. Die dramatischsten fizienz, Mässigung ist eine Voraussetzung des Konzepts Auswirkungen sind jedoch im Süden zu erwarten. Dort der 2000-Watt-Gesellschaft, das auch der SEK in seiner werden Unbeteiligte zu Hauptbetroffenen. Menschen, Studie «Energieethik» (2008) vertritt. die nichts oder wenig zur Erderwärmung beitragen, Eine weltweit verbindende und verbindliche inleiden zugleich am meisten darunter, weil sie die fiternationale Klimapolitik kommt ohne ein ethisches nanziellen und technischen Möglichkeiten für AnpasFundament, ohne Klimagerechtigkeit nicht aus. An sungsmassnahmen nicht haben. In Entwicklungslänfünf Prinzipien einer solchen ethischen Perspektive dern wären bis zu 200 Milliarden Euro jährlich nötig, der Klimagerechtigkeit soll hier erinnert werden: um Dürren, Wassermangel und Überschwemmungen – Prinzip der Gleichberechtigung zu bekämpfen, die Abholzung des Waldes zu begren Aus der Gleichheit aller Menschen und dem Recht zen und klimafreundliche Energiequellen einzufühauf Leben und Entwicklung folgt das gleiche ren. Werden diese Länder finanziell nicht unterstützt,

der Schweiz stehen demnach in einer längeren Tradition, wenn sie auf Klimagerechtigkeit pochen und dabei auch den ethischen Fragen der Energiepolitik Aufmerksamkeit widmen. Im Oktober 2009 richteten die drei Landeskirchen der Schweiz auf Initiative des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK einen gemeinsamen Brief an den Bundesrat und an die Schweizer Delegation zur Weltklimakonferenz COP 15 in Kopenhagen. Darin sprechen sich die Kirchen dafür aus, im Zeitraum von 1990 bis 2020 die Treibhausgas-Emissionen im Inland um 40 Prozent zu reduzieren. Zusätzlich soll die Schweiz in der gleichen Grössenordnung einen Beitrag zu Reduktionsund Anpassungsmassnahmen im Ausland leisten. Ihr Argument: «Indirekt gewinnt die Schweiz dabei.» Die Kirchen meinen damit sowohl einen Gewinn an Klimagerechtigkeit als auch die Entwicklung klimafreundlicher Spitzentechnologie mit Exportchancen (die Frankophonen sprechen hier schon von «génie climatique»).


sind Menschen zur Flucht gezwungen, beispielsweise in Bangladesh, das ein Zehntel seiner Fläche verlieren könnte. Um die Klimaflüchtlinge aufzuhalten, hat der Nachbarstaat Indien begonnen, einen 4 000 Kilometer langen, fast 3 Meter hohen Grenzzaun zu errichten. Das ebenfalls an Bangladesh angrenzende Myanmar will diesem Beispiel folgen. Aus ethischer Sicht ist dies nicht hinnehmbar. Ohne eine konsequente Anwendung des Verursacherprinzips sowie des Prinzips der Gleichberechtigung und des Prinzips der internationalen Gerechtigkeit führen Vermeidungsprinzip und Vorsorgeprinzip zum zynischen Selbstschutz der Privilegierten. Die künftigen Generationen sind wichtig, aber sie sind die kommenden Generationen der einen Menschheit, um die es auch heute schon gehen muss. Deshalb ist eine sofortige finanzielle Unterstützung für diese Länder von existenzieller Bedeutung.

Prinzip der Selbstwirksamkeit und der koordinierten Kontrolle

Keine Weltregierung und keine Weltpolizei könnte internationale Klimavereinbarungen und die darauf aufgebauten Steuerungsmechanismen gegen starke Widerstände durchsetzen. Deshalb ist es wichtig, dass solche Mechanismen so weit wie möglich selbst wirksam oder «sich selbst durchsetzend» (self-enforcing) sind. Ein Versuch, der in diese Richtung geht, ist der Handel mit Emissionsrechten. Doch so bestechend die Grundidee ist, im Detail weist dieses System noch viele Unzulänglichkeiten auf. Die Klimapolitik und Klimadiplomatie der einzelnen Staaten ist oft weder transparent noch glaubwürdig, gerade was Zahlen und Daten betrifft. Ohne eine verstärkte und koordinierte internationale Kontrolle wird es deshalb keine Fortschritte geben. Weitestgehende Selbstwirksamkeit muss mit unverzichtbarer Kontrolle ergänzt werden.

Solarpanels auf den Dächern des Vatikans

Internationale Regeln sind das eine, deren Umsetzung das andere. Gehen die Kirchen bei Bau und Betrieb, im Alltag der Gemeinden und in den Büros der Institutionen mit dem guten Beispiel voran? Ja und nein. Beachtlich ist immerhin: Die Evangelische Kirche in Deutschland hat sich 2008 ehrgeizige Klimaschutzziele gesetzt, zudem arbeiten in den deutschen Landeskirchen neben Umweltbeauftragten auch kirchliche Energieberater und -beraterinnen. Das kirchliche Umweltlabel der «Grüne Hahn» ist inzwischen so bekannt und verbreitet, dass es in der Schweiz Nachahmer findet. Der Vatikan hat sich gar zum Ziel gesetzt, der erste klimaneutrale Staat der Welt zu werden. So liess

Panel 3: Klimawandel

er vor rund einem Jahr auf dem Dach der Audienzhalle Sonnenkollektoren installieren und in Ungarn 7 000 Bäume pflanzen. Erwähnt sei auch die 1972 errichtete baptistische Kirche in Brande/Dänemark, ein Eigenbau von grosser Schönheit aus minderwertigen Backsteinen und Feldlesesteinen. Sie ist bis heute ein würdevolles Beispiel von Demut. Vielleicht ist es dieses altmodische Wort für eine christliche Tugend, das am besten ausdrückt, was heute not tut, global, sozial und ökologisch. <

* Die Ökonomin Dr. Hella Hoppe ist

Beauftragte für Ökonomie am Institut für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK. Otto Schäfer ist Theologe, Pfarrer und Doktor der Biologie (Pflanzenökologie). Er arbeitet als Beauftragter für Ethik und Theologie am Institut für Theologie und Ethik des SEK.

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bulletin Nr. 1 / 2010

Wahrheitsanspruch von Religionen

Panel 4 –

«Wahrheit ist Gott» Zwanzig Jahre vor seiner Ermordung sagte mein Grossvater Mahatma Gandhi, er ziehe den Satz «Wahrheit ist Gott» dem Satz «Gott ist   Wahrheit» vor, denn es seien schon viele Menschen im Namen Gottes getötet worden, aber noch niemand im Namen der Wahrheit.

Von Rajmohan Gandhi *

M

ahatma Gandhi war eine Zielscheibe religiöser Extremisten; am 20. Januar 1948 versuchte ihn ein Hindu zu töten, der Gandhis freundliche Haltung gegenüber Muslimen nicht guthiess. Aber nach diesem gewalttätigen Akt sagte Gandhi: «Ihr solltet diesem Mann keinen Hass entgegenbringen. Er war davon ausgegangen, dass ich ein Feind des Hinduismus sei.» Der indische Rechtsgelehrte und Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung setzte den Befürwortern von Hass und Gewalt (gegen die Briten genauso wie zwischen Hindus und Muslimen) erfolgreich seine Philosophie der Gewaltlosigkeit entgegen und verwies sie 60 Jahre lang in die Schranken. Am Ende wurde er von einem jener Extremisten ermordet, die er auf den Weg des Friedens und der Verständigung bringen wollte.

eine Glaubensgemeinschaft im Vergleich zu den anderen besonders verderbt, besonders infiziert, besonders gefährlich für den Rest sei. In unserer Zeit des offensichtlichen Kampfes der Kulturen betrachten viele in der demokratischen Welt die Bevölkerung islamischer Länder als mit Makel behaftet, auch wenn in vielen Fällen zu ihren politischen Führern gute Beziehungen bestehen, weil mit ihnen Geschäfte möglich sind. Viele einflussreiche Menschen in den USA und in Europa setzen Terrorismus mit Islam gleich und glauben, dass die beiden eng miteinander verbunden seien. Umgekehrt gibt es in der islamischen Welt eine anhaltende negative Propaganda gegenüber Christen, die mit Kreuzzügen identifiziert werden, und gegenüber Juden, die mit Zionismus in Verbindung gebracht werden. Auch Amerikaner und Europäer werden in den gleichen Topf geworfen.

