Hubertus Franzen
Candide Voltaire Buch 1
hubertus Franzen
Candide Voltaire Buch I
hubertus Franzen
Candide Voltaire Buch I
Impressum © 2013 edition-efm-voltaiere UG (haftungsbeschränkt) Meusdorferstraße 5, 04277 Leipzig www. editionvoltaire.com Coverabbildung: Uli Pforr, Hamburg Covergestaltung: Dipl. -Ing. Juliane Ehrlicher (FH), edition-efm-voltaire, Leipzig Herstellung: Dipl. -Ing. Juliane Ehrlicher (FH), edition-efm-voltaire, Leipzig ISBN 978-3-944657-01-1 Alle Rechte vorbehalten.
»Herr Professor Dr. Dr. Voltaire, ich darf Ihnen eine freudige Eröffnung machen.« Notar Dr. Wünschelroth ließ seine forschenden Augen über die trauernden Hinterbliebenen gleiten, mit einer Fermate die Spannung nochmals erhöhend: »Sie sind Haupterbe.« »Haupterbe?« Candide Marie Voltaire, im dreissigsten Jahr seines Lebens stehend, Professor der Sorbonne de Paris, der Ecole des Hautes Etudes Commerciales, HEC, und des College de France, schaute überrascht auf Notar Dr. Egon Wünschelroth, der seit mehr als dreißig Jahren in Münster in Westfalen beglaubigte, was die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zu beglaubigen zwingend erforderten, und, die Brille abnehmend, die Erbenden mit prüfenden Blicken bedachte. Dr. Egon Wünschelroth, Fraktionsvorsitzender der Christlich Demokratischen Union, Vorsitzender des Rotary-Clubs, des Kunstvereins, der Freunde und Förderer der Städtischen Bühnen, Mitglied des Opus Dei und weiterer kirchlicher Institutionen, straffte seinen von nicht gezählten Arbeitsessen aus der Form geratenen Körper, ein Lächeln nicht unterdrücken könnend, welches, dem Haupterben geltend, den Verwandten Candide Marie Voltaires nicht entgehen konnte. Dr. Egon Wünschelroth, nach Hochwürden Felix Genn, dem Diözesanbischof, doch vor Oberbürgermeister, Markus Lewe, die einflussreichste Persönlichkeit der Westfalen Metropole, wie allgemein geglaubt und behauptet, seine Augen auf dem erfolgreichen, durch sein Buch Nicht diesen Gott und seine Priester berühmt und berüchtigt gewordenen Sohn der Stadt des Westfälischen Friedens für Sekunden nachdenklich ruhen lassend, der in ihren Mauern am 12. September des Jahres 1980 geboren wurde, dem Jahr, in welchem Ronald Reagan Präsident der Vereinigten Staaten, Reinhold Messner den Mont Everest bezwang und Johannes Paul II. Deutschland und Münster in Westfalen besuchte, ihn sich als Ehemann seiner Tochter Christamaria, trotz der jeden Gläubigen empörenden Philosophie seines Weltbestsellers, ob Katholik, Lutheraner, Jude, Zeuge Jehovas, Muslim, Calvinist, plus tausend und einer evangelikanen Glaubensgemeinschaft, durchaus vorstellen könnend, wurde durch ein leichtes Hüsteln der in sein Notariat gekommenen Verwandten des Haupterben genötigt sich wieder dem Testament zuzuwenden, das Wort Haupterbe nochmals, doch nicht ohne Betonung wiederholend. »Ich kann es weder glauben noch fassen, Herr Wünschelroth.« Dies konnten auch die übrigen Anwesenden nicht, doch Frau Elfriede
7
Böckinghausen, sich Tante des Haupterben, des Lehrstuhlinhabers für Philosophie der Sorbonne de Paris, nennen dürfend, fasste sich von den Hinterbliebenen als erste: »Mein Gott, das ganze Vermögen der Erbtante an Monsieur Voltaire, den Geigenspieler? Unglaublich, doch man soll über Tote nichts Schlechtes sagen: Requies candit pace.« Notar Wünschelroth strafte die Sprecherin der abwertenden Worte mit tadelnden Blicken, war doch Frau Böckinghausen seine politische Gegnerin im Stadtrat der Metropole des schönen Münsterlandes. Noch in der vergangenen Woche hatte die SPD-Fraktionsvorsitzende die Wiederwahl des Generalintendanten der Städtischen Bühnen, Amadeus Müller-Steinbeisser, zu hintertreiben versucht, glaubend, nein sich anmaßend, seine, die wünschelrothsche Kulturpolitik hintertreiben zu können. Man lebte in Münster in Westfalen, wo alles die Ordnung zu haben hatte, die auf den Fundamenten des Glaubens, des katholischen seit Jahrhunderten, nicht nur vor und nach der Zeit der Wiedertäufer, den von Gott und seiner Kirche verlassenen, ruhte und geruht. »Gnädige Frau, ich verstehe Ihre Worte nicht. Ich verstehe sie vor allem nicht, wenn ich bedenke, dass Sie nicht nur Vorsitzende der SPD, nein, auch Sprecherin Ihrer Fraktion in kulturpolitischen Angelegenheiten sind. Sie sollten es darum begrüßen, wenn Herr Professor Dr. Dr. Voltaire in seinen Mußestunden Geige spielt, die liebe Verstorbene hat das Geigenspiel ihres Enkels immer zu schätzen gewusst, und nicht nur sein Geigenspiel.