rostfraj Unterwegs mit dem Pfeifermobil in Bosnien August und September 2013 Paula Giger Architektin Jutta Vogel Fotografin
Jutta Vogel, freischaffende Fotografin, bereist seit vielen Jahren immer wieder den „Osten“ Europas und sagt: „Für mich gehört auch Bosnien in die Mitte Europas.“ Ich, Paula Giger, selbständige Architektin, habe eine ähnliche Sichtweise. Zudem bin ich fasziniert von der Architektur der Moderne im Osten und von deren Umsetzung im ganzen Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Seit Jahren treffe ich da immer wieder auf Wohnhäuser und auf Gestaltungen von Aussenräumen, die sehr überlegt für die Bedürfnisse der Menschen und ihr Zusammenleben gebaut worden zu sein scheinen. Massenwohnungsbau in anderen Regionen, in denen die Industrialisierung erst im 20. Jahrhundert begonnen hatte, erlebte ich öfters viel ghettoartiger. In der Folge erschien mir das ganze politische Modell Jugoslawiens menschlicher. Leider brach aber dieses Staatsgebilde schon kurz nach dem Fall des eisernen Vorhangs auseinander und zeigte zudem eine Brutalität, die auch 20 Jahre später kaum zu erfassen ist. Speziell in Bosnien gibt es keinen Ort, wo nicht Schreckliches passiert ist und bis heute sind überall Spuren sichtbar geblieben. Auf einer gemeinsamen Reise im Herbst 2010 entstand die Idee uns vertieft mit der Region von Kozarac zu beschäftigen. Wie gehen die