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Das Haus hinter dem Horizont
DAVID ELLIOtt
HäuSEr, träuME unD gEDICHtE
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„Betrat man den Garten durch das Tor in der hohen Mauer, so stand man vor der holzvergitterten Fassade. Ein schmaler Gang führte durch das Haus in den hinteren Garten. Im Wohnzimmer, das tagsüber immer im Halbdunkel lag – es wurde nur durch das trübe Licht des Hofs erhellt –, schimmerten matt die Pfosten aus blank polierter Sprossentanne (…) und Sachiko spürte, dass Tsurukos Liebe zur Heimat im Grunde die Liebe zu dem Familienhaus war (…). Sie hatte oft mit Yukiko und Taeko über den ‚alten Kasten‘ gelästert. So dunkel, so unhygienisch – wie konnte man nur in einem solchen Haus wohnen! Nach drei Tagen bekam man ja dort unweigerlich Migräne! Und dennoch empfand Sachiko tiefe Wehmut bei dem Gedanken, dass sie das alte Haus nicht mehr sehen sollte. Sie fühlte sich gleichsam entwurzelt. “ 1
Junichiro Tanizaki, Die Schwestern Makioka, 1949
Leiko Ikemura wurde in Tsu, einer kleinen japanischen Küstenstadt in der Präfektur Mie, unweit des uralten Gebäudekomplexes des großen Shinto - -Schreins Ise-jingo - geboren (Abb. 1, S. 246). Inmitten von Wäldern und Bergen gelegen, zieht dieser Urquell des pantheistischen Shinto -ismus, der alle zwanzig Jahre abgerissen und identisch wieder aufgebaut wird, nicht nur Pilger aus dem ganzen Land an, sondern ist auch, paradoxerweise, eine Verkörperung der Unbeständigkeit aller Dinge, des Todes und der Erneuerung in der Natur. Obwohl es ihr nicht bewusst war, solange sie noch in Japan lebte, sollte die Schönheit und vergängliche Qualität dieses besonderen Ortes später bedeutenden Einfluss auf die Kunst Leiko Ikemuras haben.
1 Junichiro Tanizaki, Die Schwestern Makioka, 1949. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1964. Übersetzt von Ulla Hengst. S. 117.
Die Stadt Tsu selbst war allerdings bei Weitem nicht so einnehmend wie die berühmten Schreine. Sie war im Zweiten Weltkrieg schwer zerbombt und danach hastig wieder aufgebaut worden. Ikemuras vorherrschende Kindheitserinnerungen sind der weite Horizont und unvermeidliche Meerblicke.2 Ihr Zuhause war kein glückliches. Sie beschreibt ihre Kindheit als melancholisch, ihren Vater als jemanden, der sich nicht auf einen Beruf festlegen konnte, und dessen diffuse Frustration sich wie ein Schatten über die ganze Familie legte. Auf der höheren Schule war sie eine gute, wenn auch hin und wieder rebellische Schülerin und fand in der Literatur ihre Zuflucht.
Als frühreife Leserin las sie sowohl europäische als auch japanische Autoren und entdeckte das Haiku für sich, das traditionelle, jahreszeitlich inspirierte Gedicht ohne Reim, das normalerweise in drei Zeilen à fünf, sieben und fünf Silben aufgeteilt ist. 3 Diese knappen, abstrakten Wortbilder waren ihr Schlüssel zu einer neuen Weltsicht, welche es ihr ermöglichte, mit den fremden Welten, denen sie später begegnen würde, selbstsicherer umzugehen. Anfang der 80er Jahre, zu Beginn ihrer Karriere als freie Künstlerin, begleiteten freie Verse und Haiku viele ihrer Arbeiten. 4
Ihre Heimatstadt war fernab von Großstädten und Museen, und so wurde sie wenig mit visueller Kunst konfrontiert. Ihr Großvater mütterlicherseits, ein Baumeister, war ein wichtiger Einfluss; er zeigte ihr illustrierte Kunstbücher und sie fing an, sich fürs Zeichnen zu interessieren. Häuser tauchten nicht nur regelmäßig in ihren Zeichnungen auf, sie wurden regelrecht zur Obsession, ein zweischneidiges Motiv, das sowohl Sicherheit als auch Angst beinhaltet und in ihren Arbeiten immer wiederkehrt: „Übrigens, das ‚Haus‘ ist eine meiner Obsessionen, die mich von Kindestagen an begleitet. Ich träume oft von
Abb. 1: Shinto --Schrein in Ise, Naiku -, der innere Schrein Fig. 1: Shinto - shrine in Ise, Japan, the Inner Shrine (naiku -)
Häusern und von Gewässern, und oft habe ich mir diese Träume nachher aufgeschrieben. Einige sind faszinierend luzid, andere sind dann mehr traumatisch (…). Ganz fest drin sitzt es in mir, dass ich schon als Kind Häuser bauen wollte. Und das hat wahrscheinlich mit dem Erlebnis zu tun, dass ein Taifun unser Haus früher zerstörte (…). Das Haus ist ein lebender Organismus. Am erstaunlichsten war für mich der Keller (…). Jedes Haus hatte hier so eine Zone, dunkel und feucht (…).“5
Sie besuchte eine schlichte, protestantische Sonntagsschule, und obwohl sie sich nie selbst als Christin beschreiben würde, erinnert sie sich gerne an diesen Ort, der ihr eine Art „Heimat“ oder Zuflucht bot, zu einer Zeit, als „Menschen wenig Energie für Religion übrig hatten. Ich wusste kaum, was es bedeutet, zu einer Gemeinschaft zu gehören, bevor ich in diese Kirche kam (…), ich konnte dort auf einmal mit Menschen in Verbindung treten, auf eine Weise, wie es in meiner Familie nicht möglich war“.6
Wie viele andere 68er, auch außerhalb Japans, erinnert sie sich gut an diese frühen Gefühle von Entfremdung, Trauer, Wut und Zersplitterung. Diese Gefühle trugen dazu bei, dass sie die untergeordnete Rolle der Frau in der japanischen Gesellschaft und besonders deren Auswirkung auf das Leben Ihrer Mutter und ihr Verhältnis zu ihrem Vater kritisch hinterfragte, was dazu führte, dass sie sich entschloss, wegzugehen. Die unerbittlichen Beschreibungen von Existenz und freiem Willen in so einflussreichen Romanen wie Albert Camus’ L’Etranger (1942), Jean-Paul Sartres Trilogie Les Chemins de la Liberté (1945–49), oder die alles verändernde Analyse des Geschlechterkrieges in Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe (1949), welche Ikemura allesamt gelesen hatte, deckten sich mit ihrer eigenen Erfahrung und überzeugten sie, dass sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen und sich von ihrem bisherigen Leben befreien musste. Dies wurde zum Muster in ihrer künstlerischen Entwicklung, wann immer sie nach neuen Wegen für ihre Arbeiten suchte. „Aus verschiedenen Gründen war dieses erste Kapitel meines
2 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura (Ausstellungskatalog). Arnsberg, Sauerland-Museum, 2010. S. 143. 3 Die westlichen Autoren, die sie in dieser Zeit las, waren unter anderem Albert Camus, Simone de Beauvoir, André Gide, Søren Kirkegaard, Frederico Garcia Lorca, Antonio Machado, Carson McCullers, Friedrich Nietzsche, William Shakespeare und Leo Tolstoi. Die japanischen Autoren waren unter anderem Yukio Mishima, Shikibu Murasaki, Natsume So - seki, Kenzaburo O e, Sei Shonagon und Junichiro Tanizaki. Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration (Ausstellungskatalog). Tokyo, National Museum of Modern Art, 2011. S. 225f., sowie ein Interview mit dem Autor am 25.02.2013. 4 1985 illustrierte sie eine Neuübersetzung des Zen-buddhistischen Wanderdichters aus dem 17. Jahrhundert Matsuo Basho : Hundertelf Haiku mit zweiundzwanzig Zeichnungen, erschienen im Züricher Amman Verlag. Leiko Ikemura: „Die Kunst des Haiku ist für mich allgemeingültig, meine Zeichnungen haben alle damit zu tun. Das Wesen des Haiku ist Poesie in knappster Form, vergänglichkeitsbewusst, fern von Gigantomanie und Prätention. Das Haiku besingt die Natur und ist die Natur selbst. Mit der notwendigen Distanzierung vom Ego müsste man in seinem Wesen wie in einem Haiku ein Teil des natürlichen Ganzen werden.“ Leiko Ikemura (Ausstellungskatalog). Recklinghausen, Kunsthalle, 2004. S. 8. 5 Leiko Ikemura im Gespräch mit Friedemann Malsch, Köln, Kiepenheuer & Witsch, Kunst Heute, Nr. 20, 1998, S. 65f. [Malsch]. Ikemura beschreibt ihre Gefühle über das Motiv des Hauses in ihrer Arbeit ähnlich wie der französische Theoretiker Gaston Bachelard (1884–1962), der in seinem Buch La Poétique de l’éspace, Paris, 1957 (dt. Ausgabe: Die Poetik des Raumes. München, Hanser, 1975/Frankfurt am Main, Fischer, 1997. Übersetzt von Kurt Leonhard), ein ungebautes oder unfertiges Haus als Projektionsfläche für Träume darstellt. 6 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration, a. a. O. S. 218.
