Leseprobe »demenz.«

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Irene Bopp-Kistler [Hg.]

demenz

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Fakten Geschichten Perspektiven





demenz

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Fakten | Geschichten | Perspektiven

Irene Bopp-Kistler [Hg.]


Der Verlag und die Herausgeberin bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei Alzheimer Forum Schweiz Beratungsstelle Alter und Pflege Oberengadin, Ospidel Samedan Hamasil Stiftung Paulie und Fridolin-Düblin Stiftung Pro Senectute Kanton Zürich Schweizerisches Rotes Kreuz

stiftung sonnweid hilft bei demenz sowie bei allen, die ungenannt bleiben wollen.

Zweite Auflage Herbst 2016 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2016 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich info@ruefferundrub.ch | www.ruefferundrub.ch Bildnachweis Umschlag: © Alita Ong / Stocksy.com Bildnachweis Autorenporträt: © Roland Brändli Druck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried Papier: Fly weiß 05, 115 g/m2, 1.200 ISBN: 978-3-907625-90-3


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Demenz. Würde und Schicksal Irene Bopp-Kistler

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DEMENZ – EINE KRANKHEIT MIT VIELEN FACETTEN

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Die Demenz beginnt schleichend Irene Bopp-Kistler Die Hoffnung stirbt zuletzt Frau W. Wenn der Hausarzt gefordert ist Klaus Bally Was Alois Alzheimer nicht ahnen konnte Irene Bopp-Kistler »Blaue Katzen gibt es nicht« – Neuropsychologische Perspektiven Brigitte Rüegger-Frey Urteilsfähigkeit und selbstbestimmte Entscheidungen Manuel Trachsel, Daniel Hürlimann

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BOTSCHAFTEN AUS DEM LAND DES VERGESSENS

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Zeit für meine Zukunft als Alzheimerpatient Herr und Frau T. Bin ich wirklich krank? Herr O. Die glückliche Heimbewohnerin Brigitte Hauser »Flaschenpost aus dem Durcheinandertal« – Die Perspektive der Betroffenen Irene Bopp-Kistler Was »macht« Demenz mit den Menschen? Christoph Held »Am meisten ärgert mich, dass ich das Einfache nicht mehr kann« – Demenz am Arbeitsplatz Margrit Sprecher Blicke in eigene und fremde Wirklichkeiten – Film und Demenz Christa Hanetseder

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VON GRENZERFAHRUNGEN IM ALLTAG

»Einmal nach nirgendwo« – Die Perspektive der Angehörigen Irene Bopp-Kistler 158 Es gibt immer einen Freund, der hilft Frau F. 162 Der Dementor in Zeiten des Nebels Isabella Lauener 168 Meine Mutter Ruedi Frey-Durisch 171 Angehörigengruppen: Gemeinsam stark Regula Bockstaller 184 »Hilfe beim Helfen«: Angehörigenarbeit in Deutschland Gernot Lämmler 193 Von Wesensveränderungen und Verhaltensauffälligkeiten Markus Baumgartner, Irene Bopp-Kistler 204 Unterwegs im Zug Susi Klausner 207 »Verkannt und bagatellisiert« – Die frontotemporale Demenz Margrit Dobler 213 Die verschwundene Birke Joël Meier 148

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THERAPIEN: KAUM MEDIKAMENTE – VIELE ANDERE MÖGLICHKEITEN

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Therapeutische Möglichkeiten Irene Bopp-Kistler Soziotechnische Systeme zur Unterstützung Kerstin Wessig Das Vergessen vergessen – in der Musiktherapie Antoinette Niggli Begleitetes Malen – ein Anker im Sturm der Verluste Katharina Müller »Aber ich bin doch noch da« – Theater mit Demenzerkrankten Christine Vogt

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Mit Heintje aus dem Alltag hinaustanzen Melanie Keim 273 »Aufgeweckte Kunst-Geschichten« – Ich bin verliebt Sandra Oppikofer, Susanne Nieke, Karin Wilkening 279 Die »Ess-Kümmerer« Markus Biedermann 266

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VOM LOSLASSEN

»Sie sollen doch zuerst einmal alle anderen aus dem Verkehr ziehen …« Irene Bopp-Kistler 302 »Man muss es eben so nehmen, wie es kommt« – Einfühlende Kommunikation Andrea Mühlegg-Weibel 305 Zeitreise mit der Logopädie Jürgen Steiner 311 Der Badezimmerspiegel Christoph Harms 319 Mittendrin und doch allein Heinz Hui 323 Von verpflanzten Menschen und Bäumen Michael Schmieder 334 Er schlägt mich Frau K. 292

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DEMENZ AUS SICHT DER GESELLSCHAFT

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Wahlverwandtschaften und Demenz Samuel Vögeli Aufsuchende Demenzarbeit in der Stadt Zürich Gabriela Bieri-Brüning Allein leben mit Demenz Helga Schneider-Schelte »Glück im Vergessen« dank der Freundin Elsi Preisig

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Als Freiwillige in einem Haus, das viele lieber meiden Anne Marie Hodgskin-Roesle Die demenzfreundliche Gesellschaft Bettina Ugolini Demenz in anderen Kulturen Dagmar Schifferli

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GESUNDHEITSPOLITIK: FORDERUNGEN UND HERAUSFORDERUNGEN

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Demenzstrategie: ein politisches Abenteuer Jean-François Steiert Die demenzgerechte Klinik Daniel Grob, Irene Bopp-Kistler Zähne pflegen oder Zähne ziehen? Christian E. Besimo Karl geht auf Dienstreise – Anregungen für eine neue Gesundheitspolitik Anna Sax Mit Ausbildung soziale Teilhabe stärken Ulrike Höhmann Die DemenzSpitex – eine Berufung mit Zukunft Cornelia Kaya Wenn es Migrantinnen und Migranten trifft Christa Hanetseder Mensch sein – eine Ermutigung Annina Hess-Cabalzar, Christian Hess Europäische Zusammenarbeit im Bereich Demenz Heike von Lützau-Hohlbein Das erste Jahr mit Demenz Birgitta Martensson, Susanne Bandi