Gandhi würde warnen

Wie 1941 aus Feinden Alliierte wurden

Heute stellen gewaltbereite Extremisten weltweit ein grosses Problem dar. Und es gibt weitere Problemfelder: wirtschaftliche Not, Aids und andere Krankheiten, die Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung, Krieg und Unterdrückung. Trotzdem gibt es auch zahlreiche Hoffnungsschimmer, etwa den Dialog zwischen den Religionen über globale Trennungslinien hinweg. Besonders wichtig ist dabei das Verhältnis zwischen der sogenannt westlichen und der sogenannt islamischen Welt. Wenn Gandhi heute noch leben würde, würde er meines Erachtens die Welt davor warnen, dem Glauben zu verfallen, dass

Wenn ich wieder einmal das Argument des fehlerhaften Wesens des Islam höre, erinnere ich mich an die Gesichter und das Leben der Muslime, denen ich begegnet bin. Ich erinnere mich an Muslime, die ins Gebet versunken knieten oder mit erhobenen Armen Gott anriefen oder die ihre Toten und Verwundeten von kalten, von Erdbeben verwüsteten Abhängen davontrugen, und ich frage mich, ob ich wirklich glauben könnte, dass ein so praktizierter Islam auf besondere und seltsame Art fehlerhaft sei. Ich kann das nicht glauben. Wenn ich so etwas höre, erinnere ich mich manchmal an eine Radiosendung, die ich in meiner


Panel 4: Wahrheitsanspruch von Religionen

mehr, weil mehr Muslime als Nichtmuslime bei terroristischen Anschlägen getötet wurden.

Hulton Archive / Getty Images

Gewalt hat keine Religion

Der Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi (1869–1948) nahm 1931   in London an einer Verfassungskonferenz für Indien teil.

Kindheit gehört habe. Es war die Stimme von Winston Churchill, der vor fast einem Dreivierteljahrhundert im Juni 1941 sprach, als Hitler die Sowjetunion angriff und Russland zu einem britischen Alliierten machte. Nachdem er mehrere Jahre lang die Menschen wiederholt vor den Gefahren des russischen Kommunismus gewarnt hatte, musste Churchill jetzt um Unterstützung für eine Allianz mit eben diesen russischen Kommunisten werben.

Auch muslimische Kinder spielen

Der Mann, dessen Eloquenz jede Herausforderung meisterte, fand ein weiteres Mal die richtigen Worte. In seiner Rede im Juni 1941, die den berühmten Ausspruch enthielt, Hitler «zu Land, zu Wasser und in der Luft» zu bekämpfen, sagte Churchill in Bezug auf die von Hitler bedrohten Russen: «Ich sehe die 10 000 Dörfer Russlands, wo es so schwer war, dem Boden eine Existenzgrundlage abzutrotzen, aber wo es immer noch grundlegende menschliche Freuden gibt, wo junge Frauen lachen und Kinder spielen.» Nun, auch muslimische junge Frauen lachen und auch muslimische Kinder spielen, und alle Muslime, Sunniten wie Schiiten, sind dankbar für grundlegende menschliche Freuden. Sie hassen den Terrorismus so wie jeder andere in der Welt, vielleicht sogar noch

In Ruanda fanden 1994 einige Massaker sogar in Kirchen statt. Macht das den Massenmord in Ruanda zu einem christlichen Verbrechen? Als in den Siebzigerjahren das buddhistische Kambodscha Ort der Killing Fields wurde, spiegelten die Massaker einen inhärenten buddhistischen Fehler wider? Als vor einigen Jahren nahezu alle Mitglieder der nepalesischen Königsfamilie erschossen wurden und später viele Bauern und Sicherheitsleute bei Schiessereien starben, war da eine hinduistische Lehre schuld? Waren sogar die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts eine Folge des Christentums? Dass Religion ein Element in den komplexen Zusammenhängen moderner Gewalt ist, ist nur zu wahr; aber wir sollten vorsichtig sein, bevor wir endgültig erklären, dass Religion im Allgemeinen und eine bestimmte Religion im Besonderen Schuld daran trägt, dass sie die Herzen mit Hass und dem verzweifelten Verlangen erfüllt, andere Menschen und sich selbst zu zerstören. Wir sollten akzeptieren, dass der Kampf in der heutigen Welt nicht zwischen Kulturen, Zivilisationen, Religionen oder Nationen stattfindet, sondern stattdessen in unseren Herzen, zwischen Angst und Glauben, zwischen Angst beziehungsweise Hass und Akzeptanz. <

* Rajmohan Gandhi ist Politiker, Buchautor und

Geschichtsprofessor am Center for South Asian and Middle Eastern Studies der University of Illinois, USA. Zur Zeit der Ermordung seines Grossvaters Mahatma Gandhi war Rajmohan zwölf Jahre alt. 2006 hat er eine Gandhi-Biografie veröffentlicht.

Büchertipp

Rajmohan Gandhi: Mohandas. A True Story of a Man, His People and an Empire, Penguin Books: New Delhi – New York 2006, 745 Seiten.

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bulletin Nr. 1 / 2010

Wahrheitsanspruch von Religionen

Panel 4 –

Wann ist eine Religion eine Religion? Religionsfreiheit verbietet es dem Staat, sich in Religionsbelange   ein­zumischen. Doch es kommt immer wieder vor, dass Richter darüber   befinden müssen, was zur religiösen Praxis gehört und was nicht. Von Christopher Caldwell *

I

m Sommer unternahm Präsident Barack Obama in seiner Rede an die muslimische Welt in Kairo den härtesten rhetorischen Angriff Amerikas auf Frankreich, seit der frühere Verteidigungsminister Donald Rumsfeld es im Vorfeld des Irakkrieges als «altes Europa» abgetan hatte. In Bezug auf westliche Länder, die «muslimischen Frauen vorschreiben wollen, welche Kleidung sie tragen sollen» – wie es in Frankreich vor fünf Jahren der Fall war, als das Kopftuch aus den Schulen verbannt wurde –, sagte Obama: «Wir können Feindseligkeit gegenüber einer beliebigen Religion nicht hinter der Maske des Liberalismus verstecken.» Dieser Satz musste die amerikanischen Bürger verwirren, sogar die frankophoben unter ihnen. Ihnen wurde beigebracht, nicht über Riten und Bräuche zu urteilen, die sich stark von ihren eigenen unterscheiden. Jetzt wurde von ihnen verlangt, keine Nachsicht für die demokratische Republik zu zeigen, deren politische Tradition weltweit am meisten ihrer eigenen ähnelt.

Vitamine schlucken als religiöse Praxis?

Frankreich bewacht auf aggressive Weise die Trennung zwischen Kirche und Staat. Das Land urteilt über Fragen, aus denen sich andere westliche Länder heraushalten. Diese Woche verurteilte ein Pariser Gericht zwei Vertretungen der Scientology-Kirche – ihr «Prominentenzentrum» und eine Buchhandlung – wegen Betrugs. Es verhängte eine Geldstrafe von 600 000 Euro gegen die Organisation und sprach gegen den Mann, den es de facto als Führer der französischen Kirche ansah, eine zweijährige Bewährungs-

strafe aus. Er und drei weitere Personen erhielten eine Geldstrafe. (Im Juni hatte die Staatsanwaltschaft ein Verbot der Sekte gefordert, obwohl eine einen Monat zuvor in Kraft getretene Justizreform das unmöglich gemacht hatte.) Verhandelt wurde der Verkauf von Kursen und Produkten seitens der Scientology-Kirche, um die spirituelle «Läuterung» ihrer Anhänger zu fördern. Sie verkaufte Vitamine und sogenannte «Elektrometer» – ein Gerät zur Messung des spirituellen Befindens des Anwenders. Ein Elektrometer kostet über 3 500 Euro. Das Urteil war das Ergebnis der Klage zweier Frauen, die angaben, sie seien zu einer Zeit, als sie verletzlich waren, um ihre Ersparnisse gebracht worden – jede um etwa 20 000 Euro. Die grundlegende intellektuelle Frage zu Scientology ist die, ob es sich hier um eine «echte» Religion handelt – oder zumindest, ob Praktiken wie Elektrometrie und Vitaminverabreichung religiös sind. Die grundlegende rechtliche Frage hingegen lautet: Wer hat das Recht, darüber zu urteilen? In diesem Sinn ähnelt die Diskussion um die Elektrometer der Diskussion in amerikanischen Gerichtshöfen bezüglich indianischer Religionen, welche die verbotene Droge Peyote verwenden. Grundsätzlich haben Bundesgerichte entschieden, dass die Bundesstaaten die Droge verbieten können, wenn sie wollen. In der Praxis haben die meisten Ausnahmen erlaubt.