Lebens irgendwie abgeschnitten. Das ist vielleicht anders als bei den meisten Menschen, die ein kontinuierliches Leben führen. Bei mir gab es immer wieder radikale Brüche, als ob ich jeweils eine neue Identität erwerben wollte. “ 7
1970, im Alter von 18 Jahren, verließ sie das Elternhaus, um an der Universität für Auslandsstudien in Osaka Spanische Sprach- und Literaturwissenschaft zu studieren. 1972 arbeitete sie sechs Monate lang in der kubanischen Botschaft in Tokyo. Im Alter von 21 verließ sie Japan, zuerst nur, um über den Sommer an den Universitäten Salamanca und Granada Spanisch zu lernen. Damals wusste sie noch nicht, dass sie erst sieben Jahre später überhaupt wieder nach Hause kommen und nie mehr dort Fuß fassen würde.
Ikemura spricht von ihrem Bedürfnis, „der rigiden japanischen Tradition zu entkommen“ und gibt Beispiele von „Kameradinnen, denen das bereits gelungen war“. Ohne Zweifel dachte sie dabei an Künstlerinnen wie Yayoi Kusama und Yoko Ono, die beide Japan in den 50er Jahren den Rücken gekehrt hatten.8 Ikemura stammt jedoch aus einem ganz anderen Milieu und war jünger als beide, als sie sich entschloss, die Heimat zu verlassen. Vielleicht war ihre Entscheidung, wegzuziehen, nicht von langer Hand geplant, aber ihr Wunsch nach Freiheit und ihre Entschlossenheit, etwas aus sich zu machen, waren deshalb nicht weniger stark. 9
Eine Zufallsbegegnung mit einem Schnitzer religiöser Bildwerke in Granada führte dazu, dass sie in seiner Werkstatt arbeitete, wo ihr in der Kindheit gehegtes Interesse an Kunst wieder erwachte. Aufgrund ihrer dort entstandenen Zeichnungen und wenigen Objekte legte er ihr nahe, an der eine Woche dauernden Eignungsprüfung der Akademie der Schönen Künste in Sevilla teilzunehmen. Sie folgte seinem Rat und bekam einen der heiß umkämpften Plätze. Sie studierte dort von Herbst 1973 bis zu ihrem Abschluss 1978.10 Sie war der eigenartigen japanischen Verschmelzung von feudaler Hierarchie und Wirtschaftswunder entronnen, die sie als so besonders drückend empfand, nun war sie in Francos Spanien gelandet, dessen Regierung eine der wenigen aus den 1930er Jahren übergebliebenen faschistischen Diktaturen war. Sie konnte die Ironie durchaus erkennen, aber auf seltsame Art und Weise genoss sie dadurch das befreiende Gefühl, Außenseiter zu sein – soweit sie wusste, als einzige Japanerin in Sevilla. Sie erinnert sich an diese Zeit mit Begeisterung als die „freieste Zeit meines Lebens. Weil der Alltag beschwerlich und die Menschen arm waren, halfen wir einander. Ich hatte wenig Geld, aber ich litt nie Hunger. Es war wirklich eine wunderschöne Zeit“ . 11
Verglichen mit dem übrigen Westeuropa war die Lehre an der Akademie in Sevilla ultra- konservativ. Ikemura studierte Kunstgeschichte, die verschiedenen Genres und Medien der traditionellen europäischen Kunst. Sie zeichnete nach Gipsabgüssen klassischer Skulpturen, malte Allegorien und religiöse Bilder, lernte Bildhauerei und Guss, Radierungen und andere Drucktechniken; nur am Rande wurde etwas Kubismus und Fauvismus gelehrt, um nicht als unmodern zu gelten. Außerdem reiste sie kreuz und quer durch Europa – bis in
die Türkei und nach Nordafrika – und besuchte Museen, Galerien, Kirchen, Sehenswürdigkeiten und Denkmäler. Dabei ließ sie eine riesige Bandbreite von Kunst und Kultur, vom alten Ägypten und Griechenland über Renaissance, Barock, Manierismus, Klassizismus, Romantik, Realismus bis in die Moderne auf sich einwirken und verglich alles mit dem bereits Bekannten. Der Zeichenunterricht bei ihrem Meister in Sevilla kam ihr dabei sehr zustatten, denn dort lernte sie, schnell und flüssig zu arbeiten und Bewegung am lebenden Objekt festzuhalten. Darauf baute ihr nächster Entwicklungsschritt auf.
Anders als viele europäische Künstler ihrer Zeit hatte Ikemura keinerlei Ambitionen, zur Avantgarde zu gehören. Ausgehend von ihrer Erfahrung in Japan galt ihr Interesse als freie Künstlerin dem Thema der Geschlechterbeziehungen, dem sie sich jedoch aus der Perspektive der Erotik, nicht der Sexualität, näherte. Schon als Teenager hatte sie die christliche Doktrin der Erbsünde und die damit unvermeidlich implizierte sexuelle Schuld infrage gestellt. Sobald sie Japan verließ, empfand sie „diese stereotypische Trennung zwischen männlicher und weiblicher Kunst auf eine Art absurd“. 12 Erotik war in allen Lebensformen und Lebensbedingungen spürbar, sogar in Kirchenbildern der Renaissance. Erotik bedeutete für Ikemura „Knappheit der Existenz, was sie von der sogenannten Sexualität unterscheidet. Sexualität interessiert mich weniger, denn sie ist ein Genussgegenstand in unserer Konsumwelt geworden (…). Die Erotik hingegen hat nach meinen Begriffen viel größere Dimensionen, denn sie ist eine Energiequelle der Natur (…)“. 13 In Ikemuras eigener Kosmologie aus Kunst, Dichtung und Ideen, die sie bald entwickelte, war Erotik eng verflochten mit den widerstreitenden Energien von Wiedergeburt und Tod.