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FORSCHUNG: HOFFNUNG AUF DEN DURCHBRUCH

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Gesundheitsforschung bei komplexen Krankheiten Gerd Folkers, Helga Kessler Wie wirksam ist Prävention? Reto W. Kressig

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Die Frage der Vererbung Irene Bopp-Kistler Neue Strategien zur Therapie Anton F. Gietl Mythen & Legenden – was alles gegen Demenz helfen soll Michael Gagesch DEM ENDE ENTGEGEN

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Lebensqualität von Menschen mit Demenz – bis zuletzt Stefanie Becker 515 Die andere Seite der Palliation Irene Bopp-Kistler 526 Facetten der Langzeitpflege Silvia Silva Lima 535 Medizinische Entscheidungen am Lebensende Georg Bosshard 10 DIE SPIRITUELLE DIMENSION Die Demenzerkrankung als literarisches Thema Dagmar Schifferli 563 Demenz und Spiritualität – eine inklusive Sicht Ralph Kunz 570 Weil die Seele nicht verstummt Angelika U. Reutter 584 Fragmente Arno Geiger 552

ANHANG 589 Glossar/Sachregister 610 Anmerkungen 631

Weiterführende Literatur Buchempfehlungen der Herausgeberin 638 Weiterführende Informationen 642 Biografien 653 Bild- und Grafiknachweis 654 Dank 636


Irene Bopp-Kistler

Demenz. Würde und Schicksal Zunächst wollte ich Mathematik studieren, zugleich fühlte ich schon immer ein großes soziales Verantwortungsbewusstsein, sodass meine Wahl auf die Medizin fiel. Vielen ist nicht bewusst, dass die Mathematik Grundlage und Werkzeug für die Naturwissenschaften ist, somit auch für die Medizin, obwohl viele medizinische Errungenschaften einen empirischen Ursprung haben. »Die Mathematik sucht nach der Widerspruchsfreiheit in einem System«, so die Aussage eines Ehemanns, selber Mathematiker, der seine demenzkranke Ehefrau betreut. Früher waren Mathematiker auch Philosophen. Die Philosophie stützt sich nicht auf formale Beweisverfahren, sondern sie hinterfragt, argumentiert, denkt darüber nach, wie gewisse Begriffe verstanden werden könnten. Dieses Buch soll Fragen aufwerfen und Antworten anbieten, es wird eine Haltung ersichtlich, die die Menschen achtet, ob demenzerkrankt oder gesund. Menschen mit Demenz stellen sich zu Beginn der Erkrankung oft die Frage, wie es sein wird, wenn sie nicht mehr die Person von früher sein werden. Angehörige fürchten sich, dass sie vergessen könnten, wie die geliebte Person einmal war. Klar ist: Würde kann keinem Menschen genommen werden, auch nicht einem Demenzkranken, solange ihn das Gegenüber in seinem veränderten Sein annimmt und versteht. Demenz – Punkt. Es geht nicht um richtig oder falsch, es geht darum, dass wir uns nach dem Lesen dieses Buches für Gedanken öffnen, die uns bis anhin verborgen waren. Die Autoren sind einerseits renommierte Fachleute aus Medizin, Theologie und Wissenschaft, andererseits aber auch Menschen, die tagtäglich mit der Demenzerkrankung konfrontiert werden, sei das als direkt Be-

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troffene, als Angehörige oder als Professionelle. Zu Wort kommen zudem Journalisten, Politiker und viele andere Persönlichkeiten und greifen Themen auf wie Partnerschaft, Sexualität, Scham oder Wut. Wie gehen andere Kulturen mit der Demenzkrankheit um? Muss Palliation bei dieser Erkrankung anders definiert werden? Die Demenz tritt schicksalhaft in das Leben der Betroffenen und ihrer Familien. Giovanni Maio meint dazu: »Die Medizin ist angetreten, um das Schicksal zu bekämpfen … Aber gerade dieser erreichte Erfolg droht heute der Medizin zum Verhängnis zu werden, weil die moderne Medizin in ihrer auf Machbarkeit orientierten Grundhaltung dem Irrglauben verfallen ist, dass sie überhaupt kein Schicksal mehr zu akzeptieren brauche …«1 Viele Demenzerkrankte und ihre Angehörigen zeigen uns, wie sie lernen – trotz Schmerz –, das Schicksal zu akzeptieren. Die Erkrankung betrifft genau den Bereich, der uns so wichtig ist: unser Denken und unsere Persönlichkeit, weswegen sich die Frage stellt, ob ein solches Leben noch Sinn macht. Der Sinn des Lebens wird meist damit verknüpft, ob das Leben dem entspricht, was wir von ihm erwarten. Wenn man Sinn so definiert, dann hat das Leben mit Demenz tatsächlich wenig Sinn. Es könnte aber auch darum gehen, dass wir fähig werden, in jeder Situation, die uns schicksalhaft gegeben wird, nicht aufzugeben – wir alle sind Suchende. Der Sinn des Lebens ist nicht allein durch Hirnleistung bestimmt, sondern durch die bewusste Wahrnehmung jedes einzelnen, einzigartigen Moments. Eine Angehörige schreibt während des Sterbeprozesses ihres Ehemanns: »Ja, da sehnt man sich manchmal nach dieser Zeit, und wenn sie da ist, ist es auch wieder zu früh. Doch im Moment haben wir einfach ZEIT zum Dasein!« Leben besteht aus dem ständigen Prozess des Loslassens. Betroffene und ihre Angehörigen sind gezwungen, immer wieder loszulassen. In diesem Prozess des Loslassens sind sie uns voraus. Aus mir ist also keine Mathematikerin geworden, doch die Mathematik hat mir geholfen bei der Suche, Zusammenhänge und Widersprüche einzuordnen. Als Ärztin begleite ich nun Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen auf der Suche nach Antworten, auch in Momenten, da die Sinnhaftigkeit des Lebens infrage gestellt wird.