« Dr. Wünschelroth blickte erneut über die Brille auf die in Trauer in seine Kanzlei gekommenen Verwandten des weltberühmten Philosophen und Publizisten, des Professors der Sorbonne de Paris, die ihre Trauer über den Tod der Erbtante sichtlich abgelegt. »Ich kann es nicht fassen!« Frau Erna Dernekamp, mit großen Hoffnungen, die Höhe des Erbes betreffend, in die wünschelrothsche Kanzlei am Domplatz gekommen, wie auch Walburga Buldern-Düsterweg, ihre Schwester, mit Dr. Sebastian Buldern-Düsterweg, dem Hersteller von Zahnpasta, Toilettenpapier, Kondomen und weiteren Artikeln des täglichen Bedarfs verheiratet, der sich im Würgegriff des Vorstandes der Städtischen Sparkasse befand, der ihm keine weiteren Kredite mehr einzuräumen gedachte, musste zum Taschentuch ihre Zuflucht nehmen. »Wer mit Kondomen kein Geld verdient«, hatte der Vorsitzende des Städtischen Kreditinstitutes, Dr. Engelbert Müller-Wesendorf, ein enger Vertrauter des Diözesanbischofs, des Generalvikars, der Hochwürden des
8
Domkapitels und Herrn Wünschelroths getönt: »hat seine Kreditwürdigkeit restlos verspielt«. »Was können Sie nicht fassen?« Notar Wünschelroth blickte auf die Standuhr, unzweideutig andeutend, dass seine Zeit begrenzt, neue Termine zur Eile riefen. »Ich kann es nicht fassen, dass unsere Tante, die Schwester unserer Mutter, alles ihrem Enkel, Monsieur Voltaire vermacht haben sollte. Verzeihen Sie, Herr Wünschelroth, dass ich darüber in Tränen ausbrechen muss.« Frau Dernekamp, mit Professor Dr. Joseph Maria Dernekamp ehelich verbunden, den an der Universität des Münsterlandes katholische Theologie und Dogmatik lehrenden, selbst Benedikt XVI. als Thomas von Aquin Experte nicht unbekannt, brach so anhaltend in Tränen aus, dass Notar Wünschelroth sie mehrfach ermahnen musste sich bitte zu fassen, da zwar Professor Dr. Dr. Voltaire der Haupterbe seiner Großmutter, doch die liebe Verstorbene, Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling, die ehemalige Direktorin der Augenklinik der Westfälischen WilhelmsUniversität, habe an jede der Töchter ihrer Schwester Evelyn Birkelbach, geborene Schulze, in ihrer grenzenlosen Güte gedacht, und wenn Professor Dr. Dr. Voltaire, geboren in Münster in Westfalen, nicht nur die dreiundvierzig Wohn- und Geschäftshäuser seiner Großmutter, der Mutter seiner tödlich verunglückten Mutter, Isabell Sophie, erbe, sowie einundzwanzig Millionen Euro an Barvermögen, Aktien der Deutschen Bank, der Siemens AG, Mercedes, und der Airbus-Industrie, in Höhe von weiteren neunundachtzig Millionen Euro, dem Tageswert entsprechend, so bedeute dies nicht, dass die trauernden Anwesenden, die Töchter der Schwester der Dahingegangenen, mit leeren Händen seine Kanzlei am Domplatz verlassen müssten. Nach diesen wünschelrothschen Worten richtete sich auch Frau Elfriede Böckinghausen, die Frontfrau der SPD, innerlich wieder auf, denn es war das erste Mal, dass sie den Worten Wünschelroths, des Angela Merkel Adoranten, einen Sinn entnehmen konnte, war sie doch schon in der dritten Legislaturperiode die erbitterte Gegnerin des Beglaubigers letzter Willen, dies nicht nur im Stadtrat von Münster in Westfalen, nein, auch im Aufsichtsrat der Stadtsparkasse und des Fußballvereins Preußen Münster, der leider und Gott sei es es geklagt, weder als Konkurrent Borussia Dortmunds noch des FC Schalke 04 bezeichnet werden konnte, das Desaster für die Metropole des Münsterlandes.
