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Grenzverschiebungen

ADELE SCHLOMBS

Zur IntEntIOn DEr AuSStELLung

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Wusstest Du, dass Feldhasen keine Furcht kennen? Sie gelten als Meister der Erotik, aber nicht als Strategen. (…) Sie springen vergnügt hierhin und dorthin, immer die Richtung wechselnd. Sie springen von Grenze zu Grenze Und durchbrechen das feststehende lineare System

Ausstellung und Katalog sind das Ergebnis eines mehrjährigen Dialogs mit dem Ziel, die Grenzen zwischen westlicher und fernöstlicher, aber auch zwischen alter und neuer Kunst auf den Prüfstand zu stellen. Leiko Ikemura erweist sich in ihrem Werk als konsequente Grenzgängerin. Nicht nur die Beziehungen zwischen japanischem und westlichem Stil, auch die zwischen alter und neuer Kunst definiert sie in ihren Arbeiten in einzigartiger Weise neu.

Noch vor 25 Jahren wäre es kaum denkbar gewesen, dem Werk von Leiko Ikemura im Museum für Ostasiatische Kunst eine große monographische Ausstellung zu widmen. Allenfalls hätte man sich auf eine der häufig inszenierten sog. „Interventionen“ verständigen können, um die alte Kunst Chinas und Japans aus der Sicht zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler einer Neuinterpretation zu unterziehen und die museale Deutungshoheit für einen begrenzten Zeitraum an sie abzutreten. Umgekehrt wäre es Leiko Ikemura, die sich durch ihren Werdegang von Anbeginn an als internationale Künstlerin positionierte, unangemessen oder gar abwegig erschienen, sich ethnographisch zu verorten und im Museum für Ostasiatische Kunst auszustellen – nur weil sie gebürtige Japanerin ist. Publikum und Kunstkritik hätten dies missverstehen und sie wohlmöglich als „Traditionalistin aus dem Land der aufgehenden Sonne“ mystifizieren, d.h. ausgrenzen können.

Wie hat sich die Sicht inzwischen verändert, welche Grenzen haben sich verschoben und wie können wir heute die Grenzpfähle neu setzen, um in einen fairen, ausgewogenen Dialog einzutreten? Welcher gemeinsame Nenner lässt sich für eine Zusammenarbeit zwischen dem Museum für Ostasiatische Kunst und Leiko Ikemura finden? Diese und ähnliche Fragen bildeten die Voraussetzung für das Projekt.

gEgEnüBErStELLungEn

Ingesamt 13 Werke der alten chinesischen und japanischen Kunst werden den Arbeiten von Leiko Ikemura punktuell gegenübergestellt. Sie definieren den Kontext, in dem Ikemuras Werk gezeigt wird, und geben in lockerer Abfolge die Themen vor, die Ausstellung und Katalog gliedern. Einzig das Kapitel „Transfigurationen – Evolution“ ist chronologisch aufgebaut, weil es den Wendepunkt der 1980er und 90er Jahre vorstellt, als Ikemura von der narrativen Darstellung zur summarischen, plastischen Form fand.

Abb. 1: Landschaft. Kenko - Sho - kei (tätig ca. 1478–1506), Japan, 15. bis Anfang 16. Jahrhundert. Hängerolle, Tusche und leichte Farben auf Papier, 35,5 × 36 cm, MOK A, 35, 3. 2011 mit großzügiger Unterstützung des National Research Institute for Cultural Properties Tokyo in Japan restauriert. Foto: RBA Fig. 1: Landscape. Kenko - Sho - kei (active ca. 1478–1506, Japan, 15th to early 16th century. Hanging scroll, ink and light colours on paper, 35.5 × 36 cm, MOK A, 35, 3. Restored in Japan in 2011 with the generous support of the National Research Institute for Cultural Properties Tokyo. Photo: RBA

Die Themen „Seelenlandschaften – Die kosmische Landschaft“, „Meditation – Der Blick nach innen“, „Häuser und Höhlen – Gefäße des Schattens“, „Schwarz, Weiß, Grau – Substanz und Leere“, „Memento mori – Vergänglichkeit“ werden durch Zitate aus der klassischen chinesischen und japanischen Literatur assoziativ umrissen. Für die Kapitel „Transfigurationen – Evolution“ und „Alles über Mädchen – Schwebend, Stehend, Liegend“ hat Leiko Ikemura eigene Texte verfasst. Indem sie als Malerin und Bildhauerin selbst Haiku- und Tanka-Gedichte schreibt, knüpft sie an die japanische Tradition der Gelehrtenkünstler an, die, dem chinesischen Ideal folgend, eine Verbindung von Dichtung und Malerei anstrebten.