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1 demenz – eine krankheit mit vielen facetten 12


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Die Demenz beginnt schleichend Irene Bopp-Kistler

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Die Hoffnung stirbt zuletzt Frau W.

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Wenn der Hausarzt gefordert ist Klaus Bally

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Was Alois Alzheimer nicht ahnen konnte Irene Bopp-Kistler

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»Blaue Katzen gibt es nicht« – Neuropsychologische Perspektiven Brigitte Rüegger-Frey

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Urteilsfähigkeit und selbstbestimmte Entscheidungen Manuel Trachsel, Daniel Hürlimann

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Irene Bopp-Kistler

Die Demenz beginnt schleichend Bevor die Menschen zu mir in die Sprechstunde kommen, liegt eine lange Zeit der Verunsicherung und schließlich der Verzweiflung hinter ihnen. Ein Name wird vergessen, ein Schlüssel nicht gefunden, die Wörter liegen nicht mehr auf der Zunge. Wir alle kennen die Reaktion auf solche Fehlleistungen: Wir sind verunsichert, spüren auch eine leichte Angst, die mit jeder weiteren Situation des Vergessens noch stärker wird. Solchen Situationen begegnen wir nur ab und zu, doch bei Menschen mit einer Demenz [↗] gehören solche Momente zum ständigen Erleben. Eine Demenzerkrankung ist eine Hirnerkrankung, die zu Einschränkungen von mehreren Hirnfunktionen führt, was Einbußen im Alltag zur Folge hat. So lautet die kürzeste medizinische Definition der Demenz. Der Selbstwert und das Selbstverständnis der Betroffenen werden schon zu Beginn der Erkrankung erschüttert, die Angst ist ein ständiger Begleiter, und diese wird mit jeder noch so kleinen Fehlleistung immer größer. Menschen mit einer beginnenden Demenz haben enorme Angst, über ihre Aussetzer zu sprechen, weil sie sich vor der Reaktion ihres Gegenübers fürchten. Und das lässt die Angst noch größer werden. Erst wenn wir uns vor Augen halten, wie einsam und unverstanden sie sich fühlen müssen, können wir uns in die Menschen mit einer beginnenden Demenzerkrankung hineinversetzen. Bei fast allen Patienten beginnen die Leidensgeschichten nahezu gleich. Ständige Vergesslichkeit begleitet mich: Ich suche nach Namen, bin weniger speditiv, am Arbeitsplatz bringe ich nicht mehr die gewohnten Ergebnisse. Ich befinde mich in einer permanenten

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Gesundes Gehirn

Hirnrinde Normal großer Ventrikel Hippocampus

Beginnende Alzheimerkrankheit Geschrumpfte Hirnrinde

Leicht vergrößerter Ventrikel Schrumpfender Hippocampus

Fortgeschrittene Alzheimerkrankheit Stark geschrumpfte Hirnrinde

Stark vergrößerter Ventrikel

Starke Schrumpfung des Hippocampus

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Stresssituation. Das Mitarbeitergespräch fällt, nach Jahren der Zufriedenheit und der Wertschätzung, plötzlich schlecht aus. Ich fühle mich benachteiligt, nicht verstanden, alleine gelassen.

Am Morgen habe ich keine Lust aufzustehen. Ich habe keine

Motivation, zur Arbeit zu gehen, bin erschöpft und lustlos. Ich bin wütend, mache andere für meine Situation verantwortlich. Ich fühle mich von Kolleginnen und Kollegen gemobbt. Hinter meinem Rücken wird über mich geredet, aber nicht mit mir. Ich lasse mich krankschreiben, Burn-out, da hat man das Recht dazu. Trotzdem fühle ich mich nicht besser. Auch zu Hause treten Fehler auf, auch hier werde ich nicht verstanden, es kommt ständig zu Streit. Ich wehre mich gegen alles, möchte einfach in Ruhe gelassen werden.

Ob ich Alzheimer habe? Doch ich verdränge diesen Gedanken

sofort. Die Menschen würden mit dem Finger auf mich zeigen. Ich stecke in einer Sackgasse. Alle machen mir Vorwürfe, wollen alles besser wissen. Es ist dicke Luft im Haus. Ich werde wieder krankgeschrieben, zuerst vom Hausarzt, dann von einem Psychiater wegen einer Depression [↗]. Ich weiß nicht, ob ich depressiv bin, ich mag nicht mehr, mag auch nicht mehr unter die Leute.

Ich schäme mich, bin aber gleichzeitig froh, dass mich meine

Frau endlich darauf anspricht, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich streite es ab, und dennoch nehme ich wahr, dass etwas anders ist. Erneut Streit, Argumente und Gegenargumente.

Und dann die Aufforderung meines Hausarztes, zu einer Ab-

klärung in eine Memory-Klinik [↗] zu gehen. Ich sträube mich dagegen, doch so kann es auch nicht weitergehen. Andererseits: Endlich wird meine Situation ernst genommen. Doch was kann es sein? Hoffentlich nicht Alzheimer, ich bin doch erst 56? Ich hoffe auf eine Ursache, die man behandeln kann … Ein Erleben, das Unzählige mitten unter uns durchmachen. Eine Geschichte, die nicht in den Zeitungen steht; eine Geschichte, die in keinem Lehrbuch zu finden ist, und dennoch ist sie lehrbuchhaft. Jede Demenzerkrankung beginnt unmerklich, die Betroffenen spüren Veränderungen an sich, können diese aber nicht richtig einordnen. Angehörige nehmen Defizite wahr, ein eigenarti-

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ges Verhalten, wagen aber nicht, darüber zu sprechen. Doch die Veränderungen lassen sich nicht länger ignorieren. Eine Abklärung wird immer dringlicher. Überweisungszeugnis eines 58-jährigen Ökonomen in verantwortungsvoller Position: Die überweisende Psychiaterin schreibt, dass sich der Patient umbringen würde, wenn ich ihm allenfalls die Diagnose der Demenz übermitteln müsste.