9
»Nun, Herr Wünschelroth«, fast hätte sie, wie in den Ausschusssitzungen, das Wort Kollege verwendet, »was bleibt denn noch für meine Schwestern und mich übrig? Vielleicht dürfen wir dies im Laufe des Vormittags freundlicherweise aus Ihrem Munde noch erfahren.« Notar Wünschelroth lächelte mit der ganzen würdevollen Herablassung des Mannes, der in der Domstadt und über diese hinaus Weichen stellte, seine Exzellenz, den hochwürdigsten Bischof von Münster, Felix Genn, nicht nur in finanziellen Fragen beratend, nein, den selbst der Vorstandsvorsitzende der Städtischen Sparkasse, Dr. Müller-Wesendorf, mindestens dreimal in der Woche um Rat bat, denn Dr. Wünschelroth, der Fraktionsvorsitzende der Christlich Demokratischen Union, der glühende Bewunderer Angela Merkels, wusste auf nicht wenige der Müller-Wesendorfschen Fragen eine Antwort, im Aufsichtsrat der Städtischen Sparkasse den Vorsitz innehabend. »Aber sicher, gnädige Frau, denn das ist der Grund, warum mich die Erblasserin, Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling, als Testamentsvollstrecker eingesetzt.« Wünschelroth gestaltete freundlich lächelnd eine Fermate, um sodann, dem Ernst der Situation angemessen, fortzufahren: »Sie, Frau Böckinghausen, erben zehntausend Euro in bar und das Bild Christus auf dem Wege nach Emmaus von Anton N. Eickelborn, dem im vergangenen Jahr die Ausstellung im Kunstverein aus Anlaß seines siebzigsten Geburtstages gewidmet wurde. Ihre Tante, die treue Verstorbene, kaufte das Bild, welches zu den Spitzenobjekten der Ausstellung gehörte, und ich bin davon überzeugt, dass Sie glücklich sind, dieses Opus bald in Ihrem Haus an der Wand zu sehen.« Wünschelroth, der Vernetzte und Vernetzer, lächelte mit der ganzen Zuvorkommenheit eines Mannes, den der Erfolg nicht übermütig gemacht, und Frau Böckinghausen, die mit ihrer ganzen Redegewandtheit die Eickelborn-Ausstellung im Kulturausschuss bekämpft, eine JosephBeuys-Gedächtnis-Ausstellung durchsetzen wollend, vermied, ihre grenzenlose Enttäuschung über ihr Erbe in Worte zu kleiden, hatte sie doch nicht die Absicht, dem Christdemokraten Wünschelroth einen weiteren Triumph zu gönnen, nicht ohne gespielte Ironie über den Parteichristen hinweg auf den glücklichen Haupterben, Candide Marie Voltaire, den weltberühmten Autoren des Buches Nicht diesen Gott und seine Priester blickend, den Erben von dreiundvierzig Wohn- und Geschäftshäusern in Münster, Düsseldorf, München, Frankfurt, Berlin-Mitte, der Hafencity
10
von Hamburg, in Osnabrück, Warendorf und dem Marienwallfahrtsort Teltge, dazu den Wohnsitz seiner Großmutter, die ihn über alles geliebt, das Wasserschloss vor den Toren der Stadt, in welchem von 1644 bis 1649 Fabio Chigi, der Nuntius Papst Innonzenz X. in Köln residierte, der als Papst Alexander VII. von 1655 bis 1667 Stellvertreter Gottes auf Erden gewesen, dazu einundzwanzig Millionen an persönlichem Barvermögen seiner Großmutter, und Aktienpaketen, deren Nennwert der Berater des Diözesanbischofs mit neunundachtzig Millionen angegeben. Das Bild des Marienmalers von Teltge glaubte sie jedoch ohne die Hilfe Wünschelroths, des Merkel Adoranten bewerten zu können, auf den Betrag von geschätzten 500 Euro kommend, wenn sie denn das Bild verkaufe. Wer aber wollte ein Bild von Anton Nikodemus Eickelborn, den jährlich mindestens hundert Bilder mit biblischen Themen malenden Meister, aus ihrem Freundes- und Bekanntenkreis käuflich erwerben? Sie, die Vorsitzende des Stadtverbandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, SPD, Elfriede Böckinghausen, kannte niemanden, und auch ihr geschiedener Mann, der Politikwissenschaftler Dr. Alfons Maria Böckinghausen, Professor der Ruhruniversität Bochum, der, im Gegensatz zu ihr, weder einer der beiden Großparteien, noch FDP und Grünen geistig nahe stand, kannte nicht einen Bekannten oder Freund, der auf ein Eickelborn-Bild an der Wand blicke, auch Notar Wünschelroth, der Vorsitzende des Kunstvereins, konnte sich nicht rühmen eines der frommen Bildwerke des Künstlers Eickelborn aus dem Marienwallfahrtsort Teltge zu besitzen, Teltge, durch Günter Grass und seine Novelle Das Treffen in Teltge, auch in der Welt der Grass-Leser bekannt geworden. »Sind Sie sicher, Kollege Wünschelroth, dass ich die glückliche Erbin des Eickelborn Bildes bin? Ich hoffe, hier liegt ein Irrtum vor!« Frau Böckinghausen lächelte maliziös, auch Dr. Wünschelroth lächelte, doch mehr als flüchtig, an den nächsten Termin im Rathaus und an Markus Lewe, den Oberbürgermeister, denkend. »Ich kann Ihnen nur den letzten Willen der teuren Toten mitteilen, und ich lese: Das Gemälde Christus auf dem Wege nach Emmaus von Anton Nikodemus Eickelborn, aus dem Marienwallfahrtsort Teltge, erbt die Tochter meiner lieben Schwester Evilyn, Frau Elfriede Böckinghausen.« »Danke Kollege Wünschelroth.« Elfriede Böckinghausen, Kampfhenne der SPD genannt, vertiefte ihr Lächeln. »Wenn ich nicht wüsste, dass Ihre lautere Gesinnung von niemandem unterboten werden kann, würde
