Gemeingut Stadt/ City as Commons

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Gemeingut Stadt Stavros Stavrides Mathias Heyden

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Inhalt 6 Städtisches Gemeinschaffen = ‚Schule‘ des Wir! Mathias Heyden 14 Common Space: Die Stadt als Gemeingut Eine Einführung Stavros Stavrides 59 Bildnachweis


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Städtisches  Gemeinschaffen = ‚Schule‘ des Wir! Mathias Heyden

„Comunalidad definiert sowohl eine Reihe von Praktiken, die aus der kreativen Anpassung widerständischer Traditionen gegen den alten und neuen Kolonialismus entstanden sind, wie auch einen mentalen Raum oder Horizont, der verstehen lässt, wie man die Welt als ein Wir sieht und erfährt.“1 Soweit ein Zitat des mexikanischen Philosophen und Aktivisten Gustavo Esteva und ein zentrales Motiv in Stavros Stavrides’ Text in diesem Heft. Der in Athen forschende, lehrende und aktivistisch engagierte Architekt gehört zu den wenigen Expert*innen, die sich mit den räumlichen Gütern auseinandersetzen, die weder öffentlich noch privat sein und allen und keinen gehören sollten. 1

Gustavo Esteva, Hoffnung von unten. Das besondere Prinzip des Zusammenlebens in Oaxaca, in: Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Commons – Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, Bielefeld 2012, S. 237.


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Das war der Anlass, Stavrides am 17. September 2016 im Rahmen von Ene Mene Muh und welche Stadt willst Du? Beiträge zum Berliner Wahlherbst 2016 in die neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) 2 einzuladen 2

Das von den Redaktionsmitgliedern der Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt in Zusammenarbeit mit Mathias Heyden realisierte Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekt fand vom 10. September bis 3. Oktober 2016 in den Räumen der nGbK statt. Ene Mene Muh und welche Stadt willst Du? beschäftigte sich mit Theorie und Praxis der Teilhabe. Ausgehend von Sherry Arnsteins Leiter der Bürgerpartizipation (1969) wurden Interviews mit Vertreter*innen der Berliner Initiativen Stadt von Unten, 100% Tempelhofer Feld und Kotti & Co geführt. Arnsteins erstmals im Journal of the American Institute of Planners veröffentlichter Text beschreibt eine grob vereinfachte Struktur der Bürgerbeteiligung, folgt aber einem provokativen Anspruch: Wirkliche Beteiligung an politischen und planerischen Entscheidungsprozessen heißt Macht für die Bürger*innen. Arnstein unterscheidet acht Kategorien, die gleich den Sprossen einer Leiter von Manipulation und Therapie über Information, Konsultation und Beschwichtigung bis zu Partnerschaft, delegierte Macht und Bürgerkontrolle reichen. Jede Stufe stellt einen höheren Grad an Bürgermacht dar. Inwieweit spielen in den 1960/70er Jahren verwendete Modelle heute eine Rolle? Welche Begehren treiben die Akteur*innen an, und auf welche Art der Teilhabe zielen ihre Widerstände, Forderungen und Verhandlungen mit der Politik? Was sind die möglichen Wege zu einer sozial gerechten Stadtentwicklung von unten? Die Gespräche mit Robert Burghardt, Anna Heilgemeir, Enrico Schönberg, Kerstin Meyer, Ulrike Hamann und Sandy Kaltenborn ergaben vier Begriffe, die von farbigen Linien markierte Felder im Ausstellungsraum definierten: Ermächtigung, Augenhöhe, Kontrolle der Politik (durch die Bevölkerung) und Selbstverwaltung. In oder zwischen diesen Feldern befand sich eine subjektive Auswahl und Anordnung historischer und zeitgenössischer Ereignisse, Projekte und Initiativen, die durch Fotografien und Videos dargestellt und über Texte an der Wand kontextualisiert wurden. Diverse Publikationen und drei


