Ila 337 quito

Page 1

www.ila-web.de Quito – Gesichter einer Metropole 4 Hat sich im Quito der Bürgerrevolution etwas geändert? Die Kommunalpolitik unter Bürgermeister Augusto Barrera von Mario Unda

7 Der Correa von Quito? Ein Portrait des Bürgermeisters Augusto Barrera von Frank Braßel

8 Randerscheinungen in Quito Flächenfraß, soziale Segregation und der ökologische Fußabdruck der Stadt von Barbara Scholz

10 Von Plan zu Plan Das historische Zentrum Quitos und die Versuche, es zu bewahren von Yadhira Alvarez

12 Auf dem Weg zu mehr Solidarität Die Probleme des Straßenverkehrs in Quito von Ylonka Tillería

14 Beton statt Kolonialstil Guayaquil ist in vielem der Gegenpart zu Quito von Günter Pohl

15 Krawatte mit Flecken Die Umweltsituation in Quito von Edgar Isch López

18 Es gibt durchaus eine Kultur des Protests Interview mit Verónica und Irene León über Frauenbewegungen in Quito von Gaby Küppers

22 Lernprozesse Ehemalige soziale AktivistInnen aus Quito sind mittlerweile politische FunktionsträgerInnen von Barbara Scholz

24 Papiere für alle Kolumbianische Flüchtlinge in Quito von Karina Villacis

26 Die Stadt, die mehr als die Hölle war Quito in der Literatur von David Guzmán J.

Editorial

E

cuadors Hauptstadt Quito gilt als eine der schönsten Städte Lateinamerikas. Mit ihrer großen kolonialen Altstadt, ihren barocken Plätzen und Kirchen und einem beeindruckenden Bergpanorama zieht die 2500 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Metropole Jahr für Jahr Zehntausende von TouristInnen aus aller Welt an. Gleichzeitig hat die Zwei-Millionen-Stadt (im Großraum Quito leben sogar drei Millionen Menschen) mit großen sozialen und infrastrukturellen Problemen zu kämpfen. Obwohl die Stadt im Herzen des indigen geprägten Andenhochlands Ecuadors liegt, wird sie von Mestizen und Weißen dominiert. Indígenas sind zwar präsent, aber in ihrer großen Mehrheit weiterhin marginalisiert. Sie leben überwiegend in den armen Vorstädten und rangieren am unteren Ende der sozialen Hierarchie. Armut ist in Quito allgegenwärtig, auch wenn die Überweisungen der im Ausland lebenden Ecuadoria-

2 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

nerInnen und die Sozialprogramme der Regierung Correa die Situation in den letzten Jahren etwas verbessert haben. Wie viele der rasant gewachsenen lateinamerikanischen Großstädte hat Quito mit erheblichen Verkehrsund Umweltproblemen zu kämpfen: Seien es der viel zu kleine und ungünstig gelegene Flughafen oder die heillos verstopften Straßen oder auch die schwerwiegenden Unzulänglichkeiten im öffentlichen Personenverkehr. Auch wenn die endlosen Staus viele Quiteños/as alltäglich auf die Palme bringen, wird wie überall das Auto als Statussymbol Nummer eins nicht in Frage gestellt. Dabei raubt der auf Individualverkehr basierende Transport vielen Quiteños/as schon heute rund zehn Prozent ihrer Lebenszeit; somit ist er also das Gegenteil des von der Regierung und sozialen Organisationen propagierten buen vivir, des „guten Lebens“.


28 Raum der Erinnerung

46 Peruanisch-brasilianische Stromrechnungen Konflikte um das geplante Wasserkraftwerk Inambari von Hildegard Willer

Die Capilla del Hombre von Osvaldo Guayasamín von Gert Eisenbürger

30 Rock im Park Die Rock- und Heavy-Metal-Szene aus Quito kämpft um Anerkennung von Ela Zambrano

32 Die Witwen des alten Jahres Das Travestieritual in Quito bricht die sexuelle Ordnung und erhält sie dennoch aufrecht von Loria Minango Narváez

34 Zuflucht in Quito Lilo Linke und Paul Engel (Diego Viga) integrierten sich schreibend in Ecuador von Gert Eisenbürger

Berichte & Hintergründe 38 Verbales Geplänkel Chinas Ölinvestitionen in Venezuela werden an dessen Abhängigkeit von den USA wenig ändern von Oliver Matz

40 Immer noch 11,5 Morde pro Tag El Salvador: Präsident Funes beharrt auf Militarisierung von Magdalena Flores

42 Mitte oder Mitte? Bei den mexikanischen Gouverneurswahlen koalieren links und rechts von Frederik Caselitz

44 Fortuna teilt und herrscht Konflikt um Goldmine in Oaxaca eskaliert von Alexander Debusman

Auch wenn Quito jenseits der Verkehrsstraßen durchaus beschaulich wirkt und seine EinwohnerInnen friedliche Menschen sind, war Quito politisch in den vergangenen Jahrzehnten ein unruhiges Pflaster. Es gibt durchaus eine Kultur des Protests, meint eine Interviewpartnerin in dieser ila, gegen unliebsame Präsidenten sei man in der Stadt immer auf die Straße gegangen. Diese Erfahrungen mussten die Präsidenten Abdalá Bucaram (1996-97), Jamil Mahuad (1998-2000) oder Lucio Gutiérrez (20032005) machen, die jeweils von einer breiten Protestbewegung zum Rücktritt gezwungen wurden. Jenseits aller sozialen und ökologischen Probleme ist Quito die Kulturmetropole Ecuadors. Mit der vom großen ecuadorianischen Maler Osvaldo Guayasamín (19191999) konzipierten Capilla del Hombre hat Quito eines der faszinierendsten Kunstmuseen Lateinamerikas, unterhält ein Symphonieorchester, das nicht nur europäische, sondern auch indigene Instrumente einsetzt, fördert eine lebendige Straßentheaterkultur und hat eine spannende Popularmusikszene, die von andiner Folklore über afroamerikanische Rhythmen bis zum Rock Quiteño reicht.

48

„Verschwindenlassen“ hat Konsequenzen Kolumbien: Ex-Oberst im Justizpalast-Prozess verurteilt von Bettina Reis

49 Ein supermächtiger Präsident Kolumbien: Von 2010 bis 2014 will Juan Manuel Santos als „Präsident der nationalen Einheit“ regieren von Bettina Reis

Kulturszene 51 El eterno Ernst Vivir en otra lengua – lateinamerikanische Literatur aus Europa von Britt Weye

52 Die Flucht nach Argentinien gelang nicht immer Beeindruckendes Buch über eine jüdische Familie aus Baden von Gert Eisenbürger

53 Seine spitze Feder wird fehlen Abschied von Carlos Monsiváis (1938-2010) von Ulrich Mercker

Länder nachrichte Ländernachrichte nachrichtenn / Poonal 54 Argentinien, Belize, Brasilien, Guatemala, Kolumbien, Mexiko, Nicaragua, Panama, Paraguay 58 Notizen aus der Bewegung, Impressum Titelfoto: Gaby Küppers Die ila 337 wird vom Evangelischen Entwicklungsdienst (eed) gefördert.

Quito ist zwar seit der Unabhängigkeit die Hauptstadt Ecuadors, ist jedoch beileibe nicht die einzige Metropole des Landes. Das im tropischen Tiefland gelegene Guayaquil ist mit fast vier Millionen EinwohnerInnen nicht nur deutlich größer als Quito, es ist auch wirtschaftlich stärker. Die beiden Städte sind nicht nur geographisch und klimatisch extrem unterschiedlich, sondern stehen auch für gegensätzliche politische Traditionen. Während in Quito fast immer linke oder linkszentristische Politiker an der Spitze der Stadt standen, ist Guayaquil die Hochburg der sehr rechten Sozialchristlichen Partei. Die beiden Städte repräsentieren jeweils ein völlig anderes Ecuador, so dass in einem Schwerpunktheft zu Quito auch ein Artikel zu der anderen Metropole nicht fehlen darf. Wie immer wäre auch diese Ausgabe nicht ohne die Unterstützung vieler Menschen außerhalb der ilaRedaktion zustandegekommen, die uns nicht nur Texte und Fotos zur Verfügung gestellt, sondern auch wichtige Hinweise gegeben und Kontakte hergestellt haben. Dafür möchten wir uns besonders bei Frank Braßel, Rubén Jurado, Irene und Verónica Léon, Barbara Scholz und Ylonka Tillería bedanken.

3 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Hat sich im Quito der Bürgerrevolution etwas geändert? Die Kommunalpolitik unter Bürgermeister Augusto Barrera

Gleichzeitig mit der Wiederwahl von Rafael Correa zum Präsidenten Ecuadors und dem Erfolg bei den Parlamentswahlen erzielte Alianza País auch bei den Provinzpräfekt- und Bürgermeisterwahlen gute Ergebnisse. Einen ihrer vielleicht wichtigsten Siege feierte sie mit der Wahl Augusto Barreras zum Bürgermeister von Quito. Dies ist nicht nur die Hauptstadt, sondern auch die zweitgrößte Stadt des Landes. Und interessant waren die Begleitumstände. Das politische Szenario nämlich war geprägt vom Konflikt zwischen der Regierung und der Opposition der Rechten (welche seit der „Rückkehr zur Verfassungsmäßigkeit“ von 1978 bis zur Wahl von Correa die Kontrolle über Regierung und Staat innegehabt hatte). Und der Haupttrumpf dieser Opposition ist wohl bis heute Jaime Nebot, der Bürgermeister von Guayaquil, der bevölkerungsreichsten und ökonomisch stärksten Stadt des Landes, die seit 16 Jahren von der rechten Christlich-Sozialen Partei regiert wird.

W

VON

MARIO UNDA

enn die Macht der Rechten heute auch mehr oder weniger auf Guayaquil reduziert ist, ist dies alles andere als ein unbedeutendes Überbleibsel. Denn die Rechte versucht diese Stadt zu einem Brückenkopf für spätere Erfolge zu machen. Nebot spricht von einem „Entwicklungsmodell“ à la Guayaquil und zieht damit nicht nur die Wählerstimmen der Stadt, sondern auch die Hoffnungen der gesamten Rechten auf eine Revanche auf sich. So erhielt Quito für das Regierungsprojekt eine ganz zentrale politische Bedeutung: Es war die Gelegenheit, ein „eigenes“ Modell für die kommunale Verwaltung unter Beweis zu stellen, das sich von der rechten Opposition abhob, als Beginn einer Alternative für das ganze Land. Daneben stand Quito für die Notwendigkeit, die Anziehungskraft zu bestätigen, die das Vorhaben der Regierung – oder der Diskurs des Präsidenten, was nicht ganz dasselbe, aber doch das Gleiche ist – auf das Bewusstsein eines wichtigen Teils der Bevölkerung von Quito und des Hochlandes ganz allgemein hat. So wurde Quito also zum Schaukasten einer progressiven kommunalen Verwaltung oder zumindest zum sichtbarsten Schaufenster. Worin kann also nun die progressive Verwaltung einer Stadt wie Quito bestehen? Oder, ganz direkt gefragt, hat sich in Quito mit der Bürgerrevolution irgendetwas verändert?

4 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Der Metropolenbezirk von Quito umfasst heute etwa zweieinhalb Millionen EinwohnerInnen. Die Mehrheit lebt im Stadtgebiet von Quito, aber die stärker bevölkerten vorstädtischen oder ländlichen Gebiete sind in den vergangenen Jahren im Zuge des Wachstums der Stadt insgesamt gewachsen, und zwar schneller als der innerstädtische Raum (vgl. Beitrag „Randerscheinungen in Quito“ in dieser ila). Andererseits zählt Quito zu den Städten mit der wenigsten Armut im Land, gemessen an der Befriedung der Grundbedürfnisse (wenngleich am Einkommen gemessen die Armut steigt). Nichtsdestotrotz ist Quito eine von enormer Ungleichheit geprägte Stadt. In einigen Gebieten gibt es so gut wie keine Armut, wie die Ebenen, die wohlhabenden Seitenhänge des nördlichen Zentrums oder bestimmte Gebiete im nahegelegenen Valle de Tumbaco. Die Zahl der Armen liegt hier unter vier Prozent. In anderen Teilen der Stadt ist die Situation jedoch genau umgekehrt: In den südlichen Außengebieten und im Nordosten betrifft die Armut über 83 Prozent der Bevölkerung und damit ebenso viele oder sogar mehr als in den ärmsten ländlichen Gebieten des Landes.

S

o ist das Wachstum in Quito also von einer sozialen und räumlichen Segregation geprägt. Das ist kein neues Phänomen, sondern reicht weit in die Geschichte zurück, in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, als die Eisenbahn ins Land kam und der Bahnhof im Süden gebaut wurde. Seitdem sind die bessergestellten Sektoren der Gesellschaft in der innerstädtischen Migration immer nach Norden oder ins nördliche Tal gezogen und der Süden blieb der Besiedlung durch das einfache Volk vorbehalten. Dies war bis in die siebziger Jahre so, als eine Kombination von mindestens drei Faktoren vorübergehend dieses segregative Muster durchbrach: Einerseits die Angst der Landbesitzer vor einer Agrarreform, die sie bewog, einige nahe der Stadt gelegene Ländereien zu urbanisieren – meist auf illegalem Wege, da es gegen städtische Vorschriften verstieß, aber das ist nicht so wichtig. Andererseits die Präsenz einer Militärregierung, die sich letztlich wenig um die konventionelle territoriale Organisation scherte und sowohl im Süden als auch im Norden große Komplexe für vivienda de interés social (etwa: sozialen Wohnraum, Anm. d. Übs.) schuf, sie damit zu Anziehungspunkten für die Neuansiedlung machte und die Tendenz der Ausdehnung der Gesellschaft des Südens in den Nordteil der Stadt verstärkte. Drittens (wenngleich chronologisch an erster Stelle) das Entstehen einer starken Bewegung von MieterInnen, die nach eigenem Besitz von städtischem Land strebten und sich schließlich im Nordosten ansiedelten.

Mario Unda ist Soziologiedozent an der Zentraluniversität von Quito, Mitarbeiter des unabhängigen Stadtforschungszentrums CIUDAD und Herausgeber der linken Debatten-Zeitschrift R.


Mittelklasse gehören, mehr Liquidität für die Investition in den Bau erhalten. Das jüngste Beispiel: In der städtischen Verordnung vom 29. April 2010 zur Festlegung der Grundstücke, die für sozialen Wohnraum und kommunale Bauten vorgesehen sind, heißt es: „…befinden sich beinahe ausschließlich in den Gebieten, in denen sich bereits einfache Schichten angesiedelt haben, vor allem in den neuesten Siedlungsgebieten Quitumbe im Süden und Calderón im Norden.“ Das hier gezeichnete Bild von Quito bleibt jedoch unvollständig, wenn wir die Wirtschaft nicht mit einbeziehen.

Armut und Bedürftigkeit in der städtischen Peripherie – von der eine im Süden weiterbesteht und eine zweite in den Norden hineingeschnitten ist – und weniger Not und Armut in den zentralen Bereichen jedes dieser Gebiete.

Quito ist wirtschaftlich gesehen die zweitwichtigste Stadt im Land. Acht der 20 größten Wirtschaftskonzerne des Landes agieren aus dieser Stadt heraus, darunter die größte Bank, die größte Handelskette und der wichtigste Hersteller von Lebensmitteln. Außerdem steht Quito an zweiter Stelle, was die industrielle Produktion anbelangt: beinahe 23 Prozent der Bruttoindustrieproduktion des Landes und beinahe 35 Prozent, wenn man die Erdölindustrie herausrechnet. Anders gesagt beherbergt Quito einen wichtigen Teil der wirtschaftlichen Macht des Landes. Wenngleich es nicht so scheint, als hätte diese ein besonderes Interesse an der territorialen Organisation und der Verteilung des Bodens, hat sie doch ein sichtbares Interesse daran entfaltet, dass der Staat (bzw. in diesem Fall die Stadtverwaltung) ihr angemessene Konditionen zur Reproduktion des Kapitals bietet.

F OTO : G ABY K ÜPPERS

Es sollte zwei Jahrzehnte dauern, bis die herrschenden Klassen mithilfe der Stadtverwaltung wieder die Oberhand über das segregierte Wachstum der Stadt gewinnen würden. Hierbei verstärkten sie durch politische Maßnahmen die Tendenzen des Kapitals, das die Ware städtischer Boden als Mechanismus nutzt, die Ansiedlung der verschiedenen sozialen Sektoren nach Gebieten zu organisieren. Bis dahin enthielt der Norden jedoch bereits kleine, aber zahlenmäßig bedeutende „Inseln“ von Ansiedlungen einfacherer Gesellschaftsschichten, so dass die Nord-Süd-Trennung der Stadt nun durch die Trennung Zentrum-Peripherie ergänzt wurde: Mehr

D

iese Segregation ist der gesellschaftlich-territoriale Inhalt des Wachstums der Stadt Quito. Sie gehorcht den Befehlen von Immobilienkapital und -besitz, die über den Markt weiterhin die gesellschaftliche Nutzung der Stadt definieren. Danach kommen die Mittelschichten mit Land- oder Wohneigentum, die mit dem Kauf und Verkauf im Allgemeinen der vom Großkapital vorgegebenen Linie folgen und sie gesellschaftlich mit Abertausenden von Einzelgeschäften verstärken. Und dahinter folgen schließlich die einfachen gesellschaftlichen Schichten, die zumeist versuchen sich auf zugelassenen Ländereien anzusiedeln. Bis vor einigen Jahren bauten sie sich ihre Häuser schlichtweg selber. Jetzt aber werden sie als eine Marktnische entdeckt, die allmählich für einige Bauherren interessant wird. In der Regel segnet die Stadt ein solches Verhalten ab und legalisiert es, was dazu führt, dass es sich wiederholt. Die Zentralregierung trägt derzeit mit dem bono de la vivienda (einer staatlichen Wohnungszulage) dazu bei, dass weniger zahlungsfähige Wohnungsuchende, zu denen auch Teile der

Foto: Straßenszene vor dem Rathaus in Quito

W

enn wir uns nun die Maßnahmen der gegenwärtigen Verwaltung einmal ansehen, werden wir mehrere zentrale Achsen erkennen. Dazu gehört zum Einen die administrative Umstrukturierung des städtischen Apparats. Diese hat zum Teil mit den Erfordernissen der neuen Bestimmungen der nationalen Politik zu tun. Infolge des von Alianza País vorangetriebenen „neuen Modells“ bedeutet das vor allem die Rückübernahme einer Reihe von Aktivitäten und

5 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Befugnisse, die zuvor aus dem städtischen Apparat, wenngleich nicht unbedingt aus der städtischen Kontrolle, ausgegliedert wurden. Zum Anderen wurde ein institutionelles Organigramm geschaffen, das stark an die Vorgabe der von der nationalen Regierung errichteten koordinierenden Superministerien erinnert. In jedem Fall behält die Umstrukturierung die Struktur bei, in der die Zuständigkeiten in die Zonen verlagert werden, was seit 1993 eingeführt wurde und anscheinend sowohl eine Reihe von Vorteilen enthält als auch gleichzeitig das Regieren einfacher macht. Eine weitere Handlungslinie besteht in der Fortsetzung der von der Vorgängerregierung begonnenen Großprojekte. Dazu gehört insbesondere der neue Flughafen. Wenn dieser fertig ist, wird er riesige Flächen, die bisher fern der Zentren stärkeren städtischen Wachstums waren, aber dennoch zur Achse des Valle de Tumbaco gehören, für die städtische Nutzung zugänglich gemacht haben, auch wenn das eigentliche Ziel darin besteht, die globale Anbindung der wirtschaftlichen Aktivitäten enorm voranzubringen und Quito als Pol für die regionale Entwicklung zu stärken. Als dritte Achse ließe sich die Mobilität nennen oder einfach der Verkehr. Bürgermeister Barrera hat angekündigt, mit dem Bau einer U-Bahn beginnen zu wollen. Angeblich soll so das Problem des öffentlichen Transports gelöst werden, aber es geht hier um ein langfristig angelegtes Projekt, das über seine Amtszeit hinausgeht (wenngleich er nach der Verfassung auch ein zweites Mal gewählt werden könnte). Bislang hat er mit einigem Erfolg und mit der Unterstützung der BürgerInnen den Individualverkehr eingeschränkt. Dabei hat er das Pico y placa-Modell aus Bogotá übernommen, bei dem es in der Hauptverkehrszeit (hora pico) an je einem bestimmten Tag der Woche für Fahrzeuge, deren Kennzeichen auf je eine bestimmte Nummer enden, Fahrverbot (placa) gibt. Viertens schließlich geht es um Partizipation. Auch wenn die städtischen Beamten diese als etwas ganz Neues darstellen, gibt es augenscheinlich bisher wenig Unterschied zu in früheren Regierungsperioden verwendeten Modellen. Auch die klientelistischen Strukturen unterscheiden sich höchstens dadurch von den alten, dass die „Patrone“ heute andere sind und die Schaffung einer neuen Schicht von Führungspersonen und Zwischenmännern befördert wird. So zeigt sich schließlich auch in der Verwaltung nicht viel Neues. Die städtischen Widersprüche drehen sich um Segregation und soziale Ungleichheit, aber es gibt keine Anzeichen in der städtischen Politik, die hier eine Änderung erwarten lassen. Im Gegenteil, die stadtpolitischen Maßnahmen passen sich weiterhin den gleichen Mustern von Segregation und Ungleichheit an. Weder die vorgegebenen Schablonen noch die grundsätzlichen Interessen der herrschenden Schichten werden angetastet. So könnte man zuletzt – auch das nicht überraschend – auf das Wohlgefallen oder vielleicht die Nachsicht hinweisen, mit der die Gruppen an der Macht die neue Verwaltung sehen. Auch war die Presse, normalerweise ein Sprachrohr von deren Interessen und höchst kritisch gegenüber der Landesregierung, mit dem Bürgermeister sehr vorsichtig. Sie hat sich sogar zum Fürsprecher für einige seiner Maßnahmen gemacht, wie wir nach der Ankündigung des Pico y placa-Verkehrskonzepts erlebt haben. ◆

6 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Übersetzung: Helgi Kaissling-Woubayehu

„Quito war und ist der Motor der demokratischen Transformation, die wir heute erleben und die in der Herausforderung zum Ausdruck kommt, eine neue moderne und revolutionäre Ordnung zu schaffen zur Stärkung und Entwickung der Bürgerrevolution.“ Diese Worte aus der Antrittsrede des neuen Bürgermeisters Augusto Barrera vom 31. Juli 2009 setzen bewusst einen Akzent auf die Tradition der Quiteños, Präsidenten zu stürzen und eine relevante Basis für den Präsidenten Rafael Correa darzustellen. Während die größte Stadt Ecuadors, Guayaquil, unter Führung des dortigen Bürgermeisters Jaime Nebot zur sichtbarsten Bastion der rechten Opposition wurde, garantiert der Wahlsieg des Kandidaten der Regierungsbewegung Alianza País in der Haupstadt dem Präsidenten ein relativ ruhiges Umfeld, um seine „Bürgerrevolution“ voranzutreiben. Ist Barrera der Correa von Quito?