7 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura. Sauerland-Museum, a.a.O. S. 140. 8 Yayoi Kusama (geboren 1929) verließ Japan 1957, um in den USA zu leben und zu arbeiten, wo sie mit ihren riesigen „Unendlichkeitsnetzen“, ihren Punktzeichnungen und Installationen bekannt wurde. Als sie 1973 nach einem Nervenzusammenbruch aus New York nach Tokyo zurückkehrte, wurden all ihre Erfolge zurückgewiesen, und sie beschloss, sich in einer offenen Klinik in der Nähe ihres Ateliers einzurichten, wo sie bis heute lebt. Es sollte noch bis in die frühen 90er Jahre dauern, bis ihre Arbeiten in Japan breite Anerkennung fanden. Yoko Ono (geboren 1933) erfuhr ähnlich abweisende Reaktionen. Sie war in den frühen 50er Jahren mit ihren Eltern nach New York emigriert; als sie 1963, nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe, nach Tokyo zurückkehrte, musste sie wegen klinischer Depression ins Krankenhaus. Sie verließ Japan so schnell wie möglich wieder und ist seitdem nur zu kurzen Besuchen dorthin zurückgekehrt. Auch sie erwarb sich ihren Ruf als Künstlerin im Ausland. 9 Sehr wenige japanische Künstlerinnen schafften in Japan den Durchbruch. Atsuko Tanaka (1932–2005), Mitglied von Gutai, kam erst nach ihrem Tod zu internationaler Geltung. Mitte der 50er Jahre gelang es Toko Shinoda (geboren 1913) sich in der von Männern dominierten Disziplin der Kalligraphie einen Namen zu machen, nachdem ihre Arbeiten im Museum of Modern Art in New York gezeigt worden waren, erlangte in Japan aber erst Anerkennung als Malerin, nachdem ein Mitglied der Kaiserfamilie ein Bild von ihr gekauft hatte. Erst in den 90er Jahren konnte sich in Japan eine jüngere Generation von Künstlerinnen erfolgreicher etablieren. Den Ikemura ähnlichsten Werdegang unter den japanischen Künstlern hatte jedoch ein Mann, Hiroshi Sugimoto (geboren 1948), der sich als „im Marxismus und Existenzialismus getauft“ beschreibt. Nach Studentenaufständen an seiner Universität in Tokyo blieben ihm die Türen der Wirtschaftsfakultät verschlossen, er verließ deshalb 1971 Japan in Richtung Moskau und Osteuropa. Schließlich verschlug es ihn nach Los Angeles, wo er Fotografie studierte, Künstler wurde und letztlich auch die traditionelle Kultur und Kunst Japans studierte. Heute lebt er in New York und Tokyo. Seinen Ruf als Künstler erwarb er sich ebenfalls im Westen. Siehe Kerry Brougher und David Elliott, Hiroshi Sugimoto. Ostfildern-Ruit, Hatje Cantz, 2006. S. 18 und passim. 10 Siehe Anm. 6. 11 Ebd. Nach dem Tod von General Francisco Franco 1975 entwickelte sich Spanien zur parlamentarischen Monarchie unter König Juan Carlos I. 12 Leiko Ikemura, „Erotik in ihrer Ausstrahlung hat eine unaussprechbare Trauer“. Interview mit Gerlinde Gabriel, Leiko Ikemura. Stadtzeichnerin von Nürnberg. Nürnberg, Kunsthalle, 1984. S. 10. 13 Ebd., S. 9.
kAMIkAZE, kAtZEn unD pfErDE
„Gestatten, ich bin ein Kater! Ohne Namen bislang. Wo ich geboren wurde, davon habe ich nicht die mindeste Ahnung. In Erinnerung geblieben ist mir lediglich, dass der Ort meiner Geburt düster und feucht war und ich kläglich miaute. An diesem Ort sah ich erstmals einen Menschen. Aber was heißt schon: einen Menschen! Ich sah, wie ich später erfuhr, einen Studiosus, einen Angehörigen jener Spezies, welche unter den Menschen als die grausamste angesehen wird. Man erzählt sich, dass diese Studiosi gelegentlich Angehörige meines Volkes fangen!, kochen! und essen! Mir erschien jedoch die damalige Situation nicht besonders furchterregend, da mein Kopf noch frei von allen Gedanken war. Nur ein Gefühl des Schwebens breitete sich in mir aus (…).“14
Natsume Soseki, Ich, der Kater (1905–11)
Während ihrer Zeit in Spanien und in den Jahren unmittelbar danach hatte sich Ikemura im Innern eine naiv-distanzierte Weltsicht erhalten, wie sie auch in den Worten von Sosekis unwahrscheinlichem Helden so deutlich anklingt. In seiner Satire auf die Affektiertheiten verschiedener sozialer Typen überspitzt der Autor seine imaginäre Katzengesellschaft und ihr Aufeinandertreffen mit der Menschengesellschaft zur absurden Bakhtinschen Allegorie, indem er die dominanten Hierarchien auf den Kopf stellt. Eine ganz ähnliche Art von verzerrendem, subversivem Humor lässt sich in Ikemuras ersten Werken als freie Künstlerin beobachten, die entstanden, kurz nachdem sie Spanien verlassen hatte.
Während der späten 70er Jahre reiste Ikemura vermehrt durch Westeuropa und verbrachte die Sommer in der Schweiz, um als Saisonarbeiterin Geld für den Rest des Jahres zu verdienen. Sobald sie ihren Abschluss an der Akademie in der Tasche hatte, war die Zeit für eine Veränderung gekommen. Befreit von Francos Diktatur, fand Spanien schnell wieder zu seinen monarchischen Wurzeln zurück und es wurde begonnen, an einer neuen Zukunft zu bauen. In dem daraus resultierenden intensiven sozialen Umbruch gab es wenig Raum für Außenseiter. 1979 packte Ikemura ihr gesamtes Hab und Gut in ein kleines Auto und fuhr von Sevilla nach Luzern, wo sie sich ein paar Monate niederließ, bevor sie nach Zürich weiterzog und einen Kunsthistoriker heiratete, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte.15
Sie sprach kein Wort Deutsch – geschweige denn Schweizerdeutsch. In einem großen, gemieteten Atelier arbeitete sie mit Serien von großen Zeichnungen und Acrylbildern auf Papier, das bekannteste ist Kamikaze (1980), ein Gemälde frei nach einem Kriegsfoto eines japanischen Selbstmordpiloten, der sein Flugzeug im Sturzflug in einen Flugzeugträger steuert.16 Diese Arbeit, die emblematisch sowohl japanische als auch Weltgeschichte in sich vereint und gleichzeitig ironischerweise Ikemuras künstlerischen Werdegang beleuchtet, ist der Inbegriff eines oszillierenden Initiationsritus: zwischen Leben und Tod, Licht und Dunkel, Sein und Nichtsein, Luft und Wasser, Kunst und Natur. „Als ich jung war, war die Kunstwelt von der Einstellung geprägt, dass man sozialen Systemen kritisch entgegenzutreten habe“, schreibt sie, aber in den 80er Jahren
„passten sich Kunstwerke immer mehr den industriellen Herstellungsprozessen an (…) und funktionierten jetzt im Zusammenspiel mit der kapitalistischen Gesellschaft.“17 Für eine Künstlerin, die solch ungute Gefühle hegte, scheint der Umzug in die Schweiz, einem der Epizentren des weltweiten Bankgeschäfts, gelinde gesagt paradox.
Auf ein Land losgelassen, das sie kaum kannte, betrachtete sie zunehmend „den Raum, in dem ich arbeite, als eine umstrittene Arena“18, und „drückte in Allegorien die menschlichen Aggressionen in der dunklen Seite aus, die wir unbewusst in uns tragen.“19 Themen wie „Risiko“ und „Freiheit des Gewissens“ gewannen für sie an Bedeutung, und sie bemühte sich, diese auf organische, nicht formelhafte, für alle Erfahrungen offene Weise auszudrücken, so einschüchternd oder unangenehm das Thema auch sein mochte. Verheiratet und doch irgendwie allein, musste sie prüfen, was genau für sie „Freiheit des Gewissens, (…) die Möglichkeit, einen allgemeingültigen Ausdruck, der mit dem Individuum anfängt (…), [aber auch] die Verantwortung, die daraus folgt“, bedeutete.20
Ikemura wurde in ihrer neuen Heimat schnell anerkannt und bekam 1981 sowohl ein Stipendium der Stadt Zürich (Stiftung für die Graphische Kunst in der Schweiz) als auch den hoch angesehenen Kunstpreis der Kiefer Hablitzel Stiftung. Sie gewann gute Künstlerfreunde in ihrer Umgebung und identifizierte sich während der 80er Jahre bei gemeinsamen Gruppenausstellungen im Ausland – sogar in Japan – als schweizerische Künstlerin.21
Während dieser Zeit konzentrierte sie sich in ihrer Arbeit auf Zeichnungen, aus denen ihre Beschäftigung mit den zackigen Expressionisten und tragischen Symbolisten der frühen Moderne wie Ernst Ludwig Kirchner (Abb. 2, S. 252), Ferdinand Hodler und dem Außenseiter der Art brut, Louis Soutter, spricht. Von ihrer Ausbildung an der Akademie her war sie mit vielen verschiedenen historischen Stilen und graphischen Medien vertraut sowie mit den chamäleonartigen Linienzeichnungen von Picasso und Matisse. Sie beschrieb die autonome Linie als „Skelett des Denkens, visuellen Denkens, aber auch als Gedächtnis des Körpers, die wie ein Seelen-Seismograph funktioniert“, der die Tiefe und Komplexität des Gefühls ausdrückt.22 In den frühen 80er Jahren zeichnete Ikemura wie versessen, wobei die Linie ein Eigenleben annahm und sie verschiedene Motive und Ideen durchspielte, von denen viele später in ihren Gemälden wieder auftauchen sollten.