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und seinen Vortrag 3 über das Gemeingut Stadt nun in überarbeiteter Fassung einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Die als Raumdiagramm konzipierte Ausstellung sowie die begleitende Veranstaltungsreihe hinterfragten die institutionalisierten Formen der Bürgerbeteiligung und stellten diesem Mainstreaming partizipativer Prozesse das dringliche Verlangen nach tatsächlicher Teilhabe in der Stadtentwicklung entgegen. Die den Ausstellungsraum strukturierenden Begriffe Ermächtigung, Augenhöhe, Kontrolle der Politik (durch die Bevölkerung) und Selbstverwaltung verwiesen darauf, dass dem Mitbestimmen das Mitentscheiden folgen muss. Oder anders gesagt: Ist der zunehmende Ruf nach Erneuerung der Demokratie ernst gemeint, dann gilt es, den unverstellten Zugang zur Macht für alle Bürger*innen zu gewährleisten. Das wiederum heißt: Gleichberechtigter Zugang aller Bürger*innen zur gesellschaftlichen Wertschöpfung. Das dringliche Verlangen nach tatsächlicher Teilhabe in der Stadtentwicklung geht mit Debatten über und Kämpfen für die Vergesellschaftung materieller und immaterieller Güter einher – schließlich gehört die Stadt jeder und jedem, die sie tagtäglich (re)produzieren! In diesem Sinne ist das von Stavrides eingebrachte Wissen über städtische Gemeingüter (urban commons) und städtisches Gemeinschaffen (urban commoning) grundsätzlich.

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Dokumentarfilme begleiteten das Raumdiagramm, das sich als ein Diskussionsangebot und Referenzsystem für das Veranstaltungsprogramm von Ene Mene Muh und welche Stadt willst Du? verstand: Radiolesungen, Vorträge und Gespräche zu den Themen Recht auf Stadt, urbane Gemeingüter, öffentliche Liegenschaften, Wohnungspolitik, Community Organizing und direkte Demokratie. Der Titel des Vortrags, Common Space: The City as Commons (In Common), basierte auf Stavrides’ gleichnamigem, in der Reihe In Common bei Zed Books in London erschienenem Buch von 2016. Das anschließende Gespräch wurde von Ulrike Hamann und Mathias Heyden moderiert.


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Denn seine Arbeit sucht nicht die Reform des Bestehenden, plädiert nicht, wie so viele Beiträge in den letzten Jahren, für ein bisschen mehr Bürgerbeteiligung hier und ein bisschen mehr direkte Demokratie dort. Stattdessen stellt er fest, dass die global herrschenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse permanent existenzielle Krisen verursachen. Vor diesem Hintergrund sind die Strategien räumlicher Aneignungen zu begreifen, die Stavrides identifiziert, analysiert, um sodann ihre emanzipatorischen Potentiale hervorzuheben: die kollektive und solidarische, selbstermächtigende, selbstorganisierte und selbstverwaltete Produktion und Reproduktion städtischer Gemeingüter. In der folgenden Lektüre sind jedoch weder Anweisungen noch Anleitungen zu finden, wie diese Herrschaftsverhältnisse zu beenden und beispielsweise spekulative Immobilienprojekte zu verhindern sind. Vielmehr sucht Stavrides in sozialen Praktiken zur Herstellung gemeinsamer Räume (common spaces) die Prinzipien räumlicher Gemeingüter zu ergründen und plädiert dabei für die Stadt als Gemeingut (city as commons). So verstanden, kann man Stavrides’ Text als herausfordernde Einladung zu einer visionären Reise, zu einem lesenden Erfassen dessen interpretieren, wie die Welt als geteilter Raum ein Ort für alle sein kann, die in ihm wirken. Gleichwohl bietet er handfeste Inspirationen für ein Tätigsein in Form aktivistisch-prozessualer Bewegungen auf dem Weg zu einer egalitären und somit gerechten Gesellschaftlichkeit an. Stavrides’ präzise Einkreisung städtischen Gemeinschaffens – das die bestehenden städtischen Gemeingüter nicht nur verteidigt, sondern ebenso neue hervorbringt, sie entwickelt und pflegt – macht eine radikale, an die gesellschaftlichen Wurzeln reichende und gleichsam imaginative Gestaltung der Gesellschaft fassbar. Das dementsprechende Fühlen, Denken und Handeln geht einher mit Bekenntnis- und Verständnisprozessen über Weltanschauungen, Glauben und Werte, Wissen und Erfahrungen, mit tiefgehenden Austauschprozessen darüber,