Vor mir sitzt eine starke Persönlichkeit, die im Berufsleben

zunehmende Kränkungen erfährt, weil es immer wieder zu unangenehmen Vorfällen kommt. Es fällt die Diagnose eines Burnouts, der Patient versucht trotzdem wieder 50% zu arbeiten, aber es geht nicht, er fühlt sich müde und antriebslos. Nach intensiven Abklärungen zeigt sich, dass es sich bei ihm um eine beginnende Alzheimerdemenz [↗] handelt.

Im Beisein seiner Ehefrau sage ich: »Sie haben Alzheimer-

demenz.« Nach einer kurzen Pause fahre ich fort: »Ihre Psychiaterin schreibt, dass Sie nun Ihrem Leben ein Ende setzen möchten.« Der Patient schaut mich an und erwidert: »Endlich kann ich meine Defizite richtig einordnen, ich möchte krankgeschrieben werden.« Was hat diesen Menschen fast in den Suizid getrieben? Es war nicht die Diagnose einer Alzheimerdemenz, sondern die unklare Situation, die an seinem Selbstwertgefühl rüttelte. Der gestandene Ökonom wurde nur noch auf seine Defizite aufmerksam gemacht und nicht mehr auf seine Stärken. Zwei Jahre später geht es dem Patienten subjektiv gut, für seine Ehefrau waren es Jahre des Wachstums und des Lernens. Der Patient braucht keine Antidepressiva mehr, er arbeitet nicht mehr und hat sich neue Aufgaben gesucht: mehr Sport, Mitwirken in einem Historikerclub (er wird dort geschätzt, hat seine Situation offen dargelegt), Reisen nach Amerika, wo er sich immer schon wohlfühlte. Auf meine Empfehlung hin hat er sich im Geschäft zu seiner Krankheit bekannt und darauf nur positive Reaktionen erhalten. Immer wieder wird postuliert, dass man Menschen mit der Diagnosestellung Alzheimer in den Suizid treiben könnte. Genau

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das Gegenteil ist der Fall: Die Unsicherheit, das Verlorensein in einer nicht einzuordnenden Situation führt zu suizidalen Gedanken. Eine offene Kommunikation über die Diagnose Demenz ermöglicht es Angehörigen und Betroffenen gleichermaßen, das Leben neu an die Hand zu nehmen, auch wenn die Diagnose zunächst schockiert. Und in der Mehrheit der Fälle führt die Diagnosestellung zu einer Milderung der Symptome.

Eine Abklärung erfindet keine Diagnose, sondern gibt Symptomen einen Namen! Eine klare Diagnosestellung ist essenziell, weil sich nicht hinter jeder kognitiven [↗] Einbuße eine Alzheimerdemenz versteckt. Umso unverständlicher ist die Tatsache, dass oft geäußerte Symptome, die von Patienten beunruhigend empfunden werden, von ihrer Umgebung und leider auch von Hausärzten zu wenig ernst genommen werden. Wieso werden ausgerechnet Beschwerden, die die Hirnleistung betreffen, von vielen Ärzten bagatellisiert? In einem Workshop für Hausärztinnen und Hausärzte habe ich genau diese Frage gestellt; die offene Antwort, von mehreren Kollegen bestätigt: Im Vordergrund steht die Befürchtung, dass nach einer Demenzdiagnose ein riesiges Case management nötig ist, für das sie kaum Zeit finden. Dazu gehören beispielsweise die Besprechung der Fahreignung [↗], die Abklärung der Urteilsfähigkeit, die Organisation von Hilfe, der Miteinbezug von Angehörigen. Diese längst nicht vollständige Liste zeigt, wie komplex die Situation nach einer Demenzdiagnose ist. Die Antworten zeigen aber auch, dass unser Gesundheitssystem sehr stark auf die Behandlung der Somatik (= körperliche Beschwerden) ausgerichtet ist und dass zeitintensive sozialmedizinische Betreuung finanziell nicht adäquat abgegolten wird. Das muss sich ändern, denn Demenzkranke werden eine Realität in allen Praxen sein. Das Gesundheitssystem sollte die praktizierenden Ärzte unterstützen, die sich bereit erklären, solche Patienten ganzheitlich zu betreuen, und die auch die Bereitschaft mitbringen, Krisensituationen zu managen. Denn: Krisen sind bei allen Demenzbetroffenen vorprogrammiert.

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Ein weiterer Grund, wieso Grundversorger vor der Diagnosestellung zurückscheuen: Die medikamentösen therapeutischen Möglichkeiten sind begrenzt. Immer wieder höre ich: Keine Therapie, wieso also eine Abklärung? Ein solcher Satz zeugt von einem medizinischen Denken, das nur auf »Machbarkeit« ausgerichtet ist. Ein hochbetagter Mensch mit einer leichten Hirnleistungsstörung, der bereits über ein breites Unterstützungsnetz verfügt und bei dem keine größeren sozialmedizinischen Schwierigkeiten vorhanden sind, braucht auch aus meiner Sicht nicht dieselbe intensive Abklärung wie ein jüngerer, noch im Arbeitsprozess stehender Patient. Doch auch ältere Menschen mit kognitiven Problemen haben das Recht auf Abklärung und Wissen. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, dass bezüglich technischer Abklärungen und Eingriffe keine Altersbeschränkung vorhanden ist, doch wenn es um Hirnleistung geht, dann wird nicht mit der gleichen Elle gemessen. Die Abklärung einer Hirnleistungsstörung ist nicht nur wegen des ganzheitlichen therapeutischen Ansatzes gefragt, sondern vor allem, um mögliche Ursachen zu identifizieren, die behandelbar sind. Dazu gehören unter anderem Stoffwechselstörungen, Vitaminmangelzustände und Entzündungen. Neben einer breiten internistischen Abklärung sollte auch immer eine Bildgebung (MRI [↗] oder ein CT [↗]) gemacht werden, mittels der die Suche nach