14 Natsume Soseki, Ich, der Kater, 1905–11. Frankfurt am Main, Insel, 1996. Übersetzt von Otto Putz. S. 7. 15 Ihre erste Ausstellung hatte sie 1979 in der kleinen Galerie Regenbogen in Luzern. 16 Kamikaze, Acryl auf Papier, 119 × 89,5 cm. 17 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration, a.a.O. S. 218. 18 Ebd., S. 194. 19 Ebd., S. 222. 20 Ebd., S. 225. 21 Ikemura stellte auf der Biennale in Tokyo 1988, wie auch in einigen anderen internationalen Ausstellungen in den 80er Jahren, gemeinsam mit Künstlern aus der Schweiz aus. 22 Malsch, Leiko Ikemura, a.a.O. S. 79.
Wild cats and domestic cats, ein 1983 veröffentlichtes Buch mit einundsechzig Zeichnungen, ausgewählt aus vielen Hundert Skizzen, schildert eine düster-humorvolle sexuelle Komödie. Darin stellt der Kater, wie in Sosekis Roman, eine allmächtige Naturgewalt dar, und kommentiert und unterminiert dabei gnadenlos die Sinnlosigkeit des menschlichen, hier besonders des männlichen Strebens.23 In den Zeichnungen findet man auch Bezüge zu Jack Kerouacs Beat-Klassiker On The Road (1957, deutsch: Unterwegs) wie auch zu den bissigeren, frauenfeindlichen Texten eines William S. Burroughs. In diesen Arbeiten vermischt sich Kohle oft mit Bleistift, und mit surrealistischem Elan wird Bild über Bild gelegt: Ein nackter Mann liegt in einem Rohr, einen Fuß im Maul einer Katze; Karpfen, Symbole des japanischen Knabenfestes, springen in Katzenmäuler; wie aus einem Gemälde von Carl Hofer entsprungen, scheint ein Mann hemmungslos auf eine Trommel einzuschlagen; 24 vielfältige kantige Körper im Clinch; Stapel von körperlosen „Orientalen“-Köpfen, nur durch einzelne exzentrische Linien verbunden; ein weit aufgerissener Katzenschlund verschlingt ein Flugzeug; ein japanisches Mädchen mit Haarklammern vollzieht die Metamorphose zur Katze …
Abb. 2: Ernst Ludwig Kirchner: Fünf Frauen auf der Straße, 1913, Öl auf Leinwand, 120 × 90 cm, Inv.-Nr. ML 76/2716 , Museum Ludwig. RBA Fig. 2: Ernst Ludwig Kirchner: Five women in the street, 1913. Oil on canvas, 120 × 90 cm. Museum Ludwig ML 76/2716, photo RBA
Ihre Gemälde aus dieser Zeit sind weniger spontan als die Zeichnungen und zeugen eher von einer mühevollen Suche nach einer bedeutsamen Bildsprache. Unerwünschtes Kind (1982) stellt zwei am Boden liegende Roboter-Gestalten dar, die die zum Knabenfest an Masten aufgehängten Karpfen an sich drücken; die Füße des einen verschwinden anscheinend in der betonblock-artigen Brust des anderen.25 Es ist eine rätselhafte, beunruhigende Arbeit, die sowohl zurückblickt auf frühere Zeichnungen als auch in die Zukunft weist, auf die elliptischen, sich selbst verzehrenden Formen ihrer späteren Skulpturen. Kaiserin tötet Kaiser (1983) ist in seiner Botschaft direkter. Auf einer lichtgrünen „Barke“, die diagonal über eine gallig-gelbgrüne „See“ kreuzt, sieht man zwei dunkelhäutige, weiß gekleidete Gestalten. Die stehende Frau wirbelt ein langes „japanisches“ Schwert über ihrem Kopf. Unter ihr kniet ein Mann, zurückgelehnt, vielleicht in Furcht. Auf bewusst kindliche, comic-artige Art gemalt, eröffnet diese mörderische Szene weder starke Gefühle noch ausdrucksvolle Einzelheiten. Im Gegenteil: überraschenderweise wirkt sie beinahe komisch.
Ikemuras erste große öffentliche Einzelausstellung fand 1983 im Kunstverein in Bonn, damals die Hauptstadt der Bundesrepublik, statt.26 Von 1983 bis 1984 lebte sie in Nürnberg, einer Stadt, die, genau wie ihre Heimatstadt, im Krieg stark zerstört worden war; sie hatte dort ein Jahr das Amt der „Stadtzeichnerin“ inne und zeigte zum Abschluss des Projekts eine große Auswahl an Gemälden und Zeichnungen in der Kunsthalle.27
Das Thema des „Abgeschnittenseins“, des „Geköpftseins“, des Getrenntseins von rationalem Denken, herrscht sowohl in ihren Gemälden als auch in ihren Zeichnungen dieser Zeit vor. An seine Stelle traten langsam verschiedene visuelle Entsprechungen von Gefühlen, aber Ikemura war sich noch nicht sicher, welche Form diese in ihrer Malerei annehmen könnten. Ihre Arbeit zog immer mehr Interesse an, passte aber nicht so recht in irgendwelche Schubladen. Manche Ausstellungen setzten sie in Bezug zu den gerade in Mode gekommenen Neuen Wilden,28 einer Generation von hauptsächlich deutschen, männlichen, neoexpressionistischen Malern, die verschiedene Arten von „persönlichen Mythologien“ synthetisierten in Arbeiten, die sowohl einen unterstellten Zeitgeist wie auch den Kunstmarkt bedienen sollten.29 Aber Ikemura lehnte solche oberflächlichen
23 Leiko Ikemura, Wild cats and domestic cats. Zürich, Editions Stähli, 1983, ihr erstes Künstlerbuch. 24 Während der 30er und 40er Jahre verwandte der in Berlin ansässige Maler Carl Hofer (1878–1955) die Figur Der Trommler in seinen Bildern als Symbol der Warnung und des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Sie ist auch das zentrale Motiv in der zweiten Version seines berühmten Gemäldes Die schwarzen Zimmer von 1943, heute in der Sammlung der Neuen Nationalgalerie in Berlin. 25 Unerwünschtes Kind, Acryl auf Leinwand, 120 × 200 cm. 26 Ihre allererste öffentliche Einzelausstellung hatte sie 1981 im Städtischen Bodensee-Museum, Friedrichshafen. 27 Stadtzeichner, ein Aufenthaltsstipendium der Stadt Nürnberg für einen Künstler mit dem Schwerpunkt Zeichnerisches Arbeiten. Siehe Ausstellungskatalog Leiko Ikemura. Stadtzeichnerin von Nürnberg. Nürnberg, Kunsthalle, 1984. 28 Siehe Die neue Künstlergruppe – Die wilde Malerei, 1982, Klapperhof, Köln. 29 Den Ausdruck „persönliche Mythologien“ hatte der schweizerische Kurator Harald Szeemann im Zusammenhang mit diesen Künstlern geprägt. Ikemura stellte sich diesem Ausdruck ausgesprochen kritisch gegenüber und bestand darauf, dass Mythologien per definitionem kollektiv seien. Siehe Leiko Ikemura. Stadtzeichnerin von Nürnberg, a.a.O. S. 10.
Zuteilungen in Kategorien strikt ab und intensivierte den Prozess der Selbstanalyse, die ursprünglich zu ihrem Bruch mit Japan geführt hatte. 1984, gleich nach der Ausstellung in Nürnberg, zog sie für ein paar Monate nach München und richtete sich später im selben Jahr ihr Atelier in Köln ein, damals ein hoch spannendes Zentrum für Künstler und Galeristen. Sie kehrte nicht in die Schweiz zurück, und ihre Ehe scheiterte. Im Jahr darauf starb ihr Vater.