11
ich behaupten, den Eickelborn verdanke ich Ihnen, denn wie sollte die Schwester unserer Mutter, auf die Idee gekommen sein, dieses Bild gerade mir zu vererben? Ich erkenne Ihr intrigenreiches Wirken, Herr Kollege, aber lassen wir das, denn wir sind hier, um den letzten Willen der Schwester unserer Mutter, der Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling zu erfahren, oder irre ich mich?« »Dies sind wir in der Tat, verehrte Frau Kollegin, und darum gestatten Sie, meine Anwesenden, dass ich den letzten Willen der Verstorbenen, Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling, eine der bedeutendsten Spezialistinnen für Glaukom-Erkrankungen weltweit, weiter verkünde.« Notar Wünschelroth hob den Kopf, der jedem Bewohner der Stadt des Westfälischen Friedens und der Wiedertäufer in der Regel dreimal in der Woche, wenn nicht öfter, aus den Lokalseiten der Blätter »Westfälische Nachrichten« und »Münstersche Zeitung« entgegenlächelte, sodass selbst der Generalvikar des Bistums, von Karl dem Großen gegründet, Dr. Martinus Kreuzwacht, schon vor Jahren zu der Erkenntnis gelangt, es gebe einen Kopf, an dem er sich, trotz christlicher Nächstenliebe, zu der er verpflichtet, satt gesehen, den wünschelrothschen. »Sie, Frau Buldern-Düsterweg, erhalten nach dem letzten Willen der Toten ein Kaffeeservice, welches Ihre Mutter vor mehr als zwanzig Jahren der Verstorbenen zum Geburtstag geschenkt, sowie die Goethe-Gesamtausgabe, die Sie sich immer gewünscht haben.« Die Erbin der Goethe-Gesamtausgabe, mit Dr. Sebastian BuldernDüsterweg seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet, schon vor dieser Zeit stellte die Firma Buldern-Düsterweg Zahnpasta, Toilettenpapier und Kondome her, jedoch war dies nicht der Gund, warum ihre Ehe kinderlos geblieben, glaubte sich verhört zu haben. Jedes Wochenende hatte sie, auf nachdrücklichen Wunsch ihres Mannes, Tante Isolde, die Augenärztin im Ruhestand, in ihrem Wasserschloss aufsuchen müssen. Denke an das Erbe! -, hatte immer wieder ihr Mann, der Produzent von Kondomen, mit erhobener Stimme getönt, und jetzt dieses Desaster. Walburga Buldern-Düsterweg, in Coesfeld, Emsdetten, und Altenberge Liebhaber habend, die nicht nur jünger als der zur Fülle neigende Ehemann, sondern auch über Fähigkeiten verfügten, die Buldern-Düsterweg im Laufe der Ehejahre gänzlich abhanden gekommen, fand nach längerem Suchen, gegen die Tränen der Wut ankämpfend, zu den Worten, ob es vielleicht außer dem Kaffeeservice und der GoetheGesamtausgabe noch etwas zu erben gebe, dass zu erwähnen sich lohne.
12
»Aber ja Frau Buldern-Düsterweg!« Notar Wünschelroth, dem nicht unbekannt bleiben konnte, dass sich Buldern-Düsterweg im Würgegriff der Städtischen Sparkasse befand, da dem Aufsichtsrat des Kreditinstitutes als Vorsitzender angehörend, lächelte das Lächeln des Wissenden. »Auch Sie erhalten einen Geldbetrag in gleicher Höhe, wie ihn Frau Böckinghausen, Ihre Schwester, in Empfang nehmen darf: zehntausend Euro.« Walburga Buldern-Düsterweg, die selten ihre sonntägliche Pflicht als Katholikin versäumt – es ist wichtig, dass man uns sieht -, war eine der ständigen Reden Sebastian Buldern-Düsterwegs, Arbeitgeber von mehr als zweihundert Angestellten, vor allem weiblichen Geschlechts, die Kondome herstellten, aber auch Zahnpasta, schaute mit Blicken ohne jede christliche Nächstenliebe auf den Sohn ihrer Cousine, zu Lebzeiten Augenärztin wie ihre Mutter, Erbtante Isolde, den Deutsch-Franzosen Professor Dr. Dr. Candide Marie Voltaire, bereits mit achtundzwanzig Jahren Professor der Philosophie an der Sorbonne de Paris, wie auch der Ecole des Hautes Etudes des Commerciales für Wirtschafts- und Politikwissenschaften, über Nacht berühmt werdend durch sein Skandalbuch Nicht diesen Gott und seine Priester, welches Felix Genn, den Bischof von Münster, und viele seine Mitbrüder der Deutschen Bischofskonferenz, an die Zeiten denken ließen, in welcher die Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis die Macht verkörperte, die heute den Ayatollahs in Teheran zur Verfügung stand. Welch glückliche Zeiten für die wahre Kirche des Erlösers. In wievielen Talkshows, von Maybritt Illner über Günter Jauch bis Markus Lanz, hatte sie den Sohn ihrer tödlich verunglückten Cousine nicht schon erlebt und erleben müssen, der es vermied, ihren Augen zu begegnen, dessen Witz und Eloquenz, leider Gottes, jede dieser Gesprächsrunden zu einem Erlebnis hatten werden lassen. Frau Erna Dernekamp, auf welche sich als Letzte Notar Wünschelroths Blicke richteten, sie hatte ihren Mann in der Vorfreude des Erbes gebeten, sie in die Kanzlei am Domplatz zu begleiten, fühlte, wie die Worte des Herrn, dass man seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst, beim Anblick des Haupterben zur Bedeutungslosigkeit zerrannen. Und schon hörte sie das raue, durch nicht gezählte Parteiveranstaltungen ruinierte wünschelrothsche Stimmorgan, auch ihr zehntausend Euro und ein Silberbesteck als Erbe verheißend.