Religionsfreiheit oder Verbraucherschutz?

Das französische Urteil versucht, aus diesem Dickicht herauszukommen. Zusätzlich zum Vorwurf des Betrugs verhängte das Gericht wegen illegal be-


triebenen Arzneimittelhandels Geldstrafen über zwei Scientologen. Die Gewinnspanne bei Elektrometern und Vitaminen war hoch, und das Gericht sprach den Persönlichkeitstests der Kirche ihren «wissenschaftlichen Wert» ab. Das Gericht trennte die «geschäftlichen Aktivitäten» der Kirche von deren «religiösen Aktivitäten» und gründete sein Urteil auf erstere. Damit verschiebt sich die Diskussionsgrundlage von Religionsfreiheit zu Verbraucherschutz. So sind wir nicht allzu weit entfernt von gesetzlichen Regelungen für das Bier belgischer Trappisten oder für selbstgemachte Marmelade, die die Amish im US-Bundesstaat Pennsylvania verkaufen. Es bestehen dennoch zwei Unterschiede. Erstens sind wirtschaftliche und religiöse Aktivitäten manchmal untrennbar. Scientologys Verkaufsaktivitäten könnten Teil der Religion selbst sein, so wie es vorgeschriebene Almosen (Zakat) im Islam sind. Zweitens ist es einfacher, einen «fairen Preis» für Bier und Marmelade festzulegen als für die spirituelle Läuterung. Dem einen Wert beizumessen verlangt ein Urteil darüber, ob die Behauptungen der Religion legitim sind.

Wenn alles transzendent ist, ist nichts transzendent

In den letzten Jahrzehnten reagierten westliche Eliten allergisch auf solche Urteile. In dem Fall Plan­ned Parenthood (Kliniken für Familienplanung) gegen Casey, der 1992 vor dem Obersten Gerichtshof der USA verhandelt wurde und in dem es um das Recht auf Abtreibung ging, schrieb die Richterin Sandra Day O’Connor in dem mehrheitlich gefassten Urteil: «Im Zentrum der Freiheit steht das Recht, sein eigenes Konzept der Existenz, des Sinns, des Universums und des Geheimnisses menschlichen Lebens zu definieren. Überzeugungen in diesen Dingen könnten nicht die Eigenschaften des Menschseins definieren, wenn sie unter staatlichem Zwang erfolgten.» Aber wenn alles transzendent ist, dann ist nichts transzendent. Warum sollte der Staat eine schwache Person davor schützen, von einem Elektrometer geläutert zu werden, wenn er eine andere schwache Person nicht davor schützt, im Kaufhaus Tausende Euros für Kleidung auszugeben, die sie nicht braucht? Die Casey-Ära scheint zu Ende zu gehen. Regierungen und Gerichte entscheiden immer öfter darüber, welches religiöse Verhalten sie für akzeptabel halten. Vielleicht ist dies die Schuld des wachsenden Einflusses des Islamismus im Westen oder wenigstens der wachsenden Angst davor. Betrachten wir das Referendum, das im November in der Schweiz abgehalten wurde. Das Volk entschied, dass Minarette verboten werden. Auch wenn

Panel 4: Wahrheitsanspruch von Religionen

es die religiöse Identität der Schweizer nicht näher definiert, legt das Verdikt fest, welche Religionen dort in vollem Masse praktiziert werden können. Dieser Ansatz ist auch in den Niederlanden zu beobachten. Dort leugnet die anti-islamische Partei von Geert Wilders, dass der Islam überhaupt eine Religion sei. Auf diese Weise umgeht sie den Gegenwind, den ihre Vorschläge (wie der, den Koran zu verbieten) von der Verfassung des Landes zu spüren bekämen. Das französische Urteil schadet Scientology, ohne dass das Gericht nachweisen musste, dass es sich hierbei um keine Religion handelt. Trotzdem wird das Urteil als Meilenstein gesehen. Georges Fenech, Präsident des französischen ministeriumsübergreifenden Dienstes zur Überwachung von Sekten, kommentierte: «Gerade die Struktur der Scientology-Kirche wurde verurteilt.» Auch wenn die Geschäftsstruktur verurteilt wurde und nicht die Glaubensstruktur, sind die beiden derart miteinander verbunden, dass dieses Urteil letztere ins Mark trifft. Der Fall deutet darauf hin, dass westliche Behörden jetzt geneigt sind, die unter dem Deckmantel der Religion begangenen Handlungen zu hinterfragen.

* Christopher Caldwell ist Leitender Redaktor bei

«The Weekly Standard». Der vorliegende Kommentar wurde erstmals am 31. Oktober 2009 in der «Financial Times» abgedruckt. Die Passage zur MinarettverbotsInitiative in der Schweiz wurde nur bezüglich des Resultates von 29. November 2009 verändert.

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bulletin Nr. 1 / 2010

Panel 4 –

Zur Diskussion gestellt

Thomas Wipf spricht sich für einen Konsens der Religionen aus In der Schweiz sind Menschen aus aller Welt ansässig geworden. Die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält, stellt sich deshalb mit neuer Dringlichkeit. Nicht erst seit dem Minarettverbot ist unverkennbar: Insbesondere die Eingliederung des Islam in unsere christlich geprägte Gesellschaft fordert die Kräfte aller Beteiligten. Die Kirchen in der Schweiz engagieren sich seit langem für den Dialog mit den anderen Religionen. Dieser Dialog braucht eine neue Qualität. Pluralität gelingt nur, wenn sie auf dem Boden allgemein anerkannter Grundsätze steht. Pfarrer Thomas Wipf schlägt vor, dass die Religionen einen Grundkonsens über die Voraussetzungen des Zusammenlebens formulieren und unterzeichnen.

Von Pfarrer Thomas Wipf

Präsident des Rates SEK

I

n unserer Gesellschaft ist ein umfassender Suchprozess im Gang. Was macht die Schweiz in Zukunft aus? Welches sind ihre Wesensmerkmale? Welches sind ihre Werte, ihre spirituelle Grundlage? Wie wollen wir in Zukunft zusammenleben? Die Frage danach, was eine Gesellschaft zusammenhält, ist nicht neu. Aber sie wird heute mit grösserer Dringlichkeit wieder aufgeworfen. Dabei wird deutlich, dass der säkulare, demokratische Rechtsstaat und die freiheitliche, multikulturelle Gesellschaft einen Orientierungsrahmen brauchen, der mehr beinhaltet als Sicherheits-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die Schweiz ist auch ein Raum des menschlichen Zusammenlebens, ein Raum der Mitmenschlichkeit. Als christliche Kirchen wissen wir, dass dazu auch Glaube und ethische Orientierung gehören. Dimensionen, die das Wesen einer menschlichen Gemeinschaft ausmachen. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten in diesem gesellschaftlichen Suchprozess einen unverzichtbaren Beitrag. Was bedeutet es nun, wenn

sich neben den christlichen Kirchen auch andere Religionen, insbesondere islamische Gemeinschaften, einbringen? Menschen islamischen Glaubens sind längst Teil der Schweiz. Sie sind Einwohnerinnen und Einwohner des Landes, zu einem guten Teil bereits als Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Der Islam ist nicht nur Teil unseres wirtschaftlichen, sondern auch Teil unseres gesellschaftlichen und religiösen Lebens geworden. Die Menschen islamischen Glaubens befragen uns nach unserer Bereitschaft, mit ihnen den Schweizer Lebensraum zu teilen.

Wo ist Vertrauen nötig, wo Abgrenzung?