In München hatte sie zum ersten Mal mit fotografischen Techniken experimentiert und Chemigramme hergestellt, automatische Zeichnungen mit Chemikalien auf Fotopapier, die ganz ähnlich wirken wie Monotypien. In einer Ausstellung unlängst im Museum für Asiatische Kunst in Berlin erweiterte sie mit Fotostillleben von verwelkenden Pflanzen diese Idee und schuf düstere Memento mori. Als Brücken zwischen Leben, Traum und Tod wirkten diese Arbeiten als starke, aber kaum wahrnehmbare Basisnote für die im selben Raum ausgestellten Skulpturen.30 Ikemura verwendet Fotografien immer noch als „flüssigen“ Unterbau für ihre Zeichnungen und Aquarelle; es gefällt ihr, dass das belichtete Motiv im Chemiebad buchstäblich an der Bildoberfläche auftaucht.
In ihren neuen großen Gemälden in Köln vereinte sie Surrealismus mit Allegorien. Verkündigung von 1985 ist eine sorgfältig modulierte Etüde in Spiegelbildlichkeit: ein „Engel“ hängt von der Bildoberkante herab und trifft in der Mitte auf eine stehende „Jungfrau“. 31 Beide scheinen Flügel zu haben, die man aber auch als große exotische Blätter oder Zweige interpretieren könnte. Paradoxerweise halten sich die beiden Figuren den Mund mit beiden Händen zu. Dies ist eine Verkündigung ohne Worte. In Haarwaschende von 1986 verweisen die sich auflösenden, eingezwängten Formen und ineinanderblutenden Farben auf Begegnungen mit der französischen Informel-Bewegung, dem frühen Francis Bacon und viele andere Einflüsse. Für mich aber sind ihre besten Arbeiten aus dieser Zeit eindeutig die Bilder zum Trojanischen Krieg.
Diese großen Gemälde in Öl auf Leinwand speisen sich hauptsächlich aus zwei Quellen. Ikemura wollte das leidige Thema der jüngsten japanischen Vergangenheit verarbeiten und fand im Troja-Mythos eine Analogie, durch die sie den Angriff auf Pearl Harbour 1941 und dessen Nachwirkungen aufgreifen konnte, ohne zu direkt darauf anzuspielen und die allgemeine Gültigkeit ihrer Arbeit, vor allem im Hinblick auf Ursachen und Auswirkungen von Kriegen zu sehr einzuengen.32 Und sie hatte auch gerade Christa Wolfs soeben erschienenen Roman Kassandra (1983) gelesen, in welchem die Belagerung von Troja als manichäischer Geschlechterkampf um wirtschaftliche Macht dargestellt wird, dessen Ausgang das Ende des Matriarchats und eine Bewegung hin zu einer von Männern dominierten Gesellschaft einläutet.33
Der bewusst naive Duktus und Bildaufbau von Kriegsgöttin (1986), einer der größten Arbeiten aus dieser Serie, zeichnet ein chaotisch, in sich gebrochen wirkendes Territorium, wie eine Traumkarte voller unterbewusster Konflikte und Wünsche. Diese wird mittig
von einem hohen schwarzen „Zerstörer“ dominiert, der mit dem Fuß den Kopf einer bösartig wirkenden, flachköpfigen, dreiäugigen Kreatur zerdrückt, deren langer Schwanz sich diagonal durchs Bild schlängelt.34 Zur Rechten sind Frauen versammelt, eine feuert nach unten von einem „brustverstärkten“ Wachturm aus, während der „Zerstörer“ entkörperte Köpfe und Figuren in ein riesiges Gefäß auf der linken Bildseite schleudert. Ein weißes Pferd mit hohlem Bauch, dem die Eingeweide entnommen wurden, schaut in die Gegenrichtung, es ist aber nicht aus Holz, sondern aus Fleisch und Blut. Dieses Pferd, das in fast allen Bildern dieser Serie auftaucht, erinnert an das Frühwerk Kandinskys, Der Blaue Reiter (1903). 35 Innerhalb all dieses Gemetzels behält ein fast komisches Element die Oberhand, das durch die Assoziationsketten des Außenseiter-Motivs und -Stils hervorgebracht wird und das Bild erst so raffiniert macht. Dieser Teppich von grausamen und unnötigen Konflikten zwischen den Geschlechtern setzt sich fort in so geheimnisvollen und gebieterisch wirkenden Gemälden wie Pearl Harbour (1986), Trojanischer Krieg (1986) und anderen aus der Serie.36
Auch wenn viele dieser Bilder durchaus beeindruckend erscheinen: Ikemura wurde damals klar, dass sie mit ihrer Arbeit in der Krise steckte. Sie war vom Regen der Mythologie, in den 80er Jahren in der westlichen Kunst allzu beliebt, in die Traufe der Allegorie, einem Ansatz, der damals noch an den Akademien des Ostens (besonders in der DDR) gelehrt wurde, gekommen und es wurde ihr langsam klar, dass sie sich weder hier noch dort wohlfühlte. Sie war nicht zufrieden mit ihren Bildern, wusste aber nicht weiter. Für sie war die Kunst zum Talisman gegen das Gefühl der Entfremdung geworden, das sie seit ihrer Kindheit empfunden hatte, aber die materialistische Kunstkritik in Deutschland begegnete ihren Arbeiten mit Dialektik: als läge darin eingebettet eine unbekannte Lösung, die verstandesmäßig gefunden werden könne. Das war für sie keine Option, denn sie war der Welt stets intuitiv begegnet – scheinbare Widersprüche erkannte sie oft als zwei Seiten derselben Medaille.
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre besuchte Ikemura wieder häufiger Japan und eignete sich mehr Wissen über die ästhetischen Traditionen und die Geschichte der japanischen Kunst an. Als Folge davon veränderte sich ihr Verständnis ihrer eigenen Arbeit und des Bildraums. Der Anfang dieser Entwicklung wird in den späteren Arbeiten ihres Troja-Zyklus sichtbar, aus denen narrative Elemente langsam verschwinden, und die Tiefenwirkung des illusionistischen Raumes sich in halb durchsichtige Ebenen auflöst,
30 Leiko Ikemura, Korekara or the exhilaration of fragile being. Berlin, Museum für Asiatische Kunst, 2012. 31 Verkündigung, 1985, Acryl auf Leinwand, 210 × 240 cm. 32 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration, a.a.O. S. 222. 33 Zu der Zeit war Christa Wolf (1929–2011) eine der führenden DDR-Autorinnen. Ihre Werke untersuchen mit peinlicher Ehrlichkeit die eigenen Motivationen vor dem Hintergrund wechselnder Regime. 34 Kriegsgöttin, 1986, Öl auf Leinwand, 200 × 250 cm. 35 Das Bild, nach dem sich die gleichnamige Avantgarde-Gruppierung um Kandinsky benannt hatte, die zwischen 1911 und 1914 gemeinsam in München ausstellte. 36 Pearl Harbour, 1986, Öl auf Leinwand, 200 × 160 cm; Trojanischer Krieg, 1986, Öl auf Leinwand, 190 × 300 cm.
aus denen Figuren und Objekte vage in Erscheinung treten. Sie entfernte sich immer mehr von der darstellenden Kunst hin zu einer Kunst, die körperliche und emotionale Reaktionen weckt. In Über das Licht (1987), eines der letzten Bilder aus dieser Serie, durchqueren lichtgesättigt wirkende Reiter den Vordergrund, während im dunklen Hintergrund eine hohe Gestalt still vor einer von hinten beleuchteten Öffnung steht.37 Ein Strahlenkranz scheint ihren Kopf zu umgeben, als wäre sie ein Bodhisattva – womöglich ist es aber auch eine Dornenkrone.38
InDIAnEr, MäDCHEn unD AnDErE SELtSAME LEBEwESEn
„Der Ort war in der Nähe von Segantinis Dorf (…), das Höhenlicht, das durch die tiefen Fensterhöhlen der Burgwände hereinströmte, war extrem klar, und mir ging mit einem Mal auf (…), dass Malerei in Wirklichkeit ein nicht-körperliches, ein spirituelles Medium ist.“
Leiko Ikemura 39
1988 arbeitete Ikemura für zwei Monate am Starnberger See bei München. Die stille, glatte Wasseroberfläche half ihr beim Nachdenken. „Ich liebe Wasser“, schrieb sie später,„ich bin süchtig danach. Die schöpferische Kraft kommt aus dem Wasser, aus dem Wasser und dem Himmel. Nichts anderes. Ob es ein Meer oder ein See oder ein Fluss ist, Wasser ist die Quelle für mich. Auch um zu neuen Motiven und Motivationen zu kommen. “ 40 Aber hier waren mehr Elemente im Spiel als nur Wasser. Sie hatte gerade begonnen, ihre ersten Plastiken aus ungebranntem Ton zu gestalten. 41 Aus roher Erde modelliert, bildeten sie die Kehrseite der Medaille. Kleine groteske Homunkuli, die an 4000 Jahre alte Terrakotafiguren (do gu, Abb. 3, S. 257) oder an primitive mittelalterliche Kirchenskulpturen erinnern, entsprangen aus ihren Gemälden und Zeichnungen. Von diesem Moment an bildeten ihre Skulpturen sowohl eine Ergänzung wie einen Kontrast zu ihren Gemälden und Graphiken.