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auf Wohnen bezieht. Es gelingt ihnen, die Darlehen kollektiv und zu niedrigen Kursen zu erhalten. Schließlich errichten sie ihre eigenen kleinen Nachbarschaften, beispielsweise mit Hilfe von aktivistischen Architekt*innen der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM), Erb*innen der 1968er-Revolution an den mexikanischen Universitäten. Sie nennen es ein autonomes Projekt. Indem sie ihre eigene Gemeinschaft organisieren, schaffen sie es, ihre eigenen Räume, ihre eigene Form von Öffentlichkeit herzustellen. Obwohl sie Strom klauen, arbeiten sie daran, durch die Anbringung von Solarzellen im Bereich der gemeinsamen Räume energieautark zu werden. Sie zahlen nicht für Wasser, aber haben eine gemeinsame Wasseraufbereitungsanlage installiert. Sie haben ihre eigenen Gärten, eine kommunale Radiostation und andere geteilte Infrastrukturen. Sie verwehren der Polizei den Zutritt, unterhalten aber ihr eigenes Rechtssystem – um Bedingungen des Zusammenlebens auf Basis von Gleichheit zu schaffen. Dies ist der Versuch, eine Form sozialer Organisation unabhängig vom Staat, frei von staatlicher Überwachung und Kontrolle herzustellen. Sie isolieren sich jedoch nicht in einer Enklave des Andersseins. Einem metastatischen Prozess gleich drängen diese Initiativen auf eine andersartige Gesellschaft hin. Das zweite Beispiel in Mexiko-Stadt ist ebenfalls eine selbstverwaltete Nachbarschaft. Von der Bewegung Brújula Roja 27 gegründet, basiert sie auf zapatistischen Werten und Formen der Selbstverwaltung. Die Hauptstraßen sind nach den wichtigsten Forderungen und Prinzipien der Zapatista-Bewegung benannt: Democracia, Dignidad, Educación, Información, Salud 28 usw. Der Name der Nachbarschaft, Tlanezi Calli, bedeutet in der indigenen Sprache Nahuatl so viel wie Haus des Tagesanbruchs. Die ca. 1.150 Bewohner*innen praktizieren 27 Wortwörtlich: Roter Kompass. 28 Demokratie, Würde, Bildung, Information, Gesundheit.



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urbane Autonomie in Bezug auf alltägliche Bedürfnisse wie Essen, Gesundheit und Bildung sowie die Arbeit in Gemeinschaftsprojekten, darunter der Bau eines selbstständigen Abwassersystems. Sie haben sogar eine Werkstatt, um ihre eigenen Kleider zu nähen. Auch die architektonischen Aspekte der Nachbarschaft sind sehr interessant. Die spezifischen Bauweisen der Häuser und gemeinschaftlichen Bereiche zwischen den Häusern stellen das Ergebnis zahlloser Treffen zur Gestaltung des geteilten Raumes und der einzelnen Hausmodelle dar. Die Rolle der Frauen bei der Bestimmung des Zuschnitts der Häuser und gemeinschaftlichen Bereiche wurde zu einem Mittel der Ermächtigung, was der Gemeinschaft als Ganzes die Möglichkeit eröffnete, etablierte Familienstrukturen zu überdenken. Diese Art von Wohnungsbau spiegelt einen neuen Umgang mit den Geschlechterrollen und anderen sozialen Beziehungen durch Gemeinschaffen wider. Land und Häuser sind kollektives Eigentum; alle, jede Einzelperson oder Familie, haben ihr eigenes Haus, aber das Haus gehört ihnen nicht. Sie können es nicht verkaufen oder vermieten, und wenn sie ausziehen, können andere kommen und das Haus nutzen, solange die Nachbarschaftsversammlung zustimmt. Aber sie können die Versammlung um die eine oder andere Erlaubnis bitten, zum Beispiel dafür, dass ihre Kinder dort an ihrer Stelle leben oder sie andere einladen dürfen, mit ihnen zu wohnen. Sie haben jedoch kein Recht, weiter anzubauen. Als ein Bewohner sich dazu entschied, ein zusätzliches Geschoss zu errichten, wurde ihm das von der Versammlung untersagt. Die Begründung lautete, dass man entweder in der Lage sein müsste, für alle ein drittes Geschoss zu bauen, oder niemandem sei es erlaubt. Es geht hier um riesige Themen in Bezug auf die Frage, was es bedeutet zu teilen und wer den Prozess des Teilens definiert, obgleich diese autonomen Nachbarschaften gewiss die kollektive Errungenschaft einer sehr großen Gruppe von Menschen sind.