Die Mitgliedkirchen des SEK und auch der SEK selber pflegen den interreligiösen Dialog, insbesondere den Dialog mit Muslimen, seit langem. Auch im Schweizerischen Rat der Religionen sind nationale Vertreterinnen und Vertreter der Juden, Christen und Muslime seit 2006 in konstantem Austausch. Die Kirchen halten dem Konzept des Kampfs der Kulturen das Konzept des Dialogs der Religionen entgegen. Wir lassen uns von den Muslimen gerne befragen. Denn im Dialog konfrontieren wir sie auch: Das Auftreten gewisser Gruppierungen oder Einzelpersonen – nicht nur im Ausland – löst Irritationen und auch Widerstand aus. Für viele Menschen ist die islamische Religion nicht leicht zu beurteilen. Wo ist Vertrauen und Zustimmung möglich? Wo ist Abgrenzung und Widerspruch nötig? Das Ausmass der


Integrationsaufgabe beginnt uns erst richtig bewusst zu werden. Multikulturalität und Multireligiosität ist ein anspruchsvolles Gesellschaftskonzept. Es bedeutet, dass wir mit der Spannung, das Eigene zu bewahren und gleichzeitig offen zu sein für das Fremde, konstruktiv umgehen können. Es stellen sich Schlüsselfragen: Es geht um die Rolle der Religionen im säkularen Rechtsstaat, um das Verhältnis des Islam zur Demokratie, um Religionsfreiheit und die Freiheit des Religionswechsels, um die Gleichstellung von Mann und Frau, um die Menschenrechte insgesamt und um religiös legitimierte Gewalt. Um im Dialog zwischen den Religionen einen Schritt weiterzukommen, insbesondere im Dialog mit dem Islam, ist ein Grundkonsens über die Voraussetzungen des Zusammenlebens notwendig geworden. Bei diesem Grundkonsens soll es nicht um Inhalte des Glaubens gehen. Die Religionen sind unterschiedlich. Diese Unterschiede werden immer bestehen, sie machen den Reichtum der einzelnen Religionen aus. Heute gilt es, die grundlegenden Differenzen zwischen den Religionen so ernst zu nehmen, dass sie nicht als Ursache von Konflikten, sondern als Impulse zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wirken können. Wir brauchen einen Grundkonsens der Religionsgemeinschaften über die Voraussetzungen des Zusammenlebens. Er sollte gemeinsam ausgehandelt, in einem Dokument festgehalten und verbindlich beschlossen werden.

Sechs Vorschläge zum Grundkonsens aus evangelischer Sicht: 1. Konsens über die Wahrheit Religion gründet in einer Offenbarung Gottes. In der Ausrichtung auf die Offenbarung Gottes ist Religion immer auch eine geschichtliche Wirklichkeit, die mit den Schwächen des Menschlichen behaftet ist. Daher darf sie sich nicht verabsolutieren. Sie muss immer neu auf die Offenbarung Gottes hören und sich von dort her in Frage stellen lassen. Religion soll nicht auf einem absoluten Wahrheitsanspruch gegenüber andern bestehen. Sie darf keine Macht für sich in Anspruch nehmen und Herrschaft ausüben wollen. Vielmehr muss Religion Gott und den Menschen dienen und sich für das Wohl aller einsetzen. 2. Konsens über die Religionsfreiheit Die Freiheit, seinen Glauben individuell und in Gemeinschaft zu leben, ist ein grundlegendes Freiheitsrecht. Insbesondere für Religionen wie das Chri­ stentum oder den Islam, zu deren Selbstverständnis der Missionsauftrag gehört. Der Konsens über die

Panel 4: Wahrheitsanspruch von Religionen

Religionsfreiheit würde bedeuten, dass sich alle in der Schweiz vertretenen Religionen überall für dieses Recht einsetzen. Dies beinhaltet das Recht, keine Religion zu haben oder die Religion zu wechseln. 3. Konsens zur Pluralität der Religionen Die Schweiz ist ein christlich geprägtes Land. Die Kirchen erwarten von den anderen Religionen Sensibilität für dieses Erbe. Zur Realität der Schweiz gehört auch die Pluralität. Die Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Konfessionen gründet in der Geschichte des Landes. Sie ist ein Zeichen der Stärke, nicht der Schwäche. Wir müssen ihr Sorge tragen. 4. Konsens zu den Menschenrechten Die Menschenrechte sind eine Errungenschaft, für deren Beachtung wir Verantwortung tragen. Alle Religionsgemeinschaften in der Schweiz sollten die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 anerkennen − und bejahen. Mit der Zustimmung zu den Menschenrechten würden sich alle in der Schweiz vertretenen Religionen verpflichten, sich an der Sicherung dieser Errungenschaft zu beteiligen. 5. Konsens zum Rechtsstaat Die Religionen sollten anerkennen, dass der schweizerische Staat auf dem säkularen Recht beruht und nicht auf dem Bekenntnis zu einer bestimmten Religion. Das Recht des Staates gilt für alle in gleicher Weise. Rechtspluralismus, wie etwa die Geltung religiöser Vorschriften für bestimmte Bereiche des Zivilrechts (Familienrecht, Erbrecht usw.) oder die Einsetzung religiöser Gerichte, ist mit der Idee des Rechtsstaats unvereinbar. 6. Konsens zum Erhalt des Friedens Allen Religionen wohnt eine Friedenssehnsucht und ein Friedenspotenzial inne. Die Religionen in der Schweiz verpflichten sich, mit ihrer Tätigkeit den religiösen Frieden in der Schweiz zu bewahren und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. In diese Richtung könnte aus evangelischer Sicht ein Grundkonsens zwischen den Religionsgemeinschaften in der Schweiz zielen. In einer Zeit der grundlegenden Veränderungen brauchen die Menschen ein Minimum an Sicherheiten. Die Religionen könnten mit der Unterzeichnung eines Grundkonsenses über die Voraussetzungen des Zusammenlebens einen wichtigen Beitrag leisten. <

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Altern

Panel 5 –

Kontrolle bis zuletzt? Die Schönheitsindustrie, die Spitzenmedizin und die Werbung für   Vorsorgeeinrichtungen suggerieren uns, dass «gutes Altern»   eine Frage der Planung ist. Können wir wirklich die Verantwortung   dafür übernehmen, gesund, fit und fröhlich alt zu werden? Eine   theologische Betrachtung.

Von Ivana Bendik *

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in Lichtermeer aus bunten Lämpchen erleuchtet den Discohimmel, unter welchem fröhlich hüpfende, jugendlich gekleidete Frauen und Männer im Rentenalter zu Rhythmen von Popmusik Arme schwenken, Beine heben und gute Laune verbreiten. Wir befinden uns in einem Werbespot aus dem 1990 in die Kinos gekommenen Film «¡Átame!» («Fessle mich!») des spanischen Regisseurs Pedro Almodóvar. Aus dem Off erklingt die fragende Stimme des Sprechers: «Warum sonnen sich deutsche Rentner in Benidorm … während …» Das Bild wechselt von der nächtlichen Lebensfreude deutscher Rentner in die Realität des helllichten Tages spanischer Verhältnisse. Eine ältere Frau mit grauen Haaren und schwarzer Kleidung steht auf einem grossen Platz und hält den Passanten verstohlen die hohle Hand entgegen. Der Sprecher fragt weiter: «… während die armen spanischen Rentner am Metro-Eingang betteln müssen?» Es folgen schnelle provozierende Bildwechsel, die die Antwort offenlegen: Ein deutsches Pärchen in Naziuniform plant seine Zukunft vorausschauend bereits in seiner Jugend, während spanische Pärchen dem Reiz des Flirtens und des Tangotanzes erliegen. «Die Rentensicherung der Gerobank, damit du weitertanzen kannst», endet der Sprecher. Durch die Botschaft angeregt, fragt nun Marina, eine junge Ex-Pornodarstellerin und eine Hauptfigur des Films, ihren 23-jährigen, erst vor wenigen

Tagen aus der psychiatrischen Anstalt entlassenen Freund Ricky: «Was hast du denn für Zukunftspläne?»

Gut altern hängt von den Finanzen ab

Was Almodóvar hier mit künstlerischem Scharfsinn in überzeichnete Bilder umsetzt, berührt wesentliche Aspekte der aktuellen Debatten zum Thema Alter. Offensichtlich gibt es verschiedene Formen, alt zu werden. Wie jemand alt wird, hängt nicht zuletzt von seinen finanziellen Möglichkeiten ab. Auf schweizerische Verhältnisse übertragen, heisst das: Eine ledige Naturwissenschaftlerin in leitender Stellung bei Novartis altert anders als eine alleinerziehende Schichtarbeiterin in derselben Firma. Hinzu kommt das Nord-Süd-Gefälle, das unter anderem für ein Wohlstandsgefälle steht und spätestens seit der Ausdehnung der Europäischen Union (EU) auf osteuropäische Länder von einem West-Ost-Gefälle überlagert wird. Bereits innerhalb der EU gibt es beträchtliche Unterschiede, was die finanziellen und damit verbunden auch die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Möglichkeiten der Menschen im Rentenalter anbelangt. Diese faktische Verteilungsungerechtigkeit der Mittel wird von der Haltung unterlaufen, wonach die Menschen für ihr Wohlergehen (auch) im Alter selbst verantwortlich sind. Diese Haltung entspringt der vorwiegend westlich-mitteleuropäischen Perspektive einer Gesellschaft, die durch wirtschaftlichen und me-


Zac Macaulay / Getty Images

Jung bleiben bis zuletzt ist nur wenigen Menschen gegeben.