Von Herbst 1988 bis in das nächste Jahr hinein verbrachte Ikemura sechs Monate auf Schloss Fürstenau in Graubünden in den Schweizer Alpen – eine Gegend, die Ende des 19. Jahrhunderts Symbolisten wie Segantini für sich entdeckt hatten. Während ihres Aufenthalts dort passierte etwas, das sie als „Paradigmenwechsel“ beschreibt. Nicht nur war ihr klar geworden, dass für sie die Malerei „ein nichtkörperliches Medium“ war, sondern auch, dass sie „eingebettet“ in die Berglandschaft sein musste, in der sie „kristalline Formen und Skulpturenformationen“ fand, die „aus ihrer Beständigkeit herausgehoben wurden durch den gleichzeitigen Einfluss des Immateriellen und die Auflösung der Elemente“.42 Ikemura hatte also die Schwelle zu einem flüssigeren, morphologischen Universum überschritten, gerade als sie anfing, sich mehr mit der Plastik zu beschäftigten.
Alpenindianer (1989–90), eine Serie von neun Acrylgemälden auf Leinwand, die während ihres Aufenthalts auf Schloss Fürstenau entstand, ist im Ganzen kleiner angelegt als die
Troja-Serie. Ausgehend vom ironischen Motiv des „Alpenindianers“, ohne Zweifel ein Porträt der nomadisch lebenden Künstlerin selbst, zeigt der Bildraum dieser Gemälde einen vollkommen anderen Umgang mit Figuren und dem sie umgebenden Raum. In einer flüssigeren Fortsetzung der ersten zaghaften Experimente mit der Räumlichkeit der späteren Troja-Bilder erfindet Ikemura jetzt einen flächigen Raum, der ähnlich dem Raumverständnis der klassischen chinesischen Landschaftsmalerei auf derselben Ebene gestaffelt ist. Wie so oft bei ihr bereichert ein kurzes Gedicht die Serie um eine nicht
Abb. 3: Do - gu, menschliche Kultfigur, Jo -mon Periode, 1400–400 v. Chr., gebrannter Ton, H. 36 cm, Ausgegraben in Ebisuda, Tajiri-cho - , Miyagi, Tokyo National Museum, J 30384 Fig. 3: Do - gu, human ritual figure, Japan, Jo -mon period, 1400–400 BC. Earthenware, H. 36 cm, excavated in Ebisuda, Tajiri-cho - , Miyagi. Tokyo National Musem J 30384
37 Über das Licht, 1987, Öl auf Leinwand, 170 × 250 cm. 38 Diese synkretistische Herangehensweise zieht sich durch Ikemuras gesamtes Werk dieser Zeit. Vergleiche beispielsweise die Arbeiten in der Ausstellung Mars Mother, Köln, Kunst-Station St. Peter, 2005, und ihre Einzelausstellung im Kolumba Kunstmuseum des Erzbistums Köln in demselben Jahr. Man spürt sie auch in der Entwicklung ihrer Landschaften über das vergangene Jahrzehnt hinweg, besonders in den von traditioneller chinesischer und japanischer Kunst beeinflussten sansuiga-Arbeiten. 39 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration, a.a.O. S. 159. Sie bezieht sich hier auf ein Bergdorf im schweizerischen Graubünden. Giovanni Segantini (1858–1899) war ein beliebter italienischer Landschaftsmaler, der mit seinem Spätwerk zum Avantgarde-Divisionisten und Symbolisten wurde. 40 Leiko Ikemura, Sauerland-Museum, a.a.O. S. 32. 41 Ihre ersten Skulpturen entstanden 1987 and 1988 und wurden erstmals ausgestellt in Leiko Ikemura. Von der Wirkung der Zeit, Lingen, Kunstverein, 1988. 42 Siehe Anm. 39.
allzu ernst gemeinte „Erzählebene“. 43 Die urige Indianer-Figur, die sichtlich aus den gleichen Atomen zusammengesetzt ist wie die umgebende Berglandschaft, erscheint mal scharf, mal unscharf, wie ein Schatten, und wird immer abstrakter, während die Spuren von Pinsel, Schwamm und Finger auf der Leinwand von der reinen Darstellung abkommen und eine haptische Bedeutung gewinnen. Absichtlich mit leiser Komik versetzt, überdenkt und rekreiert Ikemura die europäische Landschaft der Romantik, indem sie ihre eigene Reaktion darauf und ihre Gefühle in eine visuelle Form bringt. Die sansui-Ästhetik des klassischen Landschaftsbildes wurde in ihrer Arbeit immer wichtiger, weil sie ihrer natürlichen Neigung entgegenkam.44 Und zwar so stark, dass die Komposition des achten Bildes in der Serie, Skifahrer auf dem Malojasee (1990), auf Sesshu To yo - s berühmtestem Werk Landschaft in Herbst und Winter aufbaut, welches sich heute in der Sammlung des Nationalmuseums Tokyo befindet.45
Ikemuras Landschaften sind niemals „reine“ Landschaften, sie stellen immer auch eine Art Seelenlandkarte dar. Obwohl sie sich oberflächlich gesehen seit den frühen 90ern stark verändert haben, entwickelte sich ihre heutige Herangehensweise im Wesentlichen in dieser Zeit. Ikemura erinnert sich daran, damals oft die Landschaftsbilder von Sesshu und Cézanne verglichen zu haben, besonders deren Schwerpunkt auf Bildaufbau und Pinseldukus. Daraus entstanden ihre analytischeren, in Ebenen aufgebauten Bildkompositionen, die die frühere Dominanz der Linie ablösten. Sie begann, ihre eigenen Gemälde
Abb. 4: Lucio Fontana: Concetto Spaziale (Il cielo di Venezia), 1961, Silberfarbe und farbige Steine auf Leinwand, 44,6 × 52,3 cm, Fondazione Lucio Fontana, Milano Fig. 4: Lucio Fontana: Concetto Spaziale (Il cielo di Venezia), 1961. Silver and stones in various colours on canvas, 44.6 × 52.3 cm. Fondazione Lucio Fontana, Milano
als sansuiga zu definieren: „Der Hintergrund war, eine assoziative Verwandlung von Bildern, wie etwa die menschliche Figur, die mit einem Felsen verschmilzt, zu erschaffen. In diesem Ausdruck verbanden sich die Elemente der menschlichen Gestalt und der Natur in einer abstrakten Formensprache. “46
1991 wurde Ikemura als Professorin für Malerei an die Berliner Universität der Künste berufen, und pendelte von da an zwischen Berlin und Köln.47 Wie zehn Jahre zuvor fing sie wieder an, intensiv zu zeichnen, um ihre visuellen und emotionalen Gedanken zu ordnen. Ihre Zeichnungen und Aquarelle von kuriosen unförmigen Wesen, manchmal als Kopffüßler bezeichnet, setzte sie später zu Gemälden von seltsam fremden Hybridwesen um. Diese traten schließlich auch als glasierte Tonfiguren zutage; manche davon sind zwischen 20 und 40 Zentimeter hoch und stehen auf Sockeln, andere sind viel höher und freistehend. Ihre frühesten Terrakotta-Arbeiten gleichen dreidimensionalen Wortspielen: in Mehrbrusthuhn (1990) vermählt sie die Figur eines Stutzers mit den vielfachen Brüsten einer antiken Göttin; Hausfrau (1990) kippt vom monolithischen Block zur offenen Dose, einer altertümlichen Totenurne nicht unähnlich, während Haus-Mann (1990) als Kreuzung zwischen einem Tierkopf mit spitzen Ohren und einem Haus mit vielen Fenstern erscheint. Zu dieser Zeit interessierte sie sich besonders für die Skulpturen, Objekte und Installationen von Louise Bourgeois wie auch für die Slash Paintings, Skulpturen und Keramiken von Lucio Fontana (Abb. 4, S. 258). 48 Diese bekräftigten sie darin, die Fusion zwischen Autobiographie, Gedächtnis, Fantasie und Form in ihrem eigenen Schaffen auch durch neue Ideen über negativen und positiven Raum zu verfeinern.
