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EIN FÜRHER AUS “FLEISCH UND BLUT”

Als ich – oh Gott, noch im letzten Jahrhundert – angefangen habe zu klettern, waren gedrucktes Papier und persönliche Gespräche die einzige Informationsquelle. Ich sage das mit schlecht verhehlter Nostalgie. Das Internet hatte gerade begonnen sein Spinnennetz zu weben und sicher die allerwenigsten Leute hatten zu Hause einen Zugang zum Netz. Einige Pioniere hatten ein wenig leistungsfähiges Modem, das mit viel Biepen und Knarzen 56 kbit/s mit dem Äther austauschte. Es war völlig undenkbar, auf diese Art Informationen zu Klettermöglichkeiten zu finden und um ehrlich zu sein, so weit hat man nicht einmal gedacht. In der Buchhandlung gab es nur zwei Bände über die Kletterrouten im Tessin. Der eine stammte von einem bekannten Verlag in der Deutschschweiz und, obwohl gut gemacht, behandelte neben verschiedenen ausgewählten Regionen in Italien und Frankreich nur einen Teil des Tessins. Der andere im Handel erhältliche hatte ein hübsches Fräulein (Marcella Santinelli) auf dem Cover und warb mit einer ziemlich vollständigen Liste der Tessiner Felsen. Er war in jeder Hinsicht der Ahnherr dieses Führers, den ihr gerade in der Hand haltet. Als Fan oben genannten Fräuleins entschied ich mich für den Kauf von “Arrampicate sportive e moderne fra Varese e Canton Ticino”. Fast 25 Jahre Betätigung in der Vertikalen, tausende gekletterter Seillängen und hunderte eingebohrter Routen haben aus dem bartlosen Jüngelchen, das im fernen ‘98 die erste Auflage dieses Führers kaufte, denjenigen gemacht, der die Ehre (und damit auch Bürde) hat, Autor dieser vierten Auflage zu sein. Im Unterschied zu der Zeit als ich mit dem Klettern begann, gibt es auf dem Markt aktuell zahlreiche Möglichkeiten die vertikale Landschaft im Tessin kennen zu lernen und es ist ziemlich leicht, kostenlose Informationen im Netz zusammenzusuchen. Die anachronistische, vielleicht sogar ein wenig nostalgische Idee, angesichts dieser Flut an leicht verfügbaren Informationen, ein Buch aus „Fleisch und Blut“ zu machen, nimmt den Autor natürlich in die Verantwortung mit seinem Werk einen Mehrwert zu liefern. In diesen Führer habe ich deshalb enorm viel Zeit investiert: haufenweise Tage vor Ort, um die Daten der vorigen Ausgaben zu verifizieren und zu korrigieren, zig Mails mit der Bitte um Informationen, Fotosessions, eine erhebliche Anzahl Stunden am Computer zum Zeichnen der Zustiege und Topos, Stunden geduldigen Korrigierens und Redigierens. Als ich das Angebot von Roberto Capucciati angenommen habe, war für mich eines sofort klar: Das Hauptziel eines Kletterführers ist es, dem Leser präzise und verlässliche Sachinformation zu geben, dann aber wollte ich unbedingt ein Werk, in dem meine Begeisterung für diesen phantastischen Sport und die Liebe zu dieser einmaligen Gegend spürbar werden. Das Urteil darüber liegt beim Leser.

ABER KOMMEN WIR ZUR SCHLÜSSELFRAGE: WARUM SOLL MAN ZUM KLETTERN INS TESSIN KOMMEN?

Das milde Klima, die Möglichkeit das ganze Jahr zu klettern, die Qualität vieler Gebiete, die Vielfalt der Stile und Schwierigkeiten und die Ruhe an den meisten Felsen machen das Tessin zu einem Kletterziel erster Wahl. Grob gesprochen ist das Tessin geologisch mehr oder weniger in drei Teile geteilt: im Süden dominiert der Kalk, im Zentrum der Gneis während man im äussersten Norden Granit hat. Die Bandbreite der Kletterstile ist gross, reicht von Platten bis zu Überhängen und stellt auch die Ansprüche von weniger extremen Kletterern zufrieden. Was die Schwierigkeiten angeht, deckt das Tessin tatsächlich fast alles ab, auch wenn die hohen Schwierigkeiten etwas mager vertreten sind.

In der Tat, auch wenn man die fantasievollen Routenkombinationen (das Spiel der Gelangweilten) mitzählt, werden wir nie mit den berühmten spanischen oder französischen Gebieten mithalten können, wo sich eine Extremroute neben der andern aufreiht. Ursache dieser Lücke ist vor allem von der Felsbeschaffenheit. Wenn man beim Eröffnen neuer Routen versucht, die Schwierigkeiten nach oben zu treiben, gerät man im Tessiner Gneis ganz schnell an völlig glatte oder extrem griffarme Passagen, so dass es nur einen schmalen Grat zwischen möglich und unmöglich gibt. Im Allgemeinen – und das gilt mehr oder weniger für alle Grade – konzentrieren sich die Schwierigkeiten auf kurze Passagen und je schwieriger sie werden, umso kleiner werden die Griffe. Kurzum gibt es bei uns wenig reine Ausdauerrouten und selbst in den längsten Routen wechseln anstrengende Passagen meistens mit guten Ruhepunkten ab. Wenige heisst aber auch nicht keine, wie ihr jetzt in diesem Führer entdecken könnt. Um jedenfalls den Umlenker in eurem Tessiner Projekt klinken zu können, müsst ihr eher ausdauernd maximalkräftig als rein athletisch klettern können. Ein ganz wichtiger Aspekt beim Klettern im Tessin ist, dass ihr, abgesehen von einigen bekannten Gebieten (Ponte Brolla, Brontallo und alles auf der orografisch linken Seite der Riviera), sehr oft allein klettern werdet. Ein kurioser wenn nicht sogar bizarrer Aspekt: die Touristen der Vertikale scheinen sich immer an denselben Orten zu konzentrieren, sie drängeln sich am Wandfuss von Ponte Brolla Est, ziehen eine Nummer für ihren Go in Claro oder hängen traubenweise an den Ständen der langen Routen in Rovine del Castelliere. Wie gesagt kann man im Tessin das ganze Jahr über klettern, allerdings sind die besten Jahreszeiten zweifellos Frühling und Herbst. Weil es normalerweise trockener ist, ziehe ich persönlich eher