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dizinischen Fortschritt vieles an Wohlstand und körperlichem Wohlergehen möglich macht und so den Anschein wahrt, unser Leben und damit auch «gutes Altern» liege in der Verfügungsgewalt des Einzelnen. Was wiederum impliziert, dass alle, die frühzeitig altern und dabei finanziell ungenügend abgesichert sind, nicht nur selber schuld sind, sondern in unfairer Weise die Gesellschaft belasten.

Wer alt aussieht, ist selber schuld

tag» vom 22. 10. 2006 besonders gefährdet. Zu all dem tritt hinzu, dass immer weniger Kinder geboren werden und somit die gesamte Gesellschaft altert. Dies hat Folgen für das Wirtschaftssystem und für die staatlich garantierten Sicherheiten in der Altersvorsorge. Vor diesem Hintergrund gewinnt selbst der Werbeslogan in Almodóvars Film, der zur Privatvorsorge aufruft, an Aktualität, und die Frage «Was hast du denn für Zukunftspläne?» kann einen das Fürchten lehren. Nur eine Ex-Pornodarstellerin und ein Mann, der in der psychiatrischen Klinik gross geworden ist, sind dazu fähig, sich dem Diktat der scheinbaren Normalität zu entziehen. Nur sie?

Was bedeutet nun «gutes Altern» und inwieweit ist der Mensch selbst dafür verantwortlich? Aus der Haltung heraus, die ewige Jugend hochhält und die von der Gesellschaft und den Medien bevorzugt eingenommen wird, bedeutet es in aller Regel, bis ans Gott ist die Grenze, nicht der Tod Lebensende konsumfähig und jugendlich zu bleiben. Die christliche Theologie, der es schon seit ihren Auch die Werbung operiert mit der schier unbegrenzallerersten Anfängen nicht an «Happiness», sondern an ten Vielfalt an Möglichkeiten, das Leben bis ins hohe Frieden und Gerechtigkeit gelegen ist, hat möglicherAlter vital und sexy zu gestalten. «Man ist so alt wie weise gerade deshalb einen leicht spröden, trockenen man sich fühlt», besagt ein Slogan. Die Botschaft, die Charakter. Ihre Stärke ist es jedoch, dass sie, weil sie dabei mitschwingt, ist: Wer sich alt fühlt und ebenso sich auf eine letzte Wahrheit – nämlich Gott – bezieht, alt aussieht, ist selbst dafür verantwortlich, weil er zu der Realität des Alterns und den damit verbundenen wenig für sich, seine Fitness und seine physische und Leidenserfahrungen ins Auge blicken kann, ohne dapsychische Gesundheit tut. Folgt man dieser Linie, bei resignieren zu müssen. Der christliche Glaube geht dann bleibt festzustellen: Zumindest in Mitteleuropa davon aus, dass alles Sein in Gott gründet und desist es heute vielen Menschen möglich, ihre Jugendlichhalb auch von ihm her zu verstehen ist. Das bedeutet, keit über etliche Jahre auszudehnen. Dies verdanken der Mensch versteht sich als ein Geschöpf Gottes und sie unter anderem dem medizinischen Fortschritt, sein Leben als ein von ihm geschenktes und zugleich verbesserter Hygiene, humanen Arbeitsbedingungen auch durch ihn beschränktes Gut. So einfach sich das und gesetzlich geregelter Altersvorsorge. anhören mag, so weitreichend sind die Konsequenzen Doch der medizinische Fortschritt hat eine dieser Grundeinsicht. Allein der Gedanke, dass dem Kehrseite. Der Mensch bleibt – im Vergleich zu seiMenschen nicht der Tod, sondern Gott die Grenze ist, nen Vorfahren – nicht nur länger eröffnet einen Sinnhorizont. Weit«jung», sondern ist auch länger reichend ist auch die Vorstellung, «alt». Gemeint ist, dass sich auch dass das Leben ein Geschenk ist, Der Mensch bleibt nicht der beschwerliche Teil des Altefür das der Mensch nicht in letzter nur länger jung, sondern rungsprozesses verlängert. Es ist Instanz die Verantwortung trägt ist auch länger alt. die Phase, in welcher der biolound die er auch nicht zu tragen gisch bedingte Leistungsabbau vermag. Auch wenn diese Aussage der Organe, verbunden mit dem zunächst befremden mag, widerAbbau körperlicher und geistiger Kräfte, unübersehspiegelt sie doch die Erfahrung von Ungerechtigkeit bare Folgen für das individuelle Wohlempfinden und und berührt die Frage «Weshalb gerade ich?», die sich das äussere Erscheinungsbild nach sich zieht. Zudem alle ab und an im Leben stellen. treten in dieser Zeitspanne vermehrt Krankheiten auf, an denen man zwar nicht (sofort) stirbt, die jedoch die Jeder Lebensabschnitt ist einmalig Lebensqualität stark beeinträchtigen. Es sind Leiden Dem von Gott her gedachten Leben ist etwas Paswie Parkinson, Alzheimer, Altersdemenz, Altersdiasives, Empfangendes zu eigen. Damit ist keineswegs betes und Inkontinenz, um nur die bekanntesten zu gemeint, dass der Mensch nichts tun soll. Im Gegenteil, nennen. Das «Gut-Altern» gemessen am «Jugendlichgerade durch die zeitliche Begrenzung des Lebens wird bleiben-bis-Zuletzt» wird jetzt zu einer HerausfordeFrau und Mann das Leben erst als das bewusst, was es rung, der nur wenige wirklich gewachsen sind. Ein ist, nämlich ein kostbares Gut, das sie nicht auf ewig Drittel aller Suizide in der Schweiz begehen Menschen haben. Aus diesem Leben gilt es, etwas zu machen, es über 65. Männer über 70 sind gemäss «NZZ am Sonninnerhalb der befristeten Zeit zu gestalten, Lebensqua-


lität zu erlangen. Befristete Zeit heisst aber auch, dass jeder Zeitabschnitt des Lebens einmalig ist und in dieser Einmaligkeit nie wiederkommen wird. Der Mensch ist nur einmal im Leben Kind, Erwachsener und alter Mensch. Innerhalb der Weltzeit nimmt so auch der Mensch seine je eigene geschichtliche Zeit ein, in die er hineingestellt ist und von wo aus er Entscheidungen zu treffen hat, die den Weiterverlauf seines Lebens prägen werden. Diesen Ort innerhalb der Lebensspanne zu er­kennen und anzunehmen und sich von dieser Erkenntnis ergreifen zu lassen ist ein Moment der Passivität. Passiv deshalb, weil der Mensch dann in seinem sonst auf Tätigkeit hin ausgerichteten Leben der Empfangende, der Beschenkte ist. Es sind Momente, die in der theologischen Sprache Gnade heissen, weil hier Gottes Wort als Zuspruch gehört und als Anspruch verstanden und befolgt wird. Der Theologe Karl Barth formuliert es so: «Das Gebot Gottes ruft ihn an, eben der und ganz der zu sein, der er dort und nur dort sein kann. Es holt ihn also aus allen Zuschauerräumen heraus, stellt ihn auch nicht hinter, sondern, und das zu sofortigem Einsatz, auf die Bühne mit der Aufforderung, sein Verslein alsbald so gut oder so schlecht zu sagen, als es ihm eben jetzt gegeben ist. Denn eben jetzt, in dieser seiner Zeit hat er seine einmalige Gelegenheit, die – er weiss nicht, wie lange er sie haben wird – ergriffen und benützt sein will.» (Barth, S. 665) Der Mensch ist aufgerufen, die mit seinem Lebensalter und seinen Lebensumständen im Zusammenhang stehende Aufgabe wahrzunehmen.