13
Professor Dr. Joseph Maria Dernekamp, Religionshistoriker, Dogmatiker, und Thomas von Aquin Experte, Exzellenz Felix Genn, den Bischof von Münster, in Fragen des Glaubens beratend, konnte es nicht fassen, dass dies, was der Notar und Fraktionsvorsitzende der Christlich Demokratischen Union Münsters, CDU, vorzulesen geruhte, der Wahrheit und nichts als der Wahrheit entsprechen solle, das konnte, dies durfte nicht wahr sein. Doch Notar Wünschelroth fühlte sich nicht nur der Wahrheit verpflichtet, er sprach auch die Wahrheit, und Professor Dr. Joseph Maria Dernekamp, nicht Priester der wahren Kirche werdend, weil er nicht nur in Liebe zu Erna Birkelbach entbrannt, sondern auch voll Hoffnung auf das Erbe ihrer Tante, der berühmten Augenärztin geschaut, da dies nicht ohne letztendliche Bedeutung für seinen Entschluß gewesen, dem geistlichen Stande zu entsagen, umfasste die Armlehnen des Stuhles, den Sinn seines und des Lebens überhaupt überdenken müssend. Notar Wünschelroth aber fuhr in seinen Pflichten fort, die jedoch die erbenden Damen nicht mehr zur Kenntnis nahmen, das Testament als skandalös be- und verurteilend, und als der Verkünder letzter Willen zum Schluss kommend, nochmals sein tiefstes Mitgefühl über den Verlust der teuren Toten, der lieben Verstorbenen, Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling, in Worte zu kleiden versuchte, fasste sich das Mitglied der Sozialdemokraten von Münster in Westfalen, Elfriede Böckinghausen, als erste, die Frage stellend: »Und was wird der glückliche Haupterbe jetzt anfangen mit all dem Reichtum?« Candide Marie Voltaire, der die Worte der Verwandten nicht erwartet, reich geworden durch sein Buch Nicht diesen Gott und seine Priester› jetzt noch reicher werdend durch das Erbe seiner geliebten Großmutter, überzog seine Züge mit Nachdenklichkeit, zu keiner Antwort finden wollend, auf die Cousinen seiner tödlich verunglückten Mutter, den Thomas von Aquin Experten, und den schwergewichtigen Beglaubiger letzter Willen blickend. »Hast du Pläne, Haupterbe?« Elfriede Böckinghausen, für die Schärfe ihrer Zunge berüchtigt und gefürchtet, auch Generalvikar Dr. Martinus Kreuzwacht musste sich lebhaft an Diskussionen mit Frau Böckinghausen über das Thema »Sexualität und Kirche« erinnern, schaute mit der ganzen Herablassung der Kampferprobten auf den mit der Antwort zaudernden Philosophen Voltaire, zuerst in Frankreich durch sein Buch über Gott und seine Priester berühmt geworden, wie anschließend in den
14
deutschsprachigen Ländern, der das Opus in seinen beiden Muttersprachen, Deutsch und Franzöisch, mit Witz, Satire und tieferer Bedeutung geschrieben, auch in Österreich und der Schweiz stand das Werk seit zwei Jahren auf den Bestsellerlisten, von den Medien »Voltaire der Jüngere« genannt werdend. »Pläne?« Candide Marie Voltaire, dessen Mutter Isabell Sophie auf der Bundesstraße 54 in der Nähe des Ortes Kümper tödlich verunglückte, gemeinsam mit ihrem Mann, Dr. Jean Marie Voltaire, der als Mitglied des Hauptvorstandes die Deutsche Bank in Paris geleitet, am Allerheiligentag des Jahres 2008 sterbend, zeigte ein trauriges Lächeln: »Ich muss an Großmutter denken und kann nicht sprechen, der Schmerz über ihren Heimgang ist zu stark. Verzeiht meine lieben Tanten.« »So ein Heuchler!« Frau Buldern-Düsterweg, deren Mann auf zehn der mehr als vierzig Immobilien gehofft: ›Ich gehe davon aus, dass ihr alle zehn der Wohn-und Geschäftskomplexe bekommt‹, so hatte BuldernDüsterweg getönt, ›du zehn, die Espedeschlampe zehn, zehn die Dernekamp, die immer zur Gottesmutter nach Teltge pilgert, um für die Impotenz ihres Mannes zu danken, und zehn für diesen Deutsch-Franzosen, den Atheisten Voltaire‹, – fühlte, wie die Angst in ihr hochstieg. Dr. Sebastian Buldern-Düsterweg, seit Jahren immer wieder Phasen der Impotenz durchleiden müssend, hatte geradezu den Tod der Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling herbei gefleht, der bedeutenden Augenärztin, die zweiundneunzigjährig am Tage des heiligen Joseph, dem 19. März sterbend, als Spezialistin für Glaukom-Operationen und Direktorin der Augenklink der Universität Münster, eine weltweit geachte Kapazität gewesen, denn der Vorsitzende der Sparkasse, Dr. MüllerWesendorf, hatte skeptisch gelächelt, als Buldern-Düsterweg ihm mitgeteilt, dass Aids für ihn, den Hersteller von Kondomen, in Gegenwart und Zukunft nur ein Geschenk des Himmels sein könne, und er würde mit Hilfe von Aids die gegenwärtige Krise der Firma Buldern&Söhne nicht nur überwinden, sondern die Firma Buldern&Söhne zu alter Größe und Bedeutung zurückführen. Doch Dr. Müller-Wesendorf, Katholik und kirchentreuer nicht sein könnend, sein Wahlspruch lautete: »Fest soll mein Taufbund immer stehn, ich will die Kirche hören, sie soll mich allzeit gläubig sehen, und folgsam ihren Lehren«, Bischof Felix Genn und Generalvikar Dr. Martinus Kreuzwacht in Geldangelegenheiten beratend zur Seite stehend, auch einen Käufer für die Firma Buldern&Söhne bereits gefunden habend,