R

VON

FRANK BRAß EL

afael Correa und Augusto Barrera sind Gründungsmitglieder von Alianza País und gehören ihrem Entscheidungszentrum, dem „politischen Büro“, an. Beide Exponenten setzen nach der langen Phase des Neoliberalismus auf die Modernisierung des Staates und eine Entprivatiserung relevanter sozialer Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheit und erste Schritte gegen die umfassende Korruption. Hierfür braucht der Staat Geld. Während der Präsident Ölmultis und Handyanbieter stärker zur Kasse bittet, setzte der Bürgermeister Gleiches bei dem kanadischen Konzessionär des neuen Flughafens der Hauptstadt durch. Correa und Barrera sind aktiv und handlungsorientiert, erstmals erreichen projizierte Straßen auch entlegene Landstriche, der mutige Versuch der Steuerung des Verkehrschaos in Quito hat wahrnehmbar positive Folgen. Gerade die ärmeren Bevölkerungsgruppen, aber auch die von den Politikskandalen vergangener Regierungen angeekelte Mittelschicht Quitos, danken bislang den beiden Exponenten – obwohl Correa inzwischen nicht mehr jeder Fehltritt verziehen wird – der „Bürgerrevolution“ mit hohem Zuspruch für ihre sauberere Regierungsführung. Es gibt allerdings auch deutliche Unterschiede zwischen dem Bürgermeister von Quito und dem „Bürgerpräsidenten“ der Republik, was teils ihren Charakteren, teils ihren unterschiedlichen politischen Erfahrungen und Konzepten sowie ihren jeweiligen Funktionen geschuldet ist. Augusto Barrera tritt meist freundlich und seriös auf, volkstümlich, ohne sich anzubiedern. Seit Jahren schon dreht er morgens seine Runden im Carolina-Park, von daher konnte es niemanden verwundern, als er bei den „K 15“, dem läuferischen Großspektakel der Hauptstadt, im vergangenen Monat antrat und eine ordentliche Zeit hinlegte. Der ausgebildete Arzt und Politikwissenschaftler, 1961 in Quito geboren, vermittelt den Eindruck eines sachkundigen Politikers. Für seine Amtsführung hatte er von vornherein eher auf Konzertation denn auf Konfrontation gesetzt. „Quito verfügt über keine separatistische Oligarchie“, erläutert Barrera eine grundlegende Differenz zu Guayaquil, aber auch zur Situation und Haltung des Präsidenten, der


Der Correa von Quito? Ein Portrait des Bürgermeisters Augusto Barrera País an die Macht, kam ist ohne die Organisations- und einen Dauerkonflikt mit dem christlich-sozialen BürgermeiMobilisierungsstärke der Indígenabewegung nicht denkbar. ster der Küstenmetropole austrägt. 1996 gründete sich mit Pachakutik eine neuartige Partei, die Für Correa ist die Konfrontation Programm, zunächst zielte neben den Indígenas andere soziale Bewegungen repräsentiedas gegen den rechten Parteienklüngel, der den Andenstaat in ren wollte. Seit ihrem Gründungskongress war Barrera einer den vergangenen 30 Jahren ruiniert hat, zunehmend aber der führenden Nicht-Indios in Pachakutik, vertrat sie 2003 auch gegen kritische Journalisten und insbesondere gegen für mehrere Monate in der Koalitionsregierung von Lucio ihm nicht völlig ergebene soziale Bewegungen. Bollerig, Gutiérrez und ab Oktober diskreditierend und verletzend zieht er 2004 im Stadtrat von Quito. gegen seine Gegner zu Feld. Sexismus, Im Dezember 2005 verließ Rassismus und Machismus sind wichtige er mit anderen Köpfen der Elemente seiner öffentlichen Auftritte – städtischen Alliierten Pachawas vielen seiner AnhängerInnen gefällt. kutik, letztlich aus ResignatiDer aus Guayaquil stammende Correa on gegenüber den indigesetzt bei seinen samstäglichen Radioannistischen Tendenzen innersprachen auf einen umgangssprachlihalb der Partei, bis heute ein chen Costa-Slang, agiert als autoritärer ungelöstes Hemmnis innerVolkstribun und akzeptiert keinerlei halb von Pachakutik und der andere Meinung. Barrera ist anders. dominanten IndígenabeweSeinen Abscheu vor den Stierkämpfen in gung CONAIE. der Hauptstadt bringt er deutlich zum Man sagt, Barrera sei skepAusdruck, weiß aber um deren PopulariQuitos Bürgermeister Augusto Barrera tisch bei der ersten Präsität. Er setzt sich von daher nicht an die dentschaftskandidatur Correas gewesen und hätte zunächst Spitze der noch jungen Verbotsbewegung, sondern betreibt eine Stärkung der Strukturen von Alianza País bevorzugt (was die Umsetzung des Besuchsverbots von Kindern unter 12 bis heute aussteht). Der massive Wahlzuspruch ließ ihn dann Jahren in der Stierkampfarena im Norden der Hautpstadt. Er aber umschwenken und zu einem zentralen Akteur innerhalb selbst werde da nicht hingehen, verkündete der Bürgermeister von Alianza País und der Regierung werden. Er fungierte als nach Amtsantritt, ebensowenig wie zur Wahl der Miss Quito Verbindungsmann zwischen Exekutive und Verfassunggebenund hielt sich dran. der Versammlung und vermochte dabei grobe Konflikte zu Auch bei anderen Themen geht Barrera der Direktkonfrontaverhindern. Beim Rennen um das Bürgermeisteramt der tion aus dem Wege, dies aber ebenso geschickt, wie Correa Hauptstadt konnte er prominente Mitbewerber übertrumpfen seine Konfrontationsstrategie kultiviert. Die Reglementierung und gilt bis heute als eine der einflussreichsten Persönlichdes Verkehrs trug zu einer Linderung bei, dies wird aber nur keiten innerhalb der komplexen und wenig transparenten kurzfristig sein, denn in zwei Jahren werden so viel neue Strukturen von Alianza País. Autos dazugekommen sein, wie aktuell an einem Tag der Es ist Barrera gelungen, jeden Streit mit Rafael Correa zu Woche in den morgendlichen und abendlichen Stoßzeiten vermeiden, das ist eine wichtige Voraussetzung für die ZuFahrverbot haben. Perspektivisch verkündete er Pläne für den sammenarbeit mit dem als jähzornig und selbstverliebt Bau einer U-Bahn und gleichzeitig ein gigantisches Straßenbekannten Präsidenten. Öffentliche Äußerungen zu brisanten bauprogramm in Höhe von 630 Millionen Dollar. Vermutpolitischen Themen gibt es von Barrera nicht, mancher lich wären hier unpopulärere Maßnahmen gegen den IndiviBeobachter wirft ihm deshalb Opportunismus vor. Die mit dualverkehr in der geographisch arg limitierten ecuadorianiihm verbundene Gruppe der Pachakutik-Aussteiger hat in schen Hauptstadt unverzichtbar. Dialogfreudig gibt sich Alianza País Gewicht, er selbst gilt als gewiefter StrippenzieBarrera bei dezentral und öffentlich geführten Ratssitzungen her, der bei den diversen Neubesetzungen im Kabinett großes sowie den Debatten um einen partizipativen Haushalt, der Gewicht haben soll. allerdings nur 20 Millionen Dollar des 540 Millonen StadtMit dem Titel „Utopie und Ernüchterung“ ist eine von Barrebudgets betrifft. ra herausgegebene Bilanz der nach wenigen Monaten gescheiterten Kolationsregierung von Lucio Gutiérrez mit Pachakutik ugusto Barrera ist ein erfahrener politischer Kopf, ganz und anderen linken Kräften betitelt. Eine erneute Ernüchteim Gegenteil zu Correa, der letztlich die Früchte einer rung will er offenbar vermeiden, allerdings auf Kosten einer jahrzehntelangen politischen Alternativbewegung erntete, zu konkreten Utopie der Verbindung von sozialer Bewegung der er selbst nur am Rande gehört hatte, in welcher der und Regierungsmacht, denn dies strebt die Bürgerrevolution heutige Bürgermeister Quitos lange an zentraler Stelle aktiv von Rafael Correa nicht an. Von Augusto Barrera sind hierzu war. Der mehrfache Sturz ecuadorianischer Präsidenten im keine öffentlichen Kommentare bekannt. ◆ vergangenen Jahrzehnt, die Baisis, auf der letztlich Alianza

A

7 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Randerscheinungen in Quito Flächenfraß, soziale Segregation und der ökologische Fußabdruck der Stadt

Quito hat in den vergangenen 30 Jahren einen rasanten Bevölkerungszuwachs erlebt, der die Stadt und ihr Umland an den Rand des funktionalen Kollapses bringt und zu eklatanten Gegensätzen in den Lebensbedingungen ihrer BewohnerInnen führt. Dabei treten in Quito die für lateinamerikanische Grosstädte typischen Phänomene wie von bewaffneten Milizen oder Drogenmafias kontrollierte Slumgebiete, hermetisch abgeschottete Oberschichtviertel und historische Stadtkerne mit beieindruckendem baulichen Bestand und ebenso bemerkenswerten sozialen Problemen in vergleichbar milder Form auf.

D

VON

BARBARA SCHOLZ

er Metropolitandistrikt von Quito befindet sich an den östlichen Hängen des aktiven Vulkans Pichincha innerhalb der Andenkordillere und umfasst eine Fläche von 422 802 Hektar. Die Stadt selbst liegt 2800 Meter hoch, wobei weite Teile des Metropolitandistrikts Höhenunterschiede von bis zu 1000 Metern aufweisen und im Nordwesten in subtropische Klimazonen reichen. Laut der letzten Volkszählung hatte Quito im Jahr 2001 insgesamt 1,84 Mio. EinwohnerInnen, während Schätzungen des Planungsamtes für das Jahr 2010 von ungefähr 2,2 Mio. Menschen im gesamten Gemeindegebiet einschließlich des ländlichen Umlands ausgehen. Nimmt man die nord- und südöstlich angrenzenden Randgemeinden hinzu, die bereits eng mit dem Distrikt Quito verwachsen sind, so zählt die Region derzeit knapp über 3 Mio. EinwohnerInnen. Etwa. 80 Prozent leben im Stadtgebiet, das lediglich knapp zehn Prozent der Fläche des Distrikts ausmacht. Etwa 45 Prozent der Gesamtfläche stehen unter Naturschutz, vornehmlich die Hänge des Vulkans sowie östlich der Stadt befindliche Bergzüge. Quito erwirtschaftet 19 Prozent des Bruttoinlandproduktes des Landes mit einem Schwergewicht auf Industrie, Transport und Kommunikation sowie in geringerem Umfang dem Handel, einem hohen Grad an informeller Wirtschaft und niedriger Produktivität. 36,5 Prozent der Gesamtbevölkerung sowie knapp 32 Prozent der städtischen EinwohnerInnen gelten als arm. Die 1534 von Sebastián de Belalcázar gegründete Stadt San Francisco de Quito war während der Kolonialzeit ein regionales Zentrum, vor allem auf Grund ihrer Rolle als Sitz des Obersten Gerichts für den Bereich zwischen dem südlichen Kolumbien, nördlichem Peru und der Mündung des Napo in

8 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

den Amazonas. Wichtiges wirtschaftliches Standbein war seit dem 17. Jahrhundert die Produktion von Wolltextilien. Das rasche Stadtwachstum kam jedoch zum Erliegen, als die zunehmend restriktive Abgaben- und Handelspolitik der spanischen Krone im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Schließung vieler Wollwebereien führte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galt die Vorherrschaft des ländlichen Ecuador gegenüber einer rückläufigen Bedeutung der Stadt Quito. Nach der Unabhängigkeit im Mai 1822 und der Konstituierung der Republik Ecuador 1830 war Quito im Laufe des 19. Jahrhunderts Schauplatz unterschiedlichster Machtkämpfe um das nationale Projekt der Staatsbildung. Bis 1875 dominierten klerikal-konservative Kräfte unter dem Regime von García Moreno. Ab 1895 folgten umfassende Säkularisierungs- und Modernisierungsprogramme unter Führung des liberalen Generals Eloy Alfaro. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war von Staatsstreichen und Phasen politischer Instabilität geprägt, bis zur Machtübernahme durch den wertkonservativen Politiker und Populisten José María Velasco Ibarra, der zwischen 1944 und 1972 insgesamt fünf Mal Präsident war und vier Mal vom Militär gestürzt wurde. Nach seiner endgültigen Absetzung durch das Militär im Jahr 1972 herrschte bis 1981 ein Militärregime. In den 70er Jahren begann die systematische Ausbeutung der Erdölvorkommen in der Amazonasregion, was zu schnell steigenden Staatseinnahmen führte. Quito wurde zum Zentrum der Erdölwirtschaft, der Staats- und Verwaltungsapparat wuchs rasant, ausländische Investitionen erhöhten das Wirtschaftswachstum. ImmigrantInnen aus den umliegenden Provinzen drängte es in die Stadt und die Landflucht erreichte ihren Höhepunkt. Seit den 30er Jahren war dies bereits die entscheidende Ursache für das Stadtwachstum, hervorgerufen durch die zunehmende Mobilität der Menschen auf Grund der Liberalisierung und nicht zuletzt unterstützt durch die Errichtung der Eisenbahn unter Eloy Alfaro, die erstmals die Küste mit dem Hochland verband. Der stetige Bevölkerungszuwachs setzte sich in den 80er und 90er Jahren fort. Seit der Jahrtausendwende wurde die Bevölkerungsentwicklung des Metropolitandistrikts durch die Ansiedlung von Unternehmen im Agroexportsektor (Blumen) beeinflusst, hier jedoch in erster Linie im nordöstlichen, ländlichen Umland. Belegte Quito bei seiner Gründung im 16. Jahrhundert eine Fläche von ca. 17,5 Hektar, so erweiterte diese sich bis ins 19. Jahrhundert auf etwa 160 Hektar. Seit den 60er Jahren wanderte die Oberschicht aus dem kolonialen Zentrum in die nördlich gelegenen neuen Wohn- und Geschäftsviertel mittlerer und höherer Einkommensklassen ab, während die Altstadt zur Heimstätte von EinwanderInnen aus den ländlichen Regionen wurde. Nach Auskunft der Planungsbehörde belegt die Stadt Quito derzeit ca. 420 000 ha. Dabei muss


betont werden, dass die jährlichen Wachstumsraten seit den 1990er Jahren stagnieren, mit besorgniserregenden Tendenzen zu einer Entleerung der zentralen Stadtteile und zum verstärkten Wachstum am Stadtrand Während die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten in den konsolidierten innerstädtischen Gebieten derzeit ca. 1,74% betragen und laut Berechnungen der Planungsbehörde bis 2020 auf 1,53% sinken sollen, liegen sie in den peripheren Lagen im Norden, Süden und Osten gegenwärtig bei fast 4% und sollen sich bis 2020 auf knapp über 3% einpendeln.

D

nicht verhindern. Erweiterungsflächen am Stadtrand, deren Besiedlung eigentlich erst ab 2011 vorgesehen war, sind bereits heute weitgehend ausgeschöpft und in den ökologischen Schutzgebieten hat sich der Waldbestand in den letzten acht Jahren halbiert.

S

eit 2008 gilt nun eine neue, progressive Landesverfassung, die das Buen Vivir (das gute Leben), auf Ketschua das Sumak Kawsay, propagiert, das „Recht auf die Stadt“ im Sinne einer ausgeglichenen Gestaltung des Habitats definiert. Die Kommunen sind zur Formulierung von Stadtentwicklungsstrategien verpflichtet und auch Natur und Umwelt sind einklagbare Rechte. Die neue, seit Mitte 2009 amtierende Stadtregierung muss sich nun der Herausforderung stellen, ihre Maßnahmen gemäß Verfassung und Nationalem Entwicklungsplan umzusetzen. Hauptproblem bleibt der Verkehr, wofür ein umfangreiches, mittel- und langfristig ausgerichtetes Programm erstellt worden ist, das ehrgeizige Projekte wie den Bau eines schienengebundenen Nahverkehrssystems (U-Bahn) umfasst, aber auch Sofortmaßnahmen wie die tageweise Einschränkung der Nutzung privater PKW, die seit Mai 2010 umgesetzt wird. Zudem setzt die Stadt auf eine Strategie zur Stärkung von städtischen Subzentren, mit deren

as Stadtgebiet Quitos stellt sich als ausgesprochen heterogen dar. Schulen, Handel und Dienstleistungen sowie Kultur- und Freizeiteinrichtungen finden sich hauptsächlich im Stadtzentrum zwischen historischer Altstadt und dem weiter nördlich gelegenem Bankenviertel um den Carolina-Park. 72 Prozent der Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung befinden sich hier, 51 Prozent der Schulen und Universitäten sowie 49 Prozent der Krankenhäuser und Kliniken. Gerade die Angehörigen armer Bevölkerungsschichten sind deshalb gezwungen, täglich weite Wege in die Innenstadt zurückzulegen, um Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge in Anspruch nehmen zu können. Verschärft wird diese Situation durch die eigentümliche Topographie der Stadt. Die Hochebene am Vulkan Pichincha fällt nach Osten abrupt um 300 bis 500 m ab, sodass die Erweiterung hauptsächlich Richtung Norden und Süden stattfand – was zu einer 42 km langen und im Durchschnitt 4,5 km breiten Agglomeration geführt hat. Seit Mitte der 80er werden verstärkt die östlich gelegenen Täler besiedelt, vornehmlich mit Schlafstädten für BewohnerInnen, die sich Tag für Tag zum Arbeiten, Einkaufen und Studieren in die Innenstadt aufmachen. Attraktiv ist die Peripherie im Wesentlichen aus zwei Gründen: Die unteren Einkommensschichten finden hier preisgünstigeren Grund und Boden für eine bezahlbare Wohnung, während die Mittel- und Oberschicht hier ihr Bedürfnis nach höherer Wohn- und Quito hat heute 2,2 Millionen EinwohnerInnen – genau doppelt so viel wie Lebensqualität befriedigt, nahe der Natur vor zwanzig Jahren und mit angenehmen Temperaturen. Demgegenüber hat es die Verwaltung kaum vermocht, der BodenHilfe Arbeitsplätze, Schulen, Gesundheits-, Verwaltungs- und spekulation Einhalt zu gebieten. Verkehrstechnisch haben Kultureinrichtungen wieder näher an die Wohnorte gebracht diese Extreme – die Konzentration von Arbeitsplätzen und werden sollen. Versorgungseinrichtungen im Zentrum und die LokalisieEin wichtiger künftiger Standort für diese Strategie ist das rung der Wohngebiete an der nördlichen und südlichen Areal des jetzigen innerstädtisch gelegenen Flughafens. Mit Peripherie – in den letzten neun Jahren zu einer enormen der Fertigstellung des neuen internationalen Airports vor den Verlängerung der Transportwege, einer Überlastung des Toren der Stadt, voraussichtlich im Jahr 2011, soll auf dem öffentlichen Nahverkehrs und der Vervierfachung des frei werdenden Gelände ein ca. 165 ha großer Park entsteprivaten Fahrzeugparks geführt. Die Stadtregierung hat in hen, während in seinem Umfeld verdichtetes innerstädtisches den letzten neun Jahren – den zwei Amtsperioden des Wohnen und Arbeiten mit hoher Freiraumqualität gefördert linksliberalen Bürgermeisters General Paco Moncayo – werden soll. Weiterhin stehen neue Entwicklungsmodelle für erhebliche Anstrengungen unternommen, um mit zeitgemädas ländliche Umland, die Verknüpfung mit der Region und ßen Planungs- und Managementinstrumenten Herr der Lage den Umgang mit den Naturschutzgebieten auf der Tagesordzu werden. Der Stadtentwicklungsplan propagiert in seiner nung, ebenso sollen neuartige, nachhaltige Modelle zur Fassung von 2006 das Ziel einer kompakten Stadt der Energie- und Wasserversorgung sowie für Müllentsorgung kurzen Wege Das Flächenwachstum konnte sie dennoch und -recycling vorgelegt werden. ◆

9 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Von Plan zu Plan Das historische Zentrum Quitos und die Versuche, es zu bewahren

D

VON

YADHIRA ALVAREZ

ie Stadt Quito, eingebettet in ein Tal der Gebirgskette der Anden, wurde 1534 gegründet und stellt ein typisches Modell einer spanischen Stadt dar: Sie ist im Schachbrettmus-ter angelegt, das vom zentralen Platz ausgeht, an dem die wichtigsten politischen, sozialen und religiösen Mächte angesiedelt sind. Dieses Muster beachtet die wechselhafte Topographie der Region nicht. Die Höhenunterschiede innerhalb des historischen Stadtkerns haben das Zentrum Quitos in eines der wertvollsten bezüglich der Formenvielfalt verwandelt. Das historische Zentrum von Quito, das früher mit der Stadt identisch war, hat seine Funktion für die gesamte Stadt bis heute erhalten. Es musste die Dynamik eines starken städtischen Wachstums aushalten. Durch die Vertreibung von Wirtschaft und Wohnraum aus dem historischen Stadtkern sind neue Zentren entstanden, und die Funktion des historischen Zentrums bestand ausschließlich in politischer Repräsentation und als Ort des städtischen Gedächtnisses. Der Prozess der Wiederherstellung des historischen Zentrums von Quito begann mit einer allmählichen Anerkennung seiner Werte, die in vereinzelten Plänen für diesen Teil der Stadt zum Ausdruck kamen. In diesem Prozess sind zwei wichtige Ereignisse auszumachen: 1978 wurde die Altstadt von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt und 1987 wurde sie von einem Erdbeben erschüttert, in dessen Folge die Regierung sie mit Geldern der internationalen Kooperation renoviert und teilweise neu aufgebaut hat. Die ersten Erfahrungen mit dem Wiederaufbau des historischen Stadtkerns sind schon mehr als ein halbes Jahrhundert alt, als in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts der Begriff Centro Histórico entstand und damit seine Wertschätzung als zentraler Raum der Stadt mit verschiedenen historischen, sozialen und kulturellen Charakteristika zum Ausdruck kam.

10 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

1942 entwickelte der Architekt Jones Odriozola den ersten Regulierungsplan für Quito, 1945 wurde das Gesetz des Künstlerischen Erbes verabschiedet. Der Plan Jones schlägt ein System von mehreren funktionalen Zentren der Stadt vor, in dem der historische Stadtkern keine besondere Behandlung erhält, sondern als Ort anerkannter historischer Stätten, als „Kolonialstadt“ behandelt wird. Auf Grundlage des JonesPlans wurden 1967 und 1969 zwei weitere Pläne ausgearbeitet, die die Altstadt bereits als Gesamtheit betrachten und deren hauptsächliche Motivation die Ankurbelung des Tourismus ist. 1981 wurde der Plan Quito beschlossen, der für den historischen Stadtkern eine Reihe von Maßnahmen vorsieht, an denen öffentliche und private Institutionen und die BürgerInnen teilnehmen. Der Plan bildetet die Grundlage für den Aufbau einer angemessenen Infrastruktur im historischen Zentrum. Weiterhin wurden Kriterien für die Zusammensetzung der dort lebenden Bevölkerung aufgestellt. Dem Masterplan von Quito von 1989 liegt eine umfassende und breit angelegte Studie über die Probleme der Stadt und ihres historischen Kerns zu Grunde. Eines der wichtigsten Probleme ist beispielsweise die überwiegend kommerzielle Nutzung der Altstadt, die dazu geführt hat, dass viele Gebäude Lagerräume wurden und der informelle Straßenhandel begünstigt wurde. Dadurch wurde der öffentliche Raum stark eingeschränkt. Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es große politische Veränderungen zugunsten des historischen Stadtkerns. Durch Finanzmittel internationaler Organisationen

F OTOS: G ABY K ÜPPERS

Quito gilt vielen BesucherInnen als schönste Stadt Lateinamerikas, wobei sich diese Wahrnehmung vor allem auf das historische Zentrum mit seinen beeindruckenden Kirchen, Klöstern, historischen Gebäuden und Plätzen bezieht. Die barocke Altstadt Quitos ist heute neben den Galapagosinseln der wichtigste Touristenmagnet Ecuadors. Ohne Zweifel haben die verschiedenen kommunalen und regionalen Regierungen in den letzten Jahrzehnten viel für die Erhaltung und Renovierung des historischen Zentrums getan, wobei sich wie immer bei solchen Sanierungsprojekten die Frage stellt, ob dabei die richtige Balance zwischen den Interessen der BewohnerInnen, der Gewerbetreibenden und der TouristInnen gesucht und gefunden wurde.