SEELEnLAnDSCHAftEn — DIE kOSMISCHE LAnDSCHAft

Als lyrische Metapher verlieh die Landschaft gerade in Japan durch den Symbolgehalt der Natur menschlichen Gefühlen wie Liebe, Sehnsucht und Trauer Ausdruck. In der Malerei japanischen Stils (wayo -) spielte daher der Zyklus der Jahreszeiten, das Werden, Blühen und Vergehen, eine herausragende Rolle. Dies wird beispielhaft in dem in das frühe 17. Jahrhundert datierten Stellschirm Vögel und Blumen in Herbst und Winter (Abb. 2, S. 20) deutlich. Hibiscusblüten und rot verfärbte Ahornblätter deuten auf die heraufziehende kalte Jahreszeit, während die schreienden Wildgänse, die mit ihren am Himmel fliegenden Artgenossen kommunizieren, Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit ausdrücken.

Die monochrome Tuschlandschaft chinesischen Stils (kanyo -), die mit dem Zen-Buddhismus in Japan Einzug hielt und hier durch ein Fächerbild von einem Zeitgenossen des berühmten To yo - Sesshu - (1420–1506), Kenko - Sho -kei (ca. 1478–1506, Abb. 1, S. 18), repräsentiert wird, verkörperte dagegen das kosmische Universum. Der Mensch war nur ein kleiner Teil der alles durchdringenden Lebensenergie (C. qi; J. ki) und des dualistischen, durch das YinYang-Prinzip beherrschten Kosmos. Interessanterweise übertrug man in der Landschaftsmalerei das Modell des menschlichen Körpers auf den Makrokosmos und interpretierte Flüsse und Seen als Adern und Venen, Berge und Felsen als Knochen des Universums, das, in ständigem Wandel begriffen, nach Ausgewogenheit und Gleichgewicht strebt. Der stets summarisch wiedergegebene Mensch war in den Makroorganismus eingebettet, aber er spielte darin keine übergeordnete Rolle. Unter Berufung auf die Kräfte des Kosmos konnte er jedoch seinen Anspruch auf geistige Unabhängigkeit und individuelle Freiheit behaupten. Dieser Aspekt wird in dem Gemälde Gespräch unter Felsen (S. 62) beispielhaft anschaulich. Aus der Vogelperspektive blickt der Betrachter auf diagonal ins Bild gesetzte dramatische Felsen und knorrige Kiefern, unter denen zwei Gelehrte in der Pose von Fischern in ein Gespräch vertieft sitzen. Der Topos des naturverbundenen Fischers steht für geistige Unabhängigkeit und Abkehr vom „roten Staub“ der Beamtenwelt. Die leer gelassene linke Bildfläche repräsentiert das Wasser, das durch eine ferne, nass lavierte Uferpartie den Blick in die dunstige Weite freigibt.

Wenn man von den leichten, lasierend aufgetragenen Farben absieht, weisen die zwischen 2012 und 2014 entstandenen Gemälde Antalya, Colonia sowie Genesis II und III von Leiko Ikemura (S. 51–57) eine mit der chinesischen Landschaft vergleichbare Komposition auf. Berge, Wasser, Dunst- und Nebelschwaden werden aus der Vogelperspektive dargestellt und flächig übereinandergestaffelt, um Räumlichkeit zu evozieren. Sie bilden ein Universum, aus dem bei zwei der Antalya-Gemälde jeweils links im Vordergrund eine summarisch angedeutete, in sich gekehrte sitzende Mädchengestalt als Bezugsfigur auftaucht, die für Ikemura selbst stehen dürfte. Die Mädchen sind Teil des Universums und heben sich weder farblich noch formal gegen die Landschaftselemente ab. Bei Colonia ist es die Rückenansicht eines liegenden Frauenkörpers, der in einen nach links geneigten Baum mit wehendem, rötlich verfärbtem Laub übergeht und als Repoussoir in die flächige Komposition hineinführt. Genauso wie die kosmische Landschaft chinesischen Stils keinen topographischen Ort, sondern eine Seelenlandschaft vorstellt, so geben auch Ikemuras Landschaften keine spezifischen Orte wieder. Vielmehr verweisen Titel wie Colonia, Antalya, Genesis II und III auf die geistigen und emotionalen Landschaften der Künstlerin.