15
der die Kredite erhalten solle und werde, die Dr. Müller-Wesendorf dem Hersteller von Kondomen, Buldern-Düsterweg, nicht mehr einzuräumen gedachte, die katholische Kirche! --, hatte doch Dr. Müller-Wesendorf schmerzhaft erfahren müssen, dass Hedi, seine Frau, und BuldernDüsterweg, nicht nur nach Düsseldorf gefahren, nein, auch über Nacht geblieben, ein Tatbestand, den seine Frau geleugnet, hatte nur skeptisch gelächelt, die Frage an den Liebhaber seiner Frau stellend, welche weiteren Sicherheiten er denn noch bieten könne, und Buldern-Düsterweg hatte, nicht ohne Überheblichkeit, die er sich nicht leisten konnte, mitgeteilt, dass seine Frau zehn Wohn- und Geschäftshäuser der emeritierten Professorin und Direktorin der Augenklinik der Wilhelms-Universität, der in einem Wasserschloß residierenden Dr. Dr. h. c. Frau Schulze-Wierling erben würde und diese sollten doch als Sicherheit genügen. »So ein Heuchler!« – dachten auch Frau Erna Dernekamp, sowie ihr Mann, der gehofft und geglaubt nach dem erhaltenen Erbe von ebenfalls zehn Wohn- und Geschäftshäusern, darunter einem Luxuskomplex der Postmoderne an der Königsallee zu Düsseldorf, die Galerie war eine der Anziehungspunkte für jeden Düsseldorfer und Besucher der Landeshauptstadt von NRW -- die Professorin der Augenheilkunde hatte sich an den Stararchitekten und alleinigen Inhabers eines Development-Unternehmens, das über dessen Tod hinaus in Abu Dhabi, Dubai und China große Projekte errichtete, unter ihnen den Airport von Nanking, Professor Dr. Friedrich Wierling ehelich gebunden, der im Jahre 2000, einem Heiligen Jahr der katholischen Kirche, verstorben --, sowie einer nicht geringfügigen Summe Bargeldes, nie mehr Studenten der Theologischen Fakultät Glaubenswahrheiten vermitteln zu müssen, welche diese eh nicht zu begreifen imstande, sondern nur noch als stiller Gelehrter wirken zu dürfen, spürten nicht nur eine tiefe Enttäuschung, waren doch ihre Träume zerflossen wie Schnee in der Frühlingssonne. Wie oft waren er und seine Frau nach Düsseldorf gefahren, durch die elegante Galerie gehend, in der zur Gewissheit gewordenen Hoffnung, dass ihnen nach dem Tode der Erbtante, dieses an Größe und Eleganz nicht zu überbietende Objekt an einer der bekanntesten Straßen Deutschlands gehören werde. Musste er, der Thomas-Experte bis zu seiner Emeritierung weitere zehn Jahre Theologen die Wissenschaft von Gott lehren? Wie konnte Gott dies zulassen, wie verantworten? Es ist ein wahres Kreuz, dachte Professor Dernekamp, tief verbittert
16
auf den Enkel der verstorbenen Augenärztin Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling blickend, die mehr als zwanzig Jahre die Augenlinik der Universität geleitet, und mit deren Tod so große Hoffnungen verbunden gewesen, doch alle Hoffnungen waren auf zehntausend Euro geschmolzen, plus einem Kaffeeservice oder war’s ein Silberbesteck? Dr. Wünschelroth wollte sich erheben, es drängte ihn, die Erben der in Gott Verblichenen zu verabschieden, denn ihn rief ein Termin ins nahe Rathaus, galt es doch mit Oberbürgermeister Markus Lewe wichtige kommunalpolitische Entscheidungsprozesse einzuleiten. Die städtische Müllabfuhr war ebenso ein Problemfall wie das städtische Symphonieorchester unter Leitung des Generalmusikdirektors Friedhelm Gadebusch, lehnte doch das Orchester den Chefdirigenten ab und dieser den Generalintendanten Peter Müller-Steinbeisser, aus künstlerischen Gründen, versteht sich. Rechtsanwalt und Notar Dr. Wünschelroth, in allen Fragen des städtischen Musik- und Theaterlebens den Rat seiner klavierspielenden Gattin, Frau Dr. Elisabeth Wünschelroth, Juristin wie er, der höchst erfolgreichen Springreiterin einholend, ehe er in seiner Partei, der Christlich Demokratischen Union, die Weichen stellte, hatte sich, wie seine Gattin, für Generalintendant Müller--Steinbeisser entschieden, der, jedem künstlerischen Experiment zutiefst abgeneigt, das Theater so führte, dass auch der Generalvikar des Bistums Münster, Hochwürden Kreuzwacht, Oper und Schauspiel, besonders letzteres, in keinen besseren als den Händen von Generalintendant Müller -- Steinbeisser zu sehen glaubte. »Du seufzt, Tante Elfriede?