Ohne Zweifel stellt das historische Zentrum sich heute als wie der Interamerikanischen Entwicklungsbank BID oder der beeindruckendes Stadtbild dar, in dem das kulturelle Erbe an Regionalregierung von Andalusien wurden Projekte wie Kirchen, Klöstern, Straßen und kleinen Plätzen hervorsticht Museen oder Parkplätze realisiert und einige Wohnungsbauund in dem eine Vielzahl an Cafés, Restaurants, Läden und programme umgesetzt. Kreditprogramme führten Maßnahmen mit sozialer Nachhaltigkeit ein und es wurde auf einen aggressiven Plan der Umsiedelung des ambulanten Straßenhandels gesetzt, was das Vorzeigeprojekt bei der Imagepflege der öffentlichen Verwaltung wurde. Schließlich wurde 2003 der „Spezialplan für das Historische Zentrum“ formuliert, der eine umfassende Renovierung der Zone vorsieht, die ihr ihren Wohnviertelcharakter zurückgibt und durch ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Nutzungsformen die Entwicklung von Kultur und Freizeitgestaltung ermöglicht. Dafür sollen die kommerziellen und Dienstleistungsaktivitäten umorientiert und die Zugänglichkeit und Sicherheit verbessert werden. Die Pläne und Vorschläge für die Renovierung des historischen Zentrums haben sich von einer denkmalpflegerischen Sichtweise, die das Ziel hatte, Identität zu schaffen und Nationalstolz herzustellen, hin entwickelt zu neuen Sichtweisen, die wirtschaftliche und Quitos Altstadt ist – neben den Galápagos-Inseln – Ecuadors wichtigste TouristInnenattraktion soziale Nachhaltigkeit beachten und die Herausforderung aufgreifen, die eine lebendiKultur angeboten wird. Dies positioniert die Altstadt von ge Stadt darstellt, in der das historische Zentrum ein strategiQuito neben den Galapagosinseln als wichtigste Attraktion sches und strukturelles Element ist. für den internationalen Tourismus in Ecuador. Auf der Die Themen Wohnraum, Öffentlicher Raum, Mobilität und anderen Seite existieren hinter dieser Fassade die alten ProPartizipation der BürgerInnen sind durchgehend in der bleme weiter: MigrantInnen aus armen ländlichen Gebieten Debatte um den historischen Stadtkern vertreten und es leben zusammengepfercht, eine städtische Bevölkerung, die wurden diesbezüglich Politiken und Strategien formuliert. eine Risikogruppe für Prostitution, Drogenabhängigkeit und Dennoch haben sie in der Konzeption der Projekte, die von Kriminalität bildet, ein zu hohes Verkehrsaufkommen und der öffentlichen Verwaltung entworfen wurden, wenig Nieständige Staus, da es immer noch nicht gelungen ist, die dergschlag gefunden und während der Umsetzung noch Altstadt für den PKW-Verkehr zu sperren. Es scheint, als ob weiter verwässert. die Bestrebungen, den historischen Stadtkern wiederherzustellen, so stark auf den Tourismus ausgerichtet waren, dass usgehend von der Stadt als Struktur, die aus Zeit und ein sehr wichtiges Element für die Vitalität des Sektors vergesRaum besteht, ist festzustellen, dass der Faktor „Zeit“ sen wurde, die Funktion als kommerzielles Zentrum der hier ungenügend berücksichtigt wurde. Die Stadtplanung, Kleinunternehmen (economía popular). Neue Vorschläge zur wie sie in unseren Städten praktiziert wird, wird oft ohne Wiederherstellung des historischen Zentrums wie die UmKontinuität und ohne Kohärenz umgesetzt, unfähig, die siedlung des Regierungspalastes und einiger Ministerien in Resultate früherer Aktionen und Projekte einzubeziehen. Die dieses Viertel bedrohen das fragile Gleichgewicht zwischen institutionelle Schwäche verhindert, dass Politiken für mittleden derzeitigen NutzerInnen der Altstadt – HändlerInnen, re und lange Zeiträume entwickelt werden. Die Überwindung HandwerkerInnen, öffentliche Angestellte, TouristInnen – von Planungszeiträumen, die an Regierungsperioden gekopund werfen die grundlegende Frage erneut auf: Wie kann eine pelt sind, ist nicht absehbar und damit auch nicht das VerRenovierung und Modernisierung durchgeführt werden, die ständnis für die Wiederherstellung des historischen Stadtdie Systeme der Menschen für Produktion und Reproduktion kerns als eine kontinuierlichen Prozesses statt der Aneinanals Vitalitätsfaktor einschließt? ◆ derreihung isolierter Projekte.

A

Übersetzung: Ina Hilse

11 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Auf dem Weg zu mehr Solidarität Die Probleme des Straßenverkehrs in Quito

E

VON

YLONKA TILLERÍA

iner der Gründe für die von den meisten BewohnerInnen Quitos beklagten Probleme innerstädtischer Mobilität ist der ansteigende Fahrzeugbestand in den letzten zwanzig Jahren. Die Hauptstadt hat ungefähr zwei Millionen EinwohnerInnen, in den Jahren 2005 bis 2009 wurden 1 300 000 Fahrzeuge verzeichnet. 83 Prozent davon waren privat und nur 17 Prozent Stadtbusse, Schulbusse, Lieferfahrzeuge, Taxis und Mietwagen. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 2010 wurden 151 181 Fahrzeuge neu registriert. Das liegt daran, dass die Autohändler den KäuferInnen Vorteile einräumten und ein Kaufrausch begann. Auslöser war eine der schlimmsten Krisen in unserer Geschichte. Ende der 90er Jahre schlossen viele Bankunternehmen und die Dollarisierung setzte sich im Land durch. Die Bevölkerung fing an, sich Besitz anzueignen, statt das Geld auf der Bank anzulegen, in die kein Vertrauen mehr bestand. Vor zwanzig Jahren noch hatte jede Familie im Durchschnitt einen Wagen. Eine Studie der Kooperative für die Verbesserung der Luft in Quito (CORPAIRE) zeigt, dass noch vor zehn Jahren 733 132 Autos in der Stadt in Gebrauch waren, jedes Jahr erhöht sich diese Zahl um etwa 60 000. Mittlerweile sind es nun also im Durchschnitt zwei PKW pro Familie. Die Zahl

F OTOS: G ABY K ÜPPERS

Eine Großstadt bildet sich durch die Geschichte ihrer BewohnerInnen, gewinnt ihre Form in den Parks und auf den Plätzen, wo das Leben sich abspielt. Sie wächst im Rhythmus der Feiern, Demonstrationen, Sportveranstaltungen. Das Stadtleben zeigt sich in allen seinen Einzelheiten, in der Freizeit, den Protes-ten, im Lachen, Rufen und im Feiern. Verschiedene öffentliche Orte in einer Stadt bilden Punkte, wo sich das städtische Zusammenleben in all seiner Vielfalt abspielt. Quito schafft es, die verschiedenen Aktivitäten zu vereinen und so Sinn für Zusammengehörigkeit und Integration zu schaffen. Quito wurde ursprünglich durch sein System von Plätzen charakterisiert. Die Plätze waren verbunden durch die quadratisch und rechteckig angelegten Straßen, die Quito in ein strukturiertes Netz einteilten. Die Straßen, die Plätze, Parks oder das Einkaufszentrum bilden auch heute die Punkte, an denen sich das Alltagsleben konzentriert. Je nachdem wieviel Ansturm an diesen Knotenpunkten herrscht, wird also auch die Mobilität in der Stadt beeinflusst. So hat das Thema der Beweglichkeit zunehmend an Bedeutung gewonnen, nicht nur für die aktuelle Stadtverwaltung, sondern auch für die BürgerInnen.

12 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


der AutobesitzerInnen wächst demnach, was unter anderem auch daher rührt, dass kein effizientes und sicheres Massentransportmittel existiert, das die Bedürfnisse der BenutzerInnen befriedigt. Quito wird durch seine Lage am Fuß eines Vulkans und eingeengt zwischen Flussbetten an einer geordneten Ausweitung und Planung gehindert. Die Stadt zieht sich in die Länge und sogar an den Abhängen wurde gebaut. Dass die tiefen Flussbetten die Stadt zerschneiden war zwar kein Hindernis für ihre Erweiterung über diese Grenzen hinaus, allerdings erschwert das die Beweglichkeit der Bevölkerung. Sicher ist, dass von den fünf städtischen Strukturplänen (planes urbanos) keiner wirklich Ordnung in die Stadt gebracht hat. Zwischen 1888 und 1946 wuchs das historische Zentrum, eine der wichtigsten Touristenattraktionen in Quito, in die Länge. Seitdem hat die Stadt verschiedene Wandel durchlebt. In dieser Zeit ließen sich die besserverdienenden Klassen im Norden der Stadt nieder und blieben dort, bis 1970 eine Verlagerung vom historischen Zentrum in den Bezirk „Mariscal“, heute bekannt unter dem Namen „Zona Rosa“, stattfand. Ab 1970 gibt es einen demografischen Zuwachs. Die Viertel in den Randgebieten Quitos wachsen und der Norden erhält seine Bedeutung weitgehend wegen der Banken und Einkaufszentren. Diese Wandlungen erklären die Fortbewegungsmöglichkeiten in Quito. Seit Mitte der siebziger Jahre wurden mehrere Straßen gebaut, um den Verkehr flüssiger zu machen. Vor allem wurde dabei aber auf die Privatwagen Rücksicht genommen und wenig an öffentliche Massenverkehrsmittel, FußgängerInnen oder alternative Transportmittel wie Fahrräder gedacht. Und obwohl man nicht leugnen kann, dass es einen Fortschritt auf diesem Gebiet gab, ist trotzdem noch viel zu tun in unserer Verkehrskultur. Klar ist, dass die Verbesserung des Verkehrs von jeglicher Art kollektiver Fortbewegungsmittel Priorität haben muss, unter anderem um die Verschmutzung der Stadt zu verringern. Laut Dirección de Ambiente del Municipio Metropolitano de Quito erhöht sich der jährliche Verbrauch von Treibstoff auf sechs Millionen Barrel. Dieselfahrzeuge machen sechs Prozent des kompletten Fahrzeugbestands der Stadt aus. Die Verschmutzung liegt dementsprechend bei einem Minimum von 150 000 Tonnen Abgasen, die in die Atmosphäre abgegeben werden. Man kann also feststellen, dass die Zonen mit der größten Verschmutzung gleichzeitig die Zonen des dichtesten Verkehrs sind. Im Moment findet man im Norden, im Süden, im Zentrum und in den Tälern des Distrito Metropolitano de Quito um die 30 Verkehrsknotenpunkte, eine Situation, die die Stadtregierung zu Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssituation veranlasste, so z. B. Pico y Placa, was stundenweise und je nach Nummernschild die Nutzung von Fahrzeugen unterbindet; das wird auch in Bógota und México Stadt mit unterschiedlichen Ergebnissen praktiziert. Dieser Stundenplan zur Fahrzeugnutzung behindert nur die Besitzer eines Privatwagens. Wie immer gibt es BefürworterInnen und GegnerInnen. Sicher ist, dass dieses nur eines der großen Projekte ist, die nicht nur die Verkehrssituation, sondern auch das Zusammenleben verbessern sollen. Denn wie der ecuadorianische Soziologe Alejandro Moreano aufzeigt, ist „ die zivile Krise der Menschheit in großem Maße eine Automobilkrise“,

deshalb sollte man daran arbeiten, die Privatwagen durch alternative Transportmittel zu ersetzen und sich öfter auf den Sattel schwingen. Vor zehn Jahren fing eine Organisation von Jugendlichen mit dem Namen Biciacción (Fahrradaktion) genau damit an und versuchte, zum Gebrauch der Drahtesel als alternatives Fortbewegungsmittel in der Stadt zu animieren. Ausschlaggebend dafür waren die Luftverschmutzung und die mangelnde Rücksichtnahme der Kraftfahrzeuge auf unmotorisierte VerkehrsteilnehmerInnen.

D

ie ersten Versuche, die Stadt mit dem Fahrrad zu erobern, sollten die FahrzeugbesitzerInnen zunächst mit dem alternativen Verkehrsmittel konfrontieren, denn in Quito war man nicht an den Gebrauch von Rädern gewöhnt und es

Tageweise dürfen Fahrzeuge mit bestimmten Endziffern nicht in die Innenstadt

gab keine Fahrradwege. Heute, nach zehn Jahren hartnäckigem Kampf mit Stadtverwaltung und Polizei, wird die solidarische Nutzung der öffentlichen Straßen gefördert. Die Stadt zu einem solidarischen Zusammenleben zu bringen, wo Rücksicht auf Mitmenschen und Umwelt genommen wird, ist nicht nur Ziel von Biciacción, sondern auch von allen, die das Fahrradfahren inzwischen zu ihrer Routine gemacht haben. Fahrradtouren, abgetrennte Wege, Tage der Fußgängerinnen und Fahrradfahrer und vieles mehr sind Erfolge, an denen nicht nur diese Gruppierung beteiligt ist, sondern alle. Andere Ideen von Biciacción und den städtischen Behörden sind sonntägliche Fahrradtouren und in Zukunft eine technische Studie über die Möglichkeit weiterer Einschränkungen für Kraftfahrzeuge. Man denkt auch an ein Projekt, Räder zu einem billigen Preis an die Leute zu bringen, um so Anreiz zum Wechsel auf den Sattel zu geben und eine Massennutzung herbeizuführen, die nicht nur die Mobilität, sondern auch die Luftqualität in der Stadt verbessern würde. Zehn Jahre zuvor waren es zwanzig bis dreißig junge Leute, die mutig genug waren, in die Pedale zu treten und sich ihren Weg durch die Stadt zu bahnen. Heutzutage sind es fast 30 000 BürgerInnen, die das alternative und ökologische Fortbewegungsmittel nutzen. Trotzdem muss man noch mehr Integration schaffen für diejenigen, die die Stadt von einem anderen Blickwinkel aus betrachten, vom Fahrrad. ◆

Übersetzung: Laura Burzywoda

13 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Beton statt Kolonialstil Guayaquil ist in vielem der Gegenpart zu Quito Quito und Guayaquil – da treffen fast zwei Welten aufeinander. Was auch immer an Gegensätzen zwischen Hamburg und München oder San Francisco und Washington aufgebaut werden mag – es ist nicht zu vergleichen mit dem Unterschied zwischen den beiden größten Städten Ecuadors. Und weil das so ist, muss zugunsten der „südlichsten Stadt der Karibik“ Gerechtigkeit walten: Es darf kein „Städteheft Quito“ geben, ohne dass Guayaquil zu Wort käme!

J

VON

GÜNTER POHL

F OTO : G ÜNTER P OHL

a, Guayaquil ist in der Tat ein Stück Karibik an der Pazifikküste, ähnlich wie Buenaventura in Kolumbien. Quito dagegen ist nach Meinung der Guayaquileñas/os die pure Langweile: still, stur, schweigsam. Während die Quiteñas/os ihr Geld auf die Bank trügen, gäben es die verhinderten Hauptstädter gern am selben Abend aus. Dass Quito Hauptstadt des Landes ist, wurmt die Menschen im deutlich größeren Guayaquil, die selbst nur Hauptstädter der Provinz Guayas sind. Diese wurde noch dazu von der aktuellen Regierung halbiert – wohl mehr wegen des Prinzips „Teile und herrsche!“ als um dem Unabhängigkeitsstreben in der Provinz Einhalt zu gebieten. Denn die Drohung der Independencia wird seit 1830 eigentlich immer wieder und doch nie ganz ernst ausgesprochen, zuletzt 2007/08 durch Guayaquils konservativen Bürgermeister Jaime Nebot, als die Angst groß war, der junge Präsident Rafael Correa würde wirklich eine linke Politik machen. Der lokalen Bourgeoisie, weder im beschaulichen Quito noch im merkantilen Guayaquil, wurde nichts genommen außer vielleicht ein paar Privilegien. So wurde Nebot geduldiger, schließlich und endlich ist Correa ja auch Guayaquileño – aber eben einer, der im andinen Latacunga Quechua lernte und Wahlen gewann, ohne die beliebte Regionalkarte zu spielen. Wohl unter anderem deshalb wird er seine Amtszeit als erster Präsident seit 1992 zu Ende bringen. Guayaquil gehört zu den gefährlicheren Großstädten Südamerikas. Es leidet seit vielen Jahren unter Bandenkriminalität und in jüngerer Zeit verstärkt unter Auftragsmorden aus dem Drogenmilieu. Gleichzeitig beherbergt es einen mehrheitlich sehr fröhlichen Menschenschlag, der den schönen Dingen des Lebens zugetan ist. Unübersehbar ist allerdings, dass auch Guayaquil bereits in sich trägt, was den „Kontinent der Schlaflosigkeit“ ausmacht: Die einen können

nicht schlafen, weil sie Hunger, die anderen, weil sie Angst haben. Die Wohlhabenden mauern sich ein, und es ist sehr normal, dass die oberen zehn Prozent sich in Miami besser auskennen als in vier Fünfteln der eigenen Stadt, in der sie im kleinen Dreieck zwischen Einkaufsmall, Villa und Arbeitsplatz (wenn nötig) pendeln. Das Gros der Armen pendelt auch: zwischen Tienda (Lädchen), Blechhütte und Arbeitsplatz (wenn vorhanden).

G

uayaquil war immer wieder durch Brände zerstört worden, weshalb nur ein kleiner, aber äußerst sehenswerter Teil der ursprünglich komplett hölzernen Altstadt verblieben ist. Das schiere Wachstum hatte dann jahrzehntelang städtebauliche Aspekte in den Hintergrund treten lassen. Es ließ Guayaquil vor 50 Jahren nach Süden, vor 20 Jahren nach Norden und zuletzt nach Westen auf vier Millionen EinwohnerInnen expandieren. Seit Ende der zweiten Bürgermeisterzeit des für zahlreiche Menschenrechtsverbrechen verantwortlichen, rechtsgerichteten Präsidenten León FebresCordero hat sich aber eine Menge getan. Mit dem Recht auf Steuerlastenzweckbestimmung zugunsten von Guayaquil, einem äußerst umstrittenen und von der Zentralgewalt abgelehnten Erlass, verschaffte sich Guayaquil viel Geld, das unter Jaime Nebot, der auch bereits in seiner zweiten Amtsperiode ist, sehr sinnvoll verwendet wurde. Zunächst wurde durch ein Prestigeprojekt, dem „Malecón 2000“, ein Bewusstsein geschaffen für das, was möglich ist, wenn man sich an die Verschönerung der Stadt begibt. Inzwischen wurden Parks geschaffen, Naturschutzzonen bestimmt und oft auch durchgesetzt, selbst Brückenpfeiler wurden verziert. Vor allem aber sind die öffentlichen Investitionen den BewohnerInnen der Stadt auf eine Art und Weise zugekommen, die sagt: „Diese Stadt ist deine Stadt!“ Es scheint, als würde sie angenommen. Dennoch gibt es Widersprüche: Eine tropentaugliche, das heißt die Jahre überdauernde Bauweise, scheint es offenbar nicht zu geben – trotz aller Probleme mit dem Werkstoff wird auf Beton gesetzt. Häuser mit Betonwänden und -decken, Brücken aus Spannbeton und auf Betonpfeilern, große Straßen mit Betonfahrbahnen bleiben aber nicht mehr unkommentiert. Auch die Rückbesinnung auf heimische Pflanzen und der Widerstand gegen eine Planung, die als Begrünung auf Palmen statt auf chlorophyllerzeugende Laubbäume setzt, wird stärker in einer in und auf Mangrovenwäldern entstandenen Tropenstadt, der die Luftfeuchte aus allen Poren quillt. Und das trockene Quito? Hat Eukalyptus – aus Australien. ◆

Graffiti in Guayaquil: Mehr Bäume, weniger Beton

14 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Krawatte mit Flecken Die Umweltsituation in Quito

F

VON

EDGAR ISCH LÓPEZ

ür die Untersuchung der Umweltsituation der Stadt sind diese Unterschiede von Bedeutung, denn die Probleme und ihre Lösungen sind unterschiedlich im Großraum Quito (Distrito Metropolitano Quito, kurz DMQuito). Weitere wichtige Faktoren sind die institutionellen Rahmenbedingungen und die gegenwärtige politische Lage des Landes Ecuador, die sich auch auf Quito auswirken. So verspricht die im Jahr 2008 verabschiedete neue Verfassung eine Reihe von Verbesserungen für den Umweltschutz. Die wichtigsten Postulate der Verfassung im Umweltbereich sind das Recht auf eine intakte Umwelt, das Menschenrecht auf Wasser, neu eingeführte Naturrechte, der Grundsatz in dubio pro natura (im Zweifel für die Natur), die Unverjährbarkeit der Verantwortung für Umweltschäden sowie das Präventivprinzip und die Umkehrung der Beweislast. Die Verabschiedung der neuen Verfassung hat große Veränderungen ausgelöst. Auf nationaler Ebene hatte sie eine Vielzahl von neuen Gesetzesvorhaben zur Folge, sowohl für bestimmte Sektoren als auch für die Allgemeinheit. Viele dieser Vorhaben sind eng mit Umweltfragen verknüpft, z.B. das Gesetz für eine neue territoriale Ordnung (Stadt- und Landschaftsplanung), das neue Umweltgesetz, das neue Gesetz über Wasserressourcen und die Tatsache, dass das nationale dezentralisierte System der Umweltbewirtschaftung jetzt Verfassungsrang hat. Auch auf die kommunale Ebene wirkt sich die neue Verfassung aus. So unterstehen die Unternehmen jetzt der Gemeindeverwaltung. Die Umweltdirektion der Area Metropolitana Quito

wird in ein eigenständiges Dezernat umgewandelt, d.h., sie ist besser ausgestattet, erhält mehr Kompetenzen und hat mehr Möglichkeiten, in die städtische Politik einzugreifen. Zudem erhalten die städtischen Großräume wie der DMQuito durch die neue territoriale Ordnung den Rang einer Region, und damit mehr Autonomie. Die aktuelle Lage ist jedoch noch durch eine gewisse institutionelle Unklarheit geprägt. Zugleich birgt sie große Möglichkeiten für die Bevölkerung, dem Wunsch nach einer Umweltbewirtschaftung von hoher Qualität Nachdruck zu verleihen. Erfolge auf diesem Gebiet werden sich positiv auf die Umwelt und die Lebensqualität auswirken. Auf dem Gebiet des DMQuito gibt es eine Reihe von konkreten Erfahrungen mit der Umweltpolitik. Aus den Erfolgen und Fehlschlägen dieser Arbeit müssen jetzt die richtigen Schlüsse gezogen werden. In diesem politischen Umfeld gilt es also zunächst, Möglichkeiten für eine genaue Diagnostik in Umweltfragen zu schaffen. Dies liegt nicht nur in der Verantwortung des DMQuito, es sind auch die Ministerien des Landes (vor allem das Umweltministerium) und die nationale Gesetzgebung gefordert.

Z

u den positiven Entwicklungen im DMQuito gehören die Planungen über den Umgang mit den Ressourcen und mit dem Klimawandel von 2004-2010 (Plan Maestro de Gestión Ambiental), eine ausgewiesene Umweltpolitik und eine allgemeine Verordnung, die alle Produktionstätigkeiten einer Umweltkontrolle unterwirft. Es gibt das Umweltdezernat mit festgeschriebenen Aufgaben und einer entsprechenden technischen Ausrüstung und einen Umweltfonds. Zudem wurden Kontrollsysteme etabliert: die Umweltbehörde hat Erfahrung mit Anzeigen der Bevölkerung, eine weitere Behörde kontrolliert die Zusammenarbeit städtischer Unternehmen mit privaten Firmen. Mit dem neuen Rang als Distrito Metropolitano erweitern sich zudem, wie bereits erwähnt, die bisherigen Ressourcen und Kompetenzen für die Region. Als nach wie vor hindernde Faktoren sind erstens die Unstimmigkeiten zwischen der regionalen und der nationalen Gesetzgebung zu nennen. Zweitens ist die Frage der Vergabe der Umweltlizenzen im DMQuito ungenügend geregelt. Umweltlizenzen werden in Ecuador an Projekte natürlicher oder juristischer Personen vergeben, die bestimmten Mindeststandards genügen müssen. Die Gemeindeverwaltung des DMQuito gibt sich die Umweltlizenzen jedoch selbst, ist also zugleich Richter und Partei. Dagegen schreibt das nationale dezentralisierte System der Umweltbewirtschaftung vor, dass eine vorgesetzte Behörde die F OTO : G ABY K ÜPPERS

Die Stadt Quito hat eine eigenartige Form. Eingezwängt zwischen Bergketten, ähnelt sie einer Krawatte samt Halsschlinge, mit einem sehr langgezogenen Schlips und einem Knoten im Zentrum. Zu dieser äußeren Form kommt eine historisch gewachsene Einteilung in eine gehobene Wohngegend (im Norden), eine administrative Zone (im Zentrum) und eine Industrie- und Arbeiterwohngegend (im Süden). Es ist schwierig, von einer einzigen Stadt zu sprechen, denn es gibt Unterschiede aller Art, vor allem soziale Gegensätze. Oft scheint es sich um völlig verschiedene Städte zu handeln, die nur durch ihre geographische Lage verbunden sind. Dies ist auch für die Umweltpolitik bedeutsam.