den Herbst dem Frühjahr vor. Solange es nicht viel regnet, ist auch der Winter eine gute Zeit, man sollte dann aber nur an nach Süd ausgerichtete Wände gehen. In den letzten Jahren sind einige Spots entstanden, deren Ausrichtung auch das Klettern in den heissesten Monaten erlaubt, die in moderaten Höhenlagen liegen und Sportkletterzustiege haben.

DIE ZUKUNFT DES KLETTERN IM TESSIN

Ich bin überzeugt, dass in den nächsten Jahren noch viele neue Wände erschlossen werden. Selbst wenn die Möglichkeiten nicht unendlich sind, sind sie doch weit davon entfernt, ausgeschöpft zu sein. Der Führer, den ihr gerade in der Hand haltet, demonstriert die Entwicklungsmöglichkeiten im Tessin: Verglichen mit der letzten Ausgabe vor nur acht Jahren, sind mehr als 30 neu beschriebene Sektoren dazugekommen und viele der bekannten erweitert (oder saniert) worden. In den letzten Jahren haben sich auch viele Jüngere für die „Drecksarbeit“ der Erstbegehungen begeistert und haben deren kreative und befriedigende Seite entdeckt. Ich wünsche mir, dass das Motivation für sie ist, ihre vertikalen Ambitionen auszubauen und Sektoren zu erschliessen, die als wegweisend für die Entwicklung unserer Disziplin gelten können und das Tessin auch als Ziel für Extremkletterer interessant machen. Ich wünsche mir auch, dass sie eine strikte Ethik gegenüber dem Fels und der Kletterentwicklung einhalten und sich kategorisch weigern, Griffe zu schlagen oder zu verbessern und nicht die Sünde des Hochmuts begehen, sondern eine Niederlage als Teil ihrer Entwicklung begreifen. Kommen wir zu einem anderen, so entscheidenden wie besorgniserregenden Punkt. Auch wenn Tourismus ein Anker der Tessiner Wirtschaft ist, beginnt der immer grössere Zustrom von Kletterern (und Touristen allgemein) bedauerlicherweise die ersten Probleme zu zeigen. Als ich meine ersten Schritte in der Vertikalen getan habe, war das Klettern noch nicht in Mode und es herrschte nicht der jetzige Andrang. Zwangsläufig gilt das Gesetz der grossen Zahl, was bedeutet, dass mit mehr Personen auch die Zahl der Ungehobelten und Arroganten zunimmt. In einigen empfindlichen Gegenden hat die lokale Bevölkerung rücksichtsloses Benehmen so langsam satt. Bedenkliche Zeichen kommen zum Beispiel aus Cresciano, wo die Strasse vom Dorf zum Beginn der Zustiegswege zu den Wänden und den Bouldern jetzt gesperrt ist. Um ehrlich zu sein, war sie das schon immer, aber die Benutzung durch Kletterer wurde toleriert. Widerrechtliches Campen, wildes Parken, Exkremente und Müll haben zu untragbaren Zuständen geführt. Das Gleiche spielt sich gerade in Brontallo ab, wo die Einwohner ähnliche Zeichen von Unzufriedenheit zeigen. Auch im Val Bavona mehren sich die missmutigen Stimmen über den Zustrom einer bestimmten Art von Kletterern, für die alles alternativlos und erlaubt ist. Mir ist die Faszination eines kletternden Streunerlebens im VW-Bus sehr bewusst, ein Lebensstil, der mir ebenfalls liegt. Trotzdem muss man sich bewusst sein, welchen Einfluss das auf die Natur und die lokale Bevölkerung hat (siehe dazu auch den Abschnitt über Camping im Informationsteil). Als Autor eines Führers, der das Klettern fördert und die vertikalen „Geheimnisse“ des Kantons lüftet, fühle ich mich doch verantwortlich, meinen Lesern ein einwandfreies Benehmen ans Herz zu legen. Anhaltender Missbrauch und andauernd schlechtes Benehmen können nur negative Konsequenzen haben, wie die Sperrung einiger Felsen oder grossflächige kantonale Kletterverbote.

SCHLUSSWORT

Trotz bester Absichten werden sich einige Irrtümer eingeschlichen haben, Druckfehler auch bei der dritten Korrektur vor dem Druck durchgerutscht sein. Ich entschuldige mich bereits im Voraus und bitte darum, mir alles mitzuteilen, damit das in den nächsten Ausgaben korrigiert werden kann. Nicht zuletzt ist dieser Kletterführer das Ergebnis der Zusammenarbeit einer ganzen Gemeinschaft. Es wäre unmöglich gewesen, ein solches Werk zu schaffen ohne die immer freiwillige Unterstützung einer ganzen Zahl von Personen. Das bringt mich zum nächsten Abschnitt: Den Danksagungen.

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