In einigen dieser Arbeiten geht der kleinere Kopf unmittelbar in den Körper über oder fehlt gar. Ihre verschiedenfarbig glasierten Büsten undefinierbarer Kreaturen haben manchmal einen freundlichen Ausdruck, andere wirken gequält oder schmerzverzerrt. Ikemura betrachtet diese Arbeiten als „Gefäße für die Seele“49, mit anderen Worten als körperlichen Ausdruck der Veränderbarkeit zwischen Form und Nicht-Form, Leben und Vergessen. Auf der Suche nach dieser sublimen Schnittstelle greift sie oft auf eine domestizierte Symbolik zurück, zitiert Haustiere (einen langohrigen Hasen oder ihre Katze Miko) oder Gemüse
43 Ikemura empfindet Ironie und Zynismus als „zu kalt“ und bevorzugt in ihren Arbeiten eine vielschichtigere und distanziertere Art von Humor. Malsch, Leiko Ikemura, a.a.O. S. 29. 44 Sansui bezieht sich auf die chinesischen Schriftzeichen für „Berg“ und „Wasser“, die beiden vorherrschenden Elemente der klassischen chinesischen und japanischen Landschaftsmalerei: Sansuiga. Zu ihren japanischen Lieblingskünstlern gehören Sesshu - To yo - (1420–1506), Hasegawa To -haku (1539–1610), Nagasawa Ro - setsu (1754–1799), Katsushika Hokusai (1760–1849), Utagawa Kuniyoshi (1797–1861). 45 Diese Arbeiten wurden in ihrer ersten Einzelausstellung in Japan gezeigt. Leiko Ikemura, Alpenindianer, Tokyo, Satani Gallery, 1990. 46 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration, a. a. O. S. 219. 47 Seit 1991 lebte und arbeitete sie in Köln und Berlin, mittlerweile hat sie sich ganz in Berlin niedergelassen. 48 Louise Bourgeois (1911–2010), französisch-amerikanische Künstlerin. Lucio Fontana (1899–1968), italienischer Maler und Bildhauer. 49 Leiko Ikemura, Being (Ausstellungskatalog.), Nagoya, Gallery Ham, 1995. Siehe auch Malsch, a.a.O. S. 61.
(den „Kohlkopf“ oder ein „Spargelstandbild“) und schafft so kindlich und aus dem Kontext gerissen wirkende Hybridgestalten, die Emotionen gleichzeitig zurückhalten und vermitteln. Sinnesorgane wie Augen oder Münder erscheinen oft als Wunden oder Löcher in der Tonoberfläche und greifen so bewusst die Leere, die im Zentrum ihrer Arbeit steht, wieder auf. Ikemura verwendet das japanische Wort utsuro, leer oder hohl, um diese Ästhetik zu beschreiben, welche mit dem ma verwandt ist, einer Lücke, Spalte oder dem Zwischenraum, der wie ein Atemzug oder eine Pause zwischen zwei Bildelementen steht, und in ihrem zweidimensionalen Werk immer mehr an Bedeutung gewinnt.
Von 1995 an konzentrierte sich Ikemura auf eine Serie von Minimal-Gemälden puppenhafter Mädchenfiguren vor farbigem Hintergrund. Sie waren meist kleiner als ihre bisherigen Werke und sind alle mit Öl auf besonders dichter Leinwand oder saugfähigem, rauem Sackleinen gemalt. Einzelheiten sind wegreduziert, die Gesichtszüge dieser Figuren sind undeutlich und die Umrisse der Figur verlaufen oft mit dem Hintergrund. Was anstelle der Darstellung eines Mädchens bleibt, ist eher ein Echo davon, fast eine musikalische Notation von Farbe und Formen. Ikemura bekam sehr genau die zunehmende Infantilisierung mit, die sich in der japanischen Popkultur der 80er und 90er Jahre breitmachte, und deren Einfluss auf die Kunst. Der kawaii-Kult stellt zuckersüß-niedliche, stilisierte Bilder von unschuldigen, verletzlichen kleinen Mädchen oder Tieren aufs Podest in einer absurden Parodie des erwachsenen Begehrens (Abb. 5, S. 262). 50 Ihre Arbeiten, besonders ihre Gemälde und Skulpturen von Mädchen und Tieren, sind eine Antwort darauf. Aber obgleich sie teilweise als Parodie gedacht sind, sind sie doch auch ein Versuch, das Bild des heranwachsenden Mädchens wieder als neutrales, ja unschuldiges Motiv ohne jede Versüßlichung zurückzuerobern.51
Auf gewisse Weise sind diese Mädchen Botschafter aus einer anderen Welt. Ikemura schreibt ihre schwebende oder gleitende Qualität (ihren Mangel an sichtbaren Beinen und Füßen) der japanischen Idee des yo -rei zu, was wörtlich „blasse Seele“, vor allem aber „Geist“ bedeutet: beunruhigende Gestalten wie aus Albträumen, klassischen Romanen oder von japanischen Holzschnitten. Ihre jenseitige Körperlosigkeit macht sie umso unheimlicher, und so nehmen sie ihre stille Rache an Geistlosigkeit, Oberflächlichkeit und Kommerz.
HIntEr DEM HOrIZOnt
„Zum ersten Mal das Meer zu sehen war für mich wie ein Erwachen. Natürlich muss ich das Meer vorher schon einmal flüchtig gesehen haben, aber dies ist meine früheste und deutlichste Erinnerung daran. Ich erhaschte einen Blick davon im Zug nach To -kaido -, die Meerlandschaft zog von links nach rechts an mir vorüber. Es muss Herbst gewesen sein, aber der Himmel war immer noch von einer unheimlich weiten, die Augen öffnenden Klarheit. Der Zug fuhr hoch über die Steilküste, und das Meer unter uns flackerte wie
die Einzelbilder eines Kinofilms, und verschwand plötzlich hinter den Felsen. Der Horizont, wo die azurblaue See auf den leuchtend blauen Himmel traf, bildete eine rasiermesserscharfe Linie, wie die Klinge eines Samurai-Schwerts. Verzaubert von dieser faszinierenden und doch seltsam vertrauten Szene fühlte es sich so an, als blickte ich auf eine urzeitliche Landschaft. Es mag unwahrscheinlich klingen, dass ein Kind sich an frühere Leben erinnern kann, und noch viel ungewöhnlicher, dass es sie in Worte fassen kann. Jedenfalls hat diese Erinnerung eine unauflösliche Spur in mir hinterlassen.“
Hiroshi Sugimoto, Bilder der Erinnerung 52
Zwischen 1997 und 1999 fing Ikemura an, ihren Mädchen einen schwarzen Hintergrund zu geben. Für sie war das „die Farbe des Nichts / warme, immerwährende Farbe / die Farbe der größten Einsamkeit“.53 Die liegende oder kriechende Figur des jungen Mädchens, die in ihren Gemälden und Skulpturen dieser Zeit wieder und wieder auftaucht, war nicht nur ein rätselhafter Vorbote von noch zu machenden Entdeckungen, von in der Zukunft liegendem Leben, sondern auch ein urzeitlicher Ausdruck von Trauer und Schmerz; alles Unnötige, alle Anspielungen waren bewusst weggelassen, nur die betäubende Wahrnehmung des stillen Vakuums im Kern der Arbeit blieb. Wenig überraschend, entwickelte sich, als Ikemura dieses Thema weiterverfolgte, die Figur im Laufe der Zeit vom jungen Mädchen zur Erwachsenen. Später tauchten Gruppen von Frauen auf, die in der Brandung badeten, die Notation ihrer Körper über der Bildfläche verstreut, nicht viel anders als die Bäume oder Blumen in der horizontalen Komposition traditioneller japanischer Wandschirme. Und in diesem anhaltenden Prozess der Transfiguration, ein Wort, das Ikemura häufig verwendet, um ihre Arbeitsweise zu beschreiben, verblasste die menschliche Gestalt und zurück blieb nur ein horizontal gestreifter Hintergrund, wie ein Horizont, dessen farbliche und räumliche Aufteilung an Kamikaze (1980) erinnert, einem ihrer frühesten Bilder, in welchem der Horizont wie eine zitternde, verhängnisvolle Trennlinie zwischen den unendlichen Weiten von Himmel und Meer klafft.54
Die Idee der Kreisförmigkeit der Transfiguration ist tief verwurzelt in allen animistischen Glaubenssystemen, und die Idee der Vielschichtigkeit – Bild, Medium, Raum, Wirklichkeit – steht im Zentrum von Ikemuras reifem Werk. Durch alle ihre Arbeiten hinweg verwandelt sich eine Form, Erinnerung, ein Gegenstand oder Gefühl in etwas anderes und nimmt auf dem Weg dahin viele verschiedene Facetten an. Über die Horizont-Bilder
50 Siehe David Elliott, Bye, Bye Kitty!!! Between Heaven and Hell in Contemporary Japanese Art, New Haven, Yale University Press, 2011. 51 „Sentimentalität ist etwas, was ich nicht mag. ,Sentiment‘ ja, im Sinne von Emotion. Aber die Gefühligkeit und verkitschte Gefühle gehen nicht über das Klischee hinaus.“ Leiko Ikemura in Leiko Ikemura, Sauerland-Museum, a.a.O. S. 39. 52 Hiroshi Sugimoto, „The Times of my Youth: Images from Memory“, in Kerry Brougher und David Elliott, Hiroshi Sugimoto. Ostfildern-Ruit, Hatje Cantz, 2006. S. 14. 53 Leiko Ikemura, Leiko Ikemura: Transfiguration, a. a. O. S. 69. 54 Transfiguration ist der Titel ihrer Retrospektive 2011 im National Museum for Modern Art, Tokyo, sowie eines kürzlich erschienenen Buches, Leiko Ikemura, Transfiguration From Figure to Landscape, Berlin, Distanz Verlag, 2012.