Berlin Journals—On the History and Present State of the City #4 City as Commons Mathias Heyden (ed.) Produced on the occasion of the project Ene Mene Muh und welche Stadt willst Du? Contributions to the Berlin state election 2016 neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin, 2016/17, www.ngbk.de

May 2018 Text: Stavros Stavrides, Mathias Heyden Editorial coordination: Valeria Fahrenkrog, Florian Wüst Copyediting: Florian Wüst Translation, proofreading: Anita Di Bianco Image processing: Gabi Rada Design: Ana Halina Ringleb, Simon Schindele E-book production: Janine Sack Cover photo: View of the former Berlin wall border strip towards Berlin-Gropiusstadt (Detail), 2012, photo: Ines Schaber Published by: EECLECTIC , contact@eeclectic.de, www.eeclectic.de Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt (Valeria Fahrenkrog, Joerg Franzbecker, Erik Göngrich, Heimo Lattner, Katja Reichard, Ines Schaber, Florian Wüst), mail@berlinerhefte.de, www.berlinerhefte.de © The author, editor, Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt e.V., neue Gesellschaft für bildende Kunst e.V. and EECLECTIC ISBN 978-3-947295-05-0 (e-pub) ISBN 978-3-947295-11-1 (pdf) German version: Gemeingut Stadt ISBN 978-3-947295-04-3 (epub) ISBN 978-3-947295-10-4 (pdf) ISBN 978-3-946674-03-0 (print) Distribution printed version (in German only): Books People Places, Kulmer Straße 20a, D-10783 Berlin, +49-30-23633447, distribution@bookspeopleplaces.com, www.bookspeopleplaces.com The editor would like to heartily thank all those involved, in particular Valeria Fahrenkrog, Joerg Franzbecker, Ana Halina Ringleb, Simon Schindele, Stavros Stavrides and Florian Wüst, as well as Sandra Bartoli, Ulrike Hamann and Ines Schaber. The nGbK would like to thank the Senate Department for Culture and Europe for its support, and the LOTTO-Stiftung Berlin for financial sponsorship.


„Gemeingüter sind weder etwas, das einfach da draußen existiert, noch sind sie etwas, das – objektiv gesehen – bestimmten Ressourcen oder Dingen innewohnt. Sie sind eine Beziehung zwischen Menschen und den von ihnen kollektiv als essentiell für ihre Existenz beschriebenen Bedingungen“, schreibt Stavros Stavrides, Architekt, Aktivist und Autor von Common Space: The City as Commons. Stavrides versteht die Herstellung, Entwicklung und Pflege von Gemeingütern als eine soziale Praxis, die kapitalistische Werte und hierarchische Formen gesellschaftlicher Organisation radikal herausfordert. Auf diese Weise gestaltete städtische Räume unterscheiden sich von privatisierenden Einhegungen und von öffentlichem Raum, wie wir ihn kennen: gemeinsame Räume, die permanent einladend und im Entstehen begriffen sind, die nicht nur geteilt werden, sondern das Teilen selbst mitbestimmen. In diesem von Mathias Heyden herausgegebenen Heft führt Stavrides in sein Nachdenken über das Gemeingut Stadt ein. Am Beispiel besetzter Plätze, selbstverwalteter Einrichtungen und autonomer Nachbarschaften in Griechenland und Lateinamerika veranschaulicht er seine Theorie eines städtischen Gemeinschaffens, das im Kontext der globalen Debatten und Kämpfe um soziale und ökonomische Gerechtigkeit einen möglichen Weg hin zu einer in der Tat emanzipierten Gesellschaft weist.


Erhältlich als E-Book bei: EECLECTIC Digital Publishing for Visual Culture www.eeclectic.de oder als Buch bei: Books People Places www.bookspeopleplaces.com

Mehr Informationen: BerlinerHefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt www.berlinerhefte.de


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