Tumoren oder Blutungen möglich ist. Speziell soll an dieser Stelle das Subduralhämatom [↗] erwähnt werden, das oft unerkannt bleibt oder mit einer Demenzerkrankung verwechselt wird. Die Assistenzärztin ruft mich zu einem älteren, leicht verwirrten Mann. Die Ehefrau berichtet, dass er sich in den letzten Monaten mehr und mehr zurückgezogen habe und eine deutliche Störung des Gedächtnisses [↗] zeige. Er könne aber immer noch gut gehen, sie unternehmen noch lange gemeinsame Spaziergänge. Das in unserer Klinik routinemäßig durchgeführte MRI des Hirns zeigt zu unserem Erstaunen zwei ausgedehnte Subduralhämatome, obwohl das klinische Bild überhaupt nicht dazu passte. Nach einem operativen Eingriff erholte sich der Patient.

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Normales Hirn

Schwere Atrophie: Hirnrinde stark geschrumpft, vergrößerte Ventrikel

Normales Hirn (coronarer Schnitt): Hippocampus normal groß

Schwerste hippocampale Atrophie: Hippocampus ist stark geschrumpft

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Frontalinfarkt: Durchblutungsstörungen eines großen Hirngefäßes Mikrovaskuläre Veränderungen: Durchblutungsstörungen von kleinen Hirngefäßen

Frontalinfarkt

Mikrovaskuläre Veränderungen

Frontotemporale Demenz

Multiple Mikroblutungen

Normaldruckhydrocephalus

Subduralhämatom: große Blutung

Riesiges Meningeom (gutartiger Tumor)

Meningeom drückt auf Hippocampus

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4 therapien: kaum medikamente

– viele andere mÜglichkeiten 218


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Therapeutische Möglichkeiten Irene Bopp-Kistler

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Soziotechnische Systeme zur Unterstützung Kerstin Wessig

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Das Vergessen vergessen – in der Musiktherapie Antoinette Niggli

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Begleitetes Malen – ein Anker im Sturm der Verluste Katharina Müller

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»Aber ich bin doch noch da« – Theater mit Demenzerkrankten Christine Vogt

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Mit Heintje aus dem Alltag hinaustanzen Melanie Keim

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»Aufgeweckte Kunst-Geschichten« – Ich bin verliebt Sandra Oppikofer, Susanne Nieke, Karin Wilkening

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Die »Ess-Kümmerer« Markus Biedermann

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Katharina Müller

Begleitetes Malen – ein Anker im Sturm der Verluste Kreativer Ausdruck als Stärkung der eigenen Persönlichkeit, als individueller Freiraum jenseits von Müssen und Defiziten, als Potenzial schöpferischer Kraft und eigener Ressource, als Freude am Tun und Freude am Sein. Das erlebe ich täglich in meinem mobilen Malatelier, mit dem ich seit 2003 an verschiedenen Orten Begleitetes Malen für Menschen mit Demenz [↗] anbiete. Die meisten Menschen mit demenziellen Veränderungen nehmen emotional sehr viel von ihrer Umgebung wahr. Sie sind bei fortgeschrittener Demenz den Reizen der Umwelt aber oft ungeschützt ausgesetzt, weil sie das Wahrgenommene nicht mehr über ihre kognitiven [↗] Fähigkeiten lenken oder einordnen können. Deshalb brauchen diese Menschen eine »Medizin«, in der sie das Unerklärliche über den Körper ausdrücken können und Zentrierung auf sich selber erfahren. Von Demenz betroffene Menschen erhalten durch körper-orientierte, künstlerische Gestaltung eine nonverbale [↗] Ausdrucksform, die dort ansetzt, wo rationales, intellektuelles Denken nicht hinreicht: in das tiefe eigene Innere, die Seele oder den persönlichen Kern. Es ist der Kern, der trotz allen anderen Verlusten nicht verloren geht. Zahlreiche Bildspuren [↗]20 aus dem Begleiteten Malen bestätigen dies: Obwohl die einzelnen Bildspuren verschieden sind, ist der individuelle Ausdruck wie eine persönliche Handschrift in jedem Bild erkennbar. Selbst im fortgeschrittenen Stadium der Demenz mit wenig kognitiver Steuerung zieht sich der persönliche Ausdruck durch alle Bilder.