15 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Kontrolle über die Vergabe der Lizenzen hat. Ein weiterer Minuspunkt ist die fehlende Verbindung zwischen der Umweltforschung und einer breit angelegten BürgerInnenbeteiligung und -fortbildung im Umweltbereich. Die in der Verfassung vorgeschriebene BürgerInnenbeteiligung in Umweltfragen findet bisher so gut wie gar nicht statt. Viertens fallen wichtige Umweltaspekte wie Wasser, Luft oder kommunale Abfallwirtschaft in das Ressort anderer städtischer Dezernate. Zudem hängt fünftens das Budget für die Umweltbewirtschaftung auf städtischer Ebene von zweifelhaften Kriterien ab. In Quito ist der Umgang mit Umweltproblemen auf städtischer Ebene bereits institutionalisiert. Deshalb gibt es eine ganze Reihe von Studien, Vorschlägen und auch bereits erste Umsetzungen, die Debatten und ein reges Bürgerinteresse ausgelöst haben. Im Zuge dieser Studien hat das Umweltobservatorium des DMQuito sechs strategisch wichtige Themenfelder definiert, die in Zukunft angegangen werden müssen. Sie werden im Folgenden kurz vorgestellt. 1) Zwingend erforderlich ist eine neue territoriale Ordnung und Bodennutzung, die sich an einer nachhaltigen und harmonischen Beziehung zwischen Menschen, Umwelt und

Parque Centenario, eine der wenigen Grünflächen

F OTO: G ÜNTER P OHL

Natur orientiert. Sie muss die Probleme berücksichtigen, die sich aus dem unkontrolliertem Wachstum des Stadtkerns und der vorherrschenden Art der Mobilität ergeben. In den letzten 40 Jahren fand die territoriale Ausdehnung Quitos in verschiedenen Etappen statt, ohne dass eine Ordnung darin zu erkennen gewesen wäre. Zunächst wuchs die Stadt in die Länge und bildete verschiedene Zentren (19501970). Von 1970-1985 dehnte sie sich weiter in die Länge aus, jedoch unregelmäßiger als zuvor. Es folgte ein expansives, verstreutes Wachstum an den Rändern der Stadt (19902000) und zuletzt ein kontrolliertes expansives Wachstum um verschiedene Zentren herum (2001-2010). Ohne eine

16 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

langfristige, vorausschauende Landschafts- und Stadtplanung werden sich die Probleme der Stadt, zum Beispiel die riesigen Verkehrsprobleme, weiter verschärfen. Als Maßnahme gegen die Verkehrsbelastung dürfen bereits jetzt zu Stoßzeiten nur Autos mit Ohne BürgerInnenbeteiligung geht in Quito nichts bestimmten Kennzeichen fahren. Die Bodennutzung im DMQuito verteilt sich wie folgt: Zehn Prozent der Fläche des Distrito sind städtisch, weitere fünf Prozent befinden sich im Prozess der Urbanisierung. 68 Prozent der Fläche werden landwirtschaftlich genutzt, davon 23 Prozent für die Viehwirtschaft. 17 Prozent der Fläche sind Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiete. Je nach Bodennutzung sind die Probleme des DMQuito unterschiedlich. Im urbanen Raum spielen vor allem der Umgang mit dem Abfall und gefährlichem Industriemüll eine Rolle, sowie die mangelnde Kontrolle bei der Besiedlung der ökologischen Schutzzonen und Wälder. In den ländlichen Gebieten bereiten Bodenerosion sowie die Kontaminierung durch Agrogifte und verschmutztes Wasser aus den Stadtgebieten Probleme. Generelle Schwierigkeiten entstehen durch die Missachtung von Landschafts- und Bebauungsplänen, häufige Wechsel in der territorialen Ordnung und den Verlust der Humusschicht. 2) Die kommunale Abfallwirtschaft ist ein weiteres Problem. Dies gilt sowohl für den Umgang der BewohnerInnen mit Müll, als auch für die strukturellen Schwächen der Kommunalpolitik beim Sammeln, dem Transport und der Endlagerung des Abfalls. Die Bevölkerung hat dieses Problem erkannt und fordert eine öffentliche Politik, die das Recht auf eine intakte Umwelt einbezieht und so für eine nachhaltige Praxis bereits bei der Produktion und dem Konsum sorgt. Zurzeit produzieren in Quito 2,35 Millionen EinwohnerInnen durchschnittlich täglich 1,66 Kilo Müll pro Person. Das ist sehr viel mehr als die 0,75 kg, die CEPIS (Centro Panamericano de Ingeniería Sanitaria y Ciencias del Ambiente – Panamerikanisches Zentrum für Gesundheitswesen und Umweltwissenschaften, eine Unterorganisation der WHO) für die oberen Einkommen für akzeptabel hält, und mehr als die 0,35 kg, die für die unteren Einkommensklassen gelten. Es gibt keine Mülltrennung und kein Recycling, obwohl mehr als die Hälfte der Abfälle organisch sind.

www.oaquito.ec


3) Die Wasserversorgung muss verbessert werden, damit ausreichend Trinkwasser für alle BewohnerInnen zur Verfügung steht. Aktuell haben circa 90 Prozent der EinwohnerInnen Quitos eine gesicherte Wasserversorgung. Derzeit gibt es Pläne, Flusswasser F OTO : G ABY K ÜPPERS aus dem Amazonasbecken umzuleiten, was zu Konflikten mit den FlussbewohnerInnen führt und neue Umweltschäden hervorrufen wird. Die andere Seite der Medaille sind die Flüsse, die den Distrikt durchfließen. Sie sind Auffangbecken für Abwässer aller Art, von den Haushalten genauso wie aus der Industrie. Diese Abwässer werden praktisch völlig ungefiltert in die Flüsse geleitet. Mehrere Flüsse sind deshalb bereits umgekippt, vor allem der Machángara, Monjas und Guallabamba, die für den Gebrauch und Konsum bereits ungeeignet sind. Die Verschmutzung hat negative Auswirkungen auf angrenzende Naturräume und die Biodiversität. Als Reaktion wird momentan ein Dekontaminierungsprogramm für Quitos Flüsse vorbereitet. Es ist ein Teil des Umweltschutzprogramms der Stadtwerke für Trink- und Abwasser. 4) Hauptgrund für die Luftverschmutzung in Quito ist die Verbrennung fossiler Brennstoffe minderer Qualität und ein Mobilitätsprinzip, das vor allem auf Privatfahrzeuge setzt. Durchschnittlich fahren nur ein bis zwei Personen in jedem Fahrzeug, auf die Dauer ist das nicht tragbar. Erste Erfolge bei der Bekämpfung der Luftverschmutzung brachten die jetzt obligatorische jährliche Überprüfung aller Motorfahrzeuge und die Festlegung von einer maximalen Verwendungsdauer für die Automotoren des öffentlichen Nahverkehrs. Trotzdem ist das Problem längst nicht gelöst. Zu den Autoabgasen kommen Industrieabgase, die nur sehr mangelhaft kontrolliert werden und zur Luftverschmutzung beitragen. Befürworter alternativer Fortbewegungsmittel, zum Beispiel von Fahrrädern, stoßen auf große Schwierigkeiten. 5) In einer vom Umweltobservatorium Quito (OAQ) durchgeführten Bürgerbefragung wurden als weitere Kernprobleme das mangelnde Umweltbewusstsein und die fehlende Umweltbildung der BürgerInnen genannt. Für die Lösung der vielen Umweltprobleme Quitos ist die BürgerInnenbeteiligung extrem wichtig. Diese müsste nicht nur durch formale und

informelle Bildungsmaßnahmen unterstützt werden, sondern ganz besonders durch eine öffentliche Politik, die darauf abzielt, für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu sorgen. Es müssen neue Organisationsformen und Formen der Entscheidungs- und Kompromissfindung etabliert werden. Ziel ist, dass die Bevölkerung an der Lösung der Umweltprobleme mitarbeitet und zukünftige Probleme bereits im Vorfeld erkannt und vermieden werden. Nichtregierungsorganisationen, Universitäten und soziale Gruppen, die Interessen und Meinungen zu Umweltthemen artikulieren, sind aufgerufen, sich mit Vorschlägen und Aktionen an den geplanten Änderungen zu beteiligen, damit zukünftige Planungen und Handlungsfelder von einer integralen Umweltvision ausgehen und im kollektiven Interesse demokratisch legitimiert sind. 6) Ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Naturerbe ist unerlässlich. Wie oben dargelegt, besteht eine nicht geringe Fläche des Distrito Metropolitano Quitos aus Naturschutzgebieten und ökologischen Schutzzonen. Zurzeit gibt es 25 dieser Zonen, davon sind 23 Schutzwälder und zwei gehören zu nationalen Naturschutzgebieten. Dazu kommen circa neun Prozent der Fläche, die als páramo (hochgelegenes, baumfreies

Das Umweltobservatorium Quito Das Observatorio Ambiental Quito OAQ wurde im September 2009 als eine Einrichtung für mehr Bürgerbeteilung gegründet. Daran waren viele unterschiedliche Organisationen und Einzelpersonen der Stadt beteiligt. Das OAQ hat sich vorgenommen, darüber zu wachen, dass das Recht der BürgerInnen auf eine gesunde Umwelt und die Rechte der Natur im Distrikt respektiert werden. Außerdem hat das OAQ eine aktive und informierte Bürgerbeteiligung an einer zukünftigen öffentlichen Politik zum Ziel, die für die Erhaltung der Umwelt und einen nachhaltigen menschlichen Fortschritt eintritt. Das OAQ hat seine Arbeit unter großen Erwartungen von Teilen der Bevölkerung aufgenommen. Diese BürgerInnen finden es wichtig, Vorschläge einzubringen und die Erfüllung der Verantwortlichkeiten der verschiedenen Regierungsebenen zu kontrollieren, vor allem auf städtischer Ebene. Die Arbeit des Observatorio kann ein wichtiger Impuls für mehr Umweltbewusstsein werden.

Ödland mit charakteristischer Vegetation und hoher Luftfeuchtigkeit) klassifiziert wurden, ein hochfragiles Ökosystem von großer Bedeutung für den Wasserzyklus. Zu den Hauptproblemen des Naturerbes gehört die Tatsache, dass es sehr wenig Grünflächen gibt, obwohl diese in den letzten Jahren ausgedehnt wurden. Weitere Probleme sind die Verkleinerung des Schutzwaldes von Pichincha (durch die Urbanisierung großer Flächen dieser ehemaligen Naturschutzzone) und der geringe Schutz der Biodiversität im Stadtgebiet. Außerhalb des Stadtgebietes sind es die Entwaldung und das Verschwinden einheimischer Bäume, die illegale Jagd und fehlende Pläne für den Erhalt der Biodiversität, die Anlass zur Sorge geben. ◆

Edgar Isch López ist Universitätsdozent, Autor verschiedener Bücher, Berater und Forscher für soziale und Umweltfragen. Er ist Mitglied der Linkspartei MPD und war 2003 Umweltminister in der kurzzeitigen Mitte-Links-Regierung Ecuadors. • Übersetzung: Laura Held

17 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Es gibt durchaus eine Kultur des Protests Interview mit Verónica und Irene León über Frauenbewegungen in Quito

Wenn Wikipedia Recht hat, wurde der lateinamerikanische Feminismus in Quito geboren. Denn von dort stammt Manuela Sáenz (1797-1856), prominente Figur im Unabhängigkeitskampf des Kontinents und Frauenrechtlerin, der die wohlanständige Gesellschaft ihre langjährige Liebschaft mit Simón Bolívar, den sie nie heiratete, nicht verzieh. Nun führt keine direkte Linie bis zur heutigen Frauenbewegung in Quito. Dennoch ist sie, wie auch die Schwulen- und Lesbenbewegung, engagiert in einem neuerlichen, tiefgreifenden Umwälzungsprozess. Das Buen Vivir schließt auch eine Diversität der Lebensformen ein. Dazu haben Verónica Léon von der Frauenaktionskulturgruppe „MIA“ und Irene Léon, Leiterin der Stiftung FEDAEPS, Frauen aus zwei Generationen, Nichte und Tante, im Gespräch mit Gaby Küppers eniges zu sagen.

W

ie selbstverständlich bewegt sich frau heutzutage als Feministin in Quito?

i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Das hört sich nach Rückzug ins Private an? Nun, die früheren Feministinnen wollten hinein in die Institutionen. Sie wollten die Politik, insbesondere die Sozialpolitik beeinflussen. Sie haben da auch viel erreicht, aber das Verhalten, die Denkweise der Leute haben sie nicht sehr geändert. Sicher, man kann sagen, dass die Jüngeren der Politik an sich, der traditionellen Politik gegenüber Verónica León eine gewisse Apathie an den Tag legen. Sie schreiben keine Vorschläge mehr an die Politiker, wie die Politik zu ändern sei, sondern ziehen die sichtbaren Aktionen, die konkreten Themen vor. Wie was zum Beispiel?

Verónica: Das kommt darauf an. Im Vergleich zu vielen anderen Orten Lateinamerikas ist die Aggressivität hier geringer. Dennoch besteht weiterhin eine gewisse Aversion Feministinnen gegenüber. Es existieren die üblichen Vorurteile, aber sie führen nicht zu gewalttätigen Reaktionen.

Zum Beispiel mit Graffitis. Wir haben uns dazu mit mehreren Kollektiven zusammengetan, uns auf bestimmte Themen geeinigt und sind dann losgezogen, um unsere Botschaften auf die Wände zu malen.

Wo sind die Feministinnen in der Stadt zu sehen?

Macht man sich damit in Quito nicht strafbar?

An allen möglichen Orten. Es gibt im Moment eine Reihe von Kollektiven, in denen sich junge Frauen in gegenkulturellen Aktivitäten engagieren. Ich denke insbesondere an eine Gruppe von Fahrradfahrerinnen, die sich mit dem Thema Verkehr in der Stadt und Inbesitznahme des öffentlichen Raums beschäftigen. Andere sind künstlerisch aktiv.

Legal, illegal...Graffiti malen ist kein Verbrechen, bestenfalls ein Vergehen. So etwas machen alle städtischen Kulturbewegungen, die Frauen dabei eigentlich immer von einer feministischen Warte.

Ist das eine jüngere Tendenz oder sind die Feministinnen schon länger präsent?

Als die „Pille danach“ vor einigen Jahren verboten werden sollte, haben wir die sexuellen und reproduktiven Rechte thematisiert. Unsere Graffitis haben die Problematik öffentlich gemacht.

Nein, Feministinnen sind in Quito schon lange aktiv, mindestens seit den 70er Jahren oder noch früher. Aber die Formen und überhaupt die Art und Weise der Teilnahme und Einflussnahme haben sich geändert. Früher haben die Femi-

18

nistinnen sich eher eingeschaltet, um die öffentliche Politik zu ändern. Die neuen Generationen äußern sich eher kulturell, sind aktionsorientiert.

Kannst du ein Beispiel geben?

Hat sich unter der jetzigen Regierung etwas geändert? Sind die Aktionsformen oder die Inhalte anders geworden?


Zunächst einmal kann man nicht von einem übereinstimmenden feministischen Ansatz in Quito reden. Die Gruppen sind über die ganze Stadt verstreut. Aber das Konzept des Buen Vivir wird durchaus auch in feministischen Kreisen diskutiert. Am letzten 8. März, dem Internationalen Frauentag, haben wir am Weltmarsch der Frauen teilgenommen. Alle fanden, dass es eine gute Idee war, unsere Teilnahme unter das Motto des Buen Vivir zu stellen.

Auch das kommt vor. Josefina Lema hat das offen vertreten. Die Indígenas wollen, dass die Diversität, das Anderssein, anerkannt wird, dazu gehört auch die sexuelle Diversität. Aber es gibt ebenso Indígenagemeinschaften, die Schwule und Lesben ablehnen. Die Kirche ist in Quito sicher auch ein starker konservativer Faktor, der andere Lebensformen – oder auch den Feminismus – ablehnt?

Was bedeutet Buen Vivir aus feministischer Sicht? Das ist genau die Frage, die wir uns in den Versammlungen ebenfalls gestellt haben. Und die Meinungen gehen sehr weit auseinander. Mit meiner Gruppe hatten wir uns überlegt, uns mit der Gruppe „Alle Frauen aufs Rad“ zusammenzutun. Sie unterstützen das Radfahren von Frauen im öffentlichen Raum. Denn Fahrradfahren ist in Quito keineswegs unkompliziert, die Autofahrer sind aggressiv. Aber immer mehr Männer setzen sich aufs Rad – sonntags, wenn die Innenstadt extra für Radfahrer abgesperrt ist, aber auch unter der Woche. Die Frauen dagegen trauen sich weiterhin nicht und bleiben so von diesem öffentlichen Raum ausgeschlossen. Daher haben wir am 8. März gemeinsam mit der Radfahrerinnengruppe einen Fahrradkorso mit dem Motto Buen Vivir organisiert. Dazu führten wir an der Strecke ein Theaterstück über die Geschichte des 8. März auf. Und wir erarbeiteten ein Wandgemälde. Wie viele Frauen haben sich an dieser Aktion beteiligt? Das ist schwer zu sagen. Mit dem Wandgemälde waren vielleicht zehn Frauen beschäftigt. Den Fahrradkorso haben wir mit etwa zwanzig Frauen organisiert, aber da die Aktionen am Sonntag direkt vor dem 8. März stattfanden und sonntags ohnehin Tausende auf den abgesperrten Straßen unterwegs sind, kann man die Zahl der tatsächlichen Teilnehmerinnen nicht beziffern. Gibt es in Quito so etwas wie ein Frauenplenum? Ja, es gab einmal eins, aber es existiert, glaube ich, nicht mehr. Vor dem 8. März fanden jedoch Versammlungen zur Vorbereitung des Weltmarschs der Frauen statt. Wie viele aktive Feministinnen gibt es in Quito? Oh je. Das ist schwierig. In meinem Umfeld gibt es vielleicht 100, von denen ich weiß. Aber ich kenne mich mehr im künstlerischen Umfeld aus. Insgesamt sind es bestimmt viel mehr. Man müsste auf jeden Fall auch die Basisgruppen dazurechnen. Bei den Indígenas gibt es zum Beispiel auch Frauengruppen, etwa bei der Indígenaorganisation Ecuarunari und dem Dachverband CONAIE, die Aktionen zusammen mit feministischen Gruppen durchgeführt haben, etwa auch beim Weltmarsch der Frauen. Wie sieht die Zusammenarbeit bei Themen wie lesbisches Leben aus? Inwieweit kann man davon sprechen, dass es in indianischen Gemeinschaften überhaupt ausgelebt wird?

Die Kirche ist in Quito viel weniger stark als anderswo in Ecuador, auch wenn sie zweifellos präsent ist. Irene: Die Dominanz der katholische Kirche ist historisch betrachtet ein Mythos. Heute gibt es beispielsweise tatsächlich einen großen Druck auf Paare zu heiraten. Aber bis vor gar nicht so langer Zeit haben die Leute hier kaum geheiratet, es gab verschiedene Formen von Familien, und längst nicht die Irene León Mehrheit waren monogame katholische Kernfamilien. Die Kirche ist als Institution sehr präsent, aber sie dominiert nicht die gesamte Kultur. Und wie gegenwärtig sind Sekten? Immer mehr, und in allen möglichen Variationen, aber eher in ländlichen Gegenden. Die klassischen Konflikte mit der katholischen Kirche sind aus eurer Sicht vermutlich die gleichen wie überall? Ja sicher: allen voran Abtreibung und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Die Rechte in Ecuador hat sich zusammen mit der Kirche gerade diese beiden polemisch diskutierten Themen vorgenommen, um die gesamte Verfassunggebende Versammlung zu diskreditieren. Dabei war deren Legalisierung nur zwei von Tausenden anderer Vorschläge. Aber sie schossen sich auf diese zwei Punkte ein, um den gesamten Prozess zu desavouieren. Das ist schade, weil damit viele andere Anträge, die Frauenrechte betreffen oder auch die CareÖkonomie, aus dem öffentlichen Blickfeld gerieten. Am Ende blieben die beiden Themen tatsächlich auf der Strecke. Schade ist, dass viele, auch feministische Gruppen, gerade die aus dem institutionalisierten Feminismus, daraus den Schluss zogen, dass die neue Verfassung einen Rückschritt bedeutet. Aber die Abtreibung ist in Ecuador nie legal gewesen, daher gab es auch keinen Rückschritt. In vielen anderen Genderfragen dagegen hat die Verfassung echte Fortschritte festgeschrieben. Bevor wir darüber noch etwas ausführlicher reden, habe ich noch eine Frage zu deinem feministisch-künstlerischen Ansatz, Verónica. Du bist Filmemacherin, arbeitest im Bereich Video. Gehst du mit einem feministischen Blick an die Arbeit? Verónica: Immer. Was bedeutet das konkret?