Abb. 2: Vögel und Blumen in Herbst und Winter. Anonym, Japan, erste Hälfte 17. Jahrhundert. Sechsteiliger Stellschirm, Tusche, Farben und Gold auf Papier, 154,4 × 338 cm, MOK Aa 9. Foto: RBA Fig. 2: Birds and Flowers of Autumn and Winter. Anonymous, Japan, first half 17th century. Six-fold screen, ink, colours and gold on paper, 154.4 × 338 cm, MOK Aa 9. Photo: RBA

Im bildhauerischen Werk von Leiko Ikemura spielen einzelne Berge, Bäume und organisch geformte Säulen als Weltenberge und Weltachsen eine wichtige Rolle. Fuji-Animals (S. 45) zum Beispiel verweist, wie der Titel nahelegt, auf den heiligsten aller Berge Japans, den Ehrfurcht gebietenden Fujisan. Bei genauer Betrachtung kommen in den zerklüfteten Wänden der Terrakotta-Plastik Gesichter von Tieren und Menschen wie mythische Wesen oder Geister zum Vorschein. Es drängt sich der Vergleich mit einem kupfergrün glasierten chinesischen Deckelgefäß des 1. Jahrhunderts n. Chr. auf (S. 46), das die daoistischen Paradiesinseln symbolisiert. Man stellte sich das Paradies als gebirgige Insel vor, auf der wilde Tiere wie Tiger und Löwen, aber auch mit Flügeln ausgestattete daoistische Unsterbliche zwischen Wolken umherschweifen. Im Grabkontext fungierten Gefäße wie dieses als Glück und ewiges Leben verheißende axis mundi. Eine solche Deutung ließe sich auch auf die schlanken Bronzesäulen (S. 6f., 14f., 41) in Ikemuras Werk übertragen. Als steil aufragende Weltachsen markieren sie jeweils eine kosmische Setzung. Im Falle von Tree Love (S. 44) zum Beispiel stehen zwei behutsam ineinanderverflochtene stilisierte Baumgerippe als Metapher für Liebe.

Zur chinesischen Konzeption des kosmisch geordneten Universums gehörten auch Tiere wie zum Beispiel Tiger und Drache, die für die westliche und östliche Himmelsrichtung sowie die Elemente Wind und Wasser stehen. In dem imposanten, Tosa Mitsutsugu (tätig ca. 1624–44) zugeschriebenen Stellschirmpaar von Drache und Tiger (S. 58f.) drückt sich die Urgewalt von Wind und Regen nur indirekt in minimalistischen Landschaftselementen wie Bambus im Wind und bewegten Wellen an felsiger Brandung aus. Das Zentrum der Komposition wird von energiegeladener Leere beherrscht. In Ikemuras Gemälde Fu (S. 65) taucht am linken Rand ein Löwe aus den schwarz und grau lavierten Flächen auf, die sich wie eine düstere Wolke vor einem strahlenden, leuchtend blauen Panorama ausgebreitet haben.

MEDItAtIOn — DEr BLICk nACH InnEn

Viele Plastiken von Leiko Ikemura verweisen schon in ihrem Titel auf Bezüge zum Buddhismus. Dies trifft zum Beispiel für die monumentale Bronze des Usagi Kannon zu (S. 69f.), ein Projekt, das Ikemura nach dem To -hoku-Erdbeben und dem katastrophalen Tsunami im Jahr 2011 zwischen 2012 und 2014 in Angriff nahm. Der Bodhisattva Kannon (wörtlich „der auf die Hilferufe der Welt Blickende“) gehört zum Gefolge des Buddha Amida, der im „Reinen Land des Westens“ (jo -do), dem Westlichen Paradies, residiert. Als Bodhisattva hat er die Erleuchtung erlangt, verzichtet aber auf das Eingehen in das Nirwana, um den Menschen auf dem Weg zur Erleuchtung zur Seite zu stehen. usagi (Hase, Häschen) kann für den Hasen als Tier und das entsprechende Tierkreiszeichen stehen (S. 136), usagi kann sich aber auch auf das „süße Mädchen“ (usagi-chan, cute girl) in der Welt der Anime-Filme und Manga beziehen. Was ist das für ein Bodhisattva, mit traurigem, mitleidvollem Kindergesicht, ein Hasenohr aufgerichtet,