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Oft sind die Malenden selber überrascht und erfreut ob ihrem eigenwilligen und sichtbaren Ausdruck, und ich staune immer wieder von Neuem, welche unvoreingenommene Lebenskraft sich in den Bildern zeigt. Viele Malende können sich mit großer Intensität den Farben und Formen hingeben, mit »Leib und Seele bei der Sache sein« und sich in den schöpferischen Dialog mit sich selber begeben. Gelingt dies, wirkt sich dieser Prozess auch heilsam auf Leib und Seele aus. Einerseits, weil das selber Geschaffene zutiefst befriedigt, und andererseits, weil die körperliche Einstimmung und die kräftigen Farben durch die bewegte Hingabe die Selbstwahrnehmung unterstützen und dadurch den Geist und die Seele beleben. Selbst wenn die äußere Bildspur im Nachhinein in Vergessenheit gerät, bleibt die körperliche und geistige Wirkung. Einer inneren Orientierungslosigkeit wird für einige Momente Boden und Anker geschenkt, was am gemeinsamen Lachen und der lebhaften Kommunikation, die oftmals im Anschluss an den Malprozess stattfindet, beobachtbar ist. Jeder Mensch hat ein kreatives Potenzial. Kreativität ist die persönliche, schöpferische Ressource, um das Leben zu gestalten und sich selber in die Welt einzubringen. Menschen mit Demenz haben, bedingt durch ihre veränderte Wahrnehmung der Realität, ein oft toleranteres Auftreten sich selber und anderen Menschen gegenüber. Viele erhalten durch den Verlust konventioneller Werte eine große Freiheit in ihrem persönlichen Ausdruck, und sie sind den Teilnehmern in der Gruppe gegenüber meist freundschaftlich und interessiert gesinnt. Aus diesem Grund sind Gruppenangebote für Menschen mit Demenz gegenseitig bereichernd und unterstützend, gerade durch die individuelle Vielfältigkeit, die zum Selbermachen anspornt. Sei dies in Malspuren, Klangbildern, im Tanz-Theater, Tonen, Schnitzen, Schleifen, Tasten, Spüren, eben beim »mit allen Sinnen bei der Sache Sein«. Das Leibgedächtnis, das Gedächtnis [↗] des Erlebens, wie es Baer ausdrückt,21 geht demenzbetroffenen Menschen auch im fortgeschrittenen Stadium ihrer Krankheit nicht verloren, im Gegenteil. Ich habe erfahren, dass sich die Sinneswahrnehmung der betroffenen Menschen gerade durch die Einschränkung logischen Denkens mehr Raum verschafft. Die zwischenmenschliche Begeg-

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S. 251, oben: Malen im eigenen Kรถrperrhythmus


nung verlagert sich auf die Sinnesebene im Hier und Jetzt – wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen. Oder wie es Christine Bryden, selber von Demenz betroffen, in ihrem Buch ausdrückt: »Unser Hirn ist geschädigt, und deshalb haben wir vergessen, ob Sie uns in der Vergangenheit verletzt haben, deshalb kümmert es uns nicht, was Sie uns in Zukunft antun könnten und deshalb haben wir auch keine Ahnung, ob wir Ihnen etwas angetan haben oder versäumt haben, etwas für Sie zu tun. Wir können nur jeden Moment des ›Jetzt‹ intensiv mit Ihnen erleben. Lernen Sie diese Momente zu schätzen und Sie werden Zeuge echter Selbstakzeptanz.«22 Am Beispiel des Begleiteten Malens kann ein Einblick davon gewonnen werden, wie Menschen mit Demenz ihre Persönlichkeit über Farben und Formen ausdrücken oder sich mit ihrer Lebenssituation und ihrer veränderten persönlichen und fremden Wahrnehmung auseinandersetzen. In diesem Sinne ist das Begleitete Malen keine Therapie, sondern Hilfe zur Selbsthilfe und Lebensfreude. Die Funktion der Malbegleiterin ist es, die Malenden in diesem »Jetzt« willkommen zu heißen und sie über körperliche Einstimmung behutsam und ohne Manipulation in die eigene Malbewegung zu begleiten. Die Malenden sind dadurch ganz auf sich zentriert und können ihrem »Da-Sein« und »So-Sein« den authentischen und sie stärkenden Ausdruck verleihen.

Oben: Mit großer Sensibilität gemaltes letztes Bild einer demenzkranken Frau, kurz vor ihrem Sterben. Sie sagt dazu: »Jetzt ist die Blume geknickt.« S. 255f.: Malend zur Frage: Bin ich noch der, der ich bin?

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8 forschung: hoffnung auf den durchbruch

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Gesundheitsforschung bei komplexen Krankheiten Gerd Folkers, Helga Kessler

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Wie wirksam ist Prävention? Reto W. Kressig

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Die Frage der Vererbung Irene Bopp-Kistler

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Neue Strategien zur Therapie Anton F. Gietl

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Mythen & Legenden – was alles gegen Demenz helfen soll Michael Gagesch

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Gerd Folkers, Helga Kessler

Gesundheitsforschung bei komplexen Krankheiten Trotz intensiver Forschung gibt es bis heute keine wirksame Therapie der Alzheimerdemenz [↗]. Tatsächlich illustrieren die Fehlschläge der letzten Jahre die Paradigmen und die generellen Probleme der modernen Biomedizin. Was lässt Menschen gesund altern? Und welche Faktoren erhöhen das Risiko, an Alzheimer zu erkranken? Das waren die Fragestellungen, die der amerikanische Epidemiologe David Snowdon mit der sogenannten Nonnenstudie1 beantworten wollte. Teilnehmerinnen der im Jahr 1986 begonnenen Studie sind 600 Klosterfrauen der School Sisters of Notre Dame im Alter von 76 bis 107 Jahren. Für die Forschung ist die Studie deshalb von unschätzbarem Wert, weil die Klosterregeln die Nonnen zu einer einheitlichen Lebensführung über einen sehr langen Zeitraum anhalten und weil sich die Teilnehmerinnen verpflichteten, ihr Gehirn nach ihrem Tod einer wissenschaftlichen Untersuchung zu überlassen. So konnten pathologische Gehirnbefunde mit der Lebensweise korreliert werden. Die enorme Bedeutung dieser noch immer laufenden Studie für die Demenzforschung ist bis heute nicht verstanden. So fehlt es an einer Erklärung, warum die Diagnose Alzheimer, die erst post mortem [↗] gestellt werden kann, in vielen Fällen nicht mit der Lebensweise korrelierte: Bei Ordensschwestern, die noch bis kurz vor ihrem Tod geistig »vollkommen auf der Höhe« waren, zeigten sich in den Hirnschnitten multiple Plaques.2 Teilweise ließ sich auch