« Die Stimme des Philosophen Voltaire, der mit seiner Satire Nicht diesen Gott und seine Priester, an sein berühmtes Vorbild gleichen Namens anknüpfend, ein weltweites Echo, das negativer nicht sein konnte, unter fundamentalen Juden, Christen und Muslime ausgelöst, klang besorgt. Überrascht blickte Elfriede Böckinghausen, die ihren Mann, Alfons Maria, vor vier Jahren verlassen, weil sie eine noch größere Selbstverwirklichung angestrebt, auf den Sohn ihrer auf der Bundesstraße 54 verstorbenen Cousine, der durch sein philosophisch-satirisches Buch zu frühem Ruhm und Reichtum gekommen, zu einer Entgegnung ausholen wollend, die sie im Stadtrat von Münster in Westfalen so gefürchtet gemacht, kannte doch Elfriede Böckinghausen, nicht zuletzt aufgrund ihres Hanges zur Selbstverwirklichung, keine Tabuzonen, ein Tatbestand, den auch Generalvikar Dr. Kreuzwacht immer wieder zur Kenntnis nehmen
17
musste, hatte doch die Stadträtin und Sozialdemokratin zuletzt auf einer Podiumsdiskussion, die der Verein Christlicher Junger Männer, CVJM, veranstaltet, die Jungfrauenschaft der Mutter des Erlösers schlicht in das Reich der Mythen und Märchen verwiesen, und Dr. Egon Wünschelroth hatte sich, wenn auch mehr aus parteitaktischen Überlegungen, über alle Maßen öffentlich erregen müssen. »Ich glaube nicht, dass du mich verstehst, Candide Marie, denn ich und meine Schwestern haben nicht erwartet, dass unsere Tante, deine Großmutter, Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling in geistiger Umnachtung von uns gehen würde.« Notar und Rechtsanwalt Wünschelroth, der schon in Gedanken im Rathaus geweilt, schüttelte den fast kahlen Kopf, und in seinen Augen blitzte Empörung. »Wie darf ich Ihre Aussage verstehen, Frau Böckinghausen? Ich hoffe doch nicht, dass Sie von einer geistigen Umnachtung der Toten und Erbtante, Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling zu sprechen wagen, weil Sie feststellen mussten, dass der Inhalt des Testamentes nicht Ihren persönlichen Vorstellungen entspricht?« Elfriede Böckinghausen, aus Gründen der Selbstverwirklichung drei Liebhaber habend, sich von ihnen, soweit es ihre politische Arbeit erlaubte, in die Leidenschaft erneuernden Zeitabständen beglücken lassend, Karl von Sundern, auf seinem Gut in der Nähe Münsters die Landwirtschaft auf biologische Art betreibend, Eberhard Freudensack, der zweite ihrer Liebhaber, Public Relation Manager eines Chemiekonzerns, heimliches Mitglied der SPD von Nordrhein-Westfalen, Vater zweier Töchter, sowie Professor Dr. Norbert Oberkirchen, an der Ruhruniversität Duisburg Soziologie lehrend, wusste, dass ihr ein Fehler unterlaufen, ihr Gesicht mit einem distanzierten Lächeln überziehend, während ihre Schwestern, die Damen Buldern-Düsterweg und Dernekamp und nicht zuletzt Professor Dr. Dernekamp, der ein Buch mit dem Titel Was sagt uns Heutige der heilige Thomas veröffentlicht, unausgesprochen ihre Ansicht teilten. Christdemokrat und Notar Wünschelroth aber war der Ansicht, dass er die verstorbene Frau Professor Dr. Dr. h. c. Isolde Schulze-Wierling verteidigen müsse, denn er war es gewesen, welcher der Toten zu der Endfassung des Testamentes geraten, die ursprünglich für jede der Töchter ihrer Schwester nicht zehn- sondern hunderttausend Euro vorgesehen, und je eine Immobilie in Teltge und Warendorf, hoffend, dass seine schöne Tochter Christamaria und der weltweit berühmte Publizist, Professor Dr. Dr. Candide Marie Voltaire, sein Buch war auch in China ein Riesenerfolg,
18