das andere hängend, der in der Höhle seines weit ausgestellten Rocks Schutz gewährt? Der Buddhismus lehrt, dass die Buddha-Natur und damit das Potenzial zur Erleuchtung in allen Lebewesen angelegt ist. Logischerweise müsste dies auch für die moderne Kunstfigur des „süßen Mädchens“ zutreffen. Vielleicht liegt hierin der Schlüssel zur Parodie, die diesen monumentalen, Mitleid und Schutz gewährenden Bodhisattva mit unschuldigem Kindergesicht und hängendem Hasenohr kennzeichnet.

In der Bronzeplastik Bust (S. 75) aus dem Jahr 1998/99 begegnet der Betrachter einer Büste, die aus einem rechteckigen, nach unten hin leicht ausgestellten Körper besteht. Es gibt nichts, außer der schwungvollen Silhouette, das den Blick bei dieser schweigenden Büste in den Bann ziehen könnte. Die matte, raue Oberfläche ist nicht abweisend, sie gibt aber auch nichts preis und verweist auf den Blick nach innen, der zur Auflösung der Widersprüche, zum Sosein und zum absoluten Nichts führt. Ähnlich trifft dies auch auf die Bronzeplastik Ohne Gesicht (S. 81) zu, die einen kugeligen Kopf mit komisch abstehenden Ohren vorstellt, an dem das Auge auf eine undurchdringliche Grenze stößt und den Blick nach innen reflektiert. Die in das 12. Jahrhundert datierte Holzskulptur eines meditierenden Mönchs (S. 82), dessen Gesichtszüge tiefe Menschlichkeit und intensive Konzentration ausdrücken, vermittelt mit ihren rhythmischen Faltenwürfen eine Aura einzigartiger innerer Geschlossenheit. Zugleich wirft die Skulptur den Betrachter auf sich selbst zurück, denn das wahre Selbst kann jeder nur in sich und nirgendwo außerhalb finden. Ähnlich verschlossen bleiben Ikemuras Köpfe und Büsten, von denen einige Augen, Mund und Ohren mit ihren vielzähligen Armen geschlossen halten, als wollten sie ihre Konzentration nach innen lenken.

HäuSEr unD HöHLEn — gEfäSSE DES SCHAttEnS

In China schätzte man seit alters her dramatisch geformte, ausgehöhlte Felsen und Höhlen, nicht nur weil sie als Jahrtausende altes Kondensat kosmischer Kräfte galten, sondern auch, weil man sich vorstellte, dass sich in den Spalten, Vertiefungen und Öffnungen im Innern kosmische Energien (C. qi, J. ki) von großem Potenzial ansammeln könnten. So war es das organische Zusammenwirken von immaterieller und fester Substanz, von Licht und Schatten, von Yin und Yang, die sie im daoistischen Sinne wertvoll machten.

Die hohe Bedeutung des Schattens für die japanische Ästhetik hat Tanizaki in seinem berühmten Essay Lob des Schattens eindrucksvoll hervorgehoben. Die Häuser sind so gebaut, dass das Licht nur gefiltert oder durch kleine Öffnungen und Spalten unter tief hängenden Dachtraufen in das Innere des Hauses vordringen kann. Das japanische Haus besteht aus Schichten von Schatten, deren undefinierte, in keine Richtung festgelegte Farblosigkeit eine geheimnisvolle Stille und Ruhe ausstrahlt.

Die von Leiko Ikemura geschaffenen Hausmodelle (S. 96–103) gleichen Höhlen, Türmen, Schreinen oder Gefäßen des Schattens. Ihre spärlichen Öffnungen verstärken den Eindruck hermetischer Geschlossenheit. Eine vergleichbare Aura geht von der in das 2. Jahrhundert datierten japanischen Ritualglocke Do -taku aus (S. 92). Die Bronzewandung ist mit einem symmetrischen Dekor von reliefierten Linien geschmückt, nur am unteren Rand gibt es je zwei rechteckige Aussparungen sowie unter der Schulter zwei kleine Augen, durch die das Licht spärlich eindringt.