19 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Ich habe in letzter Zeit Dokumentarfilme zu dem Leben auf dem Land gemacht. Da muss man einfach den Blick auf die Frauen richten, die anders mit dem Boden, mit den Samen, mit der Biodiversität umgehen. Aber deren Stimmen wurden oft nicht beachtet. Deswegen habe ich mich besonders um sie gekümmert. Die Männer bauen Produkte an, die verkauft werden, die Frauen dagegen Lebensmittel für die Familie. Daher wissen sie auch sehr viel besser, wie man mit den Pflanzen umgeht, um sie zu erhalten. Auch bei Kämpfen wurden sie weniger beachtet, dabei waren sie oft viel konsequenter. Doch, ich arbeite in einem Kollektiv von jungen KünstlerInnen mit, das MIA (dt. „Mein“) heißt, Mujeres, Ideas, Acciones (Frauen, Ideen, Aktionen) und dessen Aktionen ich aufzeichne. Von den Wandbildern habe ich schon erzählt. Im April 2007 haben wir im Rahmen des städtischen Kultursonntags im historischen Stadtzentrum eine Verónica León Versteigerung von Frauen organisiert. Auf der Plaza Grande haben wir Frauen verkauft, um auf das Thema Merkantilisierung aufmerksam zu machen. Wir hatten verschiedene Frauentypen im Angebot. Beim Typ Schönheit etwa haben wir die Brüste und den Po versteigert – wie beim Metzger, weil die Frau nie als Ganze wahrgenommen wird. Dann haben wir eine perfekte Hausfrau verkauft, die keinen Mund hatte. Also konnte sie weder reden noch sich beklagen. Dann boten wir noch ein reines Herz einer Jungfrau feil. Also lauter Frauenklischees. Wie haben die Leute reagiert? Das Publikum an einem Sonntag in der Innenstadt ist völlig heterogen. Da bleiben nicht nur Leute stehen, die sich bereits intellektuell mit dem Thema auseinandergesetzt haben, nicht nur die Mittelklasse, sondern Menschen gerade auch aus den unteren Schichten. Die meisten waren sprachlos. Sie wussten nicht, was sie denken sollten, ob das stimmte, was da passierte. Es wurde immer voller, die Leute bleiben alle bis zum Schluss, wo wir dann ein Flugblatt verteilten, um das die Leute sich rissen, weil sie verstehen wollten, was es mit dieser „Merkantilisierung“ von Frauen auf sich hatte. Ich glaube nicht, dass alle auch die Ironie bei dem Ganzen durchschaut haben, aber das Ziel war vor allem, einen Prozess des Nachdenkens in Gang zu setzen. Das war 2007. Was habt ihr seither gemacht? Wir haben eine Performance organisiert, die „Des Kaisers neue Kleider“ hieß. Das war deutlicher als Theaterstück erkennbar. Es gab den großen, dicken weißen Mann, den Patriarchen. Er war voll behängt mit Symbolen, auf dem Kopf eine Bischofsmitra mit zwei Dollarzeichen, ein Herz mit lauter Kreisläufen, eine Unternehmerkrawatte. Er war nackt bis auf eine Unterhose, einen Hemdkragen und einen Schal. Dazu eine ellenlange Schärpe, auf der all die weltweiten

20 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Markenzeichen klebten, all die Zeichen des Kapitalismus. Er war umgeben von Frauen, die alle in Plastik gehüllt waren, Massenware, ohne Individualität, die ihm zu Diensten standen, Dinge anreichten, ihm zu essen und zu trinken gaben, ihn säuberten. Eine Allegorie dieser unsichtbaren Reproduktionsarbeit, die Frauen gemeinhin leisten. Aber dann tun sie sich zusammen, rebellieren und verlassen ihn. Der Mann kann allein natürlich nicht überleben...Das war 2009. Und was gibt es Neues? Diesmal haben wir uns ein großes Stück vorgenommen. Dazu haben wir beim Kulturministerium einen Zuschuss beantragt. Wir wollen dazu Frauen aus den Armenvierteln einbeziehen und bereiten dort Workshops vor. Das Thema ist Las simulaciones del género femenino (Die Simulationen des weiblichen Geschlechts). Auf der Basis dieses Titels erarbeiten wir derzeit den genauen Inhalt in den Workshops. Jetzt haben wir zum ersten Mal richtig Zeit – bis Oktober, wenn das Stück aufgeführt werden soll –, Geld und Infrastruktur. Bisher kamen unsere Stücke immer viel amateurhafter zustande. In welchen Bereichen sind die anderen Mitglieder deines Kollektivs aktiv? Eine ist Bildhauerin, zwei machen Videos, zwei sind Anthropologinnen, eine Schauspielerin, zwei Akrobatinnen. Wie bist du selbst zum Feminismus gekommen? Ich glaube, den Feminismus habe ich mit dem Milchfläschchen bekommen. Nein, im Ernst, als Kind habe ich all die Konzepte der weiblichen Unterlegenheit nicht mitbekommen. Meine Familie hat mir das nicht beigebracht. Der Schock kam erst in der Sekundarschule. Man warf mir vor, Feministin zu sein, und ich wusste nicht, was das sollte. Später habe ich in Quebec studiert, da ging es viel liberaler zu. Dort traute sich niemand, machistisch aufzutreten. Erst als ich nach Ecuador zurückkam, kam mir der ganze lateinamerikanische Machismo mit Wucht entgegen. Erst da wurde mir klar, dass ich dagegen aktiv werden wollte. Ich war in jenem Jahr in Brasilien und traf auf junge Frauen vom Weltmarsch der Frauen. Da habe ich dann das andere Gesicht des Feminismus entdeckt, nicht diese alte Garde, die sich auf den Marsch durch die Institutionen gemacht hat. Die Gegenkultur der jungen Frauen interessiert mich viel mehr, passt viel besser zu mir. Wenn du heute in ein Gymnasium gehst und von der feministischen Bewegung redest, interessieren sich ganz wenige dafür. Aber wenn du von Gegenkultur, von direkten Aktionen redest, sind die Jungen sofort dabei. Für mich brachte Brasilien die Initialzündung. Als ich zurückkam, redete ich mit meinen Freundinnen und wir begannen mit MIA. Kulturelle Aktionen zu planen, hört sich irgendwie nach Verzicht auf direkte politische Einflussnahme an. In Europa wird inzwischen viel von Postfeminismus geredet. Die Zeit des Feminismus sei vorbei, heißt es. Die einen meinen, man müsse nun zu einer Geschlechterpolitik fortschreiten. Andere


etikettieren so schlicht ihren Rückzug aus geschlechtsspezifischem Engagement. Aber ich habe den Eindruck, dass du das anders siehst. Richtig, in Lateinamerika gab es nie wirklich eine Gleichstellungspolitik. Ich will damit nicht sagen, in Europa gäbe es keinen Machismus, aber es gibt doch qualitative Unterschiede. Frauen wurden hier nie öffentlich gefördert. Hier findest du weiterhin Frauen, die nicht das Recht haben, zur Schule zu gehen, die sich nicht in der Lage sehen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wohl nicht in meinem direkten Umfeld, aber man braucht gar nicht weit zu gehen, ein paar Straßen weiter, und schon stößt du auf diesen tiefverwurzelten Machismus. Irene, dennoch können in dieser Stadt Schwule und Lesben öffentlich unbehelligt ihre Rechte einfordern. Du erwähntest von FEDAEPS mitorganisierte Fahrraddemos. Irene: Ja, Fahrradkorsos und Demonstrationen, jedes Jahr bis 2008. Warum nicht mehr? Aus zwei Gründen. In den 90er Jahren waren die sexuellen Rechte eine zentrale Forderung. Damals waren wir in FEDAEPS übrigens die einzigen, die sich Irene León trauten, wegen eines Paragraphen im Strafgesetzbuch, der Homosexualität unter Strafe stellte, eine Klage wegen Unvereinbarkeit mit den Menschenrechten einzureichen und damit vor die OAS zu gehen. Und habt ihr gewonnen? Am Ende war die neue Verfassung schneller als das Urteil der OAS. Wir haben es damals geschafft, die sexuelle Selbstbestimmung sowie ein Diskriminierungsverbot aufgrund der sexuellen Orientierung in der Verfassung von 1998 festzuschreiben. Das war das erste Mal in Lateinamerika und im Hinblick auf ein Diskriminierungsverbot weltweit nach Südafrika wohl das zweite Mal. Allerdings können diese Rechte nur umgesetzt werden, wenn die Gesellschaft sich tiefgreifend ändert, was durch eine adäquate öffentliche Politik gestützt werden muss. Mit der Verfassung von 2008 nun geht ein Versuch einer grundsätzlichen Umgestaltung des öffentlichen Lebens und der Sozialpolitik einher. Die Gleichstellung ist einerseits allgemeine Aufgabe des Staates. Zudem soll sie auch institutionell über sieben Sekretariate abgesichert werden, eines davon befasst sich explizit mit sexueller Diversität. Der nationale Plan des Buen Vivir – das was früher der nationale Entwicklungsplan war, enthält ebenfalls einen Teil zur sexuellen Diversität. Das bedeutet, öffentliche Aktionen wie Fahrradkorsos oder Demos sind sicher weiterhin nötig. Aber die neuen Möglichkeiten der Verfassung von 2008 stellen uns vor Herausforderungen, die auf einer ganz anderen Ebene liegen als Fahrrad-

demos. Nach Jahren, in denen wir Forderungen stellten, sind wir jetzt in einer Phase, in der wir an deren Umsetzung und institutioneller Verankerung mitarbeiten. Es geht jetzt nicht mehr nur um eine feministische Nische in einem machistischen Staat, sondern um eine feministische Struktur mit verfassungsmäßigem Rückhalt. Das Konzept des Buen Vivir beinhaltet, dass die Reproduktion des Lebens im Mittelpunkt steht, nicht die kapitalistische Reproduktion. Damit wird auch die Care-Ökonomie (vgl. ila 332, S. 62) zentral, die von feministischer Seite entwickelt wurde, innerhalb eines Konzeptes von ökonomischer Diversität, die Ecuador als Land nun verfolgt. Diese existierte zwar schon vorher, wie fast überall auf der Welt, aber dominant war das kapitalistische System und das Diktat des Marktes. Buen Vivir setzt Diversität auf allen Ebenen voraus. Eine Gesellschaft, die sich das Buen Vivir zum Ziel setzt, muss Hierarchien abbauen und an deren Stelle die Komplementarität setzen. Das kann mit Aktionen auf der Straße geschehen, mit der Entwicklung von politischen Konzepten, mit Kommissionen. Das Wichtige ist, dass es Raum dafür gibt. Verónica: Und dass das alles zusammenkommt. Die Stadt hat beispielsweise einen Genderausschuss, der die Kollektive einlädt, gemeinsam eine Strategie gegen Belästigung auf der Straße zu entwickeln. Können schwule oder lesbische Paare heute Hand in Hand über die Straße gehen? Nicht häufig, vielleicht in bestimmten Vierteln. Aber es hat in den letzten 20 Jahren große Fortschritte gegeben, die schwullesbische Community wird in den Medien immer präsenter. Irene: Sich an die Hand zu nehmen, hat hier traditionell nicht die gleiche Bedeutung wie in Europa. Wir Frauen fassen uns hier sehr viel an. Schwestern oder Mutter und Tochter oder Freundinnen drückten ihre Nähe immer auch physisch auf der Straße aus. Männer taten und tun das weniger. Ich würde aber sagen, dass der körperliche Ausdruck familiärer oder persönlicher Nähe heute immer mehr von der Straße verschwindet. In den Zeiten, wo wir die schwul-lesbischen Demos organisierten, fragten wir uns auch, wie das in Quito aufgenommen würde. Aber wir hätten uns gar keine Sorgen machen müssen. Der Demoweg führte in das historische Zentrum Quitos, wo die unteren Schichten leben und viel auf der Straße sind. Und genau dort wurde der Marsch sehr gut aufgenommen. FEDAEPS hat auch viele Jahre lang ein Musikfestival organisiert, das Festival der Diversität, ebenfalls in der Innenstadt, um genau dort sexuelle und andere Vielfalt zu manifestieren. Das ist immer gut gelaufen. Es kam nie zu aggressiven Zwischenfällen. Trotzdem will ich nicht sagen, dass es hier nie Aggressionen gegen Schwule und Lesben gibt, aber eben nicht organisiert auf einer öffentlichen Veranstaltung. Ebenso wenig will ich damit sagen, dass die Menschen in Quito einfach nur friedlich sind. Gegen unliebsame Präsidenten sind sie immer auf die Straße gegangen. Es gibt durchaus eine Kultur des Protestes. ◆

Das Gespräch führte Gaby Küppers im Mai 2010 in Quito.

21 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Lernprozesse Ehemalige soziale AktivistInnen aus Quito sind mittlerweile politische FunktionsträgerInnen Quito verzeichnet wie alle lateinamerikanischen Großstädte vielfältige Initiativen von Basisorganisationen, Kooperativen und Nichtregierungsorganisationen, die seit vielen Jahren als Antwort auf die krisenhaften Veränderungen der Gesellschaft und die unzureichende Daseinsfür- und -vorsorge lokaler wie nationaler Regierungen, zur Selbsthilfe greifen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und ihre Lebensbedingungen zu verbessern – im Bereich der Wohnraumversorgung, der Schaffung von Arbeitsplätzen, des kulturellen Lebens und der Freizeitgestaltung. Viele von den sozialen Organisationen Quitos waren 2008 aktiv am Prozess der Verfassunggebenden Versammlung von Montecristi beteiligt – meist als Teil des Regierungsbündnisses Alianza País und haben das Referendum für die Verabschiedung der Verfassung unterstützt. Heute sind etliche führende VertreterInnen dieser Bewegungen Abgeordnete in der Nationalversammlung oder im Stadtrat Quitos, oder haben Regierungsämter übernommen. Welche Erfahrungen haben sie in ihrer neuen Rolle als Funktionsträger im öffentlichen Dienst gemacht? In welcher Weise wird ihre Amtsführung von ihrer politischen Sozialisation als soziale AktivistInnen geprägt?

M

VON

BARBARA SCHOLZ

aría Hernández wurde im August 2009 von Bürgermeister Augusto Barrera zur Geschäftsführerin der Verwaltungszone Quitumbe im Süden der Hauptstadt ernannt, einem Gebiet mit derzeit ca. 291 000 Einwohnern, das hohe Zuwachsraten verzeichnet und bis 2020 seine Bevölkerungszahl vermutlich verdoppelt haben wird. 58 Prozent der BewohnerInnen leben in Armut, ein erheblicher Anteil sind MigrantInnen aus ländlichen Regionen. Die Grundlagen für das politische Engagement von María Hernández finden sich den 90er Jahren, in denen sie aktiv an der Besetzung des Hügels Itchimbía am östlichen Altstadtrand durch eine Wohnungsbauselbsthilfegruppe teilnahm und von 1996 bis 2006 Vorsitzende des Bewohnerkomitees war. 2004 wurde sie in den Stadtrat von Quito gewählt und war seitdem auch Vorsitzende des Netzwerks von Frauengruppen Mujeres por la Vida sowie Sprecherin des Urbanen Forums, einer Koordinationsplattform von sozialen Basisgruppen und NRO. Das Selbsthilfeprojekt auf dem Itchimbía bestand acht Jahre illegal, von 1995 bis

22 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

2003, bis zur Überführung in eine legale Wohnbausiedlung in unmittelbarer Nachbarschaft. Angeführt wurde die Landbesetzung von der Kooperative San Juan Bosco, die 1994 von Mitgliedern der Coordinadora Popular de Quito, einem Netzwerk von 20 Basisorganisationen und kirchlichen Basisgemeinden, gegründet worden war. Den damaligen politischen Kontext der Besetzung, die nicht die einzige, aber möglicherweise die erfolgreichste in Quito war, prägten die Erhebungen der Indígenas 1990 und 1995, die von der Coordinadora aktiv unterstützt wurden, sowie der Kampf gegen die Vorhaben der Regierung, die Staatsbetriebe insbesondere der sogenannten strategischen Sektoren (Energie, Telekommunikation etc.) zu privatisieren. Im Zuge dieser politischen Mobilisierungen kristallisierte sich bei der Coordinadora die Suche nach einer Verankerung der Bewegung in konkreten Zielsetzungen und Projekten heraus, mit denen beispielhaft Alternativen für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aufgezeigt werden konnten. Das Thema Wohnen bot sich hier an, angesichts des hohen Wohnraumbedarfs der armen Bevölkerungsschichten und der nahezu vollständigen Abwesenheit öffentlicher Programme. Lediglich zwei Prozent des Staatshaushalts wurden damals für das Wohnungsbauprogramm CAVIP der Banco Ecuatoriano de la Vivienda zur Verfügung gestellt, ohne nennenswerte Auswirkungen auf die tatsächliche Nachfrage. 1994/95 ging aus der Coordinadora die Wohnungsbaukooperative San Juan Bosco hervor, die innerhalb kurzer Zeit 200 Familien aus dem Altstadtviertel La Tola aufnahm, die dort hochgradig beengt und unter prekären hygienischen Bedingungen in Inquilinatos (Mietskasernen) gelebt hatten. Als sie ein Jahr vergeblich nach erschwinglichen Wohnraumangeboten oder Baugrund gesucht hatten – kommunale Programme gab es nicht, ebenso wenig bezahlbare Grundstücke –, entwickelte die Kooperative ein Nutzungskonzept für den Hügel Itchimbía. Das im Eigentum der staatlichen Sozialversicherung, der Kirche und der Kommune befindliche Areal wurde als Müllhalde für Bauschutt und Krankenhausabfälle aus dem nahegelegenen Hospital Eugenio Espejo genutzt. Städtische Planungen aus den 50er Jahren sahen für das Gelände einen Park vor, was die Kooperative, als sie den Vorschlag für einen „Ökologischen WohnPark Itchimbía“ erarbeitete, gar nicht wusste. Trotzdem wurde das Vorhaben von der Stadtregierung ignoriert, sodass die Kooperative 1995 zur Selbsthilfe schritt und 250 Familien, über 1000 Personen, das Gelände besetzten. Geschaffen wurden acht Nachbarschaften mit jeweils einer zentralen Gemeinschaftsfläche sowie Kleinstwohnungen von neun Quadratmetern mit Gemüsegärten. In Ermangelung von Energieversorgung sowie Trink- und

Von der sozialen Aktivistin zur Bezirksbürgermeisterin: María Hernández


Abwassernetzen wurden kreative Lösungen entwickelt: Die Wasserversorgung erfolgte von einer riesigen Zisterne aus über Schläuche, zur Heißwasserbereitung wurde Sonnenenergie genutzt, als Toiletten wurden Trockenlatrinen errichtet. Einen Schwerpunkt bildete der Umweltschutz, u.a. wurden 2000 Bäume gepflanzt, urbane Landwirtschaft betrieben, und als wichtigste Maßnahme erfolgte in jahrelanger, sonntäglicher Freiwilligenarbeit die Beseitigung der Müllhalde. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Acción Ecológica wurden Programme der Umweltbildung und Schulung von Multiplikatoren umgesetzt. Verbindendes Element und Voraussetzung für diesen Prozess waren die konstanten Bemühungen um die Konsolidierung der sozialen Organisation, maßgeblich waren hier neben den freiwilligen Arbeitseinsätzen auch die wöchentlichen Schulungen der BewohnerInnen, ebenso die Maßnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit auf dem Gelände und seinen Zugängen.

I

nsgesamt erlebte das Projekt drei verschiedene Bürgermeister, Jamil Mahuad, Roque Sevilla und Paco Moncayo, sowie mehrere Räumungsversuche durch die Kommune, die mit gewaltfreiem Widerstand verhindert wurden. So ketteten sich Frauen und Kinder an die Häuser oder Männer gruben sich 48 Stunden bis zur Brust in den Zufahrtswegen ein und blockierten die Bulldozer. Infolge dieser Aktion, die international für Aufsehen sorgte, begann erstmals der Dialog mit der Stadtverwaltung unter dem Bürgermeister Roque Sevilla, der Durchbruch wurde allerdings erst unter Paco Moncayo erreicht. Nach einem langjährigen Verhandlungsprozess wurde 2002 die Errichtung einer Wohnsiedlung am Osthang des Hügels für die 200 verbliebenen Familien vereinbart, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Park. Errichtet wurden Apartment-Häuser mit Wohnungen von 84 m² für 5600 USDollar (Ecuador hat keine eigene Währung mehr, Zahlungsmittel ist der US-Dollar – die Red.), im Rohbau übergeben und finanziert durch Kredite und Mittel aus der 1999 geschaffenen öffentlichen Wohnbauförderung. Grundstücksund Erschließungskosten wurden von der Stadt vorfinanziert und von der Kooperative in drei Jahren abbezahlt. Die Kredite wurden von der Handelskammer vergeben und es gelang, Sonderkonditionen für die Kooperative zu erkämpfen, die vielen, normalerweise nicht „kreditwürdigen“ Mitgliedern eine Finanzierung ermöglichte. Dazu gehörten die Erlassung von Bürgschaften, die Akzeptierung der Garantie der Kooperative für ihre Mitglieder, eine doppelte Hypothek auf das Grundstück als Sicherheit für die Finanzierung der Erschließungskosten und der Wohnungen. Zeitgleich übernahm die Kommune die Errichtung des Parks Itchimbía, der heute auf 54 Hektar vielfältige, naturnahe Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten bietet. Er beherbergt u.a. ein stadtweit bekanntes Veranstaltungs- und Ausstellungszentrum, den „Glaspalast“, eine aus der Altstadt umgesiedelte Markthalle in (übrigens deutscher) Stahlbauweise aus dem 19. Jahrhundert. Im Hinblick auf die Replizierbarkeit merkt María Hernández an, dass sie die Landbesetzung als Mobilisierungsmechanismus wegen des Aufwands und der sozialen Kosten nie wiederholt haben. Hingegen war das Projekt der Ausgangspunkt für die Implementierung eines erfolgreichen Modells armuts-

Kulturzentrum „Glaspalast“ in Itchimbía

orientierten Wohnungsbaus, das von anerkannten NRO und sozialverantwortlichen Beratungsinstitutionen weiterhin angewandt wird. 2006 bildete es die Grundlage für die Gründung des Netzwerks Contrato Social para la Vivienda, mit Beteiligung von NRO, der Bauwirtschaft, Basisorganisationen und der Kommune, das als Beratungsinstanz für die Entwicklung von Strategien und Projekten im sozialen Wohnungsbau fungiert. Die Coordinadora Popular de Quito ging 2006 in das Foro Urbano über, eine Plattform von engagierten Einzelpersonen und Basisgruppen. Innerhalb des Urbanen Forums bestehen verschiedene thematische Netzwerke, von denen der Zusammenschluss von Frauengruppen Mujeres por la Vida der aktivste ist. Das Urbane Forum stellte vier der 130 Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung und unterstützte aktiv die Kampagne zum Referendum über die neue Magna Charta. Die Erfahrungen mit dem Projekt Itchimbía bilden die programmatische Grundlage für die jetzige Amtsführung von María Hernández als Mitglied der Stadtverwaltung. Die soziale Organisation und Partizipation der Betroffenen ist ihrer Ansicht nach unabdingbare Voraussetzung für jedwede Maßnahme der öffentlichen Hand. Entsprechend setzt sie den Schwerpunkt ihrer Amtsführung auf die Unterstützung und Stärkung der Selbstorganisation von Interessengruppen und nennt verschiedene aktuelle Beispiele: so die Umsiedlung des Barrios Stella Maris nahe dem Gelände der staatlichen Erdöldepots oder die Rehabilitierung des Marktes Las Cuadras. In beiden Fällen wurden die Maßnahmen in enger Abstimmung mit den NutzerInnen entwickelt, womit anfänglicher Widerstand überwunden und die Umsetzbarkeit der Maßnahme gesichert werden konnte. María Hernández empfindet es als dringlich, dies als gegenseitigen Lernprozess zwischen Stadtverwaltung und Basisorganisationen zu begreifen, der es ermöglicht, die verschiedenen Organisationskulturen in Übereinstimmung zu bringen. Effizienzvorstellungen, Verfahrensvorschriften und finanzielle Rahmenbedingungen der öffentlichen Verwaltung stünden der Dynamik partizipativer Abstimmungsprozesse häufig diametral entgegen. Weiterhin müssten die Verwaltungszonen als dezentrale Einheiten der Stadtverwaltung gestärkt werden, sowohl in ihrer Finanzausstattung als auch in ihren hoheitlichen Aufgaben. Derzeit herrscht ein vertikales Verhältnis zur Zentralverwaltung, und sektorale Kompetenzen der Fachverwaltungen behindern eine effiziente, integrale Administration des Territoriums. Zuzuhören, sich in die Lage der Betroffenen zu versetzen und sich ihre Perspektive zu eigen zu machen, muss nach ihrer Ansicht die Grundlage für das Handeln der Kommune bilden und sie hält es für unabdingbar, Spielräume für konsensorientierte und ergebnisoffene Abstimmungsprozesse zu schaffen und zu verteidigen. ◆

Barbara Scholz, Stadt-und Regionalplanerin, arbeitet als CIM-Fachkraft im Sekretariat für Habitat und Wohnen sowie im Institut für Städtebau des Hauptstadtdistrikts Quito.

23 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


F OTO : GABY K ÜPPERS

Papiere für alle Kolumbianische Flüchtlinge in Quito

Die Migrationsbewegungen im Großraum Quito spiegeln ganz gut wider, was in Ecuador geschieht: Hier konzentrieren sich alle Migrationströme des Landes, sowohl diejenigen, die emigrieren, also Stadt und Land verlassen, als auch diejenigen, die aus anderen ecuadorianischen Provinzen in die Stadt kommen – für eine vorübergehende Zeit oder längerfristig. Gleichzeitig erhofft sich eine beträchtliche Anzahl von ImmigrantInnen aus dem Ausland bessere Möglichkeiten in Quito – im Hinblick auf Ausbildung, Gesundheitsversorgung, Arbeitsbedingungen und auch Schutz. Letzteres gilt vor allem für die kolumbianischen Flüchtlinge, die vor der Gewalt in ihrem Land geflohen sind. In Sachen Migrationspolitik ist in Ecuador in den letzten Jahren einiges in Bewegung gekommen, auch auf lokaler Ebene – sprich in Quito –, wovon im Folgenden berichtet wird.