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das Umgekehrte beobachten. Beide Befunde sprechen stark gegen die dominierende sogenannte Abeta-Hypothese. Sie geht von einer zentralen Rolle des Amyloid-Beta-Proteins (Abeta) aus, das in einer »falschen« dreidimensionalen Faltung akkumuliert und Fibrillen bildet. Diese verklumpen außerhalb der Nervenzellen und bilden Plaques. Der präzise biochemische Mechanismus, der dann zu der beobachtbaren physischen Degeneration des Hirns führt, ist nach wie vor nicht klar. Erklärungen reichen von der Störung des Ionenhaushaltes der Nervenzellen, die zu ihrem Abbau führen, bis hin zu physikalischen Interaktionen mit den Amyloid-Fibrillen oder ihren Superstrukturen, die Nervenzellen mechanisch zerstören. Ihre Attraktivität erhält die Abeta-Hypothese durch die Tatsache, dass das Vorläufereiweiß des Abeta genetisch auf dem Chromosom 21 lokalisiert ist. Patienten mit Down-Syndrom, einer Aberration ebenjenes Chromosoms, zeigen schon früh alzheimerartige Symptome.3 Ebenso lässt sich in genetisch veränderten Mäusen eine Art Alzheimererkrankung »herstellen«. Verblüffenderweise zeigt sich auch hier eine Diskrepanz: Es gibt Mäuse mit Plaques, und solche ohne. Die, bei denen zusätzlich zur Bildung von Amyloid-Fibrillen auch noch Plaques auftreten, sind offensichtlich durch die Krankheit nicht stärker belastet als die anderen, die »nur« Fibrillen erzeugt haben.4 Eine zweite Gruppe von Spielern im Krankheitsgeschehen sind Eiweiße mit dem Sammelnamen »Tau«. Sie kommen am häufigsten in den Nervenzellen des Gehirns vor und stabilisieren wichtige zelluläre Strukturen. Bricht diese Stabilisierung zusammen, indem diese Tau-Proteine andere geometrische Formen annehmen, selbst assoziieren und in Neuronen abgelagert werden, entsteht ein neurodegeneratives Krankheitsbild, dessen eine Variante die Alzheimererkrankung ist. Noch ist sowohl die Rolle der Plaques unklar, als auch, was die Veränderungen in den Tau-Proteinen auslöst. Was genau die Ursache für Demenz ist, weiß man bis heute nicht.5 Und trotz intensiver Forschung gibt es keine kurative Therapie – auch wenn regelmäßig Hoffnung auf eine solche geweckt wird.6

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Der Serendipity-Effekt Nach wie vor werden »Durchbrüche« in der Alzheimer-Forschung verkündet, die einer seriösen Überprüfung kaum standhalten. Beispielhaft lässt sich dies an einer aktuellen klinischen Studie der Wiener Firma AFFiRiS illustrieren. Gemäß einer Pressemitteilung vom 4. Juni 2014 stoppt der Wirkstoff AD04 das Fortschreiten von Alzheimer.7 Gemessen wurde dieser Effekt über Gedächtnisleistungstests und über die Stabilisierung des Hippocampus-Volumens [↗], der als Biomarker [↗] für die Ausprägung von Alzheimer schon seit geraumer Zeit bekannt ist.8 Gemäß der Studie korrelierten das Hippocampus-Volumen und die kognitiven [↗] Gedächtnisleistungen. Betrachtet man die Erfolgsgeschichte jedoch etwas genauer, zeigen sich Unstimmigkeiten. Registriert ist die klinische Studie gegen Alzheimer als »Clinical- and Immunological Activity, Safety and Tolerability of Different Doses/Formulations of AFFITOPE AD02 in Early Alzheimer’s Disease«.9 Die Studie hat vier Arme: A, B, C und D, in jedem wird ein Wirkstoff in einem anderen Kontext – beispielsweise in einer anderen galenischen [↗] Zubereitung oder einer anderen Konzentration – untersucht. Der eigentliche Wirkstoff in den ersten drei Armen A, B und C ist laut Registration immer derselbe: AFFITOPE AD02, ein synthetischer Impfstoff, der ein Teilstück des »bösen« Beta-Amyloids verwendet, das an eine neutrale Matrix gebunden ist. Aufgrund seiner speziellen Konstruktion vermeidet er wesentliche Nachteile früherer Alzheimer-Impfstoffe. So mussten vor mehr als zehn Jahren Impfstudien mit Amyloid-Fragmenten abgebrochen werden, weil es zu Hirnhautentzündungen kam.10 Der vierte Arm D in der Studie ist die Placebo-Kontrolle [↗], die kein AFFITOPE AD02 enthält. Zur großen Überraschung war der wirksamste Arm der Studie Arm D, der gar keine Wirkung zeigen sollte. In der Folge wurde die Placebozubereitung in AD04 umbenannt. Damit wird suggeriert, es handele sich um ein geplantes Vorgehen. In Wirklichkeit basiert das Ergebnis auf dem Serendipity-Effekt [↗], dem in der Arzneimittelentwicklung häufiger anzutreffenden Phänomen, dass eine sorgfältig zielgerichtete Suche zu einem völlig anderen – aber nicht minder erfreulichen – Ergebnis führt. In einem ersten Interview konstatierten die beteiligten Wissenschaftler offen ihre Verblüf-

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fung und merkten an, dass sie die Placebolösung »trüb« machen mussten, weil auch die Wirkstofflösung trüb sei.11 Warum diese hektische Umbenennungsaktion, warum diese marketingtechnische Verschleierung, warum glauben machen, man habe alles vorhergesehen und geplant? Und warum wurde die Abeta-Hypothese nie ernsthaft infrage gestellt? Nach wie vor dominiert sie die Alzheimer-Forschung, obwohl sich fast alle Wirkstoffe, die zwischen 2002 und 2012 in Studien getestet wurden, als Fehlschläge erwiesen, genauso wie Wirkstoffe, die an anderen Stellen wie etwa den Tau-Proteinen ansetzen.12 Tatsächlich illustrieren die Fehlschläge die Paradigmen und die generellen Probleme der modernen biomedizinischen Forschung.

Rationales Design Das Paradigma des »rational design« impliziert, dass die genaue Kenntnis der Ursachen einer Erkrankung die Synthese eines maßgeschneiderten Wirkstoffs erlaubt, der die Erkrankung, oder zumindest ihre Symptome, zum Verschwinden bringt. Die Erfolgsgeschichte der Antibiotika zeigt, dass das funktionieren kann. Bei der Demenzforschung dagegen stößt das Prinzip an Grenzen, wie die AD02/04-Impfstudie exemplarisch zeigt. Hier war das gesamte rationale Design nicht erfolgreich: Der synthetische Impfstoff funktioniert im Menschen nicht so wie in der Maus oder im Reagenzglas. Der eigentliche Erfolg war reiner Zufall. Die Firma operierte gleich mit mehreren Hypothesen, die in der klinischen Studie widerlegt wurden. Dazu gehörte die Vermutung über eine wirksame Immunisierung gegen Amyloide zur Therapie von Alzheimer und/oder Demenz [↗], die Vermutung über die Ähnlichkeit von Mensch und Maus, die Vermutung über die detaillierte Kenntnis des Wirkungsmechanismus ihres eigenen Präparats, die Vermutung über die genaue Kenntnis der NichtWirkung eines Placebo-Präparats. Dem steht massive Kritik aus Klink und Akademie bezüglich der therapeutischen Versprechen gegenüber,13 was die Finanzsituation der Firma nicht erleichtert. Es ist also absolut verständlich, dass man mit Kapitalgebern und Öffentlichkeit nicht wissenschaftliches

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Scheitern diskutiert, sondern den Erfolg präsentiert. Um ihn als Erfolg für die Firma zu reklamieren, ist es aber notwendig, glaubhaft zu machen, alle diese Resultate seien irgendwie Bestandteil grundlegender Planung. Hier sei noch einmal ausdrücklich betont, dass es nicht um die genannte Firma geht, sondern dieser Fall exemplarisch für die aktuelle Situation der Arzneimittelentwicklung ist. Die Forschungsabteilungen großer Pharmafirmen versuchen retrospektiv die Entwicklung erfolgreicher Konkurrenzpräparate anhand der zugänglichen Daten zu verstehen und stehen oft fassungslos vor der Frage, was die Kolleginnen und Kollegen des Mitbewerbers wohl zu diesem oder jenem Schritt oder Schluss geführt haben mag. Logisch einsichtig sind viele der Entwicklungen nicht, weil sie auf ähnlichen Zufällen beruhen. In den Berichten vereinzelter Patientenorganisationen wurde angemerkt, dass bei der AD02/04-Pressekonferenz zwei psychologische Auswertungen, nämlich die Messung der Funktionalität im täglichen Leben (Alzheimer’s Disease Cooperative Study-Activities of Daily Living Inventory: ADCS-ADL) und die kognitive Leistungsfähigkeit (Alzheimer’s Disease Assessment Scale-Cognitive Subscale: ADAS-Cog) zu einer einzigen Auswertung zusammengelegt wurden. Typischerweise werden diese in anderen Studien getrennt ausgewertet. Diese Beobachtung bringt uns zu einer weiteren Problematik der modernen biomedizinischen Forschung: der Definition eines geeigneten biochemischen Ziels (Target), eines aussagekräftigen primären klinischen Endpunkts [↗] einer Studie und der Verwendung geeigneter Biomarker.

Vom Gen zur Krankheit Ein weiterer zentraler Punkt ist der tiefe Glaube an die Linearität (und Monotonie) des translationalen Forschungsansatzes. Dieser besagt, dass eine genetische Änderung eine biochemische Änderung mit sich bringt, die wiederum eine zelluläre und auch organismische Veränderung zeitigt, die sich schließlich im Krankheitsphänomen bemerkbar macht. Die aufsteigende Kausalitätskette wiederholt sich im fragmentieren Forschungsansatz: Aus der Beobachtung von kranken Menschen (Epidemiologie) und de-

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Abnormal

Hypothetisches Modell der Enstehung der Alzheimererkrankung

Amyloid-β-Bildung (nachweisbar im PET und Hirnflüssigkeit)

Tau-Phosphorylisierung (nachweisbar im Liquor)

Hirnstruktur (nachweisbar im MRI)

Gedächtnis Alltagsfunktionen Normal

Präklin. Stadium

MCI

Demenz

Modifiziert nach Jack, C. R. Jr., Knopman, D. S., Jagust, W. J. et al.: Hypothetical model of dynamic biomarkers of the Alzheimer's pathological cascade, Lancet Neurol. 9 (1), 2010, S.119–128.

ren genetischer Spezifikation schließt man auf eine allgemeingültige genetische oder biochemische Krankheitsursache (Target). Für dieses Target entwickelt die Chemie zielgerichtet einen Wirkstoff, der nun von Zellkulturen über Mäuse, Ratten, Hunde bis zum Menschen eine evolutionär zunehmende Komplexität durchläuft, um seine Wirksamkeit zu beweisen. From bench to bedside – vom Labor zum Patienten – heißt der Wahlspruch. Der Schock der letzten Dekade der Arzneimittelforschung lag nicht in den vielleicht zu erwartenden toxischen Nebenwirkungen der Stoffe, sondern im Gegenteil, es dominierte in der Klinik die Unwirksamkeit. Sehr viele und sehr teure Entwicklungen, die noch in Säugetieren hoffnungsvolle Vertreter innovativer Therapien waren, starben in der Klinik an lack of efficacy, am Mangel klinisch nachweisbarer Wirksamkeit. Das bringt uns zurück zu der Frage, ob die β-Amyloide, ihre Fragmente und die zelluläre Biochemie ihrer Entstehung überhaupt ein relevanter Angriffspunkt (Target) für eine Therapie sind. Definitionsgemäß ist ein »gutes« Target ein Molekül, in der Regel

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