Michal Fludra / Getty Images
KLINISCHE VERSUCHE IN EUROPA
Novartis, die Obdachlosen und die Vogelgrippe Auch in EU-Ländern werden die Ärmsten der Gesellschaft für klinische Versuche ausgenutzt. Doch Gerechtigkeit einzuklagen, scheint schier unmöglich. Ein haarsträubender Fall aus Polen. TEXT_ALICE KOHLI
Malerisch schmiegt sich das Ufer der Weichsel an die Stadtmauern von Grudziadz, die Ziegel der alten Kornspeicher leuchten in der Abendsonne. Eigentlich wäre das Städtchen im Nordwesten der polnischen Hauptstadt Warschau ein ideales Ausflugsziel. Doch viel mehr Menschen verlassen die Stadt, als herkommen. Seit Polens Beitritt zur EU im Jahr 2004 sind Tausende nach England oder Deutschland ausgewandert, denn in Grudziadz gibt es kaum Arbeitsplätze. Die Stadt hat mit fast 25 Prozent eine der höchsten Arbeitslosenzahlen der Region. Diese Strukturschwäche bestimmte auch die Schicksale von Dariusz, Grzegorz und Bogdan. 2007 lebten die drei Männer im Obdachlosenheim Bruder Albert, einem schmucklosen Bau ge-
genüber dem Friedhof. Dariusz, den sie im Heim «den Kleinen» nannten, wird etwas verlegen, wenn er an die schwierige Zeit zurückdenkt – und an den Moment, als seine Situation schamlos ausgenutzt wurde. Ein einfacher, schneller Groschen Es sei im Winter 2007 gewesen, als er hörte, dass eine Arztpraxis in der Stadt Gratisimpfungen und dazu noch 30 Złoty Trinkgeld (damals etwas über 10 Franken) verteile. Er weiss noch, wie er mit seinen Kollegen aus dem Viererzimmer des Obdachlosenheims losmarschierte. Dariusz war damals 43 Jahre alt, Bogdan 46, Grzegorz 48. In der Klinik seien die Männer zunächst gefragt worden, ob sie erkältet seien. Dann habe eine Krankenschwester ihre Per-
sonalien notiert, eine andere habe ihnen die Impfung verabreicht, die nächste habe den Betrag ausgezahlt. «Das war alles», erinnert sich Dariusz. «Es war ein einfacher, kleiner, schneller Groschen.» Unterschrieben habe er nichts. Nur: Er hätte unterschreiben müssen. Denn die Injektionen, die die Männer erhalten hatten, waren Teil eines klinischen Versuchs für ein noch nicht zugelassenes Medikament von Novartis – eine Impfung gegen die Vogelgrippe H5N1. Das Virus war zu jener Zeit in Südostasien von Geflügel auf Menschen übergetreten und verbreitete weltweit Angst vor einer Pandemie. Der Schweizer Pharmagigant Novartis hatte mit Aflunov einen Wirkstoff in der Pipeline, der bei rascher Marktzulassung ein Verkaufshit hätte werden können. Die Versuchsreihe V87P4 sollte die Wirksamkeit der Impfung gegen das Vogelgrippevirus H5N1 nachweisen. Von Vogelgrippe redete niemand Ohne eine schriftliche Einwilligung nach einer ausführlichen Aufklärung über die Risiken und Bedingungen eines solchen klinischen Tests ist eine Teilnahme gemäss verbindlichen Richtlinien nicht möglich. Und an verletzlichen und schutzbedürftigen Beerklärung!_04_2016
PO P OLEN
völkerungsgruppen – wie etwa Obdachlosen – dürfen nur in streng definierten Ausnahmefällen klinische Versuche durchgeführt werden. Doch das Praxispersonal stand unter grossem Zeitdruck. Für die Testreihe V87P4 hatten sie den Auftrag, in kürzester Zeit unüblich viele Personen zu rekrutieren. Die Vorgesetzten befahlen den Krankenschwestern, so rasch wie möglich Versuchspersonen aufzubieten. Im Obdachlosenheim liessen sich viele Willige locken. «Ein paar Złoty für Zigaretten lohnen sich immer. Das war der Lockvogel», sagt Grzegorz. Von Vogelgrippe habe damals niemand geredet. Die Obdachlosen wurden im Glauben gehalten, sie bekämen eine Impfung für die saisonale Grippe. Kopfschmerzen und Schwindelgefühle Nur durch Zufall wurde die Polizei auf die Machenschaften des Klinikpersonals aufmerksam: Im Obdachlosenheim kam es zu einer Streiterei um verschieden hohe Auszahlungen für die Impfungen. Da bekam auch Mieczysław Wacławski, der damalige Leiter des Heims, Wind von den Vorgängen. Über 300 Personen hatten zu diesem Zeitpunkt bereits an dem klinischen Versuch teilgenommen, viele von ihnen, ohne davon zu wissen. «Manche klagten nach den Impfungen über Kopfschmerzen und Schwindelgefühle», sagt Dariusz. Auch Bogdan und Grzegorz erinnern sich an solche Fälle. Laut Mieczyslaw Wacławski verstarben in jenem Jahr rund zwanzig Heimbewohnende – weit mehr als üblich.