Jugendlichkeit als Hingabe

Was bedeutet das nun übertragen aufs «gute Altern» und die Frage, inwieweit der Mensch selbst dafür verantwortlich ist? Wenn Jugendlichkeit auch bedeutet, sich einer Sache voll und ganz hinzugeben, ohne danach zu fragen, ob das jugendlich ist, dann hat der Mensch tatsächlich die Möglichkeit, bis zuletzt jugendlich zu bleiben. Nur wird der Gegenstand seiner Hingabe an jedem seiner lebensgeschichtlichen Orte ein anderer sein. Aus der Sicht des christlichen Glaubens begleitet Gottes Gebot gemäss Karl Barth «den Menschen auf seinem Weg und in dem zu ihm gehörigen Wechsel seiner Lebensbedingungen. Es ist aber nicht gebunden an das, was der Mensch von diesem Wechsel der Bedingungen zu wissen meint. Sondern das, was er von ihm wissen kann und je und je auch wissen muss, ist an Gottes Mitteilung und an seine Erkenntnis des Gebots gebunden, folgt aus ihr» (S. 701). Das bedeutet, dass wir aus der Sicht des christlichen Glaubens nicht im Voraus zu bestimmen haben, wie die Aufgaben der einzelnen Etappen im Leben konkret aussehen. Das ist Sache zwischen Gott und

Panel 5: Altern

dem Einzelnen an seinem individuellen lebensgeschichtlichen Ort. Frau und Mann sind insofern für das – in diesem christlichen Sinne – «Gut-Altern» verantwortlich, als sie eben diesen Ruf auch überhören und sich von den alltäglichen Sorgen, Ereignissen und Ungerechtigkeiten ausserhalb ihrer selbst führen lassen können. So werden sie zu Zuschauerinnen und Zuschauern, statt dass sie Akteure ihres je eigenen Lebens sind, in das sie von Gott hineingerufen werden. Für einen alten Menschen könnte das heissen, dass er der christlichen Grundeinsicht, alles Leben verdanke sich Gottes barmherziger Gnade, näher ist, als er es in seinen jungen Jahren war. Er kann nun erst recht all das Unfertige, Leidvolle getrost in Gottes Hände legen und mit Hölderlin ausrufen: «Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, dass er, kräftig genährt, danken für alles lern’, und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.» <

Mehr Informationen dazu: Karl Barth, Die kirchliche Dogmatik, Band III/4 §§ 55–56, Zürich 1993, sowie Friedrich Hölderlin, Lebenslauf; in: Sämtliche Werke, Band 2, Stuttgart 1953, S. 22.

* Dr. Ivana Bendik ist ehemalige Spitalpfarrerin und

seit September 2009 Beauftragte für Theologie am Institut für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK.

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«Yes we can»

Panel 6 –

Das Evangelium des Barack Obama

Charles Ommanney / Getty Images

Der profane Ausdruck «ja, wir schaffen’s» ist seit der Wahl von Barack Obama zum amerikanischen Präsidenten um die Welt gegangen.   Durch ihn wurde aus einer simplen Songzeile eine religiös aufgeladene Verheissung, die sich auf alles beziehen lässt: Eiscrème, den Kampf   gegen Armut, die Geschichte der USA. Deutet die Neucodierung von   «Yes we can» auf eine «Renaissance der Religion» hin?


Panel 6: «Yes we can»

Den definitiven Höhepunkt erreicht der Slogan in Obamas Siegesrede zu seiner Wahl   am 5. November 2008.

von Matthias D. Wüthrich *

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s ist der 23. Dezember 2008, wir befinden uns in der TV-Show «Willkommen bei Carmen Nebel Weihnachten» auf dem ZDF-Kanal. Die Scheinwerfer werden ausgeblendet, im Hintergrund sind in weichem Rot die Konturen eines grossen gotischen Kirchenbogens zu sehen. Kein Zweifel, die TV-Bühne suggeriert Präsenz in einer Kathedrale. Nun erklingt das Klaviervorspiel und Howard Carpendale beginnt zu singen. Seine Stimme ist sanft, leicht sonor, er haucht ein bisschen, sein Gesicht und die Gestik markieren Ernst und emotionale Betroffenheit. Die ganze Inszenierung lässt keinen Zweifel: Dieser Mann verkündet Wichtiges.

Bergpredigt mit Obama als Satire

Carpendales Hymne handelt von Barack Obama, der «Nacht der Nächte» des Wahlsieges und davon, dass er, Carpendale, am liebsten auch dort «in den Himmel reingeschrien» hätte: «Yes we can». Diese letzten Worte nimmt ihm ein Gospelchor aus dem Mund und wiederholt sie leicht swingend von hinten aus dem fingierten Kirchenschiff. Dann vermischt sich der Refrain «Yes we can» mehr und mehr mit Carpendales Worten: «Ja, wir können zusammen in

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eine bessere Zukunft gehen / mit dem Herz durch die Wand / wir können den Wind noch einmal drehen.» Carpendale steht nun mitten im Chor von tanzenden schwarzen Gospelsängerinnen und Gospelsängern in Ministrantenkleidung. Dann: Tosender Applaus vom Publikum, die frohe Weihnachtsbotschaft scheint angekommen zu sein. Szenenwechsel: Auf der Homepage von «Catholic Exchange» ist ein satirischer Beitrag unter dem Titel «Anfang des Evangeliums von Barack Obama, dem Sohn Gottes» zu finden, eine den biblischen Evangelien nacherzählte Geschichte, die Obama als Jesusgestalt fingiert. Auch die Bergpredigt wird nacherzählt: «Als Obama die grosse Menge sah, stieg er auf den Berg … öffnete seinen Mund und lehrte sie: Blessed are those who believe. For they shall say, Yes We Can!. Blessed are those who say, Yes We Can, for they shall audaciously hope.»

Wie kommt es zur christlichreligiösen Aufladung?

Es liesse sich noch manche, ähnlich gelagerte Szene hinzuzufügen. Neuerdings gibt es auch auf dem deutschen Musikmarkt CDs mit Gospelsongs unter dem Titel «Yes we can». Nur fragt man sich: Wie kommt es zu dieser quasi-religiösen bis christlich-religiösen Aufladung der simplen Redewendung «yes we can»? Wie kommt es, dass diese drei Wörter plötzlich von einer evangelischen Aura umgeben werden? Erstaunlich ist das zunächst deshalb, weil die Redewendung eigentlich banal und religionsneutral ist. Erstaunlich ist es aber auch, weil «Yes we can» einem gänzlich profanen Sprachkontext entstammt: Sie taucht als Redewendung zum Beispiel im gewerkschaftlichen Kampfruf auf, den 1972 die LandarbeiterGewerkschafter César Chávez und Dolores Huerta in Arizona USA geprägt haben: «¡Sí se puede!» Zu erinnern wäre auch an den Song «Yes We Can Can» der Pointer Sisters aus dem Jahr 1973:

Now’s the time for all good men to get together with one another. … We got to make this land a better land than the world in which we live. … I know we can make it. I know we darn well can work it out. Oh yes we can, I know we can can … Eine religiöse Verwendung lässt sich in diesen Beispielen also kaum ausmachen. Umso dringlicher

stellt sich die Frage: Woher stammt die evangelische Aura der Redewendung? Die Spur führt unweigerlich zu Barack Obama. Hier baut sich diese Aura in der typischen politisch-religiösen Mischung amerikanischer Wahlkämpfe sukzessive auf. Zum ersten Mal braucht Obama den Slogan in einer frühen Rede, am 11. April 2005 in Washington (D. C.). Schon da betont er damit, dass es gemeinsam zu schaffen ist, soziale Missstände zu beheben, und er beschwört eine gemeinsame US-amerikanische Hoffnung. Später wird aus dem Slogan mehr und mehr ein Leitmotiv des Wahlkampfes um die Präsidentschaft der USA. Dabei dürfte der erwähnte Song der Pointer Sisters einen entscheidenden Einfluss auf Obama gehabt haben. Amerikanische Wissenschaftler vermuten, dass dieser Song Obamas Rhetorik zumindest unbewusst geprägt hat.

Ein Fernsehprediger hätte es nicht besser hinbekommen

Einen ersten Höhepunkt in der Geschichte des Slogans «Yes we can» bildet Obamas Rede in New Hampshire. Die Redewendung wird hier zum Bekenntnis des Geistes der amerikanischen Nation («a simple creed that sums up the spirit of the people: Yes we can»), sie wird zur Hoffnungsaussage hochstilisiert, die immer schon den verborgenen Promotor der Geschichte der USA gebildet haben soll, und sie wird mit dem christlich konnotierten «way to the promised land» verbunden. Doch Obama siedelt diese Hoffnungsaussage nicht nur an der Wurzel des amerikanischen Pioniergeistes an, sie soll auch die Zukunft dieses Landes bestimmen: Gemeinsam soll nun ein neues Kapitel US-Geschichte geschrieben werden: «With three words that will ring from coast to coast, from sea to shining sea: Yes we can.» Kurz darauf vertonte der Sänger «will.i.am» zusammen mit 37 Stars eine Collage von Zitaten dieser Rede unter dem Songtitel «Yes We Can». Der Song wurde unzählige Male vom Internet heruntergeladen. Den definitiven Höhepunkt erreicht der Slogan in Obamas Siegesrede zu seiner Wahl am 5. November 2008. Der frisch gewählte amerikanische Präsident beendet seine Siegesrede mit einer elektrisierenden Klimax: Sieben Mal ertönt es «Yes we can», davon sechs Mal in der Funktion eines rhythmisierenden Refrains. Ein geschulter Fernsehprediger hätte es rhetorisch nicht besser hinbekommen! Die Redewendung «Yes we can» beginnt sich hier aus ihrem angestammten Sprachsetting zu lösen: Sie verselbständigt sich und funktioniert ähnlich wie das performative, von den Zuhörern in die Predigt eingeworfene «Amen» in evangelikalen Gottesdiensten. Auch hier bezeichnet Obama das «Yes we can» als