sagt sie: „Es gibt eigentlich nichts Stilles. Es ist ein Stillstand, der durch die Bewegung kommt, diese Dialektik. “55 Die schwebenden Köpfe und Frauen, die vor den Horizonten und auf Sockeln als größere Terrakotta-Skulpturen erscheinen, sind „eine eindeutige Metapher für den Zwischenzustand, der eigentlich nicht vorkommt, sondern nur in der Vorstellung existiert (…)“. Als Fragmente von Seinszuständen werden sie zur Metapher für Durchlässigkeit an sich. “56 In diesen Arbeiten versucht Ikemura, sich in das Gefühl des Fliegens hineinzuversetzen, um die eigene Wahrnehmung zurückzubilden und intuitiv die Parallelen zwischen allen Dingen zu erspüren. Dazu gehören unsere Gemeinsamkeiten nicht nur mit anderen Tieren, sondern mit der gesamten Schöpfung. Ich erlebe ein ähnliches Gefühl, wenn ich die kaum wahrnehmbaren Einzelheiten eines vereinfachten Brancusi-Kopfes betrachte, der fast wie ein vom Wasser geglätteter Stein wirkt, oder die Zeichnungen von Odilon Redon, in denen sich ein Auge zum Heißluftballon verwandelt, ein Spinnenkörper in ein Gesicht oder eine Blüte in einen Menschen; die frühen Zeichnungen von Emil Nolde, in denen riesige, zerfurchte Köpfe Berggipfel bilden; oder die mystischen Schöpfungen von Xul Solar, in denen Worte, Körper, Fantasiegestalten, Berge und Städte mit austauschbaren Elementen sich gegenseitig in ihrer Gestalt ausdrücken.57 Eine ähnliche Metaphysik der Verknüpfbarkeit zieht sich als zentrales Thema durch Ikemuras Kunst. Sie verdeutlichte dies augenzwinkernd, indem sie in einer ihrer letzten
Abb. 5: Takeshi Murakami: Kaikai. Ausstellung in Versailles, 2011 Fig. 5: Takeshi Murakami: Kaikai. Exhibition at Versailles, 2011
Ausstellungen einen Holzschnitt von Utagawa Kuniyoshi aus den 1840er Jahren ausstellte: einen sich in Pose werfenden jungen Samurai in eleganter blau-weißer Robe mit einem Muster aus Totenköpfen, die sich bei genauerem Hinsehen als weiße Katzen entpuppen, die mit ihren Jungen spielen; ein Hocker, den er lässig über dem Schwertgriff trägt, zeigt in seiner Maserung eine furchterregende Fratze.58
„Ich denke manchmal, dass ich nicht Künstlerin bin, sondern Medium“, sagte sie kürzlich. „Ähnlich einer Miko [junge Shinto - -Schrein-Dienerin oder spirituelles Medium; wörtlich: Gotteskind] fühle ich mich wie von einer unbekannten Macht getrieben (…). Ich kann, was ich hervorbringe, nicht von meinem Leben trennen. (…) Ich lebe jetzt schon fast vierzig Jahre in Europa, ohne mir je darüber klar zu werden, ob ich mich wirklich an die europäischen Kulturen angepasst habe. Ich bin in ein kulturelles Leben integriert, zugleich habe ich immer mit dem Gefühl gelebt, ,Du bist in mancher Hinsicht anders‘. Das geht wahrscheinlich allen étrangers so. “59
Das Schicksal des Künstlers ist es, auf Distanz zu bleiben – Außenseiter zu sein. Ohne diesen Abstand könnte man keinen größeren Zusammenhang ausdrücken, keine Klarheit finden, keine ernstzunehmende Selbstkritik üben. Während Ikemura die Art, wie Gefühle sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen, in ihren Arbeiten oft als „authentisch“ beschreibt, habe ich den Verdacht, dass sie eigentlich „wahrheitsgetreu“ meint – die Fähigkeit, Erfahrungen ins Auge zu blicken und sogar das Schmerzhafte daran aus zudrücken. In dem Haus, das Ikemura sich aus ihren Arbeiten gebaut hat, führte ihr Weg aus dem dunklen Keller des egozentrischen Existenzialismus ihrer Jugend auf einen flimmernden Horizont zu, der eine andere Art Leere darstellt. Über einen Zeitraum von fast vierzig Jahren hat sie das „Nichts“, diese schreckliche Öde, die allem Leben feindlich entgegensteht, durch ihre eigenen Erfahrungen in eine positiv verstandene Notwendigkeit für Leere, für Freiräume verwandelt. Hier wird die Transzendenz des Selbst zum Zeichen dafür, wie illusorisch unser individuelles Begehren ist, und feiert dabei das unendliche Netz der Verknüpfungen des Universums.
„Der Zwang zum Glück ist eine Kollektivpsychose. Er ist doch meistens nur eine kurze Erfüllung von Wünschen. Aber ich kenne ein anderes Glück, oder besser gesagt ,glückliche Momente‘, und das ist das In-der-Natur-Sein …“ 60
55 Leiko Ikemura, Sauerland-Museum, a.a.O., S. 82 (zitiert aus Barbara Weidle, Gespräch mit Leiko Ikemura, in Leiko Ikemura, Les Années lumière – Lichtjahre, Mailand, 2001. S. 87). 56 Ebd., S. 41. 57 Constantin Brancusi (1876–1957), rumänisch-französischer Bildhauer. Odilon Redon (1840–1916), französischer Symbolist. Emil Nolde (1867–1956), deutscher Expressionist. Xul Solar (1887–1963), argentinischer Künstler, Autor und Erfinder von Kunstsprachen. 58 Leiko Ikemura, Korekara, a. a. O. 59 Interview mit Leiko Ikemura, Präfektur Mie, November 2010, in Leiko Ikemura: Transfiguration, a. a. O. S. 217. 60 Malsch, Leiko Ikemura, a. a. O. S. 102f.
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