ein Paar würden, denn er konnte nicht ahnen, dass vor wenigen Tagen eine Esther Meyerbeer aus New York City den Lebensweg des Erben in Paris gekreuzt, und seine Pläne durchkreuzen werde. »Sehr verehrte Frau Böckinghausen« – Notar Wünschelroth lächelte abgründig – »es durfte davon ausgegangen werden, dass die Verstorbene den Sohn ihrer tödlich verunglückten Tochter, ihres einzigen Kindes, als Haupterben einsetze, und nicht Sie, die Töchter ihrer Schwester.« Notar Dr. Wünschelroth reckte seinen massigen Körper, als wolle er zum Finale einer seiner Reden im Stadtrat der Metropole des schönen Landes der Westfalen gelangen: »Ich denke, die liebe Verstorbene hat aus christlicher Verantwortung und Nächstenliebe so gehandelt, wie sie dankenswerterweise gehandelt hat.« Notar Wünschelroth dachte wieder an seine Tochter Christamaria, die in Heidelberg Jura studierende, während die drei Töchter der Schwester der Verstorbenen, Frau Evelyn Birkelbach, die vor dieser die Straße ohne Wiederkehr gegangen, sowie der Thomas von Aquin Experte, Professor Dr. Joseph Maria Dernekamp, zu der Ansicht gelangten, dass vielleicht das Testament durch die denkwürdige Aussage des Parteichristen und Notars eventuell anzufechten wäre, und Professor Dr. Joseph Dernekamp kleidete die Gedanken in eine elegante Formulierung, die aber von Dr. Wünschelroth mit einem Lächeln beantwortet wurde, in dem Wissen und Ironie zur Einheit fanden. »Natürlich können Sie, verehrte Trauernde, den Willen der Toten anfechten, doch würde ich aus langjähriger Erfahrung sagen, dass auch das Gericht von Münster in Westfalen Ihnen kaum zu dem verhelfen wird, was Sie zu erben erhofften. Und so darf ich nochmals sagen, dass ich zu einem wirklich dringenden Termin eilen muss, denn es geht um das Wohl der Stadt.« »Aber sicher, Herr Kollege. Sie sind dafür bekannt, dass Sie sich um das Wohl der Stadt fast verzehren. Es würde mich daher auch nicht wundern, wenn der Schöpfergott, an den Sie glauben, ihrem rastlosen Wirken für das Wohl unserer Stadt durch einen Sekundenherztod ein schönes Ende setzte. Ich rate Ihnen dringend zu einer Ernährungsumstellung, essen Sie frisches Obst uund Gemüse, trinken Sie Mineralwasser, essen Sie weniger Fleisch, treiben Sie mehr Sport und intrigieren Sie weniger, Ihr Herz, Herr Kollege, wird es Ihnen danken. Glauben Sie einem Mitglied der SPD, welches es gut mit Ihnen meint, übrigens das einzige.« Notar Wünschelroth legte seine Ironie ab und ehrliche Besorgnis auf
19
seine Gesichtszüge, ihm einfallend, dass er Wesentliches vergessen, Bastian Schulze-Wierling, den Hund, den Tibetapso, der im Frieden des Herrn verstorbenen Augenärztin und Professorin Dr. Dr. h. c. Schulze-Wierling. »Übrigens, Herr Voltaire, darf ich Ihnen noch mitteilen, dass Sie auch Bastian den Hund Ihrer Großmutter geerbt haben?« »Ich erbe Bastian!« Candide Marie Voltaire, über alle Maßen gerührt, lächelte dankbar. »Sie sehen mich beglückt, Herr Wünschelroth.« Die Standuhr im großzügig eingerichteten wünschelrothschen Arbeitszimmer schlug die elfte Stunde, und der Verkünder letzter Willen schaute in einem plötzlichen Anflug von Nervosität auf die Uhr, wusste er sich doch dringendst im Rathaus erwartet, in welchem er zum Wohle der Stadt Münster, und nicht zuletzt zum eigenen Wohle als Fraktionsvorsitzender wirkte. Und so sagte er, nachdem er alle Damen und Herren mit einem kurzen Händedruck verabschiedet, zu Candide Voltaire, dem Professor der Sorbonne de Paris, des College de France, sowie der Elite-Wirtschaftshochschule Frankreichs, der Ecole des Hautes Etudes des Commerciales: »Meine Frau und Tochter würden sich sehr freuen, wenn Sie heute mit uns zu Abend speisen würden, Herr Voltaire?« Und Candide Voltaire, Dr. Wünschelroth und seine Damen nicht enttäuschen wollend, nahm nach leichtem Zögern die Einladung an, während im nahen Rathaus die Herren Markus Lewe, der erster Bürger der Stadt des Westfälischen Friedens, und Dr. Karl Detlev Göbel ihre Uhren verglichen, war doch der Fraktionsvorsitzende der Christlich Demokratischen Union für seine Pünktlichkeit bekannt, und Dr. Karl Detlev Göbel, Dezernet für Bildung, Familie, Jugend, Kultur und Sport, blickte auf die erste der drei Sekretärinnen des Herrn Oberbürgermeister, es war Frau Martina Liebstöckel, mit der ihn eine außereheliche Beziehung verband, die dem Oberbürgermeister, Markus Lewe, und ihm die Ankunft des Fraktionsvorsitzenden der CDU, Dr. Wünschelroth, nicht ohne ein spöttisch distanziertes Lächeln ankündigte. *** »Darf ich fragen, Herr Professor, wie Sie zu dem seltenen Vornamen kamen?« Elisabeth Wünschelroth, die Dame des Hauses, promovierte Juristin, in der Westfalen-Metropole eine bedeutende gesellschaftliche Rolle spielend, sich den attraktiven Professor der Sorbonne und berühmten Autoren des
20