24 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

S

VON

KARINA VILLACIS

eit dem Jahr 2000 finden Flüchtlinge in der ecuadorianischen Hauptstadt Zuflucht, Schutz und Sicherheit. Laut Statistiken der Flüchtlingsbehörde im Ministerium für Auslandsbeziehungen, Handel und Integration sind seit 2008 (bis Februar 2010) 47 526 Personen verschiedener Nationalitäten als Flüchtlinge anerkannt worden; 98 Prozent davon sind KolumbianerInnen. Verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NRO) arbeiten in Ecuador mit Flüchtlingen. Diese Organisationen schützen und verteidigen ihre Rechte und versuchen sie in die Gesellschaft zu integrieren. So z.B. der „Jesuitische Dienst für Flüchtlinge und Migranten“ (SJRM), der in seinen Büros in den drei ecuadorianischen Bezirken San Lorenzo, Quito und Lago Agrio kostenlose juristische und psychologische Unterstützung anbietet. Laut statistischen Erhebungen des SJRM sind mindestens 60 Prozent der KolumbianerInnen wegen der Präsenz von Paramilitärs und FARC-Guerilla aus ihren Dörfern geflüchtet; 25 Prozent wegen der Bedrohungen durch bewaffnete Kräfte und 15 Prozent wegen drohender Zwangsrekrutierung. Der SJRM sieht es als seine Aufgabe an, Flüchtlinge und MigrantInnen zu begleiten, zu unterstützen und sie zu verteidigen; dafür arbeitet er mit 36 Basisorganisationen zusammen, in denen EinwanderInnen aus verschiedenen Ländern vertreten sind – aus Peru, Haiti und vor allem aus Kolumbien. Diese Organisationen sind in verschiedenen Provinzen Ecuadors entstanden, vor allem in den Grenzgebieten von Esmeraldas, Imbabura und Pichincha. Die Mitglieder arbeiten in verschiedenen Projekten


mit und versuchen, die wirtschaftliche Situation ihrer Familien zu verbessern. Im Norden der Hauptstadt Quito (Provinz Pichincha) hat die „Gemeinschaftliche Organisation für kolumbianische Flüchtlinge in Ecuador“ (ASOCOMIRSE) ihren Sitz. Hier haben die etwa 50 Mitglieder (EcuadorianerInnen und KolumbianerInnen) verschiedene Projekte entwickelt in Bereichen, in denen die MigrantInnen bereits in Kolumbien aktiv waren: Einige stellen Kleidung her, andere widmen sich der Aroma-Therapie etc. Dabei bilden sie sich ständig weiter, um die Qualität ihres Angebots zu verbessern. Das nächste Projekt wird die Einrichtung einer Bäckerei in der Zona 6 (im Nordosten Quitos) sein. Diese Projekte werden jedoch weder von der ecuadorianischen noch von der kolumbianischen Regierung unterstützt. Die kolumbianischen Flüchtlinge werden von den Behörden beider Länder unsichtbar gemacht, deren Aufgabe es eigentlich wäre, diesen Familien zu helfen. Hinzu kommt die gesellschaftliche Situation, der die Tausende von KolumbianerInnen Tag für Tag ausgesetzt sind: Von Teilen der ecuadorianischen Gesellschaft werden sie diskriminiert; ihre Menschenrechte werden verletzt, zumal viele von ihnen keinen sicheren Arbeitsplatz haben und sie somit ausbeuterischen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sind; sie werden bei der Wohnungssuche benachteiligt und des öfteren auch bei der Schulanmeldung ihrer Kinder. Angst prägt den Alltag der KolumbianerInnen in Ecuador, vor allem die Sorge darum, die Familie über die Runden bringen zu können. Hinzu kommt, dass es in der ecuadorianischen Gesellschaft viele Vorurteile gegenüber den KolumbianerInnen gibt. Für alles Schlechte, was in Ecuador passiert, wird ihnen die Schuld in die Schuhe geschoben: Verbrechen, Prostitution, Drogenhandel, Gewalt etc. Vor allem die Medien helfen kräftig mit, solcherlei Stereotype zu schaffen und zu verbreiten.

A

ndererseits hat der Stadtrat von Quito im Jahr 2006 die Betreuung von Flüchtlingen auf Gemeindeebene zur Priorität erklärt, für die die Gleichstellungskommission des Rates zuständig ist. Infolgedessen sind Arbeitsgruppen ins Leben gerufen worden, an denen sich auch Basisorganisationen und NRO beteiligen, die zum Thema arbeiten. Gleichzeitig hat das „Haus des Migranten“ – ein kommunales Projekt – zusammen mit der ecuadorianischen Abteilung der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) einen Migrationsplan für den Distrikt entworfen, als zentrales Arbeitsdokument zur Situation der MigrantInnen und ihrer Familien in der Stadt. 2007 ging es einen großen Schritt vorwärts: Zusammen mit der Gleichstellungskommission der Stadt entwarfen die Abteilung für Soziale Integration und das Haus des Migranten einen umfassenden Plan für alle Angelegenheiten der MigrantInnen, eine Verordnung, die für die Gemeinde von Quito gilt und die an eine aktualisierte Version des Migrationsplanes für den Distrikt anknüpft. Diese Verordnung wurde im Stadtrat einstimmig angenommen und trat im September 2008 in Kraft. Diese Verordnung erklärt in ihrem ersten Artikel, dass das Thema Mobilität Sache der Politik ist: „Die Gemeinde sieht es als Aufgabe der öffentlichen Politik an, die Menschenrechte der Personen und Familien, die sich in unterschiedlichen

Situationen der Mobilität befinden – seien es Emigranten, Immigranten, Vertriebene aufgrund jeglicher Art von Gewalt, Personen auf der Durchreise (…) – zu fördern, zu schützen und zu garantieren.“ Wichtig sind auch die Prinzipien, an denen sich die Politik zu orientieren hat, wie sie in Artikel 3 der Verordnung aufgeführt werden: An erster Stelle steht der Vorsatz, keine Diskriminierung zuzulassen sowie für sozialen Einschluss und soziale Integration einzutreten, mit dem Ziel, „harmonische, partizipative, solidarische und synergetische soziale Beziehungen im lokalen Raum zu schaffen“ sowie die BürgerInnen für das Thema Mobilität zu sensibilisieren, Bewusstsein zu schaffen und die Gründe für Migration bekannt und sichtbar zu machen. Ein weiteres Prinzip ist die Gültigkeit der Menschenrechte für alle Menschen im Distrikt, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Daraufhin folgt die Erklärung, dass die Politik gegenüber den ImmigrantInnen in Ecuador und gegenüber den eigenen Landsleuten im Ausland „kohärent“ zu sein habe, dass sie sich für die menschliche Entwicklung von EmigrantInnen, ImmigrantInnen und Flüchtlingen gleichermaßen einzusetzen habe, speziell für diejenigen, die besonders verwundbar sind. Folglich können auch die öffentlichen Dienstleistungen von allen gleichermaßen in Anspruch genommen werden, unabhängig vom jeweiligen Aufenthaltsstatus. Des Weiteren wird eine bessere Zusammenarbeit und Koordination der verschiedenen Institutionen, des öffentlichen und des privaten Sektors sowie zwischen lokalen, nationalen und internationalen Organisationen angestrebt. Schließlich das Prinzip, die MigrantInnen zu stärken und politisch einzubeziehen mit Hilfe von Organisationen, in denen sie sich engagieren können.

D

och diese Verordnung ist nicht der einzige Fortschritt in Sachen Migrationspolitik in Ecuador. Zwischen März 2009 und März 2010 ist die erweiterte Registrierung durchgeführt worden: Mit diesem speziellen Procedere wird den kolumbianischen ImmigrantInnen der Flüchtlingsstatus zugesprochen – sei es, weil sie aus Gegenden kommen, in denen es viele Menschenrechtsverletzungen gibt, oder weil sie direkt die Konsequenzen des bewaffneten Konflikts in Kolumbien zu spüren bekommen haben. In diesem Jahr haben 27 770 KolumbianerInnen einen Flüchtlingsausweis bekommen. Diese erweiterte Registrierung war eine Initiative der ecuadorianischen Regierung. Ihre Politik, die sich auf die neue Verfassung stützt, spiegelt ganz deutlich die Absicht wider, dass Ecuador eine Vorreiterrolle in Sachen Migrationspolitik einnimmt. So soll jede Person, die sich in einem Migrationskontext befindet, als Erdenbürger anerkannt werden, für den es keine Grenzen gibt und für dessen Rechte der jeweilige Aufnahmestaat zu garantieren hat. Mehrere kolumbianische BürgerInnen, die in Quito oder anderen Städten Ecuadors leben, haben von diesem Prozess profitieren können. Und dennoch: Was geschieht danach, nachdem sie ihren Flüchtlingsausweis bekommen haben? Der Ausweis unterbindet zwar sofortige Abschiebungen oder Festnahmen aufgrund fehlender Ausweispapiere, doch er garantiert nicht, dass die Betreffenden einen Arbeitsplatz finden oder ihre Rechte unmittelbar wahrnehmen können. ◆

Übersetzung: Britt Weyde

25 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Die Stadt, die mehr als die Hölle war Quito in der Literatur

war die Stadt für Bautista Aguirre ein verfluchter Ort; und so erhob er seine Klage. Getäuscht hat er sich aber nicht. Baudelaire wäre unglückselig und glücklich gewesen an diesem Flecken, wo ihm mehr als eine schöne, „rothaarige Bettlerin“ begegnet wäre. Einen Übergang stellt Luis A. Martínez dar, der Autor, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch seinen Roman A la Costa (An der Küste) berühmt wurde. Der Roman erzählt von den Kämpfen zwischen den Konservativen und den Liberalen und verwandelt sich dann in eine Anklage gegen den Fanatismus und die Engstirnigkeit einer Gesellschaft, die den Werten der Religion treu blieb und sich weigerte, den Wandel zur Moderne hinzunehmen. Ort der Handlung ist Quito, eine Stadt, geprägt von lasziven Geistlichen, von Heuchelei und Unterdrückung der Sehnsüchte und Träume. Mir scheint das der Augenblick zu sein, da Quito zur Idee der Stadt als Hölle wird. Als Unterwelt. Bei Martínez erreichen die Dimensionen des Bösen, des Spleens, des Wahnsinns und des Mordes noch nicht die schreckliche Schönheit, die andere Meister später erschaffen werden. Quito ist noch kein Hades.

F OTO : G ÜNTER P OHL

W

S

VON

DAVID GUZMÁN J.

icher ist mehr als ein Witz über die schwierige Geographie Quitos gemacht worden. In einer poetischen Epistel aus der Kolonialzeit von Juan Bautista Aguirre, einem von der Küste stammenden Dichter, lauten die ersten Quito gewidmeten Verse: „Als es [mein grausames Schicksal] einen verfluchten Ort suchte, wohin es mich in seiner Strenge verschlagen könnte, warf es mich nach Quito, weil es keinen schlimmeren fand.“ Und ein wenig später sagt der Dichter, einer der ersten Aufklärer der Kolonialepoche, die Stadt habe eine aberwitzige Form, beklagt sich über die Räuber, den Regen und behauptet von ihren Bewohnerinnen, sie wären so behaart wie Bären, und deshalb fühle er sich von jeder Versuchung frei. Dieser Artikel will keine Anklage erheben gegen die Stadt. Ebenso wenig ist er eine Verteidigungsrede. Fern von allem Chauvinismus denke ich, dass sich die Stadt – wie die sie durchquerende geographische Linie – mit der Zeit in einen Ort unserer Vorstellungskraft verwandelt hat, wo menschliche Leidenschaften einen dämonischen Glanz und Intensität gewinnen. Ja, die Nacht von Quito ist der ideale Ort für moderne Dichter, das heißt für die Verdammten. Anscheinend

26 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

enn man von dieser faustischen Stadt spricht, muss man mit einem ihrer liebsten Söhne beginnen: mit Icaza. Durch seinen Roman Huasipungo in aller Welt berühmt, dringt der aus Quito stammende Autor wie niemand vor ihm in dieses Labyrinth menschlicher Geographie, das die Stadt darstellt, ein. Nicht in die historische Stadt, Sitz der politischen Macht, viel weniger noch durchforscht er die Ansichtskarte für Touristen zu Füßen eines Vulkans. Nein, das nicht. In Icazas Romanen erscheint ein gespenstisches Leben, mit kleinen, vom Groll verhärteten Bürokraten, mit jungen Damen, die von einem Schelm verführt werden und ins Verderben rennen, mit einflussreichen Leuten, die Betrügereien gegen das Gemeinwohl aushecken, Figuren im Todeskampf, Verzweifelten, Ruchlosen, mit Gewächsen der Gosse, die mit der Landschaft aus Schluchten, Kloaken und Abwasserkanälen verschmelzen. Dieses trübe Ambiente ist der ideale Ort für den Auftritt des chulla. Des chullita. Aus diesem Grund gilt El chulla Romero y Flores (Der Chulla Romero y Flores), ein Roman aus dem Jahr 1958, als Icazas bestes Werk. Nachdem Icaza Jahrzehnte lang gegen den soziologischen Schematismus seiner frühen Werke angekämpft hat, gelingt ihm eine Synthese von Mensch und Milieu. Das nicht geheure Universum, das er schon in seinen ersten Romanen ersonnen hatte, konnte nur eine Figur wie der chullita bewohnen. Diese Figur und die Stadt sind wie Schreckgespenster aus einem Alptraum. Die Stadt wird danach von ein paar Romanciers neu erfunden. Den Geisteskranken, den Mördern, den Verrätern stehen nun die Betrüger, die Schelme, die Autokraten zur Seite. Quito, die Stadt unserer Vorstellungskraft, evoziert sozusagen nur noch zerfetzte Delirien, schändliche Geschichten. Javier Vásconez (Quito, 1946) hat in seinen Erzählungen eine apokalyptische Vision der Stadt gewagt. Das Andenmonster, eine Figur unserer jüngsten Geschichte, taucht in der Novelle „Das Geheimnis“ (1996) als Fiktion auf. Dieser kriminelle Geist führt uns durch die verwinkelten Straßen einer Stadt, in der die Unschuld dem Erzähler zuerst zum Opfer fällt. Während der Mörder und Vergewaltiger die gefügigen Mädchen verfolgt, bleibt uns nur, schaudernd zu lächeln. Welch seltsames Vergnügen, wenn man erkennt, dass

David Guzmán J., Quito 1980. Schriftsteller, Journalist, Universitätsprofessor. Hat mit Zeitschriften wie Diners und Anaconda zusammengearbeitet und 2006 die Novelle Perrológico veröffentlicht.


die Sünde die Stadt der Klöster betreten hat! Das Böse! In den Geschichten von Vásconez treten die Figuren auf, die ihre Zuflucht gewöhnlich im Schatten suchen, die Homosexuellen in Angelote amor mío (1983, Meine Liebe, du dicker Engel) oder die Verrückten, die die gesellschaftliche Heuchelei enthüllen, wie in der Geschichte von der „Stierkämpferin“, die von einer Traditionsfigur der Stadt herrührt. Quito erreicht jedoch den Charakter einer kafkaesken Stadt in El Viajero de Praga (1996, Der Reisende von Prag). Die so gefürchtete Hölle wird schließlich Realität in dieser Stadt, die an Korruption, Wut und Einsamkeit krankt und die Vásconez portraitiert wie ein Goya der Anden. Die Karikatur fügt sich zur Groteske, und der Leser kann nicht anders, als Zorn und Mitleid zu empfinden, während Dr. Kronz durch die Straßen von Quito wandert. Vielleicht ist die Szene, in der Kronz eine der Höhlen von Santo Domingo betritt, eine Art philosophischer Chiffre für die Stadt: Kronz sitzt an einem elenden Tisch und bezahlt eine Dirne dafür, dass sie ihm ihre Nöte und Sorgen erzählt, während die Stammgäste des Bordells tuscheln und lächeln. Eine Goyas würdige Skizze!

E

in wenig zurückhaltender, aber nicht weniger bedeutsam ist die Vision, die Abdón Ubidia (Quito, 1941) von dieser Andenstadt hat. In Ciudad de invierno (1979, Winterstadt) sind die Berge, die Neustadt, Schauplatz des Verrats. Eifersucht ist der Grund für das Ende einer Freundschaft und für das Exil einer Figur, die ihren besten Freund in die Hände der Justiz liefert, um dann in eine Stadt am Meer zu ziehen. Im Roman Sueño de lobos (1986, Traum der Wölfe) tut sich ein Bankangestellter mit einigen unbedeutenden Gerichtsbeamten zusammen, um seinen Arbeitsplatz zu überfallen. Der Erzähler führt uns durch Nacht und Schlaflosigkeit, durchquert mit uns die Viertel, in denen man die letzten Spuren von Hoffnung und Vernunft verliert; er stellt uns eine Stadt vor, in der angesichts des Ölreichtums von einigen Wenigen der hemmungslose Ehrgeiz die einzige Form von Wahnsinn ist, mit der man antworten kann. In seinem letzten, weit ausholenden Werk, La madriguera (2004, Die Höhle), greift Ubidia neuerlich das Thema der schnellen Bereicherung auf, nur ist jetzt der Kontext ein anderer: in diesem neuen Roman ist Ubidias Stadt die jahrelanger neoliberaler Gesetzwidrigkeit, wo angesichts der Möglichkeiten, unsere Seele dem besten Käufer zu verhökern, kein Platz für Skrupel ist. Der Titel meiner Reflexionen stellt fest, dass die Stadt war, das heißt, nicht mehr ist. Und das habe ich deshalb so geschrieben, weil ein Schriftsteller der jüngsten Generation von Romanautoren ein zukünftiges, zerstörtes Quito erfindet, in dem zu leben nicht mehr möglich ist. Santiago Páez (Quito, 1958) widmet der Stadt eine romanhafte Saga, Crónicas del breve reino (2006, Chroniken des kurzen Reiches): vier Romane, die von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Abwesenheit von Zukunft handeln. Vom Fehlen von morgen; weil in seinem letzten Roman die Stadt, die einst so sanft und einfältig „Antlitz Gottes“ genannt wurde, der verwüstete Schauplatz ist, der die gegenseitige Verfolgung von ein paar Kopfgeldjägern begünstigt. Genau wie in jener Szene von „Zwei glorreiche Halunken“, wo sich nach dem Krieg die Helden in einem zerschossenen Dorf verschanzen. Damit sind wir am Ende dieser Stadt und dieser Reflexionen über das, was der Dichtung zugrunde liegt, angelangt. ◆

Übersetzung und Erläuterungen: Barbara Schuchard

Literatur, Figuren und Filme, auf die im Text angespielt wird: Rothaarige Bettlerin: Charles Baudelaire, „À une mendiante rousse“, aus : Les Fleurs du Mal. Chulla bedeutet „ungleich“ und verweist auf eine volkstümliche romantische Pícaro-Figur, die für Quito typisch ist. Icaza interessieren an dieser Figur die soziale und ethnische Inkongruenz, die grotesken und tragikomischen Qualitäten, der Kult des äußeren Scheins, die Inauthentizität. Das Andenmonster: Pedro Alonso López, ein um 1978/80 berüchtigter Serienmörder junger Mädchen in Ecuador, Peru und Kolumbien. Stierkämpferin: Anita Bermeo, eine Geistesgestörte, die durch Fotografen wie Luis Mejía, Maler wie Ramiro Jácome, Autoren wie Vásconez berühmt wurde. Kopfgeldjäger: nach dem Erscheinen von Páez’ Roman gedrehter Film El Caza Recompensas, USA 2010. Originaltitel The Bounty Hunter, Regie: Andy Tennant. Zwei glorreiche Halunken, Span. Titel: El bueno, el malo y el feo: Film Il buono, il brutto, il cattivo, Italien 1966, Regie: Sergio Leone, mit Clint Eastwood, Musik von Ennio Morricone.

Zitierte Werke und vorhandene Übersetzungen: Juan Bautista Aguirre, Breve diseño de las ciudades de Guayaquil y Quito (langes Gedicht, in Dezimen), Zeit der Aufklärung. Charles Baudelaire, „À une mendiante rousse“, aus : Les Fleurs du Mal, 1857, „Die Blumen des Bösen“, Übers. Friedhelm Kemp, 1997 : dtv, Übers. Else Laker-Schüler und Fr. Kemp, 1997, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luis A. Martínez, A la Costa, Roman 1904. Jorge Icaza, Huasipungo, 1934. „Huazi-Pungo. Ruf des Indios“ Übers. Paul Zech, 1952, Rudolfstadt: Greifenverlag. „Huasipungo“, Übers. E[rnst] Bluth, 1955, Frankfurt a.M.: Gutenberg. „Huasipungo“, Übers. Susanne Heintz, 1978, Bornheim: Lamuv „Huasipungo, Unser kleines Stückchen Erde“, Übers. Susanne Heintz, überarb. Ausg., Bornheim: Lamuv 1981 und 1988, Göttingen: Lamuv 1994. Ders., El chulla Romero y Flores, 1958. „Caballero im geborgten Frack“, Übers. Horst Teweleit, 1965, Berlin: Volk und Welt, 1968, Berlin/Weimar: Aufbau, 1984, Bornheim: Lamuv. Javier Vásconez, Angelote amor mío, 1983. Ders., El secreto, 1996. Ders., El viajero de Praga, 1996. Abdón Ubidia, Ciudad de invierno, 1979. Ders., Sueño de lobos, 1986. Ders., La madriguera, 2004. Santiago Páez, Crónicas del breve reino, 2006 (= vier Romane). Angaben zu Übersetzungen ins Deutsche ergänzt mit freundlicher Hilfe von Klaus Küpper.

27 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Raum der Erinnerung Die Capilla del Hombre von Osvaldo Guayasamín

A

VON

GERT EISENBÜRGER

ls ich vor einigen Jahren Quito besuchte, hat mir an der Stadt vieles gefallen. Das historische Zentrum mit seinen barocken Kirchen, Klöstern und Plätzen, die Parks, das sonntägliche kulturelle Angebot auf den Straßen der Altstadt, einige Kneipen und vor allem der nette, unaufdringliche Charme der Quiteños/as. Aber ein Ort hat mich mehr als alles andere fasziniert: Eine Kirche der anderen Art, die Capilla del Hombre, die „Kapelle des Menschen“ von Osvaldo Guayasamín. Der 1919 in Quito geborene Guayasamín war zweifellos der bedeutendste bildende Künstler Ecuadors im 20. Jahrhundert, viele kritische LateinamerikanerInnen sehen in ihm einen der größten Maler des Subkontinents. Die Beliebtheit Guayasamíns hat sicher viel mit seinem unverwechselbaren kraftvoll-expressiven Stil zu tun. Die Bilder des populären Kolumbianers Fernando Botero kann man nett finden, ein Attribut, das man bei Guyasamíns Gemälden beim besten Willen nicht verwenden kann. Sie packen einen oder man lehnt sie ab. Mehr noch als sein Stil faszinieren viele Menschen die Inhalte seiner Bilder: Sein großes Thema ist der leidende Mensch. Die Menschen leiden bei Guayasamín aber nicht einfach so oder weil die Natur es so eingerichtet hat, sie leiden, weil sie unter Gewaltverhältnissen leben, die immer wieder Menschenopfer verlangen, die Menschen verfolgen, foltern und ermorden. Osvaldo Guaysamín war ein Linker und ein Atheist. Gleichzeitig faszinierten ihn Kirchen und Kapellen als Orte, an denen die Christen ihrer Verstorbenen und Märtyrer gedachten. Irgendwann reifte bei ihm der Entschluss, selbst eine Kirche zu errichten, eine Kirche, die nicht einem Gott oder einem/r Heiligen gewidmet ist, sondern den Menschen, besonders den Menschen, die zu Opfern wirtschaftlicher Interessen und politischer Unterdrückung wurden. So entstand sein Projekt der Capilla del Hombre. Der Grundstein für die Capilla wurde 1995 gelegt. Ihre Eröffnung am 29. November 2002 hat Osvaldo Guyasamín leider nicht mehr erlebt: er war am 10. März in Baltimore an einem

28 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Herzinfarkt gestorben, während er zur Behandlung eines Augenleidens in den USA weilte. Die Capilla del Hombre liegt im höher gelegenen Stadtteil Bellavista. Von dem Plateau, auf dem die Capilla errichtet ist, hat man einen sehr schönen Blick auf das Panorama von Quito. Das Gebäude selbst ist ein riesiger Steinquader ohne Fenster. Einzige natürliche Lichtquelle ist eine Glaskuppel. Im Innern gibt es zwei Etagen, eine auf dem Niveau des Eingangs, die andere im Kellergeschoss. Hier sind die großen Wandgemälde Guayasamíns ausgestellt, vor allem Bilder aus seinen großen Zyklen Huacayñán (Der Weg der Tränen) und La Edad de la Ira (Das Zeitalter des Zorns), dazu seine Portraits der „Gesichter Amerikas“ und verschiedene Einzelgemälde und Skulpturen, die auf die präkolumbianischen Kulturen Amerikas verweisen. Die großformatigen Bilder der Zyklen erinnern an die Opfer der Conquista, des Sklavenhandels, des Nationalsozialismus, der Kriege in Algerien und Vietnam, der Militärdiktaturen Lateinamerikas, des Aufstands in Nicaragua und immer wieder an diejenigen, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse niedergedrückt werden. Aber es werden nicht nur Opfer und Leid gezeigt. In den „Gesichtern Amerikas“ begegnen uns Portraits hoffnungsvoller Menschen aller Generationen, Ethnien und Hautfarben. Auch hier steht die Capilla del Hombre in der Tradition einer Kirche, in der Leid und Tod ebenso ihren Ort haben wie Hoffnung und Auferstehung. Als der Komponist Hans Werner Henze sein Requiem vollendet hatte, wurde er gefragt, warum er als Marxist ein Musikstück komponiert habe, das die Form eines christlichen Trauergottesdienstes habe. Er antwortete darauf, das Requiem sei in unserer Kultur eine Form, in der der Abschied von Verstorbenen zelebriert werde, gleichsam der Code, um Trauer und Hoffnung zum Ausdruck zu bringen, auch für Menschen, die nicht religiös sind. In diesem Sinne ist auch Osvaldo Guaysamíns Kapelle in einem katholischen Land wie Ecuador und einem Kontinent wie Lateinamerika die adäquate Form, einen weltweit einmaligen Raum der Erinnerung zu schaffen. ◆

www.capilladelhombre.com/


Lágrimas de sangre – Blutige Tränen aus dem Zyklus La edad de la ira (Das Zeitalter des Zorns). Gewidmet Salvador Allende, Pablo Neruda und Víctor Jara

29 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Rock im Park Die Rock- und Heavy-Metal-Szene aus Quito kämpft um Anerkennung

Bis vor kurzem wurde die Rockszene in Ecuador stark diskriminiert. Sie führte ein Schattendasein, und es gab kaum geeignete Räumlichkeiten, in denen die Gruppen auftreten konnten. Als im April 2008 in Quito in einem viel zu kleinen Club ohne Notausgänge ein Feuer ausbrach, kamen 19 jugendliche BesucherInnen eines Rockkonzerts in den Flammen um. Danach begann in Politik und Stadtverwaltung ein Umdenken. Konzerte können nun auch in öffentlichen Räumen wie Parks und Plätzen stattfinden. Inzwischen gibt es sogar eine jährliche Rock-Woche mit Konzerten in Quito und anderen Städten. Doch die rockeros suchen weiter nach Anerkennung und Räumlichkeiten, um ihre Konzerte zu veranstalten. Die einstige anti-establishment-Bewegung tritt nun auch in öffentliche Diskussionen mit der Politik: mit Erfolg.