D A RI U S Z (L .), B O G D A N (M.) UND
Wacławski weiss nicht, ob das mit den klinischen Versuchen zu tun hatte, doch er hielt es für möglich, dass die Impfungen den Obdachlosen geschadet hatten. Deshalb bat er die Staatsanwaltschaft, den Fall zu untersuchen. Er wurde abgewiesen: Es existiere ein ärztlicher Befund, der bescheinige, dass die Impfungen nicht gesundheitsschädigend seien. Die Ärztin, auf deren Gutachten sich die Staatsanwaltschaft bezog, war bezahlt worden von Novartis. Entschädigung für Novartis Die Studie wurde von der europäischen Arzneimittelagentur im Nachhinein für ungültig erklärt. Und zum Gerichtsfall kam es trotzdem: Die Staatsanwaltschaft begann, gegen das Klinikpersonal zu ermitteln – wegen Urkundenfälschung und unrechtmässiger Bereicherung. Im November 2014 wurden die Ärzte und Krankenschwestern zu Geldbussen verurteilt und erhielten ein Arbeitsverbot. Die Obdachlosen jedoch haben nichts davon: Denn die Geschädigten waren in den Augen der Staatsanwaltschaft nicht sie – sondern die Auftraggeber. Novartis und deren Vertreterfirma in Polen sollen vom Klinikpersonal betrogen worden sein, da dieses den Versuch nicht vertragsgemäss ausgeführt habe. Der polnischen Novartis-Vertretung wurde gar ein Schadenersatz zugesprochen. In diesen Wochen findet in Danzig das Berufungsverfahren gegen das Ur· teil statt. Für den Anwalt Jacek Kr˛ezelewski, der im Prozess zwei Krankenschwestern vertritt, ist klar, dass nicht seine Mandantinnen die Hauptschuld
K L I N I S C H E V E R S U C H E __ 1 7
« ICH HABE NICHT EINGEWILLIGT, EIN VERSUCHSKANINCHEN ZU SEIN.
»
am Misserfolg der klinischen Studie tragen, sondern der Sponsor des Versuchs, der Druck auf die Praxisangestellten ausgeübt habe. Er versteht nicht, warum der Auftraggeber nicht für die fehlerhafte Durchführung der Tests zur Verantwortung gezogen wird. Denn dieser müsste sicherstellen, dass die schriftlichen Einwilligungserklärungen ordnungsgemäss erhoben werden und dass die Versuche angemessen überwacht werden. So stehts auch in den internationalen Richtlinien, an die sich Pharmafirmen bei klinischen Versuchen zu halten haben. «Ich hätte nicht mitgemacht» Grzegorz und Dariusz würden sich nach all den Jahren eine Genugtuung wünschen. «Ich habe nicht eingewilligt, ein Versuchskaninchen zu sein. Hätte ich gewusst, worum es bei den Impfungen geht, hätte ich nicht mitgemacht», sagt Grzegorz bestimmt. Der hagere 55-Jährige lebt heute in einer kleinen Wohnung und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Dariusz, «der Kleine», steht dank Mieczysław Wacławskis Hilfe auch wieder auf eigenen Füssen – heute ist er Mitinhaber eines Spielsalons. Bogdan lebt noch immer im Obdachlosenheim, seit nunmehr elf Jahren. Er hat mit dem Thema der klinischen Versuche abgeschlossen. «Die Sache interessiert mich nicht mehr so. Hauptsache ich bin gesund», sagt er. Zum Abschied lächelt er resigniert.
meinten, es ginge um eine normale Grippeimpfung.
G RZ E G O R Z (R .)
Bilder: Alice Kohli / EvB