Panel 6: «Yes we can»

Chip Somodevilla / Getty Images

Bei seiner Siegesrede wiederholte Obama «Yes we can» sieben Mal. Mit einem Schuss Patriotismus und durch sein messianisches Charisma wurde der Slogan mit einer evangelischen Aura versehen.

zeitloses Bekenntnis des Geistes der Nation. Die Rede enthält zudem eine implizite Anspielung auf Martin Luther King («a preacher from Atlanta who told a people We Shall Overcome. Yes we can») und endet mit Obamas Segenswunsch («God bless you, and may God bless the United States of America»). Ist «Yes we can» das Evangelium des Barack Obama? Man kann nicht sagen, dass Obama der Redewendung explizit ein christlich-religiöses Kleid verpasst hat. Es wäre auch schwierig nachzuweisen, dass er das unausgesprochen beabsichtigt hätte. Es lässt sich aber kaum bestreiten, dass in seinem Gebrauch des Slogans eine semantische Neucodierung stattfindet, dass sich «Yes we can» zunehmend verselbständigt und – beabsichtig oder nicht – in eine neue Nähe zu religiös konnotierten Deutungsmustern gerät. Die breite Rezeption der Redewendung trieb die Verselbständigung weiter voran: Verstärkt durch einen guten Schuss Patriotismus und durch das messianische Charisma des neuen Präsidenten wurde der Slogan in God’s own country nun zunehmend mit jener evangelischen Aura versehen, die auch in Carpendales Inszenierung reproduziert wurde.

Sehnsucht nach Religiosität

Die Verdunstung der traditionellen Glaubenssprache und die Kontextverschiebung christlich-religiös geprägter Wörter in die Alltagssprache fällt uns kaum mehr auf. Umso bemerkenswerter ist es, wenn in umgekehrter Richtung eine Redewendung neu in einem religiösen Sprachkontext auftaucht. Soll man darin einen Ausdruck der vieldiskutierten «Renaissance der Religion» sehen? Zumindest in den postsäkularen Breitengraden Europas ist es wohl angebrachter, von einer wiederkehrenden diffusen Sehnsucht nach Reli-

giosität zu sprechen. Bedeutungen und Bestimmtheiten von Religionen werden dabei kaum wahrgenommen. Das zeigt sich auch an der Formel «Yes we can». Sie bleibt im ganzen – hier nur grob rekonstruierten – komplexen Prozess ihrer Neucodierung diffus und unbestimmt. Was genau können wir? Wie können wir es? Wer ist eigentlich wir? Und: Woher werden wir befähigt, zu können, was wir können? Das heisst jedoch nicht, dass man solche Sehnsüchte nicht auch theologisch ernst zu nehmen und zu reflektieren hätte – im Gegenteil. Auch die ganz weltlichen Sehnsüchte sollte man übrigens nicht verachten: Die zu Ehren Obamas kreierte neue Eiscrèmesorte «Yes, Pecan» sei durchaus bekömmlich … < Verwendete Quellen: http://catholicexchange.com/2008/05/21/112550/ Wolfgang Mieder, «Yes We Can». Barack Obama’s Proverbial Rhetoric, New York 2009 http://www.nytimes.com/2008/01/08/us/ politics/08text-obama.html http://www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,588507-2,00.html

* Dr. Matthias D. Wüthrich ist Oberassistent

für Systematische Theologie/Dogmatik an der theologischen Fakultät der Universität Basel.

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Augenblick Nuklearwaffen: Wie weiter? Panel 7 –

Die Atommächte USA, Russland, Frankreich, Grossbritannien und China wollen nicht, dass Nuklearwaffen in falsche Hände gelangen. Doch welches sind die falschen Hände?


Hiroshima im September 1945 nach der Bombardierung durch die USA. In der Mitte unten die Kirche Nagarekawa. Bild von Shigeo Hayashi aus der Sammlung des Hiroshima Peace Memorial Museums.


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Vandana Shiva

Menschen –

«Wer die Natur zerstört, vernichtet seine Lebensgrundlage» Vandana Shiva kämpft als promovierte Physikerin und   Umweltaktivistin gegen die globale Ausbeutung und Schändung   der Natur. Das hat ihr den Alternativen Nobelpreis eingebracht.   Und zahlreiche Feinde obendrein. Von Stephanie Riedi

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as bordeauxrote Bindi auf der Stirn von Vandana Shiva ist religiöses Sinnbild und politisches Statement zugleich. Im Hinduismus steht der daumengrosse Punkt für das dritte Auge; er soll Einsicht in die Weltenseele gewähren. Zudem symbolisiert er Shakti, die weib­liche Urkraft schlechthin. Beides dient der renommierten Umweltaktivistin im Kampf wider die Ausbeutung und Schändung der Natur: Mit ihrem inneren Radarsystem ortet Vandana Shiva ökologische Unstimmigkeiten respektive deren Verursacher. Und diese wiederum piesackt die streitbare Inderin mit einer Energie, die «Cowboy-Ökonomen» und «BioPiraten» das Fürchten lehrt. Vandana Shiva ist eine Tigerin, zweifellos. Zwar wirkt sie mit ihrem Dutt und Seidensari lammfromm wie ein Kuschelbuddha. Aber die Frau kennt kein Pardon, wenn es um gewissenlose Global Players geht. Dafür wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Alternativen Nobelpreis (1993) und dem Golden Plant Award (1997). Die heute 57-Jährige publizierte über 20 Fachbücher zum Thema Ökologie. Sie ist Mitglied des Club of Rome und Vizepräsidentin der internationalen Organisation Slow Food. Sie berät die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und gründete in Neu-Delhi die Stiftung Research Foundation for Science, Technology and Ecology, der sie als Direktorin vorsteht. Gleich ihrem geistigen Mentor Mahatma Gandhi macht Vandana Shiva sich stark für die Schwachen. Sie ruft zum zivilen Ungehorsam auf fernab von Gewalt. Ihre Plädoyers sind mit Fakten gespickt, an denen es nichts zu rütteln gibt. Ihr Anliegen: ein radikaler Paradigmenwechsel zugunsten der Nahrungssi-

cherheit weltweit sowie einer Kultur der würdevollen Arbeit. «Die Industrialisierung der Nahrung und der Landwirtschaft», fährt die Tigerin ihre Krallen aus, «hat die menschliche Gattung auf die schiefe Bahn gebracht.» Es sei Matthäi am Letzten. «Entweder wir schaffen es, die ökonomische und ökologische Krise kreativ anzugehen», sagt sie, «oder aber wir werden untergehen.» Die Streitbare propagiert die Notwendigkeit eines universellen Bewusstseins, um eine vertiefte, erweiterte Demokratie zu erschaffen, die sogenannte Erd-Demokratie. Nicht Politik und Wirtschaft stehen dabei im Vordergrund, sondern die Verantwortung jedes Einzelnen für das Wohlergehen aller Lebewesen auf diesem Planeten. «Wer sich in Zeiten dramatischer Klimaveränderungen und Ressourcenverknappung hinter Parteizwistigkeiten versteckt», sagt sie, «verhält sich wie Nero, der auf der Lyra klimperte, als Rom brannte.»

Vandana Shiva zwingt RiceTec in die Knie

In ihrer neuen Streitschrift «Leben ohne Erdöl» plädiert Vandana Shiva für «eine Wirtschaft von unten gegen die Krise von oben». Wie das funktionieren soll, fasst sie in einem Satz zusammen: «Die Erde, nicht das Erdöl bildet den Rahmen, in dem wir die drohende ökologische Katastrophe und menschliche Brutalisierung in eine Chance umwandeln können, um unsere Menschlichkeit, aber auch unsere Zukunft zurückzugewinnen.» Vandana Shiva weiss, wovon sie spricht. Seit fast 40 Jahren kämpft die Tochter von Akademikern und Freigeistern aus dem Dehra-Dun-Tal am Fusse


Matthias Wäckerlin /NZZ

Die streitbare Umweltaktivistin wurde auch schon mit getrockneten Kuh­ fladen beworfen. Was ihre Gegner nicht wussten: In Indien bedeutet Kuhdung Fruchtbarkeit.