Das spätneolithische Ritualgefäß (S. 220) mit eingezogener Taille und weitem, rundplastisch und durchbrochen gearbeitetem Rand fordert zu einer Gegenüberstellung mit den kopflosen Mädchenplastiken wie Stehende (S. 199), Stehende mit weißem Kleid (S. 232) und Sitzende mit weißem Kleid von 1995 (S. 78) oder Liegende von 1997 (S. 238ff.) heraus. Ihre Hälse sind zu offenen Schlünden geformt. Als Gefäße des Schattens muten sie wie Höhlen an, in denen sich die Leere kumuliert – oder als entindividualisierte Hüllen.

SCHwArZ, wEISS, grAu — SuBStAnZ unD LEErE

Die Zeichnungen, Aquarelle und Chemigramme der 1980er und 90er Jahre zeichnen sich durch einen kraftvollen, flüssigen kalligraphischen Duktus aus, bei dem die Wahrnehmung des Auges unmittelbar in die Spannung der Linie übersetzt wird. Manche Werke weisen sogar Bezüge zur Schrift auf, etwa die beiden Zeichnungen, in denen Ikemura ihren Namen (Ike = See, mura = Dorf) als Dorf an einem See bildlich umsetzt und den See mit dem Zeichen ike beschriftet, während das Dorf durch Häuser angedeutet wird oder durch das Zeichen für Berg, hinter dem das Dorf versteckt liegen könnte (S. 297). Auch die mit wenigen Pinselzügen ausgeführten Aquarelle (S. 152–157) sind in ihrem Duktus eng mit der Kalligraphie verwandt. Oftmals zeigen sie nass in nass eingeflossene Farbtropfen und durch nachträglich aufgetropftes Wasser verursachte „Tuscheseen“, die das Momentum der Pinsellinie hervorheben. Diese Technik der nass in nass erzeugten Ausblühungen (tarashikomi) hat in Japan eine lange Tradition und wurde zum Beispiel von den Künstlern der Rimpa-Schule zur Wiedergabe von Moos auf Baumrinden effektvoll eingesetzt. Bei den Chemigrammen arbeitete Ikemura blind, d.h. bei der Handhabung der Fixierflüssigkeit in der Dunkelkammer verließ sie sich auf das unmittelbare Zusammenspiel von Kopf und Hand. Das Ergebnis sind spontane, gestische Bilder, bei denen die Malbewegung oftmals außerhalb der Bildfläche einsetzt oder über den Bildrand hinausreicht (S. 169–175); aus großflächig ineinanderfließenden grauen und schwarzen Pinsellinien vor weißem Grund drängen sich einzelne Motive wie Köpfe und schwarze Tierwesen in den Vordergrund, ein Gruselkabinett von Geistern, die sich in der Zone des Zwielichts von Schwarz, Weiß und Grau bewegen. Ikemura schreibt:

Tag und Nacht sind Bedingungen des Lichts aber das Zwielicht macht mich aufmerksam auf die Wirklichkeit, die sich unter der Oberfläche verbirgt. Die Dinge verlieren langsam ihre Funktion und beginnen einfach nur zu existieren.

Wenn das Zwielicht die Gegenstände von ihrem Schleier befreit, dann müssen es wohl die Schatten sein, die die Dinge von sich selbst befreien. In ihren Schattenfotografien (S. 160–167) zeigt Ikemura nichts als die Schatten von Flaschen und Gefäßen, von langem Frauenhaar – als könnte der Schatten eine geheime, andere Existenz der Dinge visualisieren. Was aber die Schatten in Ikemuras Fotos wirklich sichtbar machen, ist das Grau, die Substanz der Leere, das positive Nichts, das allen Dingen unter der Oberfläche anhaftet.

Abb. 3. Das Schriftzeichen „Koto“. Inoue Yu -ichi (1916–1985), Japan, Anfang 1960er Jahre, Tusche auf Papier auf Leinwand kaschiert, MOK A 2006, 4. Foto: RBA. Ankauf aus Mitteln der Kulturstiftung der Länder, der Stiftung Kunst und Kultur NRW und der Stadt Köln Fig. 3: The character “koto”. Inoue Yu -ichi (1916–1985), Japan, early 1960s. Ink on paper mounted on canvas, MOK A 2006, 4. Photo: RBA. Acquisition with the support of the Kulturstiftung der Länder, der Stiftung Kunst und Kultur NRW and Cologne City