V

VON

ELA ZAMBRANO

or einigen Monaten kündigten Plakate in den Bars von Quito ein außergewöhnliches Konzert an – für jeden rockero, der etwas auf sich hält, ein absolutes Muss: Ángeles del Infierno (Engel der Hölle) aus Spanien und die ecuadorianischen Bands Basca und Bajo sueños (Unter Träumen). Auch der ecuadorianische Himmel spielte mit, denn es regnete an diesem Tag trotz Regenzeit nicht. Vor tausenden von rockeros in den Tribünen der Stierkampfarena begann um 21 Uhr eine Nacht, die sich zum Meilenstein in der Entwicklung des ecuadorianischen Metalls entwickeln sollte. Denn das Publikum wartete nicht nur auf die etablierte spanische Band Ángeles del Infierno, sondern machte und sang schon bei den beiden ersten Bands, Basca und Bajo Sueños aus Cuenca, einer der konservativsten Städte des Landes, fleißig mit. Vor 15 Jahren wäre ein Konzert von derartiger Qualität unvorstellbar gewesen, denn die meisten ecuadorianischen Bands waren bemüht, lediglich gute Covers zu spielen. Es gab nur sehr wenig eigenes Material, und die Königinnen im ecuadorianischem Musikspektrum waren die guayaquilenischen Bands Blaze und Demolition. Mittlerweile hat sich die Lage stark verändert, obwohl man den genauen

30 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Wendepunkt nicht bestimmen kann. Mittlerweile kennen die Fans nicht nur die Texte aller Lieder auswendig und feiern sie als ihre Hymnen, sondern die Bands haben auch politischen Anspruch und wollen als urbane Kultur respektvoll wahrgenommen werden. Lieder wie: Culpables (Die Schuldigen), Ándate (Hau ab) von Basca oder Nada de Amor (Keine Spur von Liebe) von Bajo Sueños und Campo de rosas (Rosenfeld) von Total Death, sind Beispiele für die neue Qualität, die die ecuadorianischen Bands im letzten Jahrzehnt erreicht haben. Sie haben den Weg für viele andere eröffnet, obwohl die meisten von ihnen weiterhin Eintagsfliegen bleiben. „Sie wissen, dass wir etwas zu sagen haben“, erklärt der Koordinator des Movimiento Al Sur del Cielo (Die Bewegung südlich des Himmels), Cristián Castro, der mit seinem Kollektiv die Rockwoche vorbereitete, die ebenfalls eine Diskussionsrunde beinhaltete: das Internationale Forum der rockeros.

W

as kann eine Stadt, die an Kolumbien grenzt und mitten im Amazonastiefland liegt, mit Rock anfangen? Anscheinend eine ganze Menge, auch wenn die Rockkultur vorurteilsbeladen immer noch als industrielle und urbane Kultur wahrgenommen wird: Vor einem Jahr fanden im Rahmen der Rockwoche auch Konzerte in Lago

Agrio statt, einer Stadt im ständigen Kampf gegen die Gewalt, die aus Kolumbien herüberdringt. Lago Agrio ist der größte Zufluchtsort für kolumbianische Flüchtlinge in Ecuador und ist stark von den amazonischen KichwaIndígenas geprägt. „Viele Menschen aus der indigenen Bevölkerung machen Rock und bringen ihre Sprache in die Rockkultur ein,“ meint Cristián Castro. Interessanterweise trugen die MetalFans trotz der Hitze in Amazonien ihre schwarze Kleidung und durchbrachen die Eintönigkeit auf der Plaza Central drei Tage lang mit Musik von lokalen Rockbands. Nur Resistencia de Quito (Der Widerstand aus Quito) stammte nicht aus der Region. Der größte Erfolg der Rockwoche war es aber, den Rock aus seinem Schattendasein zu befreien. Früher konnten die MusikerInnen ihre Veranstaltungen nur in kleinen Clubs oder in Garagen organisieren. Die Rockwoche 2009 fand in Guayaquil, Lago Agrio, Cuenca, Riobamba statt und wurde in Quito abgeschlossen. In diesem Jahr kommt auch die Stadt Coca, die ebenfalls im ecuadorianischen Distrikt Amazonía liegt, neu dazu.

D

ies alles ist eine Lektion aus der Tragödie im Factory Club in Quito, wo am 19. April 2008 eine Leuchtrakete einen Brand verursachte, der zum Tod von 19 Jugendlichen führte. Im Inneren fand gerade ein GothicrockKonzert statt. Die Veranstalter erklärten hinterher, dass der Laden nicht die Sicherheitsnormen erfüllt habe und die Notausgänge aufgrund der stürmenden Menschenmenge blockiert gewesen seien. Der Journalist Gustavo Abado schrieb diesbezüglich: „Diejenigen, die an diesem Nachmittag bei diesem GothicKonzert waren, ritualisierten in gewisser Weise ihren Ausschluss aus der Gesellschaft. Wahrscheinlich dachten sie, dass ihr Platz in dieser Welt ihre alleinige Entscheidung war. Aber sie bemerkten wahrscheinlich nicht, dass sie sich auch dort befanden aufgrund

Ela Zambrano Díaz ist Kommunikationswissenschaftlerin und Journalistin. Sie war Mitarbeiterin der Tageszeitungen El Universo und El Telégrafo sowie der Zeitschrift Tintají. Zur Zeit ist sie Mitarbeiterin des Parlamentsabgeordneten Virgilio Hernández von der Alianza PAIS. • Übersetzung: Oana Lefticariu


Muscaria: Discriminación

der Besessenheit des Systems, die Individuen zu kategorisieren, um sie zu verbannen oder einzusperren, wenn sie nicht die Regeln befolgen.“ Cristián Castro erklärt, dass eine der wichtigsten Fragen ist, wie man passende – akustisch geeignete und sichere – Veranstaltungsorte findet; nicht nur für die Fans der Rockmusik, sondern für alle urbanen Kulturen, die ebenfalls diskriminiert werden. Er fügt hinzu, dass der erste öffentliche Part bereits gewonnen ist und sich in der neuen Verfassung im Artikel 11 Absatz 2 findet: „Alle Menschen sind gleich und erfreuen sich gleicher Rechte, Verpflichtungen und Möglichkeiten.“ Keiner dürfe diskriminiert werden aufgrund von Ethnie, Alter, Geschlecht, Religion, politischer Orientierung, sozioökonomischer Situation, migratorischem Hintergrund, sexueller Orientierung, Gesundheitszustand, HIVInfizierung, Behinderung oder sonstiger Unterschiede und Orientierungen. Dies gelte auch für die rockeros und der Staat habe dies zu gewährleisten. Nach der Tragödie im Factory Club hatte die Rockszene ein Problem: Sie hatte bis dahin nicht für öffentliche Freiräume gekämpft und es gab auch keine SprecherInnen, die ihre Interessen, ihre Identität und ihre Musik öffentlich verteidigen konnten. Wegen ihrer antiestablishment-Eintstellung kümmerten sie sich nicht um politische Debatten, die die indigene Bevölkerung oder schwule Gruppen nutzten, um ihre Rechte zu sichern. Als Ergebnis der guten Organisation in den letzten Jahren und mit etwas Glück ist Quito mittlerweile die erste Stadt, in der ein rockero Stadtrat wurde: Freddy Heredia. Er hat mit der Organisation einer Reihe von Treffen und Veranstaltungen im ganzen Verwaltungsbereich begonnen, um die Lage der Jugendlichen und deren Schwierigkeiten bei der Nutzung öffentlicher Räume zu thematisieren, genau wie ihre Probleme, sich Beachtung in den Programmen der Stadt zu verschaffen.

Discriminación !!! Conflicto violencia El perjuicio no cesa Te odian por ser blanco Te odian por ser negro ¿Por qué no podemos Mirar más profundo Ver lo que hay dentro Del corazón? Coro: Discriminación Por un color Discriminación Social condición En tus ojos Una apariencia Dan claro dato de tu violencia Discriminación !!! Conflicto violencia ... ¿No se dan cuenta que vamos más ... En involución? Discriminar crecer ciego en la indiferencia Pisotear a tu hermano sin pensar en las consecuencias Abre tus ojos únete ya Vamos familia juntemos toda la energía ahh !!!

„Die Mehrheit der rockeros sind junge Leute, genauso wie die Mehrheit der Hauptstadtbewohner“, sagte Heredia, nachdem er darauf hingewiesen hatte, dass die Stadt den Jugendlichen viele Steine in den Weg gelegt hat und ihnen den Zugang zu öffentlichen Plätzen verweigerte. In den Räumlichkeiten des ehemaligen Factory Clubs ist die Eröffnung eines interkulturellen Zentrums geplant, das nicht nur den rockeros als Treffpunkt dienen soll, sondern auch anderen Gruppen und Kulturen, denen es bisher an Orten fehlt. Die Nachfrage nach öffentlichen Plätzen ist schon jetzt ein Thema für die Politiker.

D

Diskriminierung Diskriminierung !!! Konflikt Gewalt Die Benachteiligung hört nicht auf Sie hassen dich, weil du weiß bist Sie hassen dich, weil du schwarz bist Warum können wir nicht tiefer schauen das sehen, was sich im Inneren befindet des Herzens Refrain: Diskriminierung Wegen einer Farbe Diskriminierung Sozialer Zustand In deinen Augen Ein Schein Zeigt ganz klar deine Gewalt Diskriminierung !!! Konflikt Gewalt ... Merken sie nicht, dass wir uns immer mehr ... zurückbilden? Diskriminieren, blind in der Gleichgültigkeit aufwachsen Auf deinem Bruder herumtrampeln, ohne an die Konsequenzen zu denken Öffne deine Augen und schließ dich endlich an Kommt schon Familie, vereinen wir all die Energie. ahh !!!

ie Rockszene wird inzwischen in Quito sichtbarer: In drei Einkaufszentren wurden auf Rock spezialisierte CD-Läden eröffnet, und die rockeros treten auch über Zeitschriften wie Telón de Acero und Darkness in Erscheinung. In nächster Zeit ist die Ausstrahlung einer auf Rock spezialisierten Sendung im staatlichen Fernsehen vorgesehen, während die Rocksendungen Prohibido prohibir (Verboten zu verbieten) und Zona del Metal (Metallzone) bereits heute einen festen Platz im ecuadorianischen Radio haben. In diesem Jahr haben 31 neue Rockgruppen ihre Teilnahme an der Rockwoche angekündigt, neben 32 bereits etablierten Gruppen wie Onírica, Curare, Chancro Duro, Juliet, Aztra, Narcosis, Muscaria und Resistencia. Ein gutes aktuelles Angebot. „Wir kommen von den Straßen, aus dem Kampf ums Überleben, wo wir gelernt haben, uns im Schatten zu bewegen, um Gefahren zu vermeiden“, sagt Freddy. Er unterstreicht, dass die Welt der Langhaarigen bereits alles durchgemacht hat. Angefangen von der Intoleranz eines ExPräsidenten der Republik, Abdalá Bucaram, der die Polizei dazu angehalten hatte, rockeros festzunehmen und ihnen die Haare abzuschneiden, bis hin zum heutigen offeneren politischen Bewusstsein aller politischen Akteure. ◆

ÜBERSETZUNG: FREDERIK CASELITZ

31 http://ecuadormetal.blogspot.com/2010/04/angeles-del-infierno-en-ecuador.html http://alsurdelcielo.net/ • http://telondeacero.com/index.php

i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Die Witwen des alten Jahres Das Travestieritual in Quito bricht die sexuelle Ordnung und erhält sie dennoch aufrecht Quito, die Haupstadt von Ecuador, verfügt über eine Unmenge von Legenden, Traditionen und Gebräuchen, die das tägliche Zusammenleben der Menschen in der Großstadt bereichern. Eine dieser Traditionen ist es, am 31. Dezember eines jeden Jahres die „Verbrennung des alten Jahres“ zu feiern; ein Ritual, das in fast allen Teilen der Stadt zu sehen ist. Quito ist auch als konservative Stadt bekannt, wo die Moralität aus jeder Pore der Einwohner dringt und die sozialen und sexuellen Rollen präzise festgelegt sind. Die sexuelle Vielfalt bleibt meistens unbeachtet. Doch gerade die Gastfreundschaft dieses traditionellen Festes führt zu einem Riss in dieser scheinbaren Normalität.

I

VON

LORIA MINANGO NARVÁEZ

F OTO : G ERT EISENBÜRGER

n der Zeremonie der Verbrennung des alten Jahres kommen drei Personen vor: el año viejo, das alte Jahr, das aus nichts anderem besteht als einer Puppe aus alten Lappen, die mit Papierkugeln und Holzspänen gefüllt ist und der alte Klamotten und Schuhe angezogen werden. Sie stellt das lebendige Abbild eines alten Menschen in den letzten Stunden seines Lebens dar. Die Maske ist ein unentbehrliches Detail, um der Puppe eine Identität zu geben. Sie kann einen bekannten Künstler oder Politiker abbilden oder ist einfach

ein Gesicht, das nur für diesen Anlass hergestellt wurde. La Viuda, die Witwe, verkörpert die Frau, die über den absehbaren Tod ihres geliebten Gatten, des alten Jahres, weint. Ein Mann, verkleidet als Frau mit übergroßen Brüsten und Hintern (aus Gummi), einem winzigen Minirock und einem tiefen Ausschnitt, der „ihre Eigenschaften“ zur Schau stellt. Die letzte Person, und nicht minder wichtig, ist el público espectador, der öffentliche Zuschauer, der die Verbindung herstell und den Dialog zwischen beiden moderiert. In Straßen und Alleen der Stadt wird der reguläre Verkehr unterbrochen, damit sie mit bunten angefertigten Girlanden geschmückt werden können. Auf den bemalten Papieren sind erdachte Szenarien dieser Personen zu sehen. Am 31. Dezember vormittags beginnt der Aufbau der Bühne, auf der das alte Jahr ausgestellt wird. Sie besteht aus einem Holzgerüst, die Wände sind mit Plastikfolie oder Tüchern verhüllt. Ein Dach aus Kunststoff soll vor eventuellem Regen schützen (ab Dezember herrscht in Ecuador Regenzeit – die Red.). Als Beleuchtung reicht ein Scheinwerfer, der das alte Jahr und seine letzten Stunden der Agonie im Halbschatten lässt. Die Musik ist für das Fest von besonderer Bedeutung. Noch bevor die Leute über die Details beim Verbrennen des alten Jahres diskutieren, kann man fröhliche Rhythmen mit witzigen Texten hören, die Anspielungen auf das Ende des Jahres machen, um die Teilnehmer anzustacheln. Zum Beispiel kolumbianische Cumbias über Erinnerung: „Ich vergesse das alte Jahr nicht, denn es hat mir einige sehr gute Dinge hinterlasen... mich hat eine Ziege verlassen,... eine alte Eselin, ... eine zahme Stute und eine gute Schwiegermutter.“ Diese Refrains hört man Tag und Nacht.

32 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

An Silvester werden die viejos, die das alte Jahr symbolisieren, verbrannt

Die viuda (Witwe), die um ihren Gatten, das alte Jahr, trauert


F OTO : B ILL H ERNDON

Wenn die Bühne aufgebaut ist, wird es Zeit, dass die Witwen ihr Ritual der Transformation beginnen. Die Männer suchen sich ihre Kleider in den Garderoben der Frauen. Es beginnt ein Wettbewerb um die Auswahl der Kleidung, die die sexuellen Attribute am deutlichsten heraushebt. Sie wählen Kleider mit Dekolleté, wenn es darum geht, die Brüste zu zeigen; enge Röcke, wenn sie es bevorzugen, die auslandenden Hintern zu betonen. Verpflichtend für alle Witwen ist es, ihre Beine zu zeigen, rasiert oder nicht, und Stöckelschuhe zu tragen, mit denen es den männlichen Witwen besonders schwerfällt, sicht fortzubewegen. Die Witwe des alten Jahres eröffnet der Homosozialität einen Freiraum, in dem sich, neben den Witzen, Gesten und der kodifizierten Sprache auch Erotik bietet: die Befreiung der Sinnlichkeit der Männer, die sich unter ihresgleichen travestieren. Dieser Freiraum entsteht in einer Gesellschaft, die Freundschaft, Kameradschaft und andere Formen der Sozialisation zwischen heterosexuellen Männern unterstützt. Die Männer, die sonst nicht diese Möglichkeiten haben, solche spontanen Beziehungen herzustellen, nutzen also das Ritual der Witwen des alten Jahres, um ihre Sinnlichkeit unter gleichen auszuleben. Um die Kosmetika aufzutragen, werden die Frauen um Hilfe gebeten, damit erprobte Hände diese Aufgabe erledigen. Aber es sind die Männer, die die Farbe und Menge des Makeups auswählen und anordnen. Die Witwen überschreiten in der karnevalistischen Zeremonie der Verbrennung des alten Jahres die räumlichen und geschlechtlichen Grenzen. Es wirkt, als ob die Travestie sie mit Vitalität und übergreifender Freude ausstattete, die sich auf alles überträgt, was sie auf ihrem Weg finden. Die Wege, die die Witwen ablaufen, beschränken sich nicht nur auf die Straßen in ihrem Viertel, sondern sie verlagern ihre Travestiegala und ihre historisch-ironische Fähigkeit, die Witwe des alten Jahres zu repräsentieren, auf viele verschiedene Orte. Die Travestie der Witwe wird im Rahmen des Festes als „normal“ angesehen und diese Vision wird fortgeführt, ohne die Identitäten der unterschiedlichen Geschlechter zu hinterfragen. Der Diskurs der Personen, die an dem Fest der Ver-

brennung des alten Jahres teilnehmen, stellt die Witwe in den Mittelpunkt, indem diese theatralische Person als „Seele des Festes“ wahrgenommen wird. Diese Vision findet sich tief verwurzelt in den Gedanken der Teilnehmer, die über die Grenzen dieser Perspektive nicht hinaussehen können oder wollen.

D

ie Witwe des alten Jahres wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln gesehen, von der Sicht als kulturelle Persönlichkeit, die traditionell das Fest animiert, bis hin zur homophoben Wahrnehmung, die dieser Persönlichkeit zugrunde liegt. Für die Familien, die die Verbrennung des alten Jahres zelebrieren, ist die Witwe die kulturelle Person, die sich in eine Tradition verwandelt hat, da dieser Brauch von Generation zu Generation vererbt wird. Die homosexuellen Männer, die ihre Travestie in den Straßen ausleben, werden jedoch anders wahrgenommen. Ihre Zeremonie wird als Vergehen an der Tradition der Witwe gesehen. Zwar können alle verkleideten heterosexuellen Männer Witwen sein, doch nicht die homosexuellen, über die man sich im Zusammenhang des Festes lustig macht. Es gibt einen starken Widerstand dagegen, auch Homosexuelle als Witwen anzuerkennen. Die Travestie der Witwen zeigt wichtige theoretische Problemstellungen des Geschlechtes. Die Witwen bleiben im hegemonialen Modell gesellschaftlich akzeptiert und unterstreichen ein ums andere Mal ihre Männlichkeit, durch Gestik und Sprache. Sie sind vorsichtig, nicht die Grenzen zu überschreiten, die die Stereotype und auch ihre Männlichkeit erhalten. Die Persönlichkeit der Witwe des alten Jahres hat eine ambivalente Stellung innerhalb des heteronormativen Systems: Sie ermuntert einerseits dazu, etablierte Normen zu verwerfen, während sie gleichzeitig die bestehende Heteronormativität verstärkt. Die Übereinkünfte der sexuellen Ordnung finden sich in der Travestie, wo einerseits die Heterosexualität durch Gebrauch von Sprache und Gestik unterstrichen und gleichzeitig der schmale Grad, den die heterosexuelle Norm ihr gibt, überschritten und gebrochen wird. ◆

Übersetzung: Frederik Caselitz

33 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Zuflucht in Quito Lilo Linke und Paul Engel (Diego Viga) integrierten sich schreibend in Ecuador

Obwohl das am Pazifik gelegene Ecuador in Europa kaum bekannt war, wurde es 1938/39 als Asylland für verzweifelt nach Einreisevisa suchende Füchtlinge aus Nazideutschland und Österreich immer wichtiger. Denn in Lateinamerika hatten nur Bolivien, die Dominikanische Republik und eben Ecuador keine Restriktionen gegen die Einwanderung europäischer Juden und Jüdinnen erlassen. Die Entscheidung, wer das begehrte Visum erhielt, lag im Ermessen der ecuadorianischen Diplomaten in Europa. So war Konsul Andrade in Hamburg ein ausgesprochener Antisemit, der jüdische Asylsuchende schikanös behandelte, während seine Kollegen in Amsterdam und Genua, Uteras und Gánara, sich den Asylsuchenden gegenüber freundlich und hilfsbereit zeigten. Andere ecuadorianische Diplomaten ließen sich die Visa teuer bezahlen. Zwischen 3500 und 4000 Flüchtlinge aus Europa fanden bis 1942 Aufnahme in Ecuador. Der größte Teil ließ sich in Guayaquil und Quito nieder, wo sie sich meist als kleine Gewerbetreibende oder Angestellte über Wasser hielten. Nach Quito kamen mit Lilo Linke und Paul Engel zwei interessante und überaus produktive AutorInnen, die der folgende Beitrag vorstellt.

L

VON

GERT EISENBÜRGER

ilo (Lieselotte) Linke wurde 1906 in Berlin geboren. Ihr Vater war ein kleiner Angestellter, beide Eltern waren konservativ und kaisertreu. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die Revolution erlebten sie als bedrohlich. Sie waren von wirtschaftlichen Abstiegsängsten geplagt, wofür sie die Juden und Lilo Linke in den 30er Jahren „Roten“ verantwortlich machten, mit der Weimarer Republik konnten sie wenig anfangen. Also genau jenes kleinbürgerlich-nationalistische Milieu, in dem der Nationalsozialismus bald seine wichtigste Basis finden sollte. Das galt auch für die Familie von Lilo Linke. Ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder sympathisierten

34 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

bereits vor 1933 mit den Nazis, während sie sich völlig anders entwickelte. Sie begann 1923 eine Lehre in einer Buchhandlung. Dort sprach sie ein Kollege an, ob sie nicht der Angestelltengewerkschaft beitreten wollte. Obwohl sich diese als „unpolitisch“ verstand und von den sozialdemokratischen Arbeitergewerkschaften abgrenzte, begann dort für Lilo Linke eine Politisierungsphase. 1926 schloss sie sich den Jungdemokraten, der linken Jugendorganisation der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), an. Als die ursprünglich linksliberale DDP immer weiter nach rechts rückte, gehörte sie 1930 zu den Gründungsmitgliedern der linksbürgerlichen Radikaldemokratischen Partei. Nach deren Scheitern trat sie 1932 in die SPD ein. Zwar hatte sie schon bei den Jungdemokraten links von der SPD gestanden, zur Politik der KPD hatte sie aber noch größere Widersprüche. Nach der Machtübernahme der Nazis emigrierte Lilo Linke im Mai 1933 nach London. Sie war offensichtlich sehr sprachbegabt. Obwohl sie bei ihrer Ankunft nur wenig Englisch sprach, begann sie bereits nach einem Jahr in dieser Sprache zu publizieren. 1934 erschien ihr erster englischsprachiger Roman Tale without end (Geschichte ohne Ende). Relativ große Aufmerksamkeit erregte ihr zweiter Roman Restless Flags (Rastlose Fahnen), der 1935 herauskam. 2005, also siebzig Jahre später, erschien er unter dem Titel „Tage der Unrast“ in der Bremer „edition lumière“ erstmals auf deutsch. Es ist ein erfrischend geschriebenes und äußerst aufschlussreiches Buch über das Kleinbürgertum in der Weimarer Republik und dessen Anteil an deren Scheitern. Die 1918 gerade mal zwölf Jahre alte Ich-Erzählerin erlebt die Jahre bis 1933 mit einem immer klarer werdenden politischen Blick. Wie wenige andere Bücher vermittelt „Tage der Unrast“, wo die enormen Defizite des ersten Versuchs einer Republik in Deutschland lagen und wie wenig er in weiten Teilen der Bevölkerung verankert war. Dies mag auch den Erfolg dieses Buchs einer jungen unbekannten Autorin im englischsprachigen Raum erklären: Es verdeutlichte besser als viele Bücher arrivierter AutorInnen den Erfolg der Nazis im Land der „Dichter und Denker“. Ein Beispiel für die außergewöhnliche Bereitschaft Lilo Linkes, sich auf neue Dinge einzulassen, war ihr nächstes Projekt: Im März 1935 reiste sie für mehrere Monate alleine in die Türkei, um den unter Mustafa Kemal (Atatürk) eingeleiteten Reformprozess zu verfolgen. Darüber veröffentlichte sie 1936 das Buch Allah Dethroned (Allah entthront). Ein


Jahr später erschien Cancel all vows (etwa: Verabschiedet Euch von allen Gewissheiten), ihr letzter englischsprachiger Roman, der in der Emigrantenszene in Paris spielt. Im Mittelpunkt stehen auf der einen Seite Julius Bergmann, der am Exil verzweifelt und sich schließlich umbringt, und auf der anderen Seite Marthe Jansen, die sich behauptet und Pläne für die Zukunft schmiedet. Dazu gehört, dass sie nach Lateinamerika übersiedeln will. Auch Lilo Linke bereitete ihre Ausreise nach Lateinamerika vor. Während die dortigen Exilländer für die meisten Flüchtlinge eher eine Notlösung waren, die oft erst erwogen wurde, wenn sich die Hoffnung auf ein USVisum zerschlagen hatte, wollte Lilo Linke explizit nach Lateinamerika. Nachdem sie im Juni 1939 in Panama an Land gegangen war, bereiste sie Venezuela, Kolumbien, Peru, Bolivien und Ecuador. In Quito ließ sie sich schließlich nieder, wo sie sich anfangs durch Englischunterricht mühsam finanzierte. Da sie ebenso schnell Spanisch wie vorher Englisch lernte, begann sie nach ein/zwei Jahren erste journalistische Texte zu schreiben, wovon sie aber erst ab Anfang der fünfziger Jahre leben konnte. Besonders faszinierte sie die Kultur der Indígenas, sie war aber auch schockiert über die elenden Bedingungen, in denen die große Mehrheit der UreinwohnerInnen lebte. Fast jeden Sonntag besuchte sie ein Dorf in der Nähe von Quito. Dort organisierte sie Alphabetisierungskurse und Schulungen in Hygiene und Gesundheitsvorsorge und lernte Ketschua, was völlig ungewöhnlich war: Außer einigen Missionaren und Linguisten kam es damals kaum Weißen in den Sinn, sich mit indigenen Sprachen zu beschäftigen. Kurz vor Kriegsende erschien ihr bereits 1940 fertiggestelltes Buch Andean Adventure : A Social and Political Study of Columbia, Ecuador and Bolivia in London. 1946 brach sie zu einer längeren Reise nach Europa auf, vorher nahm sie noch die ecuadorianische Staatsangehörigkeit an. In England besuchte sie Bekannte und erneuerte ihre Kontakte zu britischen Verlagen, in Paris war sie einige Monate bei der UNESCO tätig. Zurück in Quito, intensivierte Lilo Linke ihre sozialarbeiterische Tätigkeit. Nun organisierte sie auch Hygienekurse in Armenvierteln, wobei sie das Medium Puppenspiel benutzte. Unterstützt wurde sie dabei von der Studentin Lia Graciela Aguirre, mit der sie später bis zu ihrem Tod zusammenlebte. Anfang der fünfziger Jahre wurde sie feste Mitarbeiterin der in Quito neu gegründeten Tageszeitung El Comercio. Sie unternahm verschiedene Reisen, über die sie neue Bücher veröffentlichte, so Magic Yucatan oder Viaje por una revolución über Bolivien, das sie nach der Revolution von 1952 besuchte. 1954 veröffentlichte sie das Buch Ecuador – A Country of Contrasts, das bis in die siebziger Jahre ein Standardwerk an britischen Universitäten blieb und bei Oxford University Press mehrmals neu aufgelegt wurde. Anfang der sechziger Jahre reiste sie als erste Journalistin tief in die Amazonasregion Ecuadors, worüber sie im Buch People of the Amazon berichtete. Neben ihren Buchpublikationen in Großbritannien und Ecuador stand die journalistische Arbeit für El Comercio im Mittelpunkt ihres Schaffens. Dort veröffentlichte sie zwischen 1951 und 1963 über 2000

Artikel und Reportagen. Unter kritischen Intellektuellen wurde sie dafür geschätzt, während der konservative Präsident Velasco Ibarra 1952 erklärte, „diese Fremde sollte man aus dem Land werfen“. 1963 reiste Lilo Linke wieder nach Europa. Auf dem Flug von Athen nach London verstarb sie am 27. April 1963, erst 56jährig, nach einem Herzanfall. Kurz vor ihrem Tod hatte sie das deutschsprachige Jugendbuch „Wo ist Fred“ fertiggestellt, das posthum erschien. Die Hauptperson, der 18jährige Fred, kommt nach dem Krieg aus Berlin zu seiner Tante nach Ecuador. Weil ihn deren übertriebene Fürsorge nervt, beschließt Fred, abzuhauen und in den Anden einen Inkaschatz zu suchen, auf dessen Existenz er in einem historischen Buch gestoßen war. Zunächst wird er aber wegen eines Verkehrsunfalls festgenommen und landet kurzzeitig im Gefängnis. Dort lernt er den Indio Ignacio kennen. Fred hilft ihm mit etwas Geld aus, so dass er seine Geldstrafe bezahlen kann und freikommt. Zusammen fahren sie ins Heimatdorf Ignacios, der sich Fred gegenüber verpflichtet fühlt und ihn in seinem Haus aufnimmt. In den nächsten Kapiteln schildert die Erzählerin überaus spannend und sensibel die Lebensrealität und den Wertekodex der andinen Indígenas, auch unter dem Blickwinkel der Genderperspektive: Es wird sehr genau dargestellt, welche Aufgaben die Männer/Jungen und die Frauen/Mädchen haben. Auch wenn diese Welt Fred durchaus fasziniert, hat er weiterhin den Schatz im Kopf. Er überredet den skeptischen Ignacio und dessen Sohn David, ihn bei der Schatzsuche in einer unwegsamen Bergregion zu begleiten. Weil er trotz immer schwieriger werdender Bedingungen alle Warnungen der Indígenas ignoriert, verschuldet er schließlich den Tod Davids. Erst da wird ihm klar, was er mit seiner Gier nach Gold angerichtet hat. Er verlässt Ignacios Familie und fällt in tiefe Depression. Eher zufällig kommt er dann über Guayaquil in die vor allem von AfroecuadorianerInnen bewohnte Tieflandprovinz Esmeraldas, wo er als Angestellter auf einer Bananenplantage arbeitet. Wie schon bei den Passagen in dem Indígenadorf besticht die Erzählung auch hier durch ihre Darstellung der Lebenssituation und Kultur der Schwarzen im Tiefland. Ganz im Sinne des klassischen Entwicklungsromans wird Fred zunehmend geläutert und versucht, gegenüber der Familie Ignacios etwas von dem gutzumachen, was er ihr angetan hat. Eine so sensible jugendgemäße und gleichzeitig spannende Darstellung indigener und afroamerikanischer Lebensrealitäten habe ich bis dahin noch nie in Büchern aus dieser Zeit gelesen.

35 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


E

inen ganz anderen sozialen Hintergrund als Lilo Linke hat Paul Engel. Er wurde 1907 als Sohn eines jüdischen Textilunternehmers in Wien geboren. In dem aufgeklärt-liberalen Elternhaus wurde sehr viel Wert auf Kultur und Bildung gelegt. Nach dem Abitur begann er Medizin zu studieren und trat dem „Sozialistischen Studentenbund“ bei. Im Studium galt sein Interesse der Forschung, sein Fachgebiet wurde die EndokriDiego Viga in den 80er Jahren nologie (Hormonforschung). Seit April 1933 herrschte in Österreich der so genannte Austrofaschismus unter den Kanzlern Dollfuss (1933-34) und Schuschnigg (1934-38), ein katholisch-autoritärer Ständestaat. Der Austrofaschismus verfolgte nicht nur Kommunisten und Sozialdemokraten, er verbot auch die NSDAP. Zwar gab es keine judenfeindlichen Gesetze, trotzdem bekamen jüdische Wissenschaftler kaum noch Stellen an Hochschulen. Da er wissenschaftlich arbeiten wollte, ging Paul Engel 1935 an ein Forschungslabor in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo, kehrte dann aber aus familiären Gründen zurück. Nach dem erzwungenen Anschluss Österreichs an Nazideutschland im März 1938 verließen Paul Engel und seine Frau Josefine Wien endgültig und emigrierten nach Kolumbien. Dort vertrat Engel ein ungarisches Pharmaunternehmen, hielt Vorlesungen an der Universidad libre in Bogotá und begann literarisch zu schreiben. Dafür wählte der begeisterte Bergwanderer ein Pseudonym, das er den unweit von Bogotá gelegenen Bergen Largodiego und Viga entlehnte: Diego Viga. In seinem ersten Roman „Die Parallelen schneiden sich“ verarbeitete er seine Erfahrungen mit den verschiedenen Varianten des Faschismus in Europa und die Flucht nach Kolumbien. ProtagonistInnen des Buchs sind sieben Leute aus dem jüdischen Bürgertum in Berlin und Wien Anfang der dreißiger Jahre, wobei der Mediziner Johannes Kramer, der in mehreren seiner Romane auftritt, stark autobiografische Züge trägt. Der Roman ist so konstruiert, dass alle Personen als Ich-Erzähler wechselnd ihre Wahrnehmung bestimmter Ereignisse oder Entwicklungen darstellen. Die LeserInnen erleben den Aufstieg der NSDAP in Deutschland und deren Machtübernahme, die sofort massive Folgen für die Berliner ProtagonistInnen hat, das erstickende Milieu des Austrofaschismus in Wien und danach den Terror des ungleich brutaleren Nationalsozialismus auch in Österreich. Vor allem erfahren sie, wie unterschiedlich die Personen auf die wachsende Gefahr reagieren und welche Entscheidungen diese ihnen abverlangt. Am Ende gelingt fünf von ihnen die Flucht nach Kolumbien, einer begeht Selbstmord, ein anderer wird im Konzentrationslager ermordet. Ein starker Roman, den Viga nach der ersten Niederschrift Anfang der vierziger Jahre immer wieder verändert und korrigiert hat, ehe er 1969 im

36 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100

Leipziger List-Verlag erschien. Im Roman „Das verlorene Jahr“ schrieb Diego Viga später die Geschichte der ProtagonistInnen bis in die siebziger Jahre fort. 1940 war er im Auftrag eines US-amerikanischen Unternehmens erstmals in Ecuador. Über seine Ankunft dort schrieb er „Das Flugzeug stieg gewaltig hoch – der Berge wegen – und kam dann den Felsen bedenklich nahe, als wir in Quito landeten. Am 24. Januar 1940 kam ich zum ersten Mal auf den Flugplatz... Der war damals eine Weide, von der die Kühe und Pferde weggejagt werden mussten, wenn eine Maschine landen sollte, und hatte bloß ein sehr bescheidenes Stationshäuschen... Mein erster Eindruck: aufragende Berge und ein bezopfter Indianer. Niemals zuvor hatte ich einen Mann mit einem Zopf gesehen.“ (zit. nach Felden, 1987, S. 89) Doch zunächst war es nur ein Besuch in Quito. Die Engels blieben in Bogotá. Dort engagierten sie sich im Antifaschistischen Club, einem Zusammenschluss linker EmigrantInnen. Hier lernte Engel den Dichter Erich Arendt kennen, einen alten Kommunisten, der in Spanien in den Internationalen Brigaden gegen Franco gekämpft hatte. Arendt wurde für den Schriftsteller Diego Viga so etwas wie ein Mentor, der ihn stark beeinflusste. Ende der vierziger Jahre fühlten sich Paul und Josefine Engel in Bogotá zunehmend unwohl, vor allem aufgrund der politischen Entwicklungen und beruflicher Enttäuschungen. Am 9. April 1948 war der linksliberale Präsidentschaftskandidat Jorge Eliécer Gaitán in Bogotá ermordet worden, der bei Engels Ankunft in Kolumbien Rektor der Universidad libre gewesen war und ihn eingeladen hatte, dort zu lehren. Gaitán verkörperte die Hoffnungen vieler KolumbianerInnen auf einen sozialen Wandel. Nach seinem Tod kam es zu Unruhen, die vom Militär brutal niedergeschlagen wurden. Dabei wurden innerhalb weniger Tage über 3000 Menschen getötet. Die Ermordung Gaitáns markierte den Beginn des kolumbianischen Bürgerkriegs, der bis heute andauert. Die Engels erwogen, nach Wien zurückzukehren, entschieden sich aber schließlich für Quito. Nachdem er eine Zeitlang wieder als Vertreter für Pharmaunternehmen gearbeitet hatte, sogar kurzzeitig für eine Holzfirma tätig war, erhielt Paul Engel 1961 eine ordentliche Professur an der Universität Quito und eröffnete eine ärztliche Praxis. In Quito wurde er endgültig zum Schriftsteller Diego Viga, die Literatur wurde ihm ebenso wichtig wie seine medizinische Arbeit. Insgesamt hat er 17 Romane geschrieben, wovon 15 in der DDR erschienen sind, dazu Erzählungen, Theaterstücke und Sachbücher, die in Ecuador auf Spanisch herauskamen. Die in der DDR veröffentlichte Romane hat er alle auf Deutsch verfasst, einige aber später, als sich auch ecuadorianische Verlage für seine Bücher interessierten, selbst ins Spanische übersetzt. Mit wenigen Ausnahmen ist die Handlung seiner Romane in Kolumbien und Ecuador angesiedelt. Im Mittelpunkt stehen soziale und politische Konflikte. Dafür bedient er sich unterschiedlicher Genres. Kriminalgeschichten bilden etwa den Rahmen der 1957 und 1958 erschienenen Romane „Schicksal

Quellen: Neben den Büchern „Tage der Unrast“ und „Wo ist Fred“ habe ich mich bei Lilo Linke stark auf den biographischen Text von Karl Holl im Jahrbuch für Exilforschung 5 sowie Holls Nachwort zu „Tage der Unrast“ bezogen. Zu Diego Viga habe ich außer den mir vorliegenden Romanen hauptsächlich die Biografie von Dietmar Felden verwendet. Weitere Informationen habe ich der unter dem Titel „Wo liegt Ecuador?“ erschienenen Dissertation von Maria-Luise Kreuter entnommen.


unter dem Mangobaum“ und „Die Sieben Leben des Wenceslao Perilla“. In ersterem geht es um soziale Konflikte in der kolumbianischen Provinz, im zweiten um einen zwielichtigen Aufsteiger in Bogotá. Als Piratengeschichte angelegt ist „Die sonderbare Reise der Seemöwe“ (1964), in der die einzigartige Natur der Galapagosinseln eine große Rolle spielt. „Die Konquistadoren“ (1975) ist ein umfangreicher historischer Roman über die spanische Eroberung Amerikas, während „Der Freiheitsritter“ (1955) eine moderne Version des Don Quijote darstellt, in der die Verarbeitung der Ereignisse rund um die Ermordung Jorge Eliécer Gaitáns 1948 in Bogotá eine wichtige Rolle spielt. Die Ausbeutung Lateinamerikas durch ausländische Unternehmen und die dadurch hervorgerufene Ausbeutung der bäuerlichen und indigenen Bevölkerung ist das Thema der Romantrilogie „Der geopferte Bauer“ (1959), „Waffen und Kakao“ (1961) und „Die Indianer“ (1960). Im Roman „Weltreise in den Urwald“ (1979) setzt sich Viga vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte zweier Indígenas mit der „Nutzbarmachung“ und den Landkonflikten in der ecuadorianischen Amazonasregion auseinander. Im Vorwort warnte er bereits damals eindringlich vor den Folgen der Vernichtung der tropischen Regenwälder für das Klima. Diego Vigas Romane fanden in der DDR ein großes Publikum. Sein 1957 erstmals erschienener Roman „Schicksal unter dem Mangobaum“ erreichte eine Auflage von über 200 000 Exemplaren und wurde ins Polnische und ins Ungarische übersetzt. In Ecuador stand Diego Viga im Austausch mit anderen Autoren und kritischen Intellektuellen. Mit Jorge Icaza, dem wichtigsten ecuadorianischen Autor im 20. Jahrhundert, war er persönlich befreundet, ebenso mit Francisco Tobar García, dem Direktor des Teatro Independiente in Quito, das mehrere seiner Theaterstücke zur Aufführung brachte. Diego Viga/Paul Engel lebte 47 Jahre lang in Quito. Als er dort 1997 neunzigjährig starb, hinterließ er ein beeindruckendes wissenschaftliches und literarisches Werk, das leider in Vergessenheit zu geraten droht. Diego Viga geht es wie anderen SchriftstellerInnen, deren Bücher in der DDR erfolgreich waren. Ihre Verlage wurden übernommen oder abgewickelt, westdeutsche Verlage zeigen sich desinteressiert. Auch in seiner ursprünglichen Heimat Österreich gibt es kein Interesse, seine Bücher neu aufzulegen, wie der Schriftsteller Erich Hackl in einem sehr schönen Beitrag zu Vigas 100. Geburtstag in der Wiener Tageszeitung „Die Presse“ bitter konstatierte und weiter schrieb: „Ich finde, es gibt eine gesellschaftliche Verpflichtung, das Werk dieses Vertriebenen zur Kenntnis zu nehmen, zum Nutzen der Leser.“ Dem ist nichts hinzufügen. Oder vielleicht doch: Die Bücher Diego Vigas wie auch „Wo ist Fred“ von Lilo Linke sind antiquarisch (www.zvab.com oder www.amazon.de) preisgünstig erhältlich, Linkes Roman „Tage der Unrast“ ist über den Buchhandel lieferbar. Und die Sommerferien bieten viel Zeit zum Lesen. ◆

Bücher von Lilo Linke Tale without end, Roman, Verlag Constable & Co u. Alfred A. Knopf, London/New York 1934 Restless Flags, Roman, Verlag Alfred A. Knopf, New York 1935, deutsche Fassung: Tage der Unrast – Von Berlin ins Exil: ein deutsches Mädchenleben 1914-1933, edition lumière, Roman, Übersetzung: Dorothea Hasbargen-Wilke, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Karl Holl, Bremen 2005, 340 S., 22,50 Euro Allah dethroned, Verlag Constable, London 1936 Cancel all vows, Roman, Verlag Constable, London 1937 Andean Adventure : A Social and Political Study of Columbia, Ecuador and Bolivia, Hutchinson, London, vemutl. 1944 Magic Yucatan - A Journey Remembered, Hutchinson, London, 1950 Ecuador – Country of Contrasts, Royal Institute of International Affairs, London & New York 1954 Viaje por una revolución (Bericht über eine dreimonatige Bolivienreise im Jahre 1952), Casa de la Cultura, Quito 1956 People of the Amazon, Robert Hale, London 1963 Wo ist Fred, Roman, Blücher-Verlag, Hamburg 1965

Biographie Karl Holl: Lilo Linke (1906-1963) – Von der Weimarer Jungdemokratin zur Sozialreporterin in Lateinamerika, Materialen zu einer Biographie, in: Exilforschung – Ein internationales Jahrbuch, Band 5, Edition Text + Kritik, München 1987, S. 68-89

Bücher von Diego Viga Der Freiheitsritter, Roman, List-Verlag, Leipzig 1955 Schicksal unterm Mangobaum, Roman, List, Leipzig 1957 Die sieben Leben des Wenceslao Perilla, Roman, List, Leipzig 1958 Der geopferte Bauer, Roman, List, Leipzig 1959 Die Indianer, Roman, List, Leipzig 1960 Waffen und Kakao, List, Leipzig 1961 Die sonderbare Reise der Seemöwe, Roman, List, Leipzig 1964 Die Parallelen schneiden sich, Roman, List, Leipzig 1969 Station in Esmeraldas, Roman, List, Leipzig 1973 Die Konquistadoren, Roman, List, Leipzig 1975 Die Lose von San Bartolomé, Roman, List, Leipzig 1977 Weltreise in den Urwald, Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1979 Das verlorene Jahr, Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle/ Leipzig 1980 Aufstieg ohne Chance, Roman, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1982 Ankläger des Sokrates, Roman aus dem alten Athen, Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig 1987

Mehrere Romane Vigas erschienen in seiner eigenen Übersetzung auch auf Spanisch in Ecuador, darunter Las 7 vidas de Wenceslao Perilla, El Año perdido, Punto de salida – punto de llegada (Weltreise in den Urwald), La Viuda de Soto (Station in Esmeraldas). In Ecuador hat Viga zudem die Romane Eva Heller und Los Sueños de Candita, einen Erzählungsband und Sachbücher publiziert, die nicht auf Deutsch vorliegen. Neben den unter dem Pseudonym Diego Viga erschienenen Werken hat Paul Engel unter seinem Geburtsnamen zahlreiche medizinische Fachund Lehrbücher veröffentlicht. Biographie Dietmar Felden: Diego Viga, Hirzel-Verlag, BSB B.G. Teubner, Leipzig 1987

Zum Exil in Ecuador Maria-Luise Kreuter: Wo liegt Ecuador? Exil in einem unbekannten Land – 1938 bis zum Ende der fünfziger Jahre, Univ.-Diss., Metropol-Verlag, Berlin 1995

37 i l a 337 Jul Julii /Aug. 201 20100


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.