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des Himalaja für die Erde, die sie respektvoll «Gaia» nennt. Der Name steht in der griechischen Mythologie für die Muttergöttin und somit, laut Vandana Shiva, für Biodiversität, Demokratie, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit – und notabene Friede. «Gaia ist ein lebendiger Organismus», erläutert sie. Deren Wohl gelte es rigoros zu verteidigen. Sie selbst tut es, indem sie Feldforschung betreibt, ihre Studien publiziert sowie an Weltkongressen partizipiert und Protestmärsche organisiert, bei denen sie jeweils an vorderster Front agiert. Zum Beispiel im Jahr 2001. Vandana Shiva rief zur Demo, und prompt folgten ihr über 100 000 Menschen. Grund: Ein Abkommen der indischen Regierung mit dem US-Saatgut-Produzenten RiceTec, der sich das Patent auf den heimischen Basmati-Reis gekrallt hatte. Vandana Shiva bezeichnete den Pakt als «Nahrungsfaschismus». Mit Erfolg. RiceTec musste über 20 Patente aufgeben. Ähnliches bewirkte sie kürzlich in Europa: Dank ihrem Einsatz wurde die Genmaissorte MON 810 des US-Multi Monsanto kurzerhand verboten.

Sie träumte davon, Atomphysik zu studieren

1991 gründete Vandana Shiva Navdanya, eine Kooperative, um die Patentjagd gefrässiger Konzerngiganten in Indien zu stoppen und die Bauern unabhängig zu machen: Das Saatgut sollte fortan in selbstverwalteten Depots aufbewahrt und den Landwirten kostenlos abgegeben werden. Es war der Beginn eines einzigartigen Grossprojektes. Heute umfasst Navdanya 55 Saatbanken mit rund 500 robusten Sorten, die den Klimaveränderungen standzuhalten versprechen. Eine halbe Million Bauern profitiert davon. Als Schülerin bekam Vandana Shiva ein Begabtenstipendium, durfte Kurse in Harvard belegen, träumte davon, Atomphysik zu studieren. Doch die Karriereplanung fand ein jähes Ende, als ihre Schwester, eine Ärztin, sie vor den Folgen radioaktiver Strahlen warnte. «Sie öffnete mir die Augen», erzählt Vandana Shiva, die bislang nur die Sonnenseite der Wissenschaft kennengelernt hatte. Sie sattelte um und promovierte in Quantentheorie. Gleichzeitig fing sie an, die Chipko-Frauen zu unterstützen, die sich an Bäume klammerten, um deren Rodung zu verhindern. Von den indischen Bäuerinnen lernte Vandana Shiva, dass mit dem Wald auch das Wasser und der gute Boden zu verschwinden drohten. «Wer die Natur zerstört», sagt sie heute, «vernichtet seine Lebensgrundlage.» Die Chipko-Frauen legten den Grundstein für Vandana Shivas Engagement Geschlechtsgenossinnen gegenüber. «Frauen leiden am meisten unter der Um-

weltzerstörung», sagt sie. «Als Bergbauarbeiten etwa eine Quelle versiegen liessen, waren es die Frauen, die beim Wasserholen weiter laufen mussten.» Überzeugt, dass die ungleiche Lastenverteilung mit einer frauenfeindlichen Rollenverteilung einhergeht, es also eine Verbindung von feministischen und ökologischen Zielen gibt, entwickelte sie daraus die Theorie des Ökofeminismus. «Was wir jetzt dringend und zwingend brauchen », konstatiert sie, «sind weibliche Kompetenzen wie Fürsorglichkeit, also Menschen, die ihre Machtposition zu nutzen wissen, indem sie sich um die Gesellschaft und Umwelt kümmern.» Logisch, dass solche Worte fast blasphemisch wirken in patriarchal orientierten Machtgefügen, wie sie «Gaia» bis dato dominieren. Vandana Shivas Gegner sind denn auch ebenso zahlreich wie ihre Verbündeten. Am UNO-Gipfel für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg 2002 bekam sie die Quittung für ihren Effort: zwei getrocknete Kuhfladen. «Ich fühlte mich geehrt», erzählt sie. In Indien bedeute Kuhdung Bodenfruchtbarkeit. Die «Gabe» stammte jedoch von Gentechbefürwortern, die ihre Bestrebungen schlichtweg «Scheisse» finden. Vandana Shiva nimmt’s gelassen: «Die Kuhfladen zeigen vor allem eines, nämlich dass wir etwas bewirken.» In den Augen blitzt die Urkraft Shaktis. <

* Stephanie Riedi ist freie Journalistin und Redaktorin.

Büchertipp

Bücher von Vandana Shiva zu Energie- und Umwelt­themen, erschienen im Rotpunkt Verlag: Leben ohne Erdöl. Eine Wirtschaft von unten gegen die Krise von oben (2009) Erd-Demokratie. Alternativen zur neoliberalen Globalisierung (2006) Geraubte Ernte. Biodiversität und Ernährungspolitik (2004) Der Kampf um das blaue Gold. Ursachen und Folgen der Wasser­ verknappung (2003)


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Von Helen Gucker-Vontobel

Mitglied des Rates SEK und Kirchenrätin der Evangelischreformierten Landeskirche des Kantons Zürich

– Schlusspunkt

Alternde Gesellschaft: Herausforderung und Chance für die Kirche

E

s steht fest, dass der Anteil der älteren und alten Menschen an der Gesellschaft zunimmt. Insbesondere das Segment der Hochaltrigen vergrössert sich. Damit verschieben sich die Proportionen zwischen den unter 20-Jährigen, den Erwachsenen bis zum Alter 65 und Personen im Ruhestand. Diese Verschiebungen zeitigen Folgen: Der Anteil an Erwerbstätigen pro pensionierte Person wird immer kleiner, der Bedarf an Wohnraum wird steigen, die Anzahl der Haushaltungen zunehmen. Das sind Fakten, genauso wie die Tatsache der zunehmenden Fragilität von hochbetagten Menschen, die auf verschiedenste Dienstleistungen und pflegerische und medizinische Hilfe angewiesen sind. Entsprechend werden ihre Kosten, insbesondere die Gesundheitskosten steigen. Die Gesellschaft ist gefordert. Die Vereinsamung von vielen, die Hilfsbedürftigkeit von einigen sowie das Armutsrisiko von einzelnen alten Menschen sind Themen, denen wir uns stellen müssen und möchten. Es stellt sich die Frage,

was die Kirche zu diesem Thema beitragen kann. Die finanziellen Probleme des Gesundheitswesens wird sie nicht lösen können. Aber sie kann ihren Beitrag in anderen Belangen mannigfach leisten. Die Kirche ist offen, präsent und einladend. Offen als Zuhörerin, präsent, um Menschen in schwierigen Situationen zu unterstützen, und einladend zu Gesprächen, Besinnung, musikalischen und kulturellen Veranstaltungen.

Junge Alte wollen sich einsetzen

In den Jungen der Alten schlummert Potenzial. Die neuen Jahrgänge der Pensionierten wollen ihre Fähigkeiten weiterhin einsetzen können. Sie sind fit und haben Kraft für neue Ziele. Und viele von ihnen sind bildungshungrig. Für sie hält die Kirche Angebote bereit, etwa Erwachsenenbildung in berufsfremden Themen, was das mentale Wohlbefinden stärkt. Die Kirche kann die Kompetenzen der jungen Alten auch für neue Aktivitäten nutzen. Initiative Alte, die Lust auf gesellschaftliches Engagement haben,

können in neuen Feldern aktiv werden. Menschen, die Verbindlichkeit, Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit ernst nehmen, eignen sich zum Beispiel für ein Behördenamt. Die Kirche will die aus dem Erwerbsleben ausscheidenden Menschen nicht vergessen, sondern ihnen weitere Chancen bieten, um ihren Erfahrungsschatz weiterzugeben, und ihnen die Möglichkeit geben, sich weiterhin an der Gesellschaft zu beteiligen. <


In dieser Ausgabe

«Das krampfhafte Festhalten am Bankgeheimnis hat auch mit der Art der Kritik zu tun.» «Die Klimapolitik und Klimadiplomatie der einzelnen Staaten ist oft weder transparent noch glaubwürdig.» «Zwanzig Jahre vor seiner Ermordung sagte mein Grossvater Mahatma Gandhi, er ziehe den Satz ‹Wahrheit ist Gott› dem Satz ‹Gott ist Wahrheit› vor.» «Was bedeutet ‹gutes Altern› und inwieweit ist der Mensch selbst dafür verantwortlich?»

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sek · feps Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

www.sek.ch


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