Inoue Yu -ichi, der große japanische Schreibkünstler des 20. Jahrhunderts (Abb. 3, S. 24), entdeckte das Potenzial abgestandener, gefrorener Tusche für seine Ein-Zeichen-Bilder. Das emblematische Zeichen aruku (S. 178) ist mit einem großen Pinsel geschrieben; in der abgestandenen Tusche haben sich die schwarzen körnigen Partikel vom Wasser getrennt, wodurch ein schwarz-grau-weißer Streifeneffekt entsteht, der die zähe, plastische Dynamik der Pinselbewegungen eindrucksvoll zur Schau stellt. Was ist hier Substanz, und was ist Leere? Das schwarze Element von Inoues Pinselzügen könnte als Substanz gelten, und die grauen und weißen Spalten dazwischen als Leere. Es könnte aber auch genau umgekehrt sein.

MEMEntO MOrI — VErgängLICHkEIt

Der pazifische Krieg, in dem Japan gegen China und die USA zu Felde zog und seine aggressive Weltmachtpolitik mit der totalen Niederlage bezahlte, gehört wie der Krieg Nazi-Deutschlands zu den großen Traumata des 20. Jahrhunderts. Die Folgen reichen in Japan bis in die Gegenwart hinein. Dieses Thema, und damit verbunden die Hinterfragung autoritärer, patriarchalischer Machtstrukturen, die sich bis in die Geschlechterbeziehungen auswirken, wühlte die nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation auf und trieb Leiko Ikemura schon mit Anfang zwanzig in die innere Emigration.

In ihrer Serie Marine 63, Marine 68, Marine 69, Marine 83 (2006) und in Pacific Ocean (2005/06), Ocean (2007, S. 187–193) beschäftigte sich Ikemura auf der Grundlage von historischen Fotoaufnahmen mit dem Pazifikkrieg. Der Schrecken dieser summarischen, grau und schwarz-blau gehaltenen Bilder beruht auf ihrer nüchternen Distanziertheit. Das zerstörerische Geschehen findet an einem fernen, nächtlichen Horizont statt: Kriegsschiffe, Leuchtspurgeschosse, Granaten, Feuer von Flakgeschützen und Kamikazeflieger im Sinkflug. Diese Bilder erzählen nicht von Leid und Tod, den der Krieg verursacht, sie drücken die Sprachlosigkeit einer nachgeborenen Generation aus. Der große Dichter Matsuo Basho - hat den Schmerz solcher Vergeblichkeit in seinem Haiku Sommergras in einzigartiger Weise auf den Punkt gebracht:

Gräser des Sommers! Von all den stolzen Kriegern –Die Reste des Traums

Als Memento mori offenbaren Ikemuras Kriegsbilder den eigentlichen Schrecken des Todes und der Vergänglichkeit, in dem sie deren Banalität nüchtern vor Augen führen. Das Bild Island (S. 195) spielt auf den chinesisch-japanischen Konflikt um die SenkakuInseln an und zeigt idyllische, grüne Inseln vor rotem Grund. Darüber erscheint eine trennende Horizontlinie, über der im Zentrum eine schwarz übermalte Rauchwolke wie eine böse Kriegsahnung vor schwarzem Grund aufsteigt.

Im Gegensatz zu Ikemuras Kriegsbildern konfrontiert Hokusais meisterliche Darstellung von zwei abgeschnittenen Köpfen im Schilf (S. 183) den Betrachter im buchstäblichen Sinne mit einer Nahsicht auf die Nature morte. Wie in einem Stillleben sind die gruselig entstellten Köpfe der Toten – waren es Banditen oder Helden? – mit einer Schnur an das welkende Schilfgras drapiert. Dieser distanzierte, ästhetisierende Blick nimmt der makaberen Banalität des gewaltsamen Todes und der Vergänglichkeit jedoch nichts von ihrem fundamentalen Schrecken.

ALLES üBEr MäDCHEn — SCHwEBEnD, StEHEnD, LIEgEnD

Die Auseinandersetzung mit den Geschlechterbeziehungen und das Postulat spezifisch weiblicher Identität durchzieht das Œuvre von Ikemuara wie ein roter Faden. Seien es die kosmischen Landschaften, in denen Frauenfiguren als Bezugspunkte auftauchen, seien es die pointierten Zeichnungen und die von weiblichen Rächerinnen beherrschten, narrativen Gemälde der 1980er Jahre, oder seien es die Darstellungen von schwebenden Mädchen vor schwarzem Grund und die Plastiken stehender und liegender Frauenkörper, immer und immer wieder geht es Ikemura um die Frage weiblicher Identität. Der Ausstellungstitel Alles über Mädchen und Tiger stammt von Ikemura persönlich. Was mag es mit den Tigern auf sich haben – stehen die Tiger etwa für männliches Raubtiergehabe? Wohl kaum, es dürfte vielmehr um die geschmeidige Beweglichkeit und seismographische Hellsichtigkeit des Tigers in der ausgewachsenen Frau gehen.

Das in das 15. Jahrhundert datierende Bildnis der Reishojo (S. 202) zeigt die Halbfigur eines Mädchens, das vor abstraktem, leerem Grund völlig in sich zu ruhen scheint. Die lässigen, weiß gehöhten Faltenwürfe von Gewand und Ärmeln münden in zarten, weißen, vor dem Bauch zusammengelegten Händen, durch die sich der Kreis schließt. Das im Dreiviertelprofil wiedergegebene Gesicht ist maskenhaft weiß und zieht den Betrachter durch die nüchterne Schärfe der Augen in den Bann. Es scheint, als sei sich Reishojo -, die Tochter eines Laienbuddhisten, der sein gesamtes Hab und Gut in einem Fluss versenkte, des Tigers in ihrem Innern bewusst und habe die Schwelle zum Einssein mit sich überwunden. Nichts Schwebendes, Vieldeutiges haftet ihr mehr an.

In der Zen-buddhistischen Bildnismalerei markierte der Schwebezustand stets einen dramatischen inneren Wendepunkt, eine Abkehr oder Umkehr, den Übergang von einer Existenz zu einer anderen. Beispielhaft stehen hierfür die Darstellungen des aus den Bergen zurückkehrenden Buddha Shakyamuni oder aber die Überquerung des YangziFlusses durch Bodhidharma, den Gründer der Chan-(J. Zen-)Schule (Abb. 4, S. 27). In dem berühmten Werk des Priesters Chuan Shinko (S. 209) ist der Schwebezustand durch das Hinabschreiten und die Abwesenheit eines festen Bodens oder anderer räumlicher Bezugspunkte charakterisiert. Buddha erkannte die Sinnlosigkeit asketischer Übungen, die zum Tode führen, und begab sich aus der Bergwildnis in die Meditation,

die ihn zur Erleuchtung führte. Bei Bodhidharma war es die Erkenntnis der Sinnlosigkeit, den Herrscher der Liang-Dynastie vom Zen-Buddhismus überzeugen zu wollen, die ihn zur Überquerung des Yangzi auf einem Schilfrohr trieb, um nach neunjähriger Meditation im Shaolin-Kloster die Erleuchtung zu erfahren. In beiden Bildern wird die Figur des Schwebenden in großzügigen, nassen und tief in das Papier eingesunkenen Pinselzügen umrissen. Nur das im Wind wehende Gewand verweist auf die Bewegung im Innern. Doch das Innen bleibt ausgespart, weil es sich nicht in Worten oder Bildern fassen lässt.

Abb. 4: Bodhidharma bei der Überquerung des Yangzi-Flusses auf einem Schilfrohr. Fugai Ekun (1568–1654?), Japan, 17. Jahrhundert. Hängerolle, Tusche auf Papier, 29,8 × 33,8 cm, MOK A 77,90. Foto: RBA Fig. 4: Bodhidharma Crossing the Yangzi on a Reed. Fugai Ekun (1568–1654?), Japan, 17th century. Hanging scroll, ink on paper, 79.8 × 33.8 cm, MOK A 77,90. Photo: RBA

Bei Ikemuras Schwebenden, zum Beispiel im Aquarell des Mädchens, das den Katalogumschlag schmückt (S. 152), oder den Gemälden Landung (S. 204), In den Horizont (1989/99, S. 205) und Schreitende (2007, S. 201) tauchen summarisch und verschwommen wiedergegebene Mädchen- und Frauenfiguren vor neutralem, abstrakt schwarzem oder leuchtend farbigem Grund auf. Im Vorder- oder Mittelgrund findet eine räumliche Verortung allenfalls durch gleißende Horizontlinien statt. Angeschnittene Beine, Arme oder Köpfe lassen die schreitenden und tauchenden Frauenfiguren auf dem Malgrund schweben. Sie wirken geistesabwesend, als seien sie schlafwandlerisch auf sich selbst konzentriert und strebten einer unbekannten inneren Erkenntnis zu. Ikemura schreibt:

Der Horizont, dieser herrliche Lichtstreifen, ist eine Illusion von etwas Jenseitigem, eines anderen Teils von mir, mit einer so starken Erwartung des Andersartigen. Obwohl der Raum unendlich ist, existieren Linien in unserem visuellen Leben. Als Kind dachte ich, ich kann den Horizont berühren, kann über ihn hinausgehen, aber er war immer weit weg. Vielleicht sind wir in der Dunkelheit nicht abgeschnitten, sondern umhüllt von diesem Lichtband. (…) Das Schwarz ist also das Andersartige, in das wir jede Nacht hineinschlafen. Im Dunkel des Nichts gibt es keine Entfernung. Wir gehen durch den Horizont, ohne es zu wissen.

Die Liegenden wiederum, wie in Face in Blue, Face in Red, Floating Face (2008–9, S. 212f., 217), scheinen nach dem Prinzip „nichts Schlechtes sehen, nichts Schlechtes hören, nichts Schlechtes sprechen“ schlafend in sich zu ruhen. Offenbar haben sie im Schlaf die Grenze des gleißenden Horizonts überschritten und den Übergang in die Welt unbewussten Seins vollzogen.

tŌkAIDŌ — AuS DEn 53 StAtIOnEn DEr OStMEErStrASSE

Die berühmte Holzschnittserie der 53 Stationen der Ostmeerstraße von Hiroshige gehört zu den emblematischen Werken japanischer Kunst, welche die westliche Malerei ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beflügelten und revolutionierten. Vogelperspektive, flächige Bildkompositionen, angeschnittene oder vergitterte Bildräume und gewagte Blickwinkel, leuchtende Farben und ungewöhnliche Farbzusammenstellungen waren für die europäischen Künstler des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine einzigartige Inspirationsquelle (Abb. 5, S. 29; S. 290). Denn sie lieferten ihnen geeignete Mittel, um sich aus der Sackgasse der akademischen Tradition, der Zentralperspektive und dem räumlichen Illusionismus zu befreien.

In Japan wiederum hatte die Beschäftigung mit europäischen Darstellungsmodi, mit räumlicher Perspektive und der plastischen Wiedergabe dreidimensionaler Gegenstände,

wie auch die Handhabung von Ölfarben schon viel früher eingesetzt und zur Herausbildung einer Malerei im westlichen Stil (yo ga) geführt. Diese etablierte sich in der Meiji-Periode parallel zur Malerei im japanischen Stil (nihonga). Beide Schulrichtungen waren nicht vereinbar und entwickelten sich daher unabhängig voneinander.

In ihrer Interpretation von Hiroshiges 53 Stationen der Ostmeerstraße verleiht Ikemura Hiroshiges berühmten Ansichten eine überraschende malerische Qualität. Die im Holzschnittverfahren gedruckten Szenen von Hiroshige basierten auf Farbflächen, der Konturlinie und dem Binnenlineament (Abb. 5, vgl. S. 283). Ganz anders die in weichen Pastellkreiden ausgeführten Zeichnungen von Ikemura (S. 282–287, 292–295), die Hiroshige in das Medium der Malerei zu transferieren scheinen.

Abb. 5: Der Hakone See (Hakone kosui zu), 11. Station in der Serie der 53 Stationen der Ostmeerstraße (To -kaido - goju -santsugi no uchi), Ho - eido -Verlag. Ando - Hiroshige (1797–1858), Japan, um 1834. Farbholzschnitt, 22,7 × 35,4 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst, 66232-11.115. Foto: Courtesy Art Research Center Ritsumeikan University, Kyoto Fig. 5: Lake Hakone (Hakone kosui zu), 11th station in the series 53 Stations of the Eastern Sea Road (To -kaido - goju -santsugi no uchi), publisher: Ho - eido -. Ando - Hiroshige (1797–1858), Japan, around 1834. Woodblock print, 22.7 × 35.4 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst, 6623211.115. Photo: Courtesy Art Research Center Ritsumeikan University, Kyoto

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