Rogue Nation 03/01

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10c JAHRGANG 3 / HEFT 1 – MAI 2016

ROGUE BOGUES

AMERICAN GODS

e u g o R e Th NEIL GAIMAN

DER KÖNIG IN GELB ROBERT W. CHAMBERS

STORIES GEDICHTE REZENSIONEN

And the Dead RALPH

1

STIEBER JULIAN DRESCHER FRANK TRUMMEL JASON DUNKLE JOHANNES TOSIN IVAR BAHN


PULP NOIR CRIME 2

www.rogueblogue.de


LE BIG FUCK Von RALPH STIeber

Seite 4

DAS UNDEFINIERBARE RAUSCHEN Von Julian Drescher

Seite 14

Die Toten und das Liebe Leben Von Frank Trummel

SEITE 23

Der Letzte Bissen Von Jason Dunkle

Seite 40

Christoph träumt VON Johannes Tosin

Seite 50

Champions Von Ivar Bahn

Seite 67

Rogue Bogue American Gods – Neil Gaiman Der König in Gelb – Robert W. Chambers

Seite 68

AUTOREN / IMPRESSUM

Seite 70 3


LE BIG FUCK von Ralph Stieber Ich trage ein T-Shirt. Weiß. V-Ausschnitt. Eine Leinenhose. Weiß. Ich fasse mir in den Schritt, ziehe den Hosenbund nach vorne, so, dass ich meinen Schwanz sehen kann. Er häng leblos in einer weißen Baumwollshorts. Weiß. Weiß. Weiß. Und dann entdecke ich das einzige Schwarze hier in diesem Raum, abgesehen von meinen Haaren, aber die kann ich gerade nicht sehen. Auf meinem rechten Unterarm steht in dicken schwarzen Lettern: LE BIG FUCK. In die Haut gestochen. Eine Tätowierung, die einzige auf meiner Haut, soweit ich das erkennen kann. Ich kann mich nicht erinnern, wo, wann und warum ich mir diese Tätowierung habe stechen lassen. Ich weiß es nicht. Diese Worte sagen mir nichts. Ich kann damit nichts anfangen. Ich starre auf meinen Unterarm und hoffe dass irgendetwas passiert. Dass ein Bild vor meinen Augen aufblitzt, ein Film beginnt, ein Hörspiel… Ben, sagt er. Er spricht meinen Namen vorsichtig aus. Ich weiß nicht wie er das schafft, bei nur drei Buchstaben, aber er macht es gut. Er wagt sich vor, sucht irgendeine unebene Stelle, an die er sich festhalten kann. Eine Öffnung, einen Eingang, einen Zugang zu seinem Patienten. Der gute Sven. Das ist sein Name. Das war das erste was er mir an meinem ersten Tag sagte und es ist das einzige, woran ich mich von diesem ersten Tag erinnern kann. Sven sieht aus wie der typische Schwede. Groß, blond, strahlend blaue Augen - seine Vorfahren waren Wikinger, die Bäume ausrissen und sie als Streichhölzer benutzten, die Wildschweine mit ihren bloßen Händen killten und auf ihren Schultern, raus aus dem Wald und in ihr Dorf schleppten. Sven lächelt immer. Nein, Sven strahlt. Von innen nach außen. Würde man ihm den Weltuntergang für morgen vorhersagen, würde er selbst dann noch etwas positives finden, warum es sich zu lächeln lohnt. Der Sinn des Lebens glücklich sein mit aller Macht. Mein Gesicht, 4 meine Augen, meine Aura sind eine Wand aus Milchglas. Du kannst nicht hindurchschauen. Du findest nichts, was dir einen Grund geben könnte, mich einzuschätzen, mich zu bewerten, zu


analysieren. Sven legt den Kuli auf das Klemmbrett, dann das Klemmbrett auf den Boden. Er schlägt seine Beine übereinander. Weiße Socken, die in weißen Birkenstock stecken. Er wartet auf eine Reaktion, irgendetwas. Ich mache das, was ich die letzten fünf Minuten getan habe, schaue durch ihn hindurch. Ich glaube nicht, dass er irgendeine Veränderung in meinem Gesicht wahrnehmen kann. Es gibt keine. Ben, weißt du wie lange du hier bist, fragt er. Drei Tage sind es, das sag ich ihm aber nicht. Drei Tage, sagt er und strahlt, als wären wir hier zusammen in einem beschissen Wellness-Urlaub und können unser Scheissglück kaum glauben. Seine weißen, blankpolieren Zähne strahlen mich an. Er nimmt seine Brille ab. Spielt mit dem Gestell. Ben, ich will dir helfen, sagt er. Verstehst du das? Ich will dir wirklich helfen. Er setzt die Brille wieder auf. Ben. (Pause) Ben, ich bin hier um zuzuhören. Erzähl mir etwas. Etwas aus deinem Leben, Ben, sagt er. Warum erzählst du mir nicht etwas von dir? Aus demselben Grund, warum ich dir die letzten zwei Tage nichts erzählt habe. Aber du hältst die Drei wahrscheinlich für so ne beschissene magische Zahl. Am dritten Tag spricht er endlich. Bei drei ist alles anders. Alle guten Dinge sind drei. Vergiss es und verpiss dich. Ich sehe weiter durch ihn hindurch. Weiß du Ben, je mehr du mir von dir erzählst, desto mehr kann ich dich verstehen und umso besser, kann ich dir helfen. Du bist nur hier, damit wir dir helfen wieder... ein normales Leben zu führen. Damit es dir wieder gut geht, Ben. Je öfter sie deinen Namen sagen, desto wohler sollst du dich fühlen. Grundkurs Psychologie. Vertrauen zum Patienten aufbauen und so. Wie mit kleinen Kindern. Selbstmördern oder Verrückten, wie mir. Sven fragt: Möchtest Du irgendwas? Brauchst Du irgendwas? Bücher? Ein Notizbuch, was zum Schreiben? Zigaretten, sonst 5 irgendwas? Klar, jetzt versuchst du es auf die Weise und später liest du dann


heimlich das Tagebuch des Verrückten, wenn er schläft. Vergiss es und fick dich. Ich liege wieder in meiner Zelle. Sie nennen es Zimmer. Ich nenne es Zelle. Es ist hier ein bisschen so wie in den Rafaello-Spots. Eine heile weiße Welt. Nur ohne das heil. Der Riss in der Wand. Ich konzentriere mich nur auf den Riss. Der hält mich fest, da wo ich jetzt bin, irgendwo. Den Rest schluckt das Weiß. Dann höre ich Schritte. Sie nähern sich. Ist schon Tag vier? Muss ich wieder auf den heißen Stuhl oder zur Emo-Runde, in der all die Spastis sitzen und von ihrem Scheitelten erzählen und heulen wie kleine Mädchen? Die Schritte kommen näher. Ich sehe zur Tür. Die Schritte kommen näher. Immer Näher. Die Tür wird nach innen geöffnet. Niemand da. Alles still. Keine Schritte mehr. Dann ein schweres Seufzen. Zwei Schuhe schieben sich in mein Blickfeld. Zwei braune Schuhe. Nicht weiß. Braun. Ein Fremdkörper. Hier habe ich die letzten drei Tage nichts außer Weiß gesehen. Er hat zwei Flaschen Heineken dabei und wirft mir eine zu. Trink erstmal aus, sagt er. Morgen hauen wir hier ab. Ich nicke, knacke die kalte Flasche Bier und kippe mir das kühle Bier in den Hals. Er geht wieder. Die Schritte entfernen sich. Ich schaufle mir das Essen rein, sehe kaum auf. Konzentriere mich nur auf‘s Essen. Es schmeckt nach nichts. Kein Salz, kein Pfeffer, keine Kräuter. Ich esse einfach weiter. Ich schalte alles aus. Ich esse solange bis der Teller leer ist. Wäre es mehr gewesen, hätte ich mehr gegessen. Ich schiebe den Teller von mir, nehme mein Glass und trinke mein Wasser aus. In einem Zug. Es ist eine Mission, die erfüllt werden muss. Also tue ich es. Ich stelle das Glas ab, mit der Öffnung nach unten. Ich stehe auf und gehe Richtung Ausgang. Ein Riese stellt sich mir in den Weg. Ich sehe seine Pranken, seine orangefarbenen Haare, die auf dem Handrücken sprießen. Seine Fingernägel sind so groß wie 2-Euro Münzen. Sein Brustkorb sieht aus, als könnte man ihn mit nem Maschinengewehr darauf Feuern und die Kugeln würden trotzdem nicht hinten raus kommen. Ich hebe den Kopf, sehe ihm 6 in die Augen. Sein Kopf ist kahl rasiert, sein Gesicht voller Pockennarben. Hätte er ne schwarze Lederjacke an, sehe er aus


wie ein verdammter Hells Angel oder so. Du bist der Neue, sagt er. Ich sehe ihn weiter an, sage nichts. Er sieht auf meinen Unterarm, mustert die Tätowierung. Aus seiner großen Nase sprießen lange schwarze Haare. Er greift nach meinem Arm, als wäre es ein Stück Holz. Ich reiße meinen Arm aus seiner Pranke. Er greift wieder danach. Mit meinem Arm in seiner Pranke, knall ich ihm meine Faust ins Gesicht. Sein Kopf federt zurück, kommt wieder nach vorne. Blut schießt ihm aus der Nase. Quillt über seinen Mund, spritzt auf sein weißes TShirt. Er sieht mich überrascht an. Ich sehe ihn an. Was’ los? Willste noch eine, he? Er sieht mich nur an und versucht zu verstehen, was da gerade passiert ist. Ich schiebe mich an ihm vorbei, spüre seinen Blick, der mich verfolgt. Jemand hat mir mal gesagt, gleich an diesem ersten Tag im Knast, musste dir Respekt verschaffen, wenn einer auf dich zukommt, knall ihm sofort eine und dann ist Ruhe. Wenn nicht, ficken sie dich. Das hier neben sie zwar nicht Knast, ist aber dasselbe. Den Typen, der das sagte, den kannte ich mal, das war n weiser kleiner Mann. Er hieß sogar Shorty, also, wurde so genannt, weil er selbst nicht viel größer war als sein Schwanz. Das war n Kleindealer, Kiffer und n richtiges Großmaul. Musste sich sein ganzes Leben lang durchboxen, wegen seiner Körpergröße. Hat angefangen zu trainieren. Irgendwann haben ihn die Bullen geschnappt, als er gerade ein paar Pillen vercheckte. Er hat vorher ein paar mal geklaut, n Auto geknackt und so weiter. Also packten die alles zusammen und steckten ihn dafür ne ganze Weile in den Knast. Und da hat er gelernt, dass es scheißegal war, wie klein du warst, wie viele Kämpfe du schon hinter dir hast, wie groß oder wie hart der andere war, du musst einfach schneller, cleverer, krasser, verrückter sein als der andere, dann gewinnst du fast jeden Kampf. Ich gehe weiter in Richtung Flur. Will zurück in mein Zimmer. Irgendjemand ruft mich. Schritte. Schritte die schneller werden. Schritte die mich einholen wollen. Ben, niemand will dich bestrafen oder so, sagt Sven, macht eine Pause, will dass ich es verstehe, ihn verstehe, ihm vertraue.7


Wir sitzen uns gegenüber. Der heiße Stuhl. Heute trägt diese lächerlichen abartigen Gummi-Gartenschuhe, die sie jetzt überall tragen. Zuhause, beim Arzt, im Garten, in der Apotheke. Die gibt‘s in verschiedenen Farben. Seine sind weiß, klar. Der, der diese Schuhe erfunden hat, sollte damit gefistet werden. Unsere Patienten können uns vertrauen, sagt er. Wir sind ihre Freunde, ihre Familie, für manche, alles was sie haben. Wir sind kein Gefängnis. Diese Menschen sind nicht hier, weil sie bestraft werden sollen. Wir wollen sie gesund machen, Ben. Wir wollen dich gesund machen. Das ist unser Job. Aber den können wir nicht alleine machen… Ich sehe durch ihn hindurch. Er legt den Kuli auf das Klemmbrett und das Klemmbrett auf den Boden vor sich. Warum hast du zugeschlagen? Er sieht mich mitleidig an. Hast du dich bedroht gefühlt? Hat er dich verschreckt? Dir Angst eingejagt? Sven wartet geduldig, dann schüttelt er langsam den Kopf, atmet aus und sagt: Weißt du, Karl sieht nicht so aus, aber er ist der liebenswürdigste Mensch, der dir je begegnen wird. Er würde nie jemandem etwas tun. Niemals. Sven schüttelt langsam den Kopf, damit ich das auch ja verstehe. Auf seinem weißen Polo-Hemd, ist ein winzig kleiner Tomatensaucenfleck von seinem Mittagessen. Wir hatten wohl das gleiche. Er fragt: Er hat nicht zurück geschlagen, oder? (Pause) Wenn er wollte, hätte er dir den Rücken gebrochen. Mit einer Hand. Er hat‘s nicht getan. Obwohl du ihm Schmerz zugefügt hast. Ziemlich großen Schmerz. Seine Nase ist gebrochen. Wir mussten ihn ins Krankenhaus fahren. Er wird operiert. Sven nimmt seine Brille ab, mustert sie, als hätte er die falsche aufgesetzt. Er ist nicht böse auf dich, sagt er. Er setzt die Brille wieder auf. Weiß du, das ist eine der vielen guten Eigenschaften an Karl, er ist 8 nicht nachtragend. Nie. Er nickt.


Ben, Ich habe hier einen Brief. Der kam heute mit der Post. Er ist für dich. Er ist von Wanda. Ich sehe ihn an. Jetzt sehe ich ihn an. Jetzt wird er versuchen mich zu ficken, die Sau. Jetzt wird er mir sagen, was ich dafür tun muss. Ich werde ihn dir geben, sagt Sven. Ich möchte nur dass du mir einen kleinen Gefallen tust. (Pause) Erzähl mir von ihr. (Pause) Erzähl mir von Wanda. …. Wanda küsst mich. Wanda drückt sich an mich. Ihre Brüste. Darunter ihr Herz, das gegen meine Brust hämmert. Wie jemand, der eilig an eine Tür klopft. Ich sehe mir dabei zu wie ich Wanda nach und nach ausziehe. Stück für Stück. Vorsichtig, so als dürfte ich keinen Fehler machen. Würde ich zu schnell, zu hektisch, zu geil werden, würde alles wie eine Blase zerplatzen und ihre Bluse in meiner Hand zu Staub zerfallen. Mein Weinglas liegt irgendwo auf dem Boden, blutend und stumm ergießt es sich über die Holzdielen, findet seinen Weg und sickert in die Ritzen des Holzes. Wir liegen auf dem Bett. Ich habe noch nie etwas schöneres gesehen. Ich möchte uns immer dabei zusehen, wie wir uns lieben. Es müsste immer so sein. Meine Hände sind überall, fliegen über den nackten weichen warmen wunderbaren Körper von Wanda. Ich küsse Wanda‘s Innenschenkel. Küsse jeden Zentimeter, sauge, während mein Körper vibriert und die Stones schreien: I wanna see it black, painted black. Black as night, black as coal. I wanna see the sun, blotted out from the sky I wanna see it painted, painted, painted, painted black – Yeah! Unsere Körper klatschen schweißnass aneinander. Reiben, rutschen, pressen, drücken, gleiten ineinander. Wanda nackt vor mir. Wanda auf allen Vieren. Wanda. Stöhnend, schwitzend, zuckend. Ich betrachte all die bunt gestochenen Bilder auf ihrem Körper. Auf ihrem Rücken: ein riesiges, altes Segelschiff aus dem 18. Jahrhundert oder so. Mit vom Sturm, weit geblähten Segeln. Es kämpft sich durch die heftige See, bricht durch große Wellen. Auf dem Schiff, mutige Männer, die überleben wollen. Auf der Innenseite ihres linken Armes, ein kurzer Satz: Le Big Fuck. 9 Schäumenden Wellen schwappen von ihrem Rücken, bis zu ihrem


flachen Bauch. Große, wunderschöne Fische, Koys, mit aufgerissenen Mäulern winden sich um Wandas Körper und schnappen nach Luft. Ein Seestern. Ein Seepferdchen, eine Schildkröte. Eine Flosse gleitet an der Wasseroberfläche über‘s offene Meer. Muscheln. Steine. Sand. Sand. Sand. Und wieder Wasser, Wellen, der Sturm, der über das Schiff zusammen bricht. Alles wankt. Wo sind die Matrosen? Wo der Kapitän? Dir Ratten, die das sinkende Schiff verlasen? Die Wellen haben sie geholt, mitgerissen. Hinausgezerrt ins offene Meer. Und ich bin einer von ihnen, zwischen Wandas Schenkeln. Auf und In ihr. Auf ihrem rechten Innenschenkeln sitzt ein Clown. Große traurige Augen, eingerahmt mit dickem Kajal. Er hält ein zerfleddertes Buch. Es sieht aus, als hätte er es schon tausende Male gelesen. Wieder und immer wieder liest er dieses eine Buch. Er blinzelt mir zu. Junge, du machst alles richtig. Es gefällt ihr. Schau wie sie sich unter dir windet. Wie sie ihre Finger in deine Haut gräbt. Wie sie dich packt und in sich auf nimmt. Schau ihr ins Gesicht! Schau ihr ins Gesicht! Was für ein Gesicht! Was für ein Körper! Auf der Oberfläche ihrer Füße spannen sich spitze lange Dornen und Blumenranken entlang. Sand. Kleine, bunte Vögel fliegen auf ihrem Bein in Richtung Kniescheibe. Ich fühle mich wie Alice im Wunderland, die durch eine Fantasiewelt herum wandert und lauter außergewöhnlich schöne Dinge entdeckt. Das letzte was ich sehe, bevor ich meine Augen schließe, ist dieser Freak mit der Bierflasche in der Hand. Er sitzt auf der anderen Innenseite ihres Schenkels. Sein Revier. Er glotzt mich an. Zwischen seinen schmalen, krummen Fingern hält er eine brennende Zigarette. Eine Klaue mit spitzen Fingernägeln und dicken Warzen darauf. Er beobachtet mich. Er mag mich nicht. Ich höre was er denkt: Was glaubst du was du hier machst? Du Flasche. Du Anfänger. Du fickst wie eine Memme. Wedelst hier mit deinem Schwanz vor meinem Gesicht rum. Wenn du deinen Amateurpimmel nicht gleich hier weg schaffst, klopf ich dir die Falten aus dem Sack, du Weichei! Er hustet, spuckt aus und lacht. Lacht und lacht. Schallend und schrill. Ich schüttle meinen Kopf. Schließe meine Augen, versuche ihn zu ignorieren. Und ich komme. Wanda zieht mich zu sich 10 herunter. Drückt sich an mich. Drückt mich an sich. Fest. Sie


Stöhnt. Atmet aus. Ihr Körper vibriert, zuckt, krampft sich für einen Moment zusammen. Dann löst er sich wieder und sie atmet aus. Wanda. Sven nickt, räuspert sich kurz und setzt sofort weder sein strahlendes Lächeln auf. Ich bin müde und das sage ich ihm auch. Okay, sagt er. Ruh dich aus. Er zieht einen Briefumschlag aus der Gesäßtasche. Wanda‘s Brief. Er hat die ganze Zeit mit seinem Therapeuten-Arsch auf Wanda‘s Brief gesessen. Wir reden morgen weiter, sagt er und nickt. Vorausgesetzt… du möchtest es. Er gibt mir Wanda‘s Brief. Ich nehme ihn. Halte ihn, sehe ihn an. Er ist dick. Sie muss viele Seiten geschrieben haben. Ich stehe auf. Ich nicke, dann gehe ich. Ich lege mich auf‘s Bett. Der Riss ist doch da. Wanda`s Brief liegt auf meiner Brust. Alles ist dunkel. Nur ein kleiner Streifen Licht fällt unter der Tür durch. Ich atme tief. Bin entspannt. Meine Hand fährt in meine Shorts. Alles feucht. Klebrig. Ich reibe die klebrige Flüssigkeit zwischen meinen Fingern. Wische sie an der Bettdecke ab. Von irgendwo höre ich Wanda noch etwas sagen. Sie sieht mich an. Ihre Stimme entfernt sich immer mehr. Wanda verschwindet. Ich setze mich auf. Meine Füße auf dem weißen kühlen Boden. Mein Kopf zwischen meinen Händen. Meine Augen geschlossen. Ich höre Schritte. Schritte die näher kommen. Dann ist es still. Ich höre das Knistern des Tabaks, das Inhalieren und dann das Ausatmen des Rauches. Lass uns abhauen, sagt er in die Stille. Er ist wieder da. Gut. Ich bin bereit. Raus hier. Ich gehör hier nicht her. Ich sehe ihn an. Er drückt seine Zigarette am Türrahmen aus. Genau da wo Licht vom Flur darauf fällt. Auf dem Weiß bleibt eine aschgraue Stelle zurück. Welch ein schöner Kontrast. Bukowski schnippt die Zigarette in den Flur, nickt mir zu. Ich stehe auf. Wir gehen gemeinsam durch den langen weißen Gang, Richtung 11 Eingangshalle. Ein junger Typ, mit pickligem Gesicht, rötlichem Spitzbart und blondem Zopf hat die Nachtschicht. Er blättert in


irgendeinem Magazin. Dann entdeckt er uns. Er erhebt sich langsam von seinem Stuhl und fragt: Na, wo soll‘s hingehen? Verständnis und etwas Mitleid in seinem Blick. So wie man ein kleines Kind ansieht, dass etwas möchte, es aber leider nicht haben kann. Wir wollen nur…gehen, sage ich ruhig. Ich bin hier fertig. Wir gehen jetzt nach Hause. Danke für alles. Wo soll ich unterschreiben? So so, wir wollen nach Hause? Er sieht mich an und nickt leicht. Bukowski schlägt mit der Faust auf den Empfangstresen. Jetzt mach schon die Scheißtür auf, du kleiner Pisser! Aber der junge Typ lässt sich davon nicht beeindrucken. Er schüttelt nur leicht den Kopf. Sagt: Das geht leider nicht. Ich kann da nichts machen. Bukowski fängt an mehrere Knöpfe hinter dem Tresen zu drücken. Ich sage: Okay, gib mir einfach das Formular. Ich unterschreibe. Übernehme selbst die volle Verantwortung über mich und gehe auf eigene Verantwortung sozusagen. Er lächelt, sagt: Das geht leider nicht. Er ist auf solche Momente vorbereitet worden, hat ähnliche vielleicht schon oft erlebt. Ich sage: Wir wollen dir nichts tun. Mach einfach die Tür auf! Er seufzt. Aus den Augenwinkeln sehe ich Bukowski, der in der Ecke des Raumes den Feuerlöscher aus der Halterung kickt. Er packt ihn mit beiden Händen und wankt damit auf die Eingangstür zu. Es ist eine automatische Schiebetür aus Glas. Bukowski baut sich vor der Tür auf und holt aus. Der Feuerlöscher kracht gegen die Glastür, fällt zu Boden. Erst passiert nichts, dann, ein lauter Knall, eine Explosion, Glassplitter fliegen in alle Richtungen. Ich spüre kleine Splitter, die sich in meine Wange bohren. Bukowski wischt sich über‘s Gesicht, schüttelt sich und murmelt irgendwas. Der junge Typ hinter dem Tresen wirft sich auf den Boden und schreit hysterisch. In sein Schreien mischt sich das schrille Heulen der Alarmanlage. Kleine, ganz feine Blutstropfen sprenkeln die weißen Kacheln vor meinen Füßen. Bukowski dreht sich zu mir 12 um und grinst schief. Lass uns abhauen, sagt er. Ich kenn ne ganz gemütliche Bar, nicht


weit von hier. Da kรถnnen wir einen heben, uns n bisschen frisch machen. Hinter mir hรถre ich Schritte. Viele Schritte. Ich sage: Klingt gut. Und laufe los.

13


DAS UNDEFINIERBARE RAUSCHEN von Julian Drescher Ich lernte den besagten Patienten vor ungefähr zwei Jahren kennen; er hatte sich nach einer Entgiftung selbst dazu entschlossen, am psychosozialen Aufbauprogramm unserer Klinik teilzunehmen. Trotz wochenlanger, intensiver Gespräche über Suchtverlauf, frühkindliche Erfahrungen und familiäre Probleme, ließ mich das Gefühl nicht los, der Patient verheimliche mir etwas: Da waren diese regelmäßigen, schockartigen Angstzustände, die den Patienten in den Abend- und Nachtstunden heimsuchten. Nach einigen Anläufen meinerseits, erklärte sich der Patient dazu bereit, mir von einem Ereignis zu berichten, von dem er bisher niemand anderen berichtet hatte. Da es dem Patienten sehr schwer fiel, über das besagte Ereignis zu sprechen, willigte ich in seinen Vorschlag ein, er möge mir über das, was ihn so sehr belaste, in geschriebener Form berichten. Natürlich hatte ich von dem Vorfall, der sich in der alten MahrBrauerei zugetragen hatte, gehört; und natürlich hatte ich auch von dem schweren Autounfall in der Lüneburger-Straße gehört, bei dem drei Brüder, die auf dem Nachhauseweg von einer Hochzeit gewesen waren, starben – aber dass diese Ereignisse in irgendeiner Weise mit dem besagten Patienten zu tun gehabt hätten, das wäre mir nie in den Sinn gekommen ... 1 Vor ein paar Wochen haben sie die Al-Bayatis hochgenommen, die ganze Sippe, die ganzen Brüder, Cousins, Onkels und Schwager – so ein richtiger Interpol-Einsatz, in Nürnberg, Berlin, Belgien und was weiß ich noch wo, im halben Nahen Osten. Ich stehe mit Jurij und Ahmet im Keller der alten Mahr-Brauerei, mit der Rohrzange in der Hand. Wir hören über Ahmets iPhone 14 Radio, und als die Nachrichten kommen, schüttle ich den Kopf. »Diese Idioten«, sage ich, und dann schüttle ich gleich noch mal den Kopf. »Diese Idioten.«


Jurij steht auf der Leiter und klopft gegen das große Kupferrohr, für das wir uns entschieden haben. »Was laberst du, Mann?«, ruft er von oben runter. Ich ziehe an meiner Zigarette, dann schnippe ich sie weg. »Hör’ doch hin, was die da in den Nachrichten für ’ne Scheiße labern. Labern irgendwas von Kriminalitätsbekämpfung. Und die ganzen fetten Wichser glauben den Scheiß, die wichsen sich jetzt einen da drauf, dass die Kriminalität bekämpft ist, oder was.« »Und?«, ruft Jurij von oben runter und begutachtet die riesigen Muttern, mit denen das Rohr befestigt ist. »Was und?«, rufe ich zurück. Ich fahre mir durch die Haare, beiße mir auf die Zunge. Jurij versteht es einfach nicht. Nie versteht er irgendwas. Ich kenne ihn seit der Grundschule, seitdem er im Stockwerk unter mir eingezogen ist, und er so lange mit seinem alten Lederball durchs Viertel gelatscht ist, bis ihn einer von uns Jungs angesprochen hat – so lange kenne ich Jurij schon, und nie versteht er irgendwas. Ich schaue hoch zu ihm. Die Stirnlampe auf seinem Kopf wirft ihr weißes Licht auf das Kupferrohr, tastet es ab, Wasser tropft in unregelmäßigen Abständen von der Decke. Da steht Ahmet plötzlich aus seiner Hocke auf, so ganz zittrig und wackelig, noch mit dem Handy in der Hand. »Ist doch glasklar«, sagt er, und blickt erst mich an, dann Jurij. »Die haben uns die Preise kaputtgemacht. Die Araber sind weg, na herzlichen Glückwunsch: Jetzt gibt’s nur noch ’n paar von den gottverdammten Schlitzaugen, und die Wichser wissen genau, die können verlangen, was sie wollen, wir fressen denen die Scheiße doch so oder so aus der Hand.« Ich atme tief ein, meine Beine sind weich, mir ist schwindelig, schlecht. Der letzte Schuss war gestern Abend, und keine Ahnung, mit welchem Mist die Chinesen das Zeug strecken. Einer sagte mal zu mir, Rattengift, aber das glaube ich nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. »Das Rohr is’ gut«, sagt Jurij plötzlich, klopft gegen das Kupfer 15 und leuchtet mir ins Gesicht. »Is’ kein Druck mehr drauf, und wiegt bestimmt ’n paar Kilo.«


Ahmet zuckt mit den Schultern. »Dann machen wir’s?«, sagt er, und blickt mich an. 2 Die Sache ist die: Seitdem man für einen beschissenen Kick mindestens das zehnfache blechen muss, ist hier der Teufel los. Keine Ahnung, ob man dem Bürgermeister und dem Polizeichef ins Gehirn geschissen hat, aber als sie die Al-Bayatis hopps genommen haben, Mann, haben die da gejubelt. Haben was von einem historischen Sieg gegen das organisierte Verbrechen und von mehr Sicherheit im ganzen Bundesland geschwafelt – aber ich denke, die haben keine Ahnung, was sie angerichtet haben. Ich meine, denken die, nur weil es kein Heroin mehr auf den Straßen gibt, sind auch wir weg? Denken die, nur weil man keinen Stoff mehr bekommen kann, hat sich auch dieses Verlangen, diese Gier in uns aufgelöst? Die ganze Szene ist total aus dem Häuschen, jeder Fixer schiebt hier einen permanenten Affen; Einbrüche, Diebstähle, Überfälle: Jeder ist damit beschäftigt, genügend Kohle ranzuschaffen, damit er nicht vollkommen am Rad dreht. Ahmet, der Idiot, hat seiner Großmutter das goldene, osmanische Geschirr aus der Kommode geklaut, weil er dachte, er verreckt sonst – es gibt keine Moral, keine Grenzen mehr, nur noch jeder für sich. Und im Radio und Fernsehen jubeln sie weiter, schütteln sich die Hände und zeigen Victory – was für eine Scheiße. Da hatte ich gestern diese Idee mit den Kupferrohren und den leerstehenden Fabriken im Osten. Klar, das ist keine langfristige Sache, aber ein paar schnelle Hunderter allemal. 3 »Bist du sicher, dass da kein Druck mehr drauf ist?«, rufe ich zu Jurij hoch. Ahmet steht unten und hält die Leiter fest, trotz der Dunkelheit sehe ich den Schweiß auf seinem Gesicht glänzen. Jurij schnauft und versucht, mit der Rohrzange die Muttern 16 aufzuschrauben.


»Ja ja«, sagt er, »ihr Deutschen ... immer scheißt ihr euch in die Hosen, ihr Deutschen ... tschort wasmij!« Ich zünde mir die nächste Zigarette an. Ich weiß nicht, ob es der Affe ist, oder die nüchterne, klare Realität, die mich plötzlich übermannt – aber irgendwie habe ich so ein Gefühl. Ahmet klappert mit den Zähnen, wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht – er muss zwei, drei Tage nichts gedrückt haben, der arme Kerl. Aber was will man machen. »Ganz langsam«, rufe ich Jurij hoch, »brech’ bloß die Mutter nicht ab!« Da passiert es plötzlich – da knallt es plötzlich: ein metallenes, explosionsartiges Knallen, wie bei einer Kanone; dann schlägt irgendwas gegen die Wand am andere Ende des Raums, gleichzeitig wirbelt das grelle Licht der Stirnlampe durch den Keller. Erst als alles dunkel ist, und ich die Leiter umkippen höre, bemerke ich das laute, zischende Geräusch, spüre ich das Wasser auf meinen Händen, meinem Gesicht. »Scheiße!«, schreie ich, »fuck! Jurij?« »Was war das?«, schreit Ahmet gegen das Wasser an. »Verdammte Scheiße!«, schreie ich zurück, »ich hab’ ihm gesagt, er soll gucken, ob da noch Druck drauf ist!« Ahmet und ich treffen uns in der Dunkelheit, er hat sein Handy bei dem Knall verloren. »Das scheiß Rohr hat’s weggesprengt«, sagt er, und keucht dabei. »Ja«, sage ich, »Scheiße, ja.« Wir rufen Jurij, laufen durch den Raum, das kalte Wasser schießt weiter von der Decke, was für ein Lärm. Ich bin klitschnass, die Brühe reicht mir schon bis zu den Knöcheln. »Da!«, höre ich Ahmet rufen, »ich hab’ ihn!« 4 Ich schüttle ihn, gebe ihm Ohrfeigen, aber nichts tut sich. »Lass es«, sagt Ahmet, und ich spüre seine warme Hand auf meiner Schulter. »Fuck«, sage ich, »fuck, fuck, fuck!« 17 Ich taste nach Jurijs Schlagader, das vierte Mal. »Er ist tot«, sagt Ahmet, »lass es.«


Das Wasser, das gottverdammte Wasser: Es schießt von da oben herab, es zischt und plätschert. Es steht mir jetzt schon fast in den Kniekehlen. »Los«, sage ich, »wir müssen ihn hier rausbringen!« »Ja«, sagt Ahmet, »sollten wir echt.« Keiner von uns beiden rührt sich. Das Wasser plätschert weiter, es ist kalt, eiskalt. »Wo ist das scheiß Rohr eigentlich hin?«, frage ich plötzlich. »Ich glaube, irgendwo da vorne«, sagt Ahmet, »da hat’s auf jeden Fall geknallt. Soll ich mal gucken?« Ich atme tief ein, versuche noch mal, die Schlagader zu finden. »Ja«, sage ich, »mach’ mal. Aber dann müssen wir ihn hier raus schaffen.« »Klar«, sagt Ahmet, »das müssen wir.« 5 Wir kriegen das Kupferrohr kaum die Treppe hoch, das sind mehr als ein paar Kilo, das is’ ’n halbes Einfamilienhaus. Nach ein paar Stufen halten wir an, schnaufen durch. »Scheiße«, sage ich, »er is’ noch da unten, in dem ganzen Wasser.« »Ja«, sagt Ahmet, »das ganze scheiß Wasser da unten, heilige Scheiße.« Wir schleppen das Ding weiter nach oben, ich zerre vorne daran, Ahmet schiebt von unten. »Warte«, sage ich. »Was denn?«, sagt Ahmet genervt, er hustet und schnauft – Mondlicht bricht von der Tür oben auf uns herab: Ich sehe Ahmets verschwitztes, zerknittertes, abgemagertes Gesicht; die dunklen Schatten unter seinen Augen, die blauen Flecken an seinen dürren Armen. »Ist egal«, sage ich. 6 Als wir das verdammte Rohr endlich oben haben, bin ich komplett durchgeschwitzt: Meine Hände sind aufgerissen,

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brennen, meine Arme sind taub und durch mein Rücken blitzt bei jeder kleinsten Bewegung dieser gottverdammte Schmerz. Ahmet ist vollkommen hinüber. Er liegt auf dem Steinboden neben mir, wälzt sich hin und her, faselt irgendwas davon, dass ihm die Knochen brennen, dass er seine Beine nicht mehr spürt – er ist auf cold turkey, und wenn er nicht bald was zu drücken bekommt, wird ihm die Sache auf den Kopf schlagen, dann werden die Spinnen und weißen Ratten aus jeder Ecke gekrabbelt kommen, dann wird er zusammengekauert nach seiner Mutter schreien. Ich hab’ das schon tausendmal gesehen, und es ist immer wieder beängstigend. Ahmet fängt das Kotzen an, ich halte ihn an der Schulter. Als er fertig ist, frage ich: »Biste jetzt wieder?« Er sieht mich an, dann nickt er stumm. 7 Wir schleifen das Rohr durch die Fabrikhalle, über den asphaltierten Boden – Mann, machen wir einen Lärm. »Stopp«, sagt Ahmet plötzlich, »halt mal an.« Kurz habe ich Angst, Ahmet könnte mir zusammenklappen, aber als ich zu ihm rüberblicke, weiß ich, dass er die Zähne zusammenbeißt: Das helle Mondlicht fällt durch die langen, hohen Glasfassaden und legt sich auf sein Gesicht. »Die Bullen«, sagt Ahmet, und blickt mich an. »Hörste das?« Kurz halten wir inne. Ich höre das Wasser unten im Keller plätschern, das Geräusch hallt durch die Halle, überlagert sich, verändert sich, wird zu einem großen, undefinierbaren Rauschen. »Nee«, sage ich, »du schiebst.« »Der ganze Lärm hier«, sagt Ahmet – und als wir das Rohr weiter Richtung Ausgang schleifen, sagt Ahmet noch etwas, aber ich verstehe es nicht: Das Rauschen des Wassers, das Schleifgeräusch des Rohrs und der Klang seiner Stimme – das alles verschmilzt zu einem großen, häßlichen Ganzen; zu einem Geräusch, das an meinem tiefsten Inneren rüttelt, mir den Magen umdreht. Ich19 will kurz Luft holen, aber kotze mir stattdessen fast auf die Schuhe.


8 Als wir endlich mit dem Rohr auf dem Parkplatz vor meiner Karre stehen, schaue ich auf die Uhr: ein Uhr dreißig. Wir sind jetzt schon eine halbe Stunde zu spät. Ich hoffe, Sven vom Schrottplatz hält sein kleines Geschäft noch ein bisschen offen: Von Mitternacht bis eins hat er sein Tor halb angelehnt, dann kauft dieser Fettsack nämlich alles mögliche an geklautem Zeug an, was ihm die Junkies in die Bude schleppen. Und in den letzten Wochen rennen sie ihm gottverdammt noch mal die Türen ein. Als wir das Rohr in den Kofferraum gehievt haben, schleppt sich Ahmet auf den Beifahrersitz. Diese große körperliche Anstrengung, dazu noch die ganze Sache mit dem Wasser, das kann einen Mann auf cold turkey schnell an seine Grenzen bringen. Ich steige in den Wagen, stecke den Schlüssel rein, fahre mir durch die Haare, positioniere den Rückspiegel richtig; kurz muss ich an die Sache mit dem Wasser denken, kurz muss ich an Jurij und den Keller denken – Ahmet liegt versunken auf dem Beifahrersitz, kreidebleich, verschwitzt, und nickt mir zu. »Los?«, fragt er. »Los«, sage ich. 9 Ich rase durch das alte Industriegebiet, dann ein kurzes Stück auf die Autobahn und schließlich wieder rein in die Stadt: Straßenlaternen fliegen wie Feuerbälle an mir vorbei, ständig sind meine Augen links, rechts, im Rückspiegel: Wenn uns die Bullen jetzt kriegen, dann sind wir dran, dann war’s das mit uns. Ahmet röchelt auf dem Beifahrersitz, ich will mich ablenken und drehe das Radio auf: Rauschen, Rauschen, weißes Rauschen: Und dann spüre ich es plötzlich, an meinen Füßen: Wasser. Es ist kalt, nass, und wenn ich die Kupplung trete, plätschert es. Ich halte meinen Blick weiter über der Motorhaube, biege links, rechts ab, mein Herz rast, meine Hände schwitzen. 20 Da sagt Ahmet plötzlich: »Halt mal da vorne bei der Tanke an.« »Wieso?«, frage ich, und blicke sofort in den Rückspiegel.


»Weil ich gleich verrecke, Alter. Ich schwör’s dir, Mann, ich verrecke gleich.« Ich schaue zu Ahmet rüber, sehe seine zitternden Hände, seine blutunterlaufenen Augen. Immer denkt er, dass er gleich verreckt. Bis ein Mann an dieser Sache verreckt, dauert es noch. »Ich verrecke gleich«, sagt Ahmet, und dann setze ich den Blinker nach rechts. 10 Wir schmeißen unser letztes Kleingeld für eine Flasche Cola zusammen. Jeder Junkie hat so seine eigene Methode, wie er mit cold turkey umgeht, und Ahmets ist es, kalte Cola zu trinken: Flüssigkeit, Koffein und Zucker – darauf schwört er, auf nichts anderes. Ich überlege noch, ob ich den Schlüssel mitnehme, habe meine Finger schon dran, aber dann wirft mir Ahmet diesen Blick zu, diesen Blick, der: Bist du jetzt bescheuert? Weißt du, was wir grade zusammen durchgemacht haben? heißt. Ahmet ist ein zitterndes, schwitzendes Wrack, das kurz davor steht, unterzugehen, denke ich mir. Dann steige ich aus. 11 Als ich mit der Flasche in der Hand an der Kasse stehe, sehe ich, wie die Rücklichter an meinem Wagen angehen. Ich sehe Ahmets Schatten, der sich auf den Fahrersitz schiebt. Der Junge vor mir sagt: »Zwei fünfzig«, und sieht mich an. Ich sehe, wie mein Wagen anspringt, wie die Karosserie zu rütteln beginnt und der Auspuff blauen Dunst ausspuckt. Ich sehe das alles, aber ich bin taub; auch meine Hände und meine Beine sind taub; »zwei fünfzig«, sagt der Junge noch mal, aber es kommt mir weit weg vor, Lichtjahre entfernt. Ich schließe meine Augen und höre das Rattern des Motors, wie es langsam leiser wird, sich die Hauptstraße abwärts bewegt. Und kaum ist das Rattern verschwunden, ist es plötzlich wieder da: Das Wasser, das 21 undefinierbare Rauschen – die Nässe, Kälte auf meinem Gesicht, an meinen Händen. Ich sehe Jurijs Gesicht vor mir, wie er mit der


Stirnlampe das Rohr begutachtet. Ich sehe Jurijs Gesicht vor mir, wie er mit seinem braunen Lederball durch das Viertel läuft, und ich mit den anderen Jungs auf dem Bolzplatz stehe und ihn durch den Zaun hindurch beobachte. Und dann ist da wieder diese Dunkelheit, das Rauschen; das alles verschmilzt mit Jurijs Gesicht, und wird zu einem großen, häßlichen Etwas – es rüttelt an meinem tiefsten Inneren, dreht mir den Magen um. Ahmet habe ich nie wieder gesehen. Ich war nie an dieser Stelle, wo der Unfall schließlich passiert ist, wo die beiden Autos frontal aufeinanderprallten, wo die Hitze so hoch gewesen war, dass die Leichen bis zur Unkenntlichkeit verkohlten. Aber Jurij, Jurij sehe ich noch jeden Tag – immer, wenn ich die Augen schließe, immer, wenn das undefinierbare Rauschen in meine Ohren zurückkehrt und mich fast zum Durchdrehen bringt, dann sehe ich ihn – dann sehe ich Jurij. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.

22


DIE TOTEN UND DAS LIEBE LEBEN von Frank Trummel Prolog „Das ist schon lange her. Ich war noch ein kleines Mädchen. Aber meine Mutter wollte kein Tier in der Wohnung haben. Mein Vater konnte sie schließlich überreden. So bekam ich eine Katze aus dem Tierheim. Nur, egal wie man sich ihr auch näherte, sie begann gleich um sich zu schlagen und zu kratzen. Selbst nach Jahren noch. Bis eines Tages… sie lag im Garten, tot, und ich konnte sie das erste Mal in den Arm nehmen… ich hab sie gedrückt und gestreichelt und… sie war so lieb und flauschig…“

1 Louis trat auf die Bremse, während der Leichenwagen noch bei gelb über die Kreuzung kam. Es bestand kein Grund zur Eile. Louis wusste, zu welchem Leichenhaus es ging. Er selbst hatte die Anweisungen gegeben. Er drehte das Radio lauter. Sie brachten einen Song, der sich gar nicht mal so schlecht anhörte. Vielleicht lag es aber auch an seiner Stimmung. Er war verdammt gut drauf. Michael, sein Partner auf dem Beifahrersitz, blieb stumm. Selbst als Louis anfing mitzusummen. Es herrschte keine Sympathie zwischen ihnen, bestenfalls Toleranz. Wobei Louis empfand, dass er mehr zu ertragen hatte. Die menschliche Natur war ihm schon immer zuwider gewesen, da machte es die eigene auch nicht besser. Ob Jane wohl damit rechnete, ihn, nach ihrer unmissverständlich Abfuhr, so schnell wiederzusehen? Bestimmt nicht. Aber was glaubte sie auch, ihn einfach so mir nichts dir nichts vor den Kopf stoßen zu können? Ihn – einen Louis Maier; als sei er irgend so ein dahergelaufener Karl Arsch. Oh, und wie er es kaum erwarten konnte, ihr Gesicht zu sehen! 23 Ab jetzt würde er jede Leiche zu ihr bringen. Er merkte, wie ihm das Grinsen zu Kopf stieg. Dagegen war er


schon immer machtlos gewesen. Das hatte er immer schon ausschwitzen müssen. Die Ampel sprang auf grün. Louis gab Gas. Als er auf den Parkplatz des Leichenhotels fuhr – so wie der Laden in Fachkreisen; innerhalb der Abteilung, und in jeder anderen Abteilung, in der Louis bis jetzt tätig war; genannt wurde – schoben die Jungs vom Service die Blondine auf der Bahre gerade rein. Louis stieg aus, ging um den Wagen herum, lehnte sich an den Kotflügel und steckte sich eine Zigarette ins Gesicht. Michael ließ das Fenster runter, lehnte sich heraus, starrte der Bahre nach und sagte: „So jung – eine Schande!“ Sie war Anfang zwanzig. Natürlich hübsch, wie die meisten in diesem Alter, trotz des platinblond gefärbten Haarschopfs. Man hatte sie erwürgt. Vermutlich der Ex-Freund. Die Fahndung lief bereits. „Enttäuschte Liebe kennt nun mal keine Altersfreigabe.“ Als Louis es ausgesprochen hatte, wusste er schon, um Michaels Blick, der in seine Richtung drängte. Er hatte es falsch verstanden. Gerade so jemand wie Michael, konnte es nur falsch verstehen. „Weißt du, Lou, die Schose geht mich ja nichts an, und so lange das Präsidium nichts mitkriegt…“ Als Polizist hatte man Spielräume. Als Kommissar ohne weiteres freie Hand, solange man nicht dem Falschen auf die Füße trat. Und so lange die Kollegen von der Mordkommission, irgendeine höhere Stelle, oder die Öffentlichkeit, an einer Leiche kein Interesse fanden, war es scheißegal, ob er sie durch die halbe Stadt karren ließ, nur um seinem persönlichen Vergnügen zu frönen. „…mach was du willst.“ Michael zuckte mit den Schultern. „Aber, warum lässt du Jane nicht einfach in Ruhe?“ Louis zog an der Kippe, schnippte sie fort, um seinem Blick Nachdruck zu verleihen: Und wie ihn die Schose nichts anging! Ohne ein weiteres Wort, folgte er der Bahre Richtung Eingang. Das heißt, er schlenderte ihr nach. Es bestand noch immer kein 24 Grund zur Eile. Als er durch die Tür war, landete sein Blick gleich auf Pater


Pechjavi. Er sah bedrückt aus, mitgenommen, in seiner schweren, schwarzen Kutte. Vor ihm standen eine ältere Frau und ein älterer Mann. Nach ihrem Kleidungsstiel zu urteilen waren sie Zivilisten. Eltern. Vermutlich hatten sie gerade ihr Kind identifiziert. Und zum krönenden Abschluss landete man dann noch vor dem Heuchler vom Dienst. In seiner Paraderolle. Er hatte den guten Pater mal kniend vor dem Leichnam eines kleinen Jungen erwischt. Er sagte, er habe für seine Seele gebetet. Aber Louis hatte ganz genau gesehen, wo er dessen Seele gesucht hatte. Na, ihm konnte es ja egal sein. Nicht, weil Louis die Sache nicht interessierte – oder doch! Weil ihm die Visagen der Presseleute gegen den Strich gingen, wenn sie fragten, was passiert sei, und die Begeisterung aus ihren Gesichtern wich, wenn es sich um etwas Alltägliches handelte. Und er selbst konnte es auch nicht mehr hören. In den Nachrichten. Wie ein altes Kaugummi hervorgeholt und nochmal und wieder drauf rumgekaut. Außerdem mochte er die Kirche. Die nahmen sich ja auch nur auf Kosten anderer ein schönes Leben heraus. Louis lächelte, als er an Pater Pechjavi vorbei schritt. Er erwiderte es mit einem kurzen, trotzdem sehr andächtigen Nicken. So ist´s recht, Pater, nur nicht aus der Rolle fallen. Die sogenannte aufgeklärte Gesellschaft war nur eine Floskel, die nicht existierte, jedenfalls solange man sie mit etwas fütterte – und man konnte sie mit jedem Scheiß füttern. Louis nahm die Treppe nach unten. Die Etagen unterhalb der Erdoberfläche waren kühler, was die Stromkosten der Klimaanlagen senkte. Dazu bot es den Toten einen kleinen Vorgeschmack. Und den Lebenden auch… Als er durch die Treppenhaustür auf den Gang trat, schlug ihm gleich der Gestank des Formalin entgegen. Und mit ihm zwei Schwestern in ihren schlaffen, weißen Shirts. Sie waren beide etwas zu fett. Sie grüßten nicht. Mit finstere Miene taperten sie an ihm vorbei, während er sich grinsend eine Zigarette ansteckte. Eine von ihnen hatte er mal zur Sau gemacht, als sie darauf bestand, das 25 Rauchverbot durchsetzen zu wollen. Seitdem hatte die gesamte Schwesternschaft ihn gefressen.


Weiber! Er sah ihnen nach und dachte an alte Schwarzweißfilme… an Schwestern in gestärkten weißen Kitteln, schmalen Hüften und sexy Waden. Was war aus der guten alten Zeit geworden, als man jemanden noch wegen seines Äußeren ablehnen durfte? Dann bogen sie ab. Louis rauchte, bis die Jungs vom Leichenwagen aus dem Kühlraum kamen. Sie rissen Witze über die Blondine. Lachten unbekümmert. Beachteten ihn nicht weiter. Bis auch sie abbogen. Voller Vorfreude näherte Louis sich dem Leichenraum. Er trat die Kippe auf dem Linoleumboden aus, ehe er einen Blick durch das Bullaugenfenster der Tür warf. Jane stand mit dem Klemmbrett in der Hand vor der Kleinen. Das weiße Abdecklaken war zurückgeworfen. Mein Gott, war das Mädchen jung! Fast noch ein Kind. Jane stand da und notierte, was auch immer, auf ihrem Zettel. Sie trug ihre Haare nach oben gesteckt. Es war kein reines Blond, wie das auf der Bahre, sondern mehr ein gebrauchtes, ein benutztes Blond, genauso wie er es mochte. Sie war kein Mädchen mehr, sondern eine Frau. Anfang dreißig. In ihren Augen schwang stets ein leichter Ton von Verachtung mit. Warum auch nicht? Sie war eine Schönheit, keine Frage, und es war ein Wunder, dass sie noch immer nicht vergeben war. Dass sie noch nicht in seinen Armen lag – in den Armen von Louis Maier! Dass ihm fast die nächste Zigarette aus dem Mund fiel, als er sah, was sie als nächstes tat… „Was zur Hölle…?“ Als Jane zur Tür schaute, hatte Louis sich bereits wieder gefasst, und war auf dem Weg nach oben. Mit einem dicken Grinsen im Gesicht. Woher er wusste, dass sie aufschauen würde? Weil jeder aufschaut, der fürchten muss, bei etwas ertappt werden zu können. Wenn man sich hat hinreißen lassen. Früher oder später schrecken sie alle auf. Wer will schon auf frischer Tat ertappt werden? Wenigstens die Chance sich herausreden, alles bereinigen zu können, weil es ja eh nur ein dummes Missverständnis gewesen war – ähm… 26 nicht wahr?! – nie wirklich so gewesen war…


Oh, und wie es Louis in den Fingern juckte. Wieder spürte er seinen alten Hunger; diese Gier in ihm, weshalb er Polizist geworden war. Zwischen Räuber oder Gendarme bestand kein großer Unterschied; nur, warum sollte man die Blechmarke nicht nutzen?! Dieses kleine Miststück würde ihm schon sehr bald zu Füßen liegen! Und im Erdgeschoss lief er ausgerechnet Pater Pechjavi in die Arme. „Herr Maier, Mensch, wie geht es Ihnen?“ „Oh, Pater, sehr gut, gute Zeiten scheinen anzubrechen.“ „Auch wenn wir uns da ja nie allzu sicher seien sollten, freut es mich zu hören, dass der Herr mit Ihnen ist.“ „Das ist er, Pater, das ist er!“ Louis spürte wie ihm das Lächeln entglitt. Er drehte sich um, ehe es sein Antlitz vollständig in eine geifernde Fratze verwandelte.

2 Als Louis aus dem Hotel schritt, stand die Sonne im Zenit. Es war Mittag. Der Leichenwagen bog gerade vom Hof. Vergnügt sprang er die Stufen herunter, ging zum Wagen und schwang sich hinters Steuer. „Na endlich“, stieß Michael hervor. „Nur dir Ruhe. Gut Ding will eben Weile haben.“ „Der Bericht auch.“ „Aber erstmal brauch ich eine Kleinigkeit zwischen die Kiemen.“ Louis drehte den Zündschlüssel, der Motor sprang an und er schalte das Automatikgetriebe auf D. Beim Chicken Charlie aßen sie jeweils ein halbes Hähnchen und tranken eiskaltes Bier dazu. Das hieß, Louis trank eiskaltes Bier und Michael ein stilles Mineralwasser. Auch wenn Michael niemals im Dienst trinken würde – nicht mal in Bayern würde er zum Mittagessen ein Glas Weißbier trinken – so würde er ihn doch niemals anschwärzen. Egal wie sehr es auch gegen sein Bild eines Polizisten ging. Dazu war er viel zu… wie 27 heißt das Wort noch gleich? – nobel! Der gute deutsche Michel. Er war Mitte dreißig. Hatte früh geheiratet. Ein Haus gekauft, für


dessen Kreditbegleichung er, ganz sicher, eine gehörige Portion Lohn am Monatsende opferte. Er rauchte nicht, trank keinen Alkohol, und wenn Louis wetten müsste, dann legte ihm seine Frau jeden Morgen die Garderobe raus. Und viel mehr Gedanken wollte sich Louis auch gar nicht über ihn machen. Nach dem Mittagessen ging es zurück ins Präsidium. Auf dem Weg hielt Louis am Getränkemarkt, um sich eine Flasche Scotch zu kaufen. Nicht, weil er keine mehr im Schreibtisch, oder Zuhause hatte, nein, weil er wusste, wie sehr es Michael gegen den moralischen Strich ging. Moral? Noch so ein hohles Wort, was man nach belieben füllen konnte. Und nur wer sich daran hielt, hatte sie auch bitter nötig. Es war nicht alles, aber einer der Hauptpunkte, weshalb Louis ihn nicht leiden konnte; er gehörte zu der großen Masse, die einfach nicht zählte. Der Bericht über die Blondine war Routine – zumindest würde Louis es dabei belassen. Das Geheimnis eines guten Lebens lag an den Leuten, die man um sich scharren konnte, gegen die man was in der Hand hatte. Warum sollte man sie wegsperren, ausgerechnet dann, wenn man ihnen auf die Schliche gekommen war? Nein, der Bericht würde nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. Und was Jane anging, würde sich sein Leben garantiert verbessern. Der restliche Tag verlief im Sande. Ein paar Minuten vor Fünf – kurz vor Feierabend – fuhr Michael den Rechner herunter und begann auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Sein Schreibtisch stand Louis´ genau gegenüber. Louis lehnte sich zurück und genoss die alltägliche Schose. Er tat es nicht mal unauffällig. Und natürlich entging Michael sein Verhalten nicht, während er wieder und wieder die Gegenstände auf seinem Schreibtisch antitschte, um sie haargenau in die Position zu bekommen, die er für sie ausgewählt hatte. Louis zog die Schublade auf, zog den Scotch heraus, schraubte ihn auf und nahm einen Schluck. Die meisten Kollegen waren schon gegangen. Ganz genüsslich schwenkte er den Schluck im Mund hin und her und sah ihm weiter begeistert zu. Trotzdem – nichts. 28 Keine Reaktion; kein Fluchen; kein >>Kümmere dich gefälligst um deinen Scheiß!<< Um Punkt Fünf Uhr blieb er dann extra


noch eine satte Minute sitzen, ehe er aufsprang, sein Jackett von der Stuhllehne pflückte und es sich über warf. „Bis Morgen.“ „Ich wünsche dir einen schönen Feierabend. Hast ihn dir verdient.“ Er sagte nichts weiter. Louis sah ihm nach. Als er zur Tür hinaus war, nahm er noch einen tiefen Schluck, schraubte die Flasche wieder zu und verstaute sie in der Schublade des Schreibtisches. Er drückte den Bildschirmschoner weg und öffnete das Programm für die Personenabfrage. Er gab ihren Namen ein.

3 Jane Keller wohnte in einer verhältnismäßig guten Lage. Verhältnismäßig, wenn man im Begriff war eine Familie gründen zu wollen. Reihenhausidylle. Viel Grün und Gestrüp. Den Kinderspielplatz direkt vor der Haustür. Nachdem er an der Hausnummer 37 vorbeigefahren war, hielt er in der nächsten Einfahrt, stieg aus und näherte sich vorsichtig der Haustür. Laut Klingelschild wohnte sie ganz unten. Aber er klingelte nicht. Wenn er eins gelernt hatte, dann, dass man niemals überstürzt handeln sollte. Schon gar nicht auf der Zielgeraden, wenn man sich bereits als sicherer Sieger fühlt. Zurück im Wagen drehte Louis eine langsame Runde um den betonierten Bolzplatz und suchte nach einer passenden Stelle zum Parken. Wegen des Wagens brauchte er sich keine Sorgen machen, sie kannte nur den Dienstwagen. Und jetzt war er privat unterwegs. Er hatte Glück, auf der anderen Seite des Spielplatzes war was frei. Er hielt an, schnallte sich ab und lehnte sich über die Mittelkonsole. Im Handschuhfach wühlte er sich durch eine Tüte alte Lakritze, leere Zigarettenschachteln, als er – Was zum Teufel… Der 38ger fiel auf die Fußmatte, als er den Flachmann herauszog. Er war noch halb voll. Mechanisch schraubte Louis den Verschluss herunter, nahm einen Schluck, ehe er ihn wieder verschloss und in seine Jackentasche gleiten ließ. Dann kramte er weiter. Irgendwo musste es doch sein… Na also. 29 Er brachte den alten Fernstecher für die Tasche, so ein Opernglas, zum Vorschein.


Glücklicherweise war es spät genug – nicht zu spät für die Sommersonne, sondern für´s Abendbrot und eine Gute-NachtGeschichte für die Blagen, dass keine mehr auf dem Spielplatz waren und mütterliche Habichtaugen aus allen Fenstern stierten. Er setzte das Fernglas an. Nichts, außer eine leere Küche und ein Schlafzimmer im Dunkeln. Er wartete. Ein paar Minuten späte knipste jemand das Licht in der Küche an, aber als er das Fernglas im Anschlag hatte, war es schon wieder aus. Unterm Sitz verstaute er immer eine Flasche. Allerdings allzu voll war sie auch nicht mehr. Er trank und wartete weiter. Den Flachmann wollte er sich erstmal aufheben. Es verging eine knappe Stunde… eine gute Stunde… eine sehr gute Stunde – nichts passierte. Etwas angewidert schmiss er den leeren Flachmann auf die Rückbank. Diese vermaledeiten Observationen überließ man sonst pflichtbewussten Anfängern, die frisch von der Bundeswehr kamen und selbst für die Offizierslaufbahn zu bräsig waren. Als das Licht anging. In der Küche. Der griff zum Feldstecher und – also doch! Die Überprüfung ihrer Personalien ergab, dass sie nicht verheiratet war. Was nichts zu bedeuten hatte. Aber die Art und Weise, wie sie ihn hatte abblitzen lassen, die schon. Wenn eine Frau einen Kerl hat, machte sie das einem anderem Mann auch unmissverständlich klar. Nein, sie hatte weder Mann, noch einen Freund. Also blieb nur ein logischer Schluss übrig. Nekrophil? Man musste nicht unbedingt nekrophil sein, um bei der jungen Blondine am Vormittag schwach zu werden. Das konnte jedem passieren. Und passierte bestimmt auch zu genüge. Schließlich änderte sich mit dem Tod nichts; jeder der konnte, machte mit anderen was er wollte. Für die Erkenntnis brauchte man kein Sozialkundebuch zu wälzen. Mittlerweile war die Sonne auch vollständig untergegangen. Er stieg aus und lief einen kleinen Bogen, so dass er sich seitwärts dem Küchenfenster nähern konnte. Als er inne hielt. Ein alter Mann mit Bart kam den Bürgersteig entlang. Und, tatsächlich, 30 auf dem Arm trug er eine Krähe spazieren. Louis sah ihm nach, bis er in der Dämmerung verschwand, und


versuchte sich nichts weiter dabei zu denken. Er sah sich um. Sonst schien niemand unterwegs zu sein. Also weiter. Die Küche war hell erleuchtet, so dass er gar nicht nahe ran musste. Er blieb auf dem Gehsteig, hinter einem nicht allzu dichten Busch stehen und befingerte ganz harmlos sein smartphone. So auf die ganz unauffällige Tour. Bei den Lichtverhältnissen würden die beiden jenseits des Fensters gegen eine schwarze Wand schauen. Die zweite Frau musste ungefähr in Janes Alter sein. Sie schnitt Tomaten klein. Jane stand hinter ihr an den Küchentisch gelehnt. In der Hand hielt sie ein Glas Weißwein. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und ihre Lippen bewegten sich. Die andere Frau schnibbelte stumm weiter. Witzlos. Sie hätte genauso gut ihre Schwester seien können. Dann legte sie das Messer beiseite, griff zum Küchentuch, wischte ihre Hände ab und drehte sich um – Volltreffer!

4 Keine Toten. Keine weiteren Leichen. Auf den Straßen war alles ruhig, bis auf die üblichen Staus zum Berufsverkehr. Nichtmal ein Fall von häuslicher Gewalt. In den Familien hing der Haussegen im Lot. Der nächste Tag war das einzige, was tot war. Gegen Mittag, als die Kollegen überlegten, von welchem Imbiss sie sich das Essen anliefern lassen wollten, winkte Louis ab. Er pflückte sich sein Jackett von der Stuhllehne und meinte, dass er noch was zu erledigen habe. „Brauchst du mich – ich meine, soll ich mitkommen?“ fragte Michael. Natürlich fragte er das. Eins musste man ihm lassen; persönliche Antipathien und berufliche Aufgaben trennte er bis auf´s i-Tüpfelchen. Louis fragte sich oft, wie persönlich er wohl werden könnte, ehe Michael… aber das wollte er auch gar nicht ausprobieren. Schließlich gab es weitaus schlimmere Typen im Besitz der Dienstmarke, potenzielle Partner, als der gute Michel. 31 „Schon gut. Ist nix wildes. Bleib ruhig hier und iss was.“ Er brauchte nicht lange bis zum Hotel. Der Laden war wie


ausgestorben. Er hatte schon die Befürchtung, bis nach der Mittagszeit warten zu müssen, als er sich der Tür des Leichenraums näherte, ehe er sie… „Einen wunderschönen, Jane.“ Sie fuhr herum. „Was willst du hier?“ Ihr Gesicht sprach Bände, aber nur kurz, dann zog sie sie wieder straff in die gewohnte Unnahbarkeit. „Mensch, Lou, krieg das endlich in deinen Schädel, ich –“ „Nur die Ruhe“, wehrte er mit erhobenen Armen ab. „Will dir doch bloß ´n Gefallen tun! Schließlich ist das hier ja ein Haus mit streng katholischen Ansprüchen. Und ich hab da so was läuten hören, dass dieser Verein keine Homosexuellen mag. Homosexuelle und Geschiedene. Aber ich glaube, Homosexuelle noch ein bisschen weniger.“ „Ich weiß nicht, wovon du da wieder phantasiert, aber du musst dir das mit uns endlich aus dem Kopf schlagen, Lou, ich –“ Sein herzhaftes Lachen unterbrach sie. Es verpasste ihr einen Schrecken. Ihr und ihrer Ahnung. Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und zeigte ihr die Bilder, die er am Vorabend geknipst hatte. Von ihr und dieser Frau, wie sie das Messer beiseite legte, sich nach ihr umdrehte, ihre Arme um sie schlang, um sie zu küssen und… Janes anfängliches Zögern war deutlich zu erkennen, aber dann… Dasselbe Zögern, welches nun von ihr Besitz ergriffen hatte. Die Stille bevor der Vorhang sich hob. Es war stets dasselbe Theater; eine Tragödie, die in rasender Wut oder, eben gleich, mit sofortiger Aufgabe ins Unausweichliche begann. Louis liebte diese Momente; wenn er mit dem kleinen Finger sanften Druck aufs Zahnfleisch ausüben konnte. Und jetzt: „Du spionierst mir nach? Du tickst ja nicht mehr ganz sauber! Hast du sie noch alle?“ Also doch, amüsierte er sich, eine Amazone! „Ich beschwer mich bei deinem Vorgesetzten. Das ist Amtsmissbrauch! Möchte wissen, was er davon hält, wenn einer seiner Leute Frauen belästigt, die ihm, mehr als einmal, klar 32 gemacht haben, dass sie nichts von ihm wollen!“ Was für eine Frau! Sie war nicht dumm und weit davon entfernt


naiv zu sein, aber Amtsmissbrauch? Ein paar Sprüche von den Kollegen im Büro, mehr nicht. Sie hatte nichts auf der Hand. Kein Paar. Nichtmal eine hohe Karte. Sie wusste das. Und er wusste das, schon bevor er sich auf das Spiel eingelassen hatte. Was blieb ihr also groß übrig, außer zu bluffen? „Das würde ich mir an deiner Stelle gut überlegen, mein Schatz.“ Er wischte über das Display. Sie verstummte erneut. Diesmal wurde sie kreidebleich. „Das blonde Dingen war zwar verdammt jung, aber, ich glaube“, Louis spürte, wie ihm das Grinsen zu Kopf stieg, „hierbei hätte wohl selbst die Kirche etwas dran auszusetzen. Mmh, was meinst du?“ Das Zögern war aus ihren Augen verschwunden, und was blieb, war der übliche Rest; ein dümmliches Starren. „Lass es erst einmal sacken, ich komm morgen wieder. Vielleicht ziehst du dir ja was schickes für mich an!“

5 Louis fühlte sich, ja, wirklich wahr – er fühlte sich wie früher, wenn er als Kind tobte – einfach ausgelassen. Er hätte durch die drögen Korridore tanzen können, hinaus in die Sonne. Und vielleicht, wenn er jetzt, im Nachhinein, in seinen Erinnerungen kramte, vielleicht hatte er es sogar getan.

6 Der darauffolgende Tag war nicht viel lebendiger, als der vorangegangene. Nur was die Mittagspause anging, hatte er diesmal eine Verabredung. Die Kollegen lachten und schoben ihre Witze. Benimm dich ja anständig! Dass mir keine Klagen kommen! Genau, benutz Messer und Gabel, wenn du sie vernaschst! Das Leben war eine Aneinanderreihung von Floskeln. Louis schickte seine hinterher. Gelächter. Nur der Michel warf ihm einen nicht allzu finsteren, aber doch streng missbilligenden Blick zu. Na, auf ihn war geschissen! 33 Unterwegs hielt Louis noch bei einem Blumenladen. Rote Rosen. Rote, leuchtende, explodierende Rosen. Sie brachten


eine Wärme in diese kalten, neonweißen Korridore des Leichenhotels, dass man die Reibereien des Universums – von allem, was nach hier, gegen alles was nach dort wollte – spüren konnte. Ein Kraftakt. Einfach, weil man immer dazwischen hing. Man wollte sich die Haut von den Knochen reißen, um endlich, einmal nur – aber so einfach kam man nicht raus aus der Nummer. Es war einfach nicht drin, selbst wenn man sich den Schädel solange gegen die beigen Fliesen schlug, bis er brach. Der Spaß war größer, als er sich davon erhofft hatte. Jetzt schon. Der Spott der Rose hallte ihm voraus. Und er war der Überbringer… „Einen wunderschönen, Jane.“ Sie fuhr herum. „Was sollen die Rosen? Ist deine Mama gestorben.“ Louis brachte ein sehr genüssliches Lächeln an. „Ich bringe einer Frau immer Blumen mit, wenn ich sie zum Essen ausführe. Ist so eine Marotte von mir.“ Beinahe hätte er Floskel gesagt. Es war nicht wie Gassigehen. Bei einem Hund war es etwas anderes. Sie trug die Rosen vor sich her. Neben ihm her. Durch diese Korridore. Diese engen, gefliesten, Kanäle einer verdrehten Metapher einer Geburt… Ihrer Geburt. Ihrer beider Romanze Geburt. „Lächle, mein Schatz!“ Am Schließmuskel stand wie gehabt Pater Pechjavie bereit zum Aussegnen. Was sein Augenmerk früher oder später zwangsläufig auf diesen sich nähernden, glühenden, roten Punkt richten ließ. Schließlich war er ihm schon bei seiner Ankunft aufgefallen… „Aber Frau Keller, sieht man sie endlich auch mal mit einem Mann, und dann noch einem so hochanständigen.“ Und er sparte nicht gerade mit weiterem Sermon von der gleichen Sorte. Man musste sie einfach lieben, die Boys von der Kirche, immer ein Vergnügen, denen bei der Arbeit zuzusehen. Nachdem Jane ihn im Wagen fertig geblasen hatte, angelte Louis nach der neuen Flasche unterm Fahrersitz. Er schraubte sie auf, genehmigte sich einen Schluck und reichte sie ihr rüber. Sie trank, setzte kurz ab und trank noch mehr. Er beobachtete sie dabei, lachte, ehe er seinen Penis wieder einpackte und den 34 Reißverschluss hochzog.


Er startete den Motor und fuhr mit ihr ins Steak-House am Marktplatz. Sie kannten ihn dort und er musste für ein vernünftiges Stück Fleisch nicht gerade auf den Tisch hauen. „Also“, fragte er sie, „wann hast du beschlossen Leichenbestatterin zu werden?“

7 Es passierte mehrere Tage später. Er hatte schon das Gefühl eine Bahre im Hotel gemietet zu haben, so oft wie er dort ein- und ausging. „Einen wunderschönen, Jane.“ Er ging auf sie zu, trieb sie gegen eine Bahre, auf der ein Körper mit einem weißen Laken abgedeckt lag. Langsam glitt seine Hand, seine Fingerspitzen, ihr bestrumpftes Bein herauf. Er sah es ihr an, wie es in ihr schaltete und waltete, ihr durch die Augen ging, durch den Schädel, wie ein Befreiungsschlag! Ihre Finger krallten sich in das leblose Fleisch des Leichnams. Er wollte sie; er brauchte sie; gleich hier – jetzt! Und ein wunderschöner Schreck fuhr ihr so tief in die blauen Augen, kurz bevor Louis der Schlag im Genick traf. Er ging zu Boden, hielt sich den Nacken und stöhnte und wälzte sich schmerzlich auf den Rücken. Aber er behielt das Bewusstsein. Es war die Frau aus Janes Küche. Sie stand über ihn gebeugt und gestikulierte wild mit einem Hammer in der Hand. „Jetzt haben wir dich, du verdammter Psychopath!“ Wieder holte sie aus. Louis starrte wie paralysiert auf den Hammer. Kein Gedanke, nichts, einfach nur dieser ausholende Hammer – als ein blecherner Knall ertönte und sie seitlich wegkippte. Louis stemmte sich hoch. Jane stellte den Edelstahleimer für die organischen Abfälle zurück auf die Fliesen. „Aber… wieso?“, stöhnte ihre Freundin. „siehst du denn nicht, was er dir antut, zu was er dich zwingt?“ „Wer sagt denn, dass es mir nicht gefällt?“ Die Tränen, die ihr nun in die Augen schossen, hatten nichts 35 mehr mit denen des Schlages zu tun. „Ihr… ihr gehört ja beide… in die Geschlossene.“


Louis ging auf die Knie, bückte sich zu ihr herunter. „Und was“, fragte er, „was glauben Sie, wird dort passieren?“ In ihren Augen stand ratlose Furcht. „Wissen Sie nicht, dass sogenannte Psychopathen diesen sogenannten Psychologen meilenweit voraus sind? Schließlich beackern sie ihr Gebiet schon ihr Leben lang, mit Leidenschaft, anstatt es sich mal eben, in ein paar Semestern, auf der Uni in den Schädel zu hämmern, während der sogenannte Student doch mit ganz anderen Dingen beschäftigt ist.“ Louis lachte. Er musste einfach lachen, als er in ihr dummes Gesicht sah, was noch immer versuchte, eine verzwackte Realität zu verstehen. Dabei gab es dieses Verstehen doch gar nicht. Es gab nur die Realität, und den Reim, den man sich darauf machte. Es war zum Schreien komisch! „Leute wie Sie… Ihr seid so was von unwichtig. Man mobilisiert euch so schnell für eine Meinung... hausgemacht, Baby, und lässt euch genauso schnell wieder fallen. Ihr begreift einfach nicht und werdet nie etwas beeinflussen, etwas in Bewegung setzen, etwas Verändern… Denn darum geht es, bei all dem ganzen Geschrei, dass alles so bleibt, wie es ist.“ Er war jetzt auf ein trauriges Lächeln runter. „Ihr seid einfach nur Mittel zum Zweck.“ Louis nahm ihr den Hammer aus der Hand und reichte ihn über seine Schulter. Er stand auf und Jane – schlug zu. Der heftige Schlag gegen ihren Kopf schickte eine Welle aus Anspannung durch ihre Gliedmaßen, die sich kurz verkrampften, ehe sie endlich locker ließen. Ein für alle mal. Jane schaute auf sie herab… es war weit mehr als schauen; diesen Glanz in ihren Augen, bekam man nur sehr selten zu Gesicht. In diesem Augenblick begriff Louis erst so richtig, wie es um sie stand. Viele spielten nur eine vermeintliche Leidenschaft, wählten sie aus wie eine Pauschalreise ans Mittelmeer, um all die anderen nachzumimen, die fünf Minuten vorher dran waren. „Jane…“, rief Louis. „JANE.“ Sie blickte auf und lächelte. „Komm schnell!“ Sie ließ den Hammer in den Eimer fallen, was ein schepperndes Getöse erzeugte und packte sie bei den Beinen. Louis griff ihr 36 automatisch unter die Arme und sie hievten den Körper auf die Bahre.


Jane begann sofort ihr die Kleider vom Leib zu zerren. Louis sah ihr zu, starrte auf ihren weißen Kittel, der sich durch die Spannung ihres Hinterns nach oben wölbte, als schnappte er nach Luft. „Wie viel Zeit haben wir noch?“ fragte er. „Der Laden ist locker noch eine gute halbe Stunde wie tot.“ Louis zerrte den Kittel über ihren Hintern und befreite ihn von seiner Schnappatmung. Er zerriss ihr das Höschen und… Er hatte gerade ein paar Stöße angebracht, als Jane den Körper ihrer Ex-Freundin nackt vor sich liegen hatte. Sie strich ihr das Haar über das Loch im Kopf, beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die leicht geöffneten Lippen. „Mach doch weiter“, schrie sie. „MACH WEITER!“ Also machte Louis weiter und sie stürzte sich auf diesen Körper und verbiss sich in ihn und japste und jauchzte, während er stieß und stieß und machte und tat… bis es ihm kam… Und in dem Moment machte es bei ihm Klick. Louis hatte sie unterschätzt. Unweigerlich drängte sich ihm der Gedanke auf – die Gewissheit – wie es mit ihr weitergehen würde… Sie hatte es ihrer Freundin gesteckt. Wer sonst? Vielleicht am ersten Abend, als er ihr die Fotos gezeigt hatte? Und es hätte sein Körper sein sollen, der hier und jetzt auf der Bahre lag. Nein, er wusste, wie es mit ihr weitergehen würde. Und wie es endete. Nur enden konnte. – Ohne ihn! „Wohin mit ihr?“ „Mach dir keine Sorgen. Ich hänge ihr den passenden Zettel um den Zeh und schiebe sie heute Abend in die Entsorgung.“ „Du meinst…“ „Was glaubst du, wo all die Unbekannten Leichen landen? All die Penner, Herumtreiber, Kriminelle und die, die keiner kennt, die keine Familie oder Bekannten mehr haben, davon gibt es mehr als du glaubst.“ „Wird sie nicht jemand vermissen?“ „Und wenn schon. Niemand wusste von unserer Liaison. Außerdem verschwinden andauernd Leute.“ Und ihr Antlitz bekam einen sonderbaren Anflug von Schalk. „Hier drinnen, genauso wie dort draußen.“ Dass er für einen Moment sich gar37 hinreißen ließ… immerhin konnte Jane nicht wissen, wohin das


Ganze führte, als er ihr die Fotos zeigte, und er auch nicht… es war nur vernünftig, ihn, den schmierigen Bullen, aus dem Weg räumen zu wollen… das konnte er ihr schließlich nicht ankreiden – nein, das nun wirklich nicht. Sie lachte lauthals. „Mach dir keinen Kopf! Hier werden genug Körperteile entsorgt, zwei Füße, zwei Arme mehr, da fängt keiner an Inventur zu machen.“ „Und wenn sie jemand gesehen hat?“ fragte er. „Um diese Zeit bin ich die Einzige hier. Nur ich und –“ Sie sah ihn erschrocken an. „Pater Pechjavi.“ Louis grinste. „Mach dir um den mal keine Gedanken, den guten Pater krieg ich schon auf den rechten Weg.“

8 Jane und ich hatten noch einigen Spaß miteinander – warum auch nicht? Natürlich nur bis mir die Schose mit ihr zu langweilig wurde. Sie hatte dann einen tödlichen Verkehrsunfall. Nichts Ungewöhnliches bei der Alkoholmenge, die sie im Blut hatte. Selbstverständlich ließ ich Jane auch in ihrem vertrauten Hotel bettfertig machen und lernte so auch gleich ihre Nachfolgerin kennen. Eine kleine, dicke Person mit einem Gesicht, wie ein zu lang benutzter Handfeger. Also hielt ich mich nicht allzu lange mehr dort auf. Tja, und das war´s. Sicher würden Sie jetzt gerne hören, dass man mir auf die Schliche gekommen sei, bei irgendwas, was auch immer, dass der Michel sich ein Herz genommen hätte und seinem Verdacht nachgegangen wäre – denn den hatte er – und der Gerechtigkeit genüge getan wäre. Hm? Entschuldigung, aber dabei kommt mir noch immer das Grinsen. Geben Sie´s ruhig zu, Sie würden mich am liebsten vermöbeln. Mir Manieren beibringen, oder mich für immer in ein dreckiges Loch sperren. Wer kann Ihnen das schon verdenken? Warum ich Ihnen das jetzt alles erzähle? Nun, zu aller erst ist es mir egal, was Sie oder die Nachwelt von mir halten. Und ich amüsiere mich köstlich, denke ich an Ihre hilflose, alberne Wut, 38 mit der Sie nichts, aber auch gar nichts mehr anfangen können, weil ich dann bereits unter der Erde liegen werde. Schleudern Sie


sie gegen die Wand, wenn es Ihnen Spaß. Theatralik kann ja auch ganz schön sein. Oder zeigen Sie mal ein bisschen Größe und gönnen mir meinen letzten Scherz! Ich hab mir immer alles genommen was ich wollte, während Ihnen schon einer abging, wenn Sie in der fünfziger Zone mit sechzig durchkamen. Aber kein Grund zur Sorge, Ihnen bleibt ja noch immer der Glaube an Gott, oder sonst irgendeine karmische Gerechtigkeit. Amen.

Epilog „Guter Witz – und jetzt die Wahrheit.“ „Mein Vater… er war wohl ein Trinker gewesen, zumindest war es das, was Mutter ständig sagte. Aber kein schlechter Vater. Er hat immer viel mit mir gemacht und damals… es ist alles sehr schemenhaft, fast nur Einzelbilder, bis auf dieses Gefühl… sie ließen sich scheiden und… jedenfalls holte er mich vom Kindergarten ab und nahm mich mit in seine neue Wohnung… ich spielte mit meinen Puppen, als ich ihn rufen hörte. Ich lief zu ihm. Er saß im Wohnzimmer, auf der Couch, sein Bier war ihm aus der Hand gefallen. Also hob ich es auf und kletterte auf seinen Schoß, wie ich es so oft schon getan hatte. Erst dachte er schlief nur. Ich kuschelte mich bei ihm ein, schlang seine Arme um mich und… ich fühlte mich so sicher… so sicher hab ich mich nie wieder gefühlt.“

39


DER LETZTE BISSEN von Jason Dunkle Als ich wegen der Kälte neuerlich aufwachte, zog ich die Decke wieder über die Schultern. Vor dem kleinen Fenster ein früher, verhangener Morgen. Ich versuchte mich zu sammeln, legte den Arm um sie, doch sie rührte sich nicht. In der Hütte war es kälter als an den vorangegangenen Morgen. Ich horchte nach den Kindern im Raum nebenan. „Hast du es auch gehört?“, fragte ich sie so leise wie möglich. Sie hatte die Augen geschlossen und murmelte Unverständliches. In der Nacht hatte ich wachgelegen, dem Gefühl nach viel zu lange, ich hatte das Atmen der Kinder gehört, ihr Husten, denn eines der Mädchen war im Urlaub krank geworden. Unverständliches Murmeln noch einmal, Angela war wieder eingeschlafen. Unsere Erinnerungen spielen mit uns. Ich spürte das Verlangen mir so wie damals vor mindestens fünfzehn Jahren an einem ganz ähnlichen Morgen eine Zigarette anzuzünden und in den Regen hinaus zu starren. Ich setzte mich auf, mir war eiskalt. -*Beim Frühstück redeten wir uns in einen kleinen Strudel hinein. Ich beschrieb im Detail, was ich gehört hatte: das sanfte Rumsen, als ob ein Polster der Kinder auf den Boden, oder den Teppich gefallen wäre. „Nein, das habe ich nicht gehört.“ Da sie nichts weiter dazu sagen konnte oder wollte, zündete ich mir eine Lucky an. Die Kinder spielten im Garten des Vormittags. Die Schaukel bewegte sich noch, ich stieß den Rauch aus. Über die Hecke hinweg sah ich unseren Nachbarn vor seinem Haus sitzen. Die Sonne schien mir ins Gesicht, ich zog den Kopf gerade so viel zurück, dass ich nicht mehr geblendet wurde. Vom Tal stieg ein vielversprechender Nebel zu uns herauf. „Du könntest einfach versuchen, so spät wie möglich am Tag40die erste zu rauchen.“ Die Hecke, die wir extra wegen ihm gepflanzt haben, dachte ich,


bringt uns dennoch keine Ruhe. Der Nachbar sah zu uns herüber, auf der Brust den Feldstecher für die Jagd. Als sie ihm ironisch winken wollte, widerstand ich dem Impuls sie unfreundlich zurück zu halten. Der zündet uns noch die Hütte an, sagte ich mir, ihr hatte ich es schon oft genug gesagt. Es ist beschämend, wie sehr die Leute einen zu stören beginnen, wenn einer etwas älter im Leben geworden ist. Die Kinder kamen schreiend auf die Terrasse gelaufen, eines der Mädchen stürmte auf ihre Mutter los, die andere kletterte auf meine Schultern. Ab diesem Zeitpunkt konnte man nichts mehr sagen, selbst wenn man das gewollt hätte. Ebenso unweigerlich musste ich dann auch meine Zigarette los werden, vernichten, zerstören, das böse Ding, das Papa vorzeitig ins Grab bringen würde. Unter gutem Gejohle der Kinder und ihren bösen Blicken schnippte ich die Kippe an den Rand des Gartens, unter die Hecke zur Straße hin. Kleine Racheakte für große Streitigkeiten, nahm ich damals an. -*Im Wald war es still. Nur das jüngere Mädchen lärmte, wie es in diesem Alter üblich ist, aber doch so lange, bis ich den fünfundzwanzig Kilogramm schweren Nörgelbalg auf die Schultern schwang, obwohl ich genau das, tausendfach angekündigt, nie mehr hatte machen wollen. Später hatten wir die Kinder nach vorne los geschickt. „Wie schön“, sagte sie, „so direkt nebenan zu den Kindern zu liegen und sie jetzt ohne Angst im Schlaf sich bewegen hören, und zu wissen, dass ich nicht mehr aufstehen werde müssen“. Ich wusste, was sie meinte. Aber ich dachte an eine andere Frau, die lange vor ihr neben mir gelegen hatte. An das schlechte Wetter über der Stadt, das vom Bett aus grau und kalt zu sehen gewesen war und schließlich kühl durch das offene Fenster in die fremde Wohnung gekommen war. Ich fröstelte, dieses Aufstellen der Haare auf den Unterarmen, wenn die Erinnerungen glauben peinlich wirken zu müssen. 41 Gutgelaunt hängte sie sich bei mir ein. Die Schritte knirschten, von den Kindern war nichts zu hören. Während sie redete suchten meine Blicke zwischen den Stämmen. Ich wusste um


meine Ängste immer schon genau Bescheid. „Hast du den Polster wieder aufgehoben?“, unterbrach ich sie, kürzer als notwendig, aber ihre letzten Sätze hatte ich nur mehr im Vorübergehen wahrgenommen. „Bei den Kindern?“ „Ja.“ Sie schüttelte den Kopf, das schwindende Interesse war ihr anzusehen. Nein, nein, meinte sie, was seltsam war, denn als ich in der Früh aufgestanden war und bei den tief schlafenden Kindern gestanden war, war da nichts mehr am Boden zu sehen gewesen. Was war da in der Nacht hinunter gefallen? Plötzlich kam es mir so vor, als wäre das alles hier nicht zum ersten Mal geschehen. Sie hängte sich trotzdem wieder bei mir ein. Es war da das Bild einer reifenden Frucht, die meine Erinnerung schneller wachsen ließ. Ich ahnte, dass ich tatsächlich wusste, dass dieses Gefühl eines Erlebthabens sich auf zig Fälle des immer gleichen Ereignisses stützte, weil ich mich auf eine vierzigjährige Erfahrung in einem Menschenleben verlassen konnte: es war schon oft passiert, dass ich dort in diesem Ferienhaus, das da wie auf einen Wink hin aus dem vormittäglichen Zwielicht auftauchte, in all den Nächten im Zimmer der Kinder etwas auf den Boden fallen gehört hatte. Da wurde es mir kälter und sie merkte es und drückte sich enger an mich. War es wirklich so, dass ich diese einzelnen Erfahrungen in ihrem Gesamtzusammenhang nie verbinden hatte können? Da fiel es mir nacheinander ein, ein sanftes Geräusch, als würde eine Decke, oder ein Polster, oder eine Zeitung auf dem Schiffsboden im Obergeschoß des alten, kleinen Häuschens landen. Nie ein Buch, ein Stift, etwas lauteres, schweres, ein Kind selbst vielleicht sogar, nein. Und niemals war in der Früh etwas auf dem Boden gelegen, noch da gewesen, und jedes Mal hatte ich ohne groß darüber nachzudenken mich gewundert und weiter gemacht. Aber weiter gemacht ohne Sinn und Erfahrung, also recht eigentlich: jeden Morgen von vorne begonnen, ohne mich auf meine Erfahrungen 42 zu stützen. Aber warum nur dort, in diesen vier oder fünf Wochen pro Jahr und einigen wenigen Wochenenden?


-*Sie hätte doch immer wieder etwas gehört, sagte sie beim Kaffeetrinken auf der Terrasse nach dem Mittagessen. Aber sie interpretierte meine Nacherzählung anders, natürlicher offenbar: instinktgetriebenes Schutzverhalten, Übervorsicht vielleicht, was auch immer. „Etwas, das du mir ja doch auch immer wieder unterstellt hast.“ Doch als ich ihr vorhielt, dass es doch einen Grund für das seltsame Fallen der Dinge in der Nacht im Kinderzimmer geben musste, winkte sie dann doch frech wie früher immer dem Nachbarn, der wieder zu uns glotzte. Früher einmal hätte ich ihr Verhalten gut gefunden, dieses Herausfordernde, das dem anderen den Ball zuspielende (mir ja ebenso wie dem Nachbarn), und wie sie einen dann ansieht. -*Ich fühlte mich auf eine Stufe gestellt mit dem Verbrecher von nebenan, eine Zumutung sondergleichen. Später im Freibad blieben die Kinder schon lieber freiwillig länger im Wasser. Nur ich fror im Wind bei Kaffee und Zigaretten, aber es fühlte sich gut an, nahm ich erstaunt zur Kenntnis, die Dinge hatten sich zu verändern begonnen und ich fühlte mich den verschlafenen Gedanken und Erinnerungen des Morgens sehr nahe. Es ist die Gegenwart, ihre Bedingungen, die den Anstoß für Erinnerungen geben, weniger den Akt des Erinnerns selbst anstoßen, nein, die Gegenwart wählt den Inhalt des Erinnerns aus, dachte ich erfreut, als mir wie schon am Morgen die Frau einfiel, die ich dann doch verlassen hatte. Damals war ich versunken in der Kühle des verregneten Morgen da gesessen, es musste früh gewesen sein, aber vielleicht hatte der Regen durch seine Anonymität das so vorgetäuscht. Nein, der Regen hatte die Anonymität erst ermöglicht, die es benötigte, um ihr Haus unerkannt zu verlassen. Es war die Gleichzeitigkeit der Gefühle, die die verschiedenen Zeitpunkte zusammenführte. Ich zündete mir eine Zigarette an, als ich den störrischen Nachbarn, wortlos wie immer,43im dunkelsten Eck an der Bar im Imbiss sitzen und mich beobachten sah. Dieses Schweigen machte mich krank, dieses


Nichtaussprechen der Aggression und der Verachtung. Ich hatte ihn allerdings auch nie anders erlebt. Fühlte er sich als Alteingesessener von uns Neuen überrannt, verfolgt, überholt? Allein die Tatsache, dass einer fünf Wochen im Jahr statt ins Leere auf eine funktionierende Familie starren muss, als überrennen zu bezeichnen. Ganz zu schweigen davon, dass er sich für diese kurze Zeit ja auch auf die andere Seite seines Hauses setzen hätte können, der Mann hat ja Möglichkeiten vor sich liegen und sieht sie nicht. Anders als ich, dachte ich da, und wo ich ihm gerade vorher noch Neid unterstellen wollte, war ich jetzt auf einmal selbst neidisch auf einen alten Mann, der seit einem, zwei Jahren im Tageslicht schwarze Sonnenbrillen nach einer, ich nehme es an, Augenoperation tragen muss und nur im Schatten sitzen durfte. Damit war nicht zu rechnen gewesen. Alt war er geworden. Ich blickte ihm direkt in die Augen. Er hörte nicht auf mich anzustarren. Unweigerlich musste ich nachgeben und mit Verachtung, aber es war die Verachtung des Besiegten, sah ich seine lächerliche Jagduniform, den Hut, die hängenden Wangen und die Stärke und Größe eines jetzt gebeugten Mannes, die allesamt in einem Freibad ungleich lächerlicher als in freier Wildbahn aussahen. Mir wurde kalt, denn jetzt plötzlich hängte sich die Große von hinten auf mich, nass und zitternd und ich musste mich kümmern, Handtuchaufnahme befehlen, Zurückhaltung fordern und schließlich aufgeben, weil alle nur das machten, was sie machen wollten und meine Meinung sich notgedrungenermaßen auflöste, als hätte ich nie etwas gesagt. So gewöhnt man sich das Schimpfen mit den Kindern ab: dass man erkennt, dass einem alles egal sein muss. -*Die Sonne war am Untergehen, die Kinder noch vor dem Fernseher, und wir standen unruhig auf der Terrasse, als sie mich überraschte: sie nahm mich in die Arme, fest, sie hatte wohl eine leichte Gegenwehr erwartet, und schließlich drückten wir einander noch fester. 44 Sie lachte und wich mir gleich wieder aus, als wir uns los ließen. Eine Schauspielerin, die auf alles gefasst ist, hielt sie mir einen lauen Maiskolben vom Abendessen vor den Mund. Um ihr einen


Gefallen zu tun, denn ich hätte mich an ihrer Stelle geschämt, biss ich hinein. Selten hatte mich Essen weniger beeindruckt als in diesem Moment. Mit Mühe schluckte ich einen Bissen an Gemüse hinunter. Als ob es einen vor Langeweile recken würde. „Ich habe nachgedacht“, sagte sie, „und ich kann dir keinen Vorwurf machen“. Ich nickte sie, wachsam geworden, auffordernd an. „Ich habe das nicht gehört, weder heute in der Früh, noch in der Nacht, und auch nicht in den Nächten davor. Ich kann auch nicht in dich hineinsehen, und du wirst es mir auch nicht sagen, das wissen wir ja beide, schau mich nicht so an. Ich will auch nicht mit dir streiten.“ Sie weinte beinahe vor Ärger. -*Das hätte mir natürlich von Anfang an klar sein müssen, dachte ich später in der Dunkelheit auf der Straße, dass eine simple Frage zu einer General-Infragestellung von allem führen musste. Simple Wahrheiten: eines führt zum anderen. Wir verstanden uns zum Glück gut, so gut, dass wir die Dinge auf sich beruhen lassen konnten. Überrascht stellte ich fest, dass die neue Straßenlaterne, eine von dreien im gesamten Ortsgebiet, bereits kaputt war. Die nächste sah ich die gewundene Straße hinauf durch den Fichtenwald. Die dritte würde oben im eigentlichen Dorf ihren Dienst versehen. Es war dunkel, selbst die Sternenbilder schienen weiter entfernt zu sein und die Grillen waren auch schon einmal lauter gewesen in damaligen Sommer. Dieser Ort war mir schon immer fremd gewesen, aber damals, wo ich nicht einmal mehr das Haus gegen den Wald ausmachen konnte, kam ich mir endgültig verloren vor. Wir sind wirklich auf uns alleine gestellt, dachte ich. Das Haus des Nachbarn war von einem mageren Hoflicht erhellt. Sogar in der Nacht lagen Haustür und die Bank neben ihr im Schatten. In der Nacht sah man, was man im Tageslicht nur geahnt hatte: ein altes, ehrwürdiges, von mir aus, Familienhaus, einen Schuppen und ein Wirtschaftsgebäude, das früher vielleicht einmal ein Stall gewesen war. Obwohl letzteres damals schon45 seit Jahrzehnten leer stand, hatte ich plötzlich einen Hauch eines irritierenden Gestanks in der Nase. Irgendwo am Straßenrand


musste ein Tier verendet sein. Der alte Sack war längst im Bett. Doch ich hatte mich getäuscht, denn in einem der Zimmer des oberen Stockwerks brannte ein mattes rotes Licht, das fehl am Platz aber auch seltsam einladend langsam flackerte und dann wieder ruhiger weiter brannte. Ein Feuer konnte ich ausschließen, aber trotzdem machte ich ein paar Schritte näher an das Grundstück des Nachbarn heran. Ein Gedanke formte sich und trotz eines milden Entsetzens konnte ich mich meiner eigenen Bösartigkeit kaum entziehen. Was wenn es mir gelingen würde den alten Mann zu töten und es wie einen Unfall aussehen zu lassen? Recht eigentlich bin ich entsetzlich begeistert von mir, lachte ich, und trotzdem schwang ich mich über den Gartenzaun. Das gelang mir gut, einmal gelernt heißt, niemals verlernt. Die Kraft, die jede körperliche Bewegung an sich alleine schon hervorruft, griff mich an, ich fühlte mich, mit aller Erfahrung ausgestattet, überjung. Von der Straßenseite her schlüpfte ich im Schatten des Vollmondes hinter das weiß gekalkte Wirtschaftsgebäude. Mit der Wildheit ging eine unendliche Schärfung der Sinne einher, ich kannte mich nicht wieder, ein Tier, das sich auf sich selbst alleine nur verlassen konnte, alles andere sich selbst unterordnete. Meine Schritte hörte ich nicht, aber sehr wohl ein weit entferntes Motorengeräusch, eine, zwei Sekunden später war es vorbei. Ich lugte um die Ecke des Gebäudes, den Rücken gerade so eng an die Wand gepresst, dass mögliche Rückstände der Fassadenfarbe auf meinem Gewand auszuschließen waren. Auf der Terrasse unseres Hauses sah ich meine Frau im Licht, sogar ihre Gesichtszüge erschienen lesbar: ich sah eine große Zufriedenheit und viel Stolz. Dieser Weg war zu hell. Ich lief an der Rückseite entlang an die andere, dem Mond abgewandte Ecke. Hier ist es viel viel besser, zischte ich mir nun zufrieden zu, und ein wenig war ich erschrocken, vielleicht stimmt es ja, dachte ich, dass die Familie, die Kinder, all diese anpassungswürdigen Forderer, ebenso wie die Arbeit, die Karriere, die Karriere und die Sorgen um die Gegenwart und noch viel mehr um eine, nicht einmal vorstellbare, Zukunft uns niederringen wollen, und dass es ihnen 46 auch gelingt, wenn einer sich nicht doch mit einem Rundumschlag und voller Gewalt dagegen wehrt. Im Schatten des Gebäudes rannte ich an die nächste Ecke. In der Mitte des Hofes


stand der graue Geländewagen, links und rechts geblickt, niemand zu sehen, schon war ich an der Fahrerseite, dann noch drei große Schritte und ich würde vor seinem Haus stehen. Ich sprang, schaffte die vier oder fünf Meter mit einem Riesensprung und wartete gar nicht lange, die Haustür war zu gefährlich. Da machte ich Halt, natürlich würde ich durch die Haustür kommen, denn genau dort erwartete er mich am allerwenigsten. Sein Denken war mir damals schon vertraut und ich hatte auf einmal das Gefühl erwartet zu werden. Ich ging also langsam zur Haustür zurück. Ich lauschte in die Nacht hinaus. Noch nie war mir bewusst gewesen, wie sehr hier alles rund um uns herum lebte. Ich hörte eine erdrückende Kakophonie aus Gurren, Zischen, Reibe- und Stoßgeräuschen. Nur aus dem Haus heraus drang kein Laut ans Freie, ich öffnete die Tür mit einem Papiertaschentuch in den Fingern. Im Mief der alten Menschen schloss ich sie nach einer Sekunde wieder hinter mir, kein Licht, sondern ein grünes Schemen vor meinen Augen half mir bei der Orientierung, ich schlich den Gang entlang und erkannte, dass ich weder nervös noch angespannt war. Es war die normalste Sache der Welt geworden, und ich schätze, dass ich schon damals wusste, in genau diesem Moment vielleicht, dass es so mit mir weitergehen würde. Plötzlich brach das Licht über mich herein, der Alte stand in der Tür zur Küche, ein Messer in der Hand und meine neu gewonnene Jugend brach mit einem Zischen aus mir heraus, als ich aus dem Stand auf ihn zusprang und seine Angst leuchtete mir ein, er sah mich, vielleicht zum ersten Mal, sehr bewusst, nahm er mich wahr, als das was ich war: eine Gefahr. Ich erkannte, dass er das bis jetzt nicht so ganz haarscharf gewusst hatte, wie gefährlich ich ihm tatsächlich geworden war. Es war dies der Zeitpunkt, von dem an ich mich selbst für alle Zeit nur mehr im Entsetzen meines Gegenübers gespiegelt sehen sollte. Ich ließ ihm keine Chance sich zu wehren, er wedelte noch ein, zwei Mal mit dem Schlachtmesser herum, aber da wusste er wohl schon um die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen Bescheid. Spätestens als ich ihn 47er niedergerissen und mich in seinem Hals verbissen hatte, gab auf. Ein alter Mann ist kein D-Zug, da hatte er recht, das so schnell einzusehen. Ich legte auch keinen besonderen Wert auf


auf Gegenwehr, sie machte mich nicht an, ich brauchte sie nicht, erkannte ich. Als ich fertig war, griff ich mir den Hut, der auf dem Küchentisch lag. Ich nahm den frischen Fichtenzweig aus dem Hutband und steckte ihn dem alten Mann in den aufgerissenen Mund. Draußen regnete es mit einer Gewalt, wie es einem Regen in der Stadt nie gelingen wird, sie zu erzeugen. Ich stellte mich unter die Stelle, wo die Dachrinne mit Wasser überschoss, ich sah das Wasser nicht kommen, hörte es nur mit Wucht auf den Schotter vor der Hauswand aufschlagen und spürte es dann in meinem Gesicht, wie es das Blut fortwusch und die Jacke und Hose schwerer machte. Da fühlte ich mich leichter. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen erinnerte ich mich wieder an diesen Morgen, als ich am Bett dieser Frau gesessen war, die ich im Begriff zu verlassen gewesen war. Eines führt immer zum anderen. Ich machte mich auf den Weg. Der laute Regen umgab mich und meine Verbrechen wie eine zweite Haut. Und wie damals verließ ich den Platz, ohne dass mich jemand hätte sehen können. Während ich zufrieden durch den Regen zur Straße zurück und diese hinauf in Richtung unseres Hauses stapfte, erinnerte ich mich an ihr Schluchzen, an die Schläge und an die Wut, die ich nicht zurück halten hatte wollen. Hatte ich diese Vorgänge über all die Jahre tatsächlich vergessen gehabt? Ich wusste, dass ich von nun an grundlegende Änderungen in meinem Leben vornehmen musste. Aber ich war zuversichtlich, dass mir das auch gelingen würde, als ich durch die Hecke und die Büsche das Licht auf der Terrasse sah, das wir aus Sicherheitsgründen während unserer Anwesenheit auch in der Nacht brennen ließen. -*Später in der Nacht schreckte ich wie immer dort am Land aus dem Schlaf. Ich hörte deutlich, wie etwas Weiches, Sanftes beinahe, im Zimmer der Kinder auf den Boden fiel. Ein Polster, vielleicht eine Decke, die vom Bett rutschte, der Schwerkraft schließlich nachgab. Ich zog den rechten Arm unter dem Rücken 48 meiner Frau hervor, sie seufzte, rollte dem Arm noch halb nach und blieb liegen. Ich stand leise auf. Auf dem Boden vor den Kinderbetten war nichts zu sehen.


49


CHRISTOPH TRÄUMT von Johannes Tosin Nach Anregungen von meinem Sohn Michael Lebe ich in meinen Träumen oder leben meine Träume in mir, fragte sich Christoph Wegestein, nachdem er wieder einmal vom Schlaf aufgescheucht worden war. Er setzte sich an die Bettkante, überkreuzte die Füße, hielt seine Schläfen. Wippte mit dem Oberkörper. Atem holen fiel schwer. Tief in den Bauch atmen und die Luft aus den Lungen pressen, ohne zu husten. Er hätte sich jetzt gerne eine Zigarette angezündet, doch in seiner Einzelzelle herrschte Rauchverbot. Wenn der Pfleger die Tür aufgesperrt haben würde, ginge er zuerst in den Raucherraum. Auf einem Plastikstuhl mit Aluminiumgestell sitzend wird er eine Zigarette aus der Packung kramen und sie mit noch feuchten Händen anzünden. Vorher noch wird ihm der Pfleger mit dem Goldkettchen seine Tabletten reichen und genau zusehen, wie Christoph sie schluckt. Christoph Wegestein, seine Vorfahren hießen noch „von Wegestein“, doch Adelstitel waren in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg außer Kraft gesetzt worden. Er hörte einen Kuckuck rufen, einen männlichen. Der rief schon seit Wochen und ganz selten nur hatte ein Weibchen mit seinem Doppellaut „Kuckukuku“ geantwortet. Der Kuckuck rief. Verzweifelt. Der Morgen graute. Hinter den Gitterstäben des Fensters, von dem man jetzt nicht sah, dass sie weiß waren. Hinter den Gitterstäben, die ein Karomuster in den Raum werfen würden, wenn die Maisonne aufgegangen hochsteigen würde. Tief einatmen, durchatmen, tief ausatmen, die Backen aufgebläht. Der Traum zog in seinem Kopf Schleifen. Gedankenspuren. Traumsegmente. Eine Frau trank Cognac im WC. Die Frau war schwanger. Sie trank. Trank. Bis sie laut mit sich selbst redete. Lallte. Die Frau war alleine. Zuhause. Die Frau hörte Musik, obwohl die Stereoanlage ausgeschalten war. Klänge perlten über ihre Schulter, ihre Flanken, ihren Unterleib. Der Frau wurde 50 schwindelig. Sie setzte sich auf die WC-Muschel, um ihren Darm zu entleeren. Ihre Exkremente waren dunkelbraun und flüssig. Es


stank. Nach Cognac. Kot. Die Frau öffnete nicht das Fenster. Plötzlich zog es scharf in ihrem Unterleib. Als ob der Teufel mit einer Glasscherbe von innen dagegen ritzte. Es zog. Es stach. Höllisch. Die Frau presste. Die Frau presste. Die Frau presste einen blutigen Klumpen Fleisch von der Größe eines Kindskopfes in die WC-Muschel. Die Frau schrie. Der Klumpen Fleisch bewegte sich. Die Hände waren bereits ausgebildet, die Finger wie durch Schwimmhäute verbunden. Christoph war der Klumpen Fleisch. Betrachtete mit toten Augen die zerrissene Scheide seiner Mutter. Christoph saß an der Bettkante. Hielt seine Schläfen. Wippte mit dem Oberkörper auf und ab. Bemühte sich, tief zu atmen, doch es blieb ein hastiges Hecheln. Wasser lief seinen Rücken herab. Schweiß. Eiskalt. Seine Zehen gruben sich in den Linoleumboden. Der Mund aufgerissen. Die Augen des Kindes, kurz bevor es stirbt. Es war dieser ständig wiederkehrende Traum. Dieses allepaar-morgentliche Erwachen in Furcht und Todesangst. Der ihn viele Nächte nur wenige Stunden lang schlafen ließ. Immer wieder fragte sich Christoph dann, was dieser Traum zu bedeuten habe. Nie bekam er eine Antwort. Nach einiger Zeit. Zeit spielte keine Rolle in dieser Anstalt, die Tage waren gleich, nur die Jahreszeiten änderten sich, das sah er während der eineinhalb Stunden, die er im Garten verbringen durfte, und wenn er aus dem Fenster blickte, doch daran, dass sein Bart und sogar seine Augenbrauen weißer wurden, merkte er, dass sie doch verging. Schafft er es, zur Tür zu gehen. Er hämmerte mit den Fäusten dagegen. Niemand öffnete. So ging er auf sein WC und urinierte. Er setzte sich zum Holztisch. Hörte den Kuckuck rufen. Niemand antwortete. Er würde antworten. Er würde der Kommissarin antworten, die ihn im Laufe des Vormittages befragen würde. Oder er würde schweigen. In dem kleinen, quadratischen Raum, der für solche Anlässe vorgesehen war. Ein Pfleger würde daneben stehen, wenn sie glaubten, er würde renitent werden. Oder keiner. Wenn er ruhig sein würde. Bis auf das unmerkliche Zittern in seinen Händen. In sein Inneres konnte ja niemand sehen. Sonst würden 51 zwei Pfleger daneben stehen. Das wollte er nicht. Er wollte alleine mit der Kommissarin sein. Sie ganz für sich haben. Sie würde mit ihm eine halbe Stunde verbringen, oder eine. Und dann wieder


gehen. Ohne mehr gewusst zu haben als vorher. Die Kommissarin erinnerte ihn an eine Frau, der er einmal bei der Maltherapie in einer offenen Station einer Nervenheilanstalt begegnet war, vor vielen Jahren, als er noch ein freier, freierer Mann gewesen war. Die Frau bei der Maltherapie war klein gewesen, hatte wenig Oberweite gehabt und einen roten Pagenkopf getragen. Nicht sein Typ, zudem weit älter als er gewesen war, aber charmant. Die Kommissarin war auch eher klein und trug kurze rote Haare. Nicht charmant, aber sie hatte Feeling. Die Frau bei der Maltherapie hatte es mit jungen Männern gehabt. Ständig war sie mit einem langhaarigen Jungen herumgehangen, obwohl sie einen Partner habe, wie sie ihm versichert hatte. Sie hatte den Jungen, soweit Christoph es gesehen hatte, nie berührt, aber ihr war ständig danach gewesen. Bei der Maltherapie waren sie zuerst in einem Sesselkreis zusammen gesessen. Die Farbe Blau war dran gewesen. Die Therapeutin, eine Akademische Malerin, hatte sie gefragt, welche Assoziationen sie zu dieser Farbe hätten. Blau stünde für mich für den Himmel, das Meer und harte Augen, wie sie meine Mutter habe beispielsweise, das mit den Augen seiner Mutter hatte er für sich behalten, hatte Christoph gesagt. Er lebe auch in einem Haus, an dem viele Teile blau seien, sogar das Dach, hatte er gesagt. Die Frau mit dem roten Pagenkopf war neben ihm gesessen, als sie in Blau auf große Papierbögen gemalt hatten. Er hatte dunkelblaue Wellen gemalt, ein eisblaues Auge in der Mitte, schwarzen Regen links und rechts daneben und ein Doppelkreuz am unteren Rand des Bildes. Sie hatte ein blaues Haus gemalt und eine blaue Gartenbank. Dann war Pause gewesen. Die Frau mit dem roten Pagenkopf und Christoph hatten sich im Raucherraum unterhalten. Nach der Pause hatte die Therapeutin der Gruppe eine mittelalterliche Geschichte über ein freundliches Wesen an einer Flussquelle, das Fragen beantwortete, vorgelesen, wobei sie die Augen geschlossen halten sollten, was alle außer ihm geschafft hatten, eine „Fantasiereise“. Dann hatte ihnen die Therapeutin aufgetragen, ein Bild zu diesem Thema oder über das, was sie bewegte, zu malen. Die Frau mit 52 dem roten Pagenkopf saß neben ihm. Er hatte einen weißen Kreis gemalt, gelbe, dann orange Striche, weiter außen blutrote Kugeln. Er hatte eine stilisierte Sonne gemalt und mit lila Farbe das Bild


signiert und datiert. Die Frau mit dem roten Pagenkopf hatte eine blühende knallrote Rose gemalt, wobei besonders der Stängel und die grünen Blätter sehr fein ausgearbeitet gewesen waren. Die Kommissarin, ja, die Kommissarin. Sie war nicht hübsch, sie war nicht charmant. Sie war zielgerichtet. Sie hieß „Marianne“. Marianne Schwertfänger. Sie würde Christoph Wegestein in der Anstalt für abnorme Rechtsbrecher, die am Waldrand lag, ein Fischteich war in der Nähe, ein Kornfeld, ein Rapsfeld war von den nordseitigen Fenstern aus zu sehen, besuchen. Sie hatte eine Kindesentführung aufzuklären. Ein achtjähriger Junge, der zuletzt beim Spielen mit Freunden gesehen worden war. Und ein Mann war noch bemerkt worden, der Lukas erzählt habe, seine Mutter sei wegen starker Magenprobleme ins Krankenhaus eingeliefert worden und er sei hier, um ihn zu ihr zu bringen. Der Mann hatte Christoph ähnlich gesehen. Zu dieser Zeit jedoch war Christoph in der Anstalt gewesen, beim Abendessen im Speisesaal oder gerade im Raucherraum, oder in seiner Zelle. Jedenfalls war er in der Anstalt gewesen. Unter Aufsicht. Marianne vermutete jedoch, dass Christoph etwas mit dem Fall zu tun gehabt habe oder immer noch habe. Der Mann hatte Christoph ähnlich gesehen. Unumstößlich. Und Christoph war wegen Kindesmissbrauch mit anschließender Tötung verurteilt worden. Für unzurechnungsfähig erklärt worden. Er litt unter Schizophrenie und war akut psychotisch gewesen. War er böse? Er war krank. Er würde Marianne nicht von dem Traum erzählen, den er in der Nacht vor dem Verschwinden des Jungen gehabt hatte. Oder vielleicht würde er es doch. Es könnte ihm nichts passieren. Er war unschuldig. Er war zur Tatzeit nicht am Spielplatz gewesen. Nachweislich. Marianne würde jedes seiner Worte auf den Boden fallen hören und dabei seine Gestik, seinen Habitus zu deuten versuchen. Sie würde sich erst hinterher Notizen machen. Notizen würde sie in jedem Fall machen. Auch wenn er nicht redete. Sie würde fragen und sich wünschen, er redete wie ein Wasserfall. Er redete über den Traum, der folgendermaßen verlief: Es ist Winter. Christoph trägt Wanderschuhe. Er besucht 53 seine verschiedene Großmutter. Sie ist in einem Garten. Sie fragt ihn: „Willst du die Wahrheit wissen?“ Er überlegt. Hat Angst, sein Vater wäre nicht sein leiblicher. Er bejaht. Sie erzählt. Von ihrer


Tochter, seiner Mutter. Sagt, sie habe ihren Körper verkauft und sein Vater sei nur einer unter vielen Männern gewesen, die sie gehabt hatte. Schon vorher war er wütend gewesen. Jetzt ist er außer sich. „Wenn du gestorben sein wirst, wird dich Gottes Zorn verfolgen“, sagt er und sieht in ihre Augen, die einer riesigen, schwarz-getigerten Plüschkatze, aber mit runden Augen ohne Iris. Die Plüschkatze war steinern geworden. Er verlässt den Frühlingsgarten. Marschiert, die lange Strecke zum Bus in der beginnenden Nacht. Es ist ein trockener Tag im Winter, aber glitschiger Schnee liegt auf der Straße. Er geht über die Straße. Ein Kleinwagen drängt ein Taxi ab. Er geht zum Kleinwagen, hebt Cent-Münzen vom Boden auf, behält zwei Zehner-Münzen, gibt die restlichen zwei Männern, die aus dem Kleinwagen aussteigen. Ein beiger Kleinwagen, relativ neu. Er will zum Bus. Es ist dunkel. Er geht mit den Männern, es sind vier, ein Pärchen, Hand in Hand, zwei einzelne Männer, davon einer mit schwarzen Haaren, eher klein. Schwule. Er fragt ihn: „Könnt ihr mich mitnehmen? Ich muss noch nach Bruck an der Mur.“ Er stellt sich den Hauptplatz vor, auf dem Schnee liegen wird. „Ich lade euch auch auf Getränke ein. Maximal zwei pro Person.“ Der schwarzhaarige Mann denkt nach. Wirft lässig den Kopf nach hinten. Antwortet: „Okay, aber ich muss vorher noch etwas erledigen.“ Er geht zum zerbeulten Kleinwagen. Da erst sieht Christoph, dass ein Kind mit blonder Kurzhaarfrisur auf dem Rücksitz sitzt. Ein Fußball liegt neben ihm. Der Junge blieb spurlos verschwunden. Keine Lösegeldforderungen. Nichts. Nur ein Anruf an das Festnetztelefon seiner Eltern. „Der Junge ist unter meiner Obhut. Es geht ihm den Umständen entsprechend.“ Dann hatte der Anrufer wieder aufgelegt. Das war drei Tage nach dem Verschwinden des Jungen gewesen. Vor zwei Monaten. Marianne war auf diesen Fall angesetzt worden, da sie Erfahrung in diesem Metier hatte. Mit Triebtätern. Mit Abnormen. Mit Zerrissenen. Mit Verzweifelten. Mit Monstern. „Monster“ war für Christoph nicht ganz das richtige Wort. Er hatte es nur einmal getan. Man hatte es ihm nur einmal 54 nachweisen können. Die Sachlage war eindeutig gewesen. Fleischfetzen in der Badewanne. Blutspuren im Bett. Aussagen der Nachbarn. Die einen kleinen Jungen hatten schreien hören.


Weinen. Wimmern. Flehen. Christoph würde für den Rest seines Lebens in dieser Anstalt bleiben. Seines unwürdigen Lebens? Seines gekränkten Lebens. Früher hätte man Christoph gehängt. Mit dem Strick. Mit der Falltür. Mit dem raffinierten Knoten, der das Genick bricht. Wenn der Delinquent Glück hat. Der eine Erektion haben würde, bevor er stürbe. Der einen Samenerguss erhaben würde, in dem Moment, in dem er stürbe. Die einzige Person, der er vielleicht etwas abgehen würde, wäre seine um acht Jahre jüngere Schwester. Doch auch die hatte sich nach dem Schuldspruch von ihm distanziert, ihn nie mehr besucht. Christoph das Tier. Christoph die Bestie. Christoph, den Sklaven seiner Triebe. Christoph war nur bis zum Jugendalter laut geworden, wenn er unter Druck geraten war. Unter Druck seitens seiner Eltern, seiner Verwandten. Dann hatte er die alltäglichen Demütigungen in sich hineingefressen. War immer freundlich geworden. War zum umgänglichen Menschen geworden. Anscheinend. Scheinbar. Denn plötzliche Aggressionsausbrüche brachten ihn in regelmäßigen Abständen, die ständig kürzer wurden, in die Psychiatrie. Anfangs in offene Stationen. Später immer häufiger in geschlossene. Seine Familie wollte nichts mehr mit ihm zu tun zu haben. Der Pflichterbteil fiel spärlich aus. Von dem er sich eine kleine Wohnung in der feinen Gegend seiner Kleinstadt kaufte. In der keine Pflanzen waren, da niemand da war, der sie gegossen hätte, wenn er abwesend war. In einer Anstalt. In der keine Tiere lebten, da niemand da war, der sie gefüttert hätte, wenn er abwesend war. In einer Anstalt war. Außer Spinnen. Außer netzwebenden Spinnen. Die er nicht tötete. Christoph tötete keine Tiere. Zuhause schlief er in einem Einzelbett mit geschwunden erhöhtem Kopfteil, das mit weinrotem Stoff bespannt war, einem Stück aus den frühen siebziger Jahren, das aussah wie eine der Liegen im alten Rom, die bei Orgien in Gebrauch gewesen waren. Er schlief auf der Seite liegend, die Beine angezogen, in Embryonalstellung, mit den Händen hielt er die gegenüberliegenden Oberarme umschlungen. Er hielt sich selbst fest. Hier in der Anstalt verweigerte er die Massagen, denn er wollte nicht angefasst werden. Nur um sexuelle Befriedigung zu finden, wollte er das. Hart. Abrupt. 55 Stoßartig. Noch als junger Erwachsener hatte er Stofftiere gesammelt. Einige Zeit bevor er die Tat begangen hatte, wegen


der man ihn hier in Verwahrung genommen hatte, hatte er sie verbrannt. Denn er hatte sich vorgenommen, etwas Lebendiges zum Kuscheln zu suchen. Zu suchen, zu finden. Sich zu befriedigen. Zu töten. Bei der Maltherapie eine Woche darauf war die Frau mit dem roten Pagenkopf nicht mehr neben ihm gesessen. Kurz zuvor hatte sie mit ihrem Freund telefoniert. Sie hatten die Farbe Rot behandelt. Gefragt, was Rot für sie zu bedeuten habe, hatten die Teilnehmer Sachen wie: Herz, Liebe, Ferrari, Korrekturfarbe geantwortet. Christoph war Höllenfeuer, Blut, eine Ampel, die auf Rot steht, das heißt: stehen bleiben!, in den Sinn gekommen. Dann hatten sie gemalt. Christoph überlegte nicht lange, dann hatte er ein das Blatt beherrschende karmesinrotes, fast schwarzes Kreuz gemalt, darin hellrote Blutstropfen und simple rosarote Striche. Eine junge Frau, ebenfalls rothaarig, die einen behinderten Sohn zuhause gehabt hatte, hatte ein verzerrtes rotes Gesicht gemalt. Er hatte sich gegenüber lobend über das Bild geäußert, woraufhin ihm die junge Frau das Bild geschenkt hatte. Er hatte es im Wohnzimmer seiner Wohnung aufgehängt, rechts neben dem Fernseher. Oft, wenn der Fernseher nicht gelaufen war, hatte er das Bild betrachtet. Er war das behinderte Kind gewesen. Das Bild war der Spiegel gewesen, in dem er sich selbst gesehen hatte. Die Fantasiereise war ein Märchen der Gebrüder Grimm gewesen, das „Jorinde und Joringel“ geheißen hatte, ein Märchen über flammende Liebe, die zu reifer wurde und die beide schließlich gemeinsam alt werden ließ. Von roter zu rosaroter in der Farbenlehre gesehen. Christoph hatte in der Mitte des Blattes einen schwarzen Vogel, in dem Märchen waren Vögel vorgekommen, nur aus wenigen Pinselstrichen bestehend mit roten Augen gemalt. Am linken und rechten Rand des Bildes hatte sich je ein halbes Herz befunden. Im Garten des teilweise blauen Hauses seiner Eltern hatten zwei Amseln gelebt, ein quirliges, agiles Weibchen, das er „Hertha“ genannt hatte, und ein behäbiges Männchen, das in ständiger Gefahr vor seiner räuberischen Katze gewesen war, dem er den Namen „Hubert“ gegeben hatte. Der Vogel auf dem Bild sollte Hubert darstellen und sein halbes Herz dasjenige, das sich nach Hertha sehnte, 56 ohne ihr nicht lebensfähig war. Christoph war bald mit dem Bild fertig gewesen und ging flugs in den Raucherraum, ohne die


Bilder der anderen betrachtet zu haben. Wasser. Kalt. Christoph wusch sein Gesicht. Im Badezimmer seiner Zelle. Christoph wusch sein Gesicht. Christoph wusch seinen Traum hinweg. Christoph wusch den Schrecken hinweg. Christoph wusch sein Gesicht. Trocknete es nicht ab. Wasser kalt statt Schweiß kalt. Warten auf den Tag. Warten auf die Kommissarin. Hehre Genüsse mit der Kommissarin. Im Gespräch. Fleischliche Genüsse mit der Kommissarin. Wenn sie ihm die Hand reicht. Zur Begrüßung. Zum Abschied. Lust. Im Kopf. Routine sonst. Der Tag. Träumen. In der Nacht. Von Blut. Von Sperma. Leben. In der Nacht. Sterben am Tag. Immer wiedergeboren werden. In der Nacht. Aber immer ein Stückchen weniger. Bis das Blut blau wird. Aus Mangel an Sauerstoff. Christoph von Wegestein. Adeliger von Geburt. Nun eine Kakerlake geworden. Die wächst und wächst. Lukas tauchte nie wieder auf. Es war, als wäre er von der Erdoberfläche durch einen Riss in ihren Kern gezogen worden. Einen Riss, der sich wieder geschlossen hatte. In die Hölle. Danach aufgestiegen in den Himmel. Als Engel, Engelsstaub von seinen goldenen Flügeln versprühend, bis das Dach des Hauses seiner Eltern davon bedeckt war. Engelsstaub, den niemand sehen könnte. In den Herzen derer, die ihn geliebt hatten, blieb er lebendig. Aber auch nur dort. Der Fall wurde nicht aufgeklärt. Die Akte verstaubte im Regal. Marianne war nicht weitergekommen. Es hatte keinen mutmaßlichen Entführer gegeben, der der beschriebenen Person geähnelt hatte. Außer Christoph. Doch Christoph konnte es nicht gewesen sein. Er war in der Anstalt gewesen. Die Pfleger hatten das bezeugt. Die Ärzte hatten das bezeugt. Die Mitpatienten hatten das bezeugt. Marianne hatte sich auf Vermutungen gestützt. Die sich augenscheinlich als nicht stichhaltig erwiesen hatten. Nur. Sie war sich sicher, dass Christoph der Täter gewesen war. Aber wie hatte er es getan? Marianne hielt sich immer noch an dem Gedanken fest, dass sie ihn irgendwann überführen würde. Durch einen Zufall. Oder durch eine Unachtsamkeit von 57 Christoph. Durch ein von ihm unbeabsichtigt geäußertes Wort. Vielleicht. Nicht durch Indizien wie Kleidungsstücke des Opfers oder durch ein nachgewiesenes Telefonat. In der Anstalt gab es


keine Telefone. Marianne spürte sich kaum noch. Sie wurde an Sex uninteressiert. Vermutlich deswegen verließ sie ihr Freund. Sie lebte nun alleine. Ohne Mensch. Ohne Tier. Ohne Pflanze. Von der Vorstellung besessen, Christoph Wegestein zu fassen. Nichts anderes hatte sonst noch Platz in ihrem Kopf. Unterdessen vegetierte Christop in der Anstalt dahin. Er hatte Marianne sogar von dem Traum, in dem seine Großmutter vorgekommen war, erzählt. Nur das mit dem Jungen, mit Lukas, auf dem Rücksitz des verunfallten Wagens, hatte er nicht erwähnt. Marianne insistierte. Sagte, das könne doch nicht alles gewesen sein. Berührte sogar einmal scheinbar flüchtig seine Hand, geradezu zärtlich, um ihn zum Reden zu bringen. Erfolglos. Christoph hatte die entscheidende Stelle des Traumes verschwiegen. Doch weshalb hätte er sich darüber auch äußern sollen? Er hatte nichts getan. Er war sich keiner Schuld bewusst. Bewusst. An seinem Tagesablauf hatte sich nichts geändert. Es war ein Hineinleben in die Tage, die einer wie der andere waren. Falls man dies überhaupt „leben“ nennen konnte. Eher war es ein Hineinsterben. Christoph aß, trank, saß im Raucherraum Seine Gespräche mit den Mitpatienten wurden inhaltsloser. Die Themen kreisten um Belanglosigkeiten. Er schloss sich immer mehr in sich selbst ein. Auch die Kommissarin war schon lange nicht mehr bei ihm aufgetaucht. Er entsann sich der kurzer Berührung ihrer Hand auf der seinen. Wurde erregt. Wurde nach dem Onanieren auf seinem Bett wieder ruhig. Dachte an Marianne. Der Schatten der Liebe war auf ihn gefallen. Ihm wurde nicht kalt dabei, da er sich von innen erwärmte. Bevor er einschlief. Bevor er träumte. Er träumte, er sah ein Zimmer. In diesem Zimmer lebte ein Junge. Im Zimmer standen ein Kasten, ein Tisch mit Schulbüchern der dritten Gymnasialklasse, ein Computer und ein Bett. Im Bett lag der Junge. Sein Kopf war rot, seine Bewegungen waren hektisch. Er sollte schlafen in dem Bett, denn hinter dem Vorhang schien der Mond, doch der Junge war panisch. Er suchte im Bett nach Spinnentieren. Er hatte Angst vor Spinnentieren. Er 58 hatte schreckliche Angst vor Spinnentieren. Er drehte die Bettdecke immer wieder um, besah den feinsten Strich im Karomuster des Kopfpolsters. Spinnentiere können auch sehr


klein sein. Sie werden über seinen Körper, sein Gesicht krabbeln, wenn er schläft. Sie werden über ihn krabbeln. Sie werden ihn beißen. Der Junge suchte und suchte. Seine Mutter betrat das Zimmer und beruhigte ihn. Löschte das Licht. Sobald die Mutter das Zimmer wieder verlassen hatte, schaltete der Junge das Licht ein. Und suchte. Suchte Spinnentiere. Fand keine Spinnentiere. Aber da waren Spinnentiere. Er wusste es. Ganz kleine Spinnentiere. Kaum mit freiem Auge zu sehende. Doch sie waren da. Seine Mutter betrat das Zimmer, redete besänftigend mit dem Jungen. Er legte sich auf den Rücken. Sie deckte ihn zu. Verließ das Zimmer. Löschte das Licht. Der Junge schaltete das Licht wieder ein. Suchte Spinnentiere. Die er nicht fand. Sein Kopf war rot, seine Bewegungen waren hektisch. Die Mutter kam wieder ins Zimmer, strich über seinen Kopf. Der Junge legte seinen Kopf in den Polster, streckte die Beine aus. Die Mutter deckte ihn zu. Verließ das Zimmer. Löschte das Licht. Der Junge dachte an Spinnentiere, suchte sie aber nicht mehr. Er war müde geworden. Er schlief ein. Christoph sah den schlafenden Jungen. Er lag auf dem Rücken. Atmete gleichmäßig. Sein Mund war leicht geöffnet. Christoph sah dünne, schwarze Beine aus seinem Mund ragen. Dünne, schwarze Beine, die federleichte Körper trugen, staksten aus des Jungen Mund. Die Spinnen zwängten sich aus seinem Mund. Eine schier endlose Reihe von Spinnen. Der Junge schlief. Spinnen stiegen aus seinen Nasenlöchern. Spinnen stiegen aus seinen Ohren. Spinnen stiegen aus seinen Augenhöhlen. Eine gallertartige Masse rann über seine Wangen. Spinnen krochen unter der Bettdecke hervor. Spinnen überall. Das Bett war voll von schwarzen Spinnen. Das Zimmer war voll von schwarzen Spinnen. Der Junge schlief. Der Junge starb. Im Schlaf. Die Spinnen bewegten sich auf Christoph zu, der im Türrahmen stand. Christoph schrie. Christoph schrie um sein Leben. Christoph erwachte. Christoph schrie. Christoph wollte sich zur Seite drehen. Christoph wollte sich zusammenkauern. Es ging nicht. Christoph bewegte die Beine. Nur ein Wackeln mit den Knien, nur eine Drehbewegung der Fesseln war möglich. Christoph war ans Bett fixiert. Mit halboffenen Augen sah er 59 einen Pfleger in seiner blau-weiß gestreiften Jacke. Mit halboffenen Augen sah er einen Arzt in seinem weißen Kittel. Der Arzt beugte sich zu ihm herab. Der Arzt verabreichte ihm eine


Injektion. Christoph öffnete den Mund, um zu sprechen. Seine Zunge war pelzig. Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie geschwollen. Christoph wollte sprechen. Christoph krächzte. Der Arzt schüttelte den Kopf. Der Pfleger schüttelte den Kopf. Sie machten kehrt. Sie verließen Christophs Zelle. Sie schlossen die Tür von Christophs Zelle. Sie versperrten die Tür von Christophs Zelle. Christoph verspürte den Drang zu urinieren. Christoph konnte nicht aufs Klo gehen. Christoph urinierte ins Bett. Christoph wurde müde. Christoph dämmerte weg. Christoph schlief. Diesmal traumlos. Als Christoph wieder die verklebten Augen aufschlug, war es dunkel in der Zelle. War es dunkel hinter dem vergitterten Fenster, auf dessen Außenseite sich Eiskristalle gebildet hatten. Der Heizkörper lief. Er vermochte wieder, sich zur Seite zu drehen. Die Glieder fühlen sich schwer an. Sein Mund war trocken. Die Schläfen schmerzten. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Einen Tag? Zwei Tage und eine Nacht? Oder mehr? Es war ja auch egal. Er war zwar zurückgekehrt ins Leben, doch es war ein Leben unter Verwahrung. Es gab keinerlei Therapien. Sein Aufenthalt diente lediglich dazu, die Gesellschaft vor ihm zu schützen. Und die Ethik verbot, ihm die Gnade des Sterbens zu erweisen. Tags darauf war die Kommissarin wieder bei ihm. Nach langer Zeit. Marianne hatte sich seit der Kindesentführung verändert. Denkerstirn, tief eingeschnittene Falten um den Mund, sie war hager geworden. Für Christoph jedoch sah sie umwerfend aus. Es gab hier in der Anstalt keine Frauen. Christoph hatte während des Traumes gesprochen. Geschrieen. Worauf ein Pfleger in sein Zimmer gekommen war. Zugehört hatte. Aufzeichnungen gemacht hatte. Frühmorgens dem Psychologen und einem der Ärzte davon berichtet hatte. Christoph hatte von Spinnentieren erzählt, die ein Kind töteten. Die es von innen her auffraßen. Die Anstaltsleitung hatte Marianne verständigt. Einer der entsetzlichen Träume von Christoph Wegestein. Ob es für den einen realen Vorfall gegeben hatte? Ein Wahrtraum? Es hatte 60 einen entsprechenden Vorfall gegeben. In einer einfachen Zweizimmerwohnung, die mit alten Möbelstücken besetzt war, die aussah wie die Wohnung vom „Mundl“, dem Floridsdorfer


Proleten aus den siebziger Jahren, befand sich ein Terrarium, bevölkert von Spinnen, vorwiegend aus Südamerika, mit dicken, behaarten Beinen, vielen Spinnen, giftverspritzenden Spinnen. Ein Mann, der regelmäßig trank, Bier, Wein, Schnäpse, Wodka, hielt diese Spinnen. Seine Frau hatte oft blau geschlagene Augen. Er misshandelte seinen, ihren Sohn, der war fünf Jahre alt und Bettnässer, mit dem Ledergürtel. Das Jugendamt war bereits auf die Familie aufmerksam geworden. Der Junge schlief noch in einem Gitterbett, das schon zu eng für ihn war, doch ein seinem Alter gemäßes wäre zu teuer gewesen. Eines Nachts stand das Terrarium offen. Mehrere der Spinnen suchten die Freiheit und nahmen die Wohnung in Besitz, krabbelten über die Fußböden, an Wänden empor. Die Tür zum Kinderzimmer war einen Spalt breit geöffnet. Die Mutter hatte dem Sohn eine Gute-NachtGeschichte vorgelesen, und die Tür angelehnt lassen, damit sie ihn schreien würde gehört haben, wenn ihn einer seiner üblichen Alpträume geplagt hätte. Zumindest eine der Spinnen, schloss die Polizei anhand der Obduktion, war ins Zimmer getreten und hatte den Jungen gebissen. Als die Mutter ihn fand, war sein Gesicht geschwollen und die Lippen blau angelaufen. Seine Augen standen offen. Er atmete nicht mehr. Die Polizei zog in Betracht, dass das Terrarium absichtlich entsperrt worden war. Vom Vater. Der hatte den Jungen als Störfaktor betrachtet, wenn dieser seine Verzweiflung aus dem Leib gebrüllt hatte. Wenn der Vater wie so oft gewaltsam in seine Frau eingedrungen war. Dieser Mann hatte Christoph gelegentlich besucht. Das war bekannt. Er war aufgefallen, da er ständig betrunken gewesen zu sein schien. Und Christoph äußerst selten Besuch bekam. Die Anstaltsleitung hatte zwar nicht seine Personalien überprüft, doch sie war misstrauisch geworden. Wie generell gegenüber Christoph, dem Perversen, dem Abnormen, dem Kranken. Zweifelsohne bestanden Parallelen zu dem tödlichen Vorfall. Marianne war mit dem Fall betraut worden. Und nun war sie bei Christoph. Sie war der Meinung, seine Gedankengänge zu kennen, nachvollziehen zu können. Sie hatte sich sehr über das Vertrauen gefreut, das ihr Vorgesetzter ihr entgegengebracht hatte. Sie war entschlossen, Christoph zu 61 überführen. Diesmal. Diesmal. Ja. Sie hatte sich sexy hergerichtet. Hatte sich mit einem Push-up-BH ausstaffiert, trug


trotz der Kälte einen kurzen, fast durchscheinenden Rock und Schuhe mit hohen Absätzen. Sie war hier, um Christoph zum Reden zu bringen. Ihn auszuhorchen. Sie wollte, dass Christoph nach seiner Verurteilung verschärfte Bedingungen seiner Unterbringung erhielte. Dass ihm jeder Kontakt mit den Mitpatienten verwehrt werden würde. Der Hofgang gestrichen, das gemeinsame Essen gestrichen, die wenn auch spärliche Kommunikation im Raucherraum. Sie wollte, dass er nie mehr die Sonne auf seiner Haut spüre und nie mehr den warmen Sommerregen. Sie wollte ihn toter nur als tot sehen. Sie saß am Tisch in dem Raum, der für Vernehmungen genutzt wurde. Am anderen Ende des Tisches saß Christoph. Marianne hatte darum gebeten, dass kein Pfleger anwesend sei. Christoph war offensichtlich erfreut, sie zu sehen. Sie fragte ihn nach seinem Traum. Sie nahm an, es könnte sein, dass Christoph den Mann auf welche Weise auch immer dazu bewegt hatte, seinen Sohn zu töten. Das klang unwahrscheinlich, aber Marianne war überzeugt, dass dies tatsächlich so gewesen war. Christoph sagte nicht viel. Man hatte ihn bislang nicht mit seinen Aussagen konfrontiert und er wusste nicht, was er im Schlaf von sich gegeben hatte. Erst als Marianne ihren rechten Schuh auszog und mit dem Fuß seinen Unterschenkel hinauf strich, begann er, seine Zunge zu lösen. Er erzählte, was er wusste. Er erzählte, soviel er wusste. Was sollte ihm denn auch passieren? Niemals war er von der Anstalt abgängig gewesen. Auch hatte ihm der Mann seit einigen Monaten keine Gesellschaft mehr geleistet. Christoph fühlte sich sicher bei seinen Aussagen. Der Mann hatte auch Christoph niemals erwähnt. Es gab eine Verbindung zwischen den beiden, zweifelsohne. Doch keine nachweisbare, die den Mann zu seiner, wie die Polizei vermutete, abscheulichen Handlung hätte treiben können. Also ging Marianne unverrichteter Dinge. Ein unfruchtbares Gespräch, obwohl Christoph geredet hatte. Was sollte sie tun? Warten. Auf einen Zufall. Auf eine göttliche Fügung, die Christoph überführen sollte. Auch als Marianne so akribisch wie irgend möglich nachforschte. Schließlich konnte dem Mann heimtückischer 62 Mord nachgewiesen werden. Fand sie keine Anhaltspunkte auf Christophs Mitwirkung. Es blieb bei Verdachtsmomenten ihrerseits. Der Fall war geklärt. Der Mann zu einer lebenslangen


Freiheitsstrafe verurteilt worden. Christoph fristete weiterhin sein kärgliches Leben ohne Freude in der Anstalt. Und Marianne wurde immer herber. Sie sehnte sich geradezu nach einem neuen Verbrechen, an dem Christoph beteiligt gewesen sein könnte. Doch nichts geschah. Keine Kindesentführung, keine Kindesmisshandlung. Kein Kindesmord. Nichts. Mariannes psychische Probleme nahmen überhand. Sie wurde zur Bulimikerin, die täglich mehrmals ihr Bad putzte. Um den sauren Geruch des Erbrochenen zu überdecken. Sie wurde vom Dienst suspendiert. Sie schaffte es nicht mehr, sich ins Arbeitsleben einzufügen. Man riet ihr, um Berufsunfähigkeitspension anzusuchen. Nach einigem Hin und Her überwand sie sich, stellte den Antrag. Die Frühpension wurde ihr auf eineinhalb Jahre gewährt. Eineinhalb Jahre, die sie dazu nützen sollte, wieder auf die Füße zu kommen. Doch sie blieb unten, eine verblutende Frühgeburt in ihrem Bad, von dessen Boden sie essen konnte. Nur Christoph hielt sie aufrecht. Die Hoffnung, der Wille, ihn zu überführen. Darum besuchte sie ihn wöchentlich. Tat so, als mache sie ihm Avancen. Horchte ihn aus. Und Christoph erzählte. Erzählte von den Träumen, die ihn allnächtlich quälten. Aber nichts passierte. Über die Jahre, in denen, wie Christoph vermutete, sie seine ehrliche Freundin wurde. Jeweils donnerstags besuchte sie ihn. Diesen Donnerstag saß er im Raucherraum und wartete mit Herzklopfen auf sie, doch sie erschien nicht. Nächsten Donnerstag würde sie wieder erscheinen, beruhigte er sich. Nichtsdestotrotz wurde er von einer ihn auszehrenden Traurigkeit befallen. Er befand sich in diesem Moment auch alleine im Raucherraum. So zog er sich ein altes Erlebnis hervor. Die dritte Sitzung in der Maltherapie. Er hatte die Farbe Gelb erwartet, doch die ungarischstämmige Therapeutin sprach über Gefühle. Dass man sie nicht werten sollte. Dass es natürlich sein, dass auf Tiefen auch wieder Höhen folgten. Dass es nicht gut oder schlecht gäbe. Dass unsere Gesellschaft verlernt habe, mit Gefühlen umzugehen. Dass nicht nur sie, die Patienten, Zerrissene seien, sondern prinzipiell alle, nur die sogenannten „Gesunden“ könnten sich besser abgrenzen. Was ihre Meinung dazu sei, fragte sie die Anwesenden, die 63 rundum gescheite, gebildete Leute waren. Dann trug sie ihnen auf, ihre momentanen Gefühle zu notieren, sich die vier


aktuellsten herauszupicken und zu jedem ein Bild zu malen. Christophs zur Zeit am stärksten innewohnenden Gefühle waren Liebe, Sehnsucht, Angst und Misstrauen. Für die Liebe malte er eine rot-gelbe Flamme schwimmend auf rosarotem Wasser. Das stand für das stürmische Begehren in der bedingungslosen Hingabe, die er zu empfinden vermochte. Die Sehnsucht war für ihn ein sommerlicher Apfelbaum. Der Baum stünde für das verwurzelt Sein, wie ihm die Therapeutin erklärte. Vielleicht sehnte sich danach: nach einer Heimat. Es war ihm selbst nicht klar, er sehnte sich nach der Geborgenheit einer Beziehung, nach der Zärtlichkeit menschlicher Berührungen, nach dem verstanden Werden. Vielleicht sollte all das für ihn Heimat darstellen. Die Angst bildete er als drei rote Sterne inmitten des dunkelblauen Alls ab. Dies sei ein positives Bild, meinte die Therapeutin. Nein, das sei es nicht, entgegnete Christoph, die Sterne seien Rote Zwerge, sterbende Sonnen. Das Misstrauen war für ihn eine graue grün-blau gezeichnete Schlange. Wenn er in seinem grundsätzlichen Misstrauen trotzdem vertraut hatte, waren es die falschen Leute gewesen und es hatte ihm zum Nachteil gereicht. Die Therapeutin tat ihre Meinung dazu nicht kund, denn die Frau mit dem roten Pagenkopf wartete bereits ungeduldig vor der Tür, um ihre Bilder nachzubesprechen. Dies war das letzte Mal, dass Christoph die Maltherapie besucht hatte. Christoph überstand den Tag. Nächsten Donnerstag war Marianne wieder bei ihm. Sie füllte den Raum mit ihrer Erscheinung aus. Sie hatte sich um ihren plötzlich erkrankten Vater kümmern müssen, sagte sie ihm. Es klang wie nach einer Entschuldigung. Hass beinhaltet immer auch ein Stückchen Liebe. Sie hatte mit ihrer Handykamera ein Foto von ihm gemacht, welches sie mittels Bluetooth an ihren Drucker gesandt hatte. Dieses Foto hatte sie hinter Glas gelegt und in der Küche aufgehängt. Auf dass sie ihn immer sähe, wenn sie esse. Wenn sie tränke. Kaffee. Tee. Alkohol. Das Foto zeigte sein Gesicht von oben aufgenommen. Ein ehemals hübsch gewesenes Gesicht, von Psychopharmaka aufgeschwemmt. Ein zerstörtes Gesicht. Ein Gesicht mit großen blauen Augen und vollen Lippen. Die Nase 64 schien größer als sie war. Ein männliches Gesicht. Ein leidendes Gesicht. Das nicht sie ansah. Das auf den Boden sah. Christoph hatte nun etwas, woran er sich festhalten konnte, wenn


er einschlief. Ein warmes Gefühl erzeugte in ihm schöne Bilder. Doch sobald er in die Rapid-eye-movement-Phase kam, wurde er wieder verfolgt, wurde er wieder gequält, war es der blanke Horror. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Er war machtlos. Keine seltsamen Vorfälle geschahen mehr. Keine Kriminalfälle. Mit niemandem sprach er über seine Träume. Er hielt es nicht mehr aus. Hielt es einfach nicht mehr aus. War am Ende seines menschlichen Daseins angelangt. Das spürte er. Das wusste er. Dieser ständige Traum von der zerrissenen Scheide seiner Mutter. Unerträglich. Es reichte ihm. Reichte ihm einfach. Auch Marianne konnte ihm dabei nicht helfen. Er artikulierte sich ja auch nicht. Und die Last der Schuld wog immer schwerer auf seinen Schultern. Er wurde zu Boden gedrückt. Kam nicht mehr hoch. Marianne hatte Christoph ein Seidentuch geschenkt, das er in seinem Zimmer verwahrte. Ein rot-schwarzes Seidentuch mit ornamentalen Mustern. I Rossoneri, Anhänger des AC Milan, der ballzaubernden Teufel. Inbegriff der Aggressivität gepaart mit Todessehnsucht. Nun trug es sich zu, dass er, als er da im Bett lag und panische Angst vor seinem Träumen, seinem Traum hatte, aber müde war, zu müde, um die Nacht munter durchzustehen, er fühlte, dass alles umsonst sei. Sein Leben ein vergeudetes. Ein schlechtes. Er konnte nicht mehr aufstehen. Er wollte nicht mehr aufstehen. Er schlang den Seidenschal um seinen Hals und drehte seine Enden zusammen. Als der Pfleger ihn am kommenden Morgen fand, waren seine Fingernägel abgebrochen, da er sich im letzten Moment doch hatte zu befreien versucht. Doch war es zu spät gewesen. Kein Puls mehr da. Keine Atmung. Hirntot. Tot. Als Marianne von Christophs Tod erfuhr, empfand sie Verlust. Ihr Schal hatte ihn getötet. Sie hatte ihn getötet. Doch ihr Lebenszweck war ihr dadurch genommen worden. Ihre Daseinsberechtigung. Sie hatte außer Christoph nichts mehr. An diesem Tag betrank sie sich. Sie hängte sein Bild ab. Wankte durch die Straßen. Betrat ein mehrstöckiges Gebäude. Nahm den Lift in den obersten Stock. Wo sie im Stiegenhaus stand und ein Fenster öffnete. In den Fensterrahmen stieg. Die Arme 65 ausbreitete. Sprang. Und flog. Der Asphalt kam näher, denn da war eine Straßenlaterne, die ihn nächtens erleuchtete. Der Asphalt kam näher. Der ihre Knochen zerschmettern würde. Und


sie zusammenstauchen auf einen Meter zwanzig. Der ihren Schädelknochen zermalmen würde und die Gehirnmasse über ihn verteilen. Der ihre Blutgefäße zerreißen würde. Und ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Der Asphalt kam näher. Der Asphalt. Da erwachte sie. Rieb ihre Augen. Gähnte. Sah die Blümchentasse voll von erkaltetem Tee auf ihrem Nachtkästchen stehen. Ihr Leben ein Traum. Ein Traum ihr Leben. Sie stand auf. Und ihr Nachthemd schüttelte die Reste von ihm auf den Boden.

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CHAMPIONS von Ivar Bahn sie kreisen und kĂśnnen warten wenn sie killen dann mit dem rĂźcken zur wand ist ihre welt und die schlagen sie tot ist unsere zeit und die schlagen sie tot da sind sie sich einig bevor sie sich killen

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ROGUE BOGUE I Neil Gaiman AMERICAN GODS Eichborn Verlag ISBN 978-3-847905875 672 Seiten 14,00 € Vor 15 Jahren erschien "American Gods". Im gleichen Jahr fand die erste Lesung dazu im World Trade Center statt. Wochen später schlugen zwei Flugzeuge in die Tower ein und brachten sie zum Einsturz. Wie wunderlich es sich doch liest, wenn man bedenkt, dass der unfreiwillige Held der Geschichte mit dem Namen Shadow Moon seinen mysteriösen Arbeitgeber Mr. Wednesday im Flugzeug trifft. Eine schicksalhafte Begegnung. Nahezu irrelevante Zusammenhänge und natürlich hat der 11. September nichts mit Mr. Wednesday zu tun, aber man kommt in diese konspirative Stimmung wenn man Gaimans Werk liest. Einfach weil es in diesem Fall Spaß macht. Durch seine Arbeit als Kinderbuchautor denkt man bei Neil Gaiman an Titel, die man vielleicht eher in der Kategorie kitschige Fantasystories vermutet, doch die Arbeiten des englischen Schreibers haben doch einiges mehr zu bieten. Sie sind gut recherchiert, tiefgründig und weitsichtig - und natürlich immens unterhaltsam. Bekannt geworden durch seine Comicserie "Sandman" - allerdings wurde "American Gods" sein erfolgreichstes und zugleich auch bekanntestes Werk. Das ist, was die Thematik und die Qualität der Geschichte betrifft überhaupt keine Überraschung. Ein Roadtrip quer durch die USA, gespickt mit Mythologie und feinsten NoirElementen. Nach einem Raubüberfall landet Shadow im Knast, nur zwei Tage vor seiner Entlassung erfährt er vom Tod seiner großer Lieben Laura und wird vorzeitig nach Hause geschickt. Auf dem Flug trifft er besagten Mr. 68 da Wednesday. Ein Kampf zwischen den Göttern beginnt, in den Shadow hingezogen wird. Ein verrücktes Spiel um Leben und Tod biblischen Ausmaßes. Es wird abgehen, Freunde. Ich wünsche eine gute Reise!


ROGUE BOGUE II Robert W. Chambers DER KÖNIG IN GELB 192 Seiten, ISBN 978-3-865523327 Festa Verlag 12,80 € Es ist das bekannteste Werk des New Yorker Autoren. Im Jahr 1895 erschienen, von einer fiktiven New Yorker Zukunft in den 20ern berichtend, auch über ein Theaterstück, dessen zweiter Akt den Leser in den Wahnsinn treibt und zu dem es einen dritten Akt erst gar nicht gibt, oder besser gesagt, der nicht für den menschlichen Verstand greifbar ist. Ein Schlag von Edgar Allen Poe bis hin zu moderner Horrorliteratur. H.P. Lovecraft hat es beeinflußt und sogar bis hin zum Drehbuchautoren der Erfolgsserie "True Detective" Nic Pizzolatto hat es der König in Gelb geschafft. Der Wahnsinn kennt keine Grenzen. Das Buch, das in deutscher Übersetzung im nicht minder wahnsinnigen Festa Verlag erschinen ist, beinhaltet eine Sammlung von Kurzgeschichten. Wie muss man sich diese vorstellen? Vielleicht wie eine derbe Absinthrunde am Lagerfeuer mit Ambrose Bierce (dessen Kurzgeschichten "Ein Einwohner von Carcosa" bei der Namensvergabe halfen), eben genannten Lovecraft, Mr. Poe und natürlich Robert W. Chambers selbst. Ein Ritt ins unbekannte finstere Tal, dort wo es die Geister wild treiben, dort wo der Verstand weder ein noch aus weiß. Letztendlich sind es Stories die noch immer neugierig machen, auch wenn schon über hundert Jahre seit dem Verfassen verstrichen sind. Macht euch selbst ein Bild, Freunde. Tretet ein ins Verderben, begleitet die bunte Schar durch die Straßen Carcosas und seht die Maske, irgendwo im Hof des Drachen, das gelbe Zeichen im Paradies des Propheten. Vorhang bitte und ein Schrei, dessen Echo noch lange nachhallt. Der König ist tot, lang lebe der König!

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Autoren/innen RALPH STIEBER geboren 1978, ist ausgebildeter Schauspieler und Drehbuchautor. Im Moment arbeitet er an seinem ersten Roman „Im Kreise meiner Dichter“, in dem er alle seine literarischen Helden auferstehen lassen will. Nach einigen Jobs als Barkeeper, Dj, Videothekar, Promoter, Hilfskoch, Tellerwäscher, Maler und Touristenführer, arbeitete er als Schauspieler bei Film, TV und Theater. Danach entwickelte er als Werbetexter Kampagnen für große Werbeagenturen, wofür er einige Awards und Auszeichnungen gewann. Er veröffentlichte Short Stories und Texte in Literaturzeitschriften, Magazinen, Blogs und Anthologien. Sein 2Personen-Stück „Wie es einmal war - Oder eine kleine verspielte Liebesgeschichte“ ist erfolgreich im Bremer Theater uraufgeführt worden. Sein Theaterstück „Ein Tag und die Nacht woanders“ wurde im MomentoBühnenverlag verlegt. Im Moment arbeitet er mit Freunden an einem SerienKonzept Ralph Stieber lebt in Berlin. Mehr unter www.behance.net/ralphstieber JULIAN DRESCHER geboren 1991, aufgewachsen in Schweinfurt, nordbayerisches Industriezentrum. Schreibt seit Jugendtagen, meist Dirty Realism, Coming-of-age. FRANK TRUMMEL 1984 in Wuppertal geboren. Fachabitur. Zivildienstleistender. Supermarktaushilfe. Küchenjunge. Kurierfahrer. Augenoptiker. Arbeitsloser. Halbtags-optiker. Mal schauen… JASON DUNKLE 1977 in Brüssel geboren, lebt und arbeitet in Wien. Veröffentlichungen u.a. in Rogue Nation.

JOHANNES TOSIN wurde 1965 in Klagenfurt am Wörthersee geboren. Er ist Maschinenbauingenieur und Exportkaufmann. Er schreibt Lyrik, Prosa und Hörspiele und fotografiert, wie jeder. Er veröffentlichte Texte in Zeitschriften, Anthologien und im Internet bei „Sandammeer“, „Zarathustras miese Kaschemme“, „Telepolis“, „Twilightmag“, „Das Dosierte Leben“ und „Phantastikon“. Er ist Mitglied bei „BUCH13“. Er lebt in Pörtschach am Wörthersee. IVAR BAHN Tätigkeiten als Forstarbeiter, Pförtner, Traktorist, Gärtner, Kulturmanager, 6 Kinder, letzte Veröffentlichungen: WELTEN (Gedichte), ELBE BLUES (Storys) IMPRESSUM Herausgeber: Marc Mrosk Kontakt: rogueblogue@gmail.com Webseite: www.rogueblogue.de Das Rogue Nation Magazin erscheint ab 2016 unregelmäßig. Texteinsendungen und Heftbestellungen bitte nur per eMail.

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Die Bilder in dieser Ausgabe stammen allesamt von der Künstlerin Margaret Brundage (geb. 09.Dezember 1900 in Chicago). Die ehemalige Klassenkameradin von Walt Disney malte zwischen 1933 und 1938 die meisten Cover für das PulpMystery Magazin „Weird Tales“. Das Cover dieser Rogue Nation Ausgabe diente im November 1933 ebenfalls als Titelbild für „Weird Tales“. Ihre Bilder musste sie für $90 das Stück verkaufen, um ihre Familie über Wasser zu halten. Ihr Ehemann, 71 widmete sich mehr der Trinkerei. Margaret Brundage verstab völlig verarmt am 09. April 1976 in ihrer Geburtsstadt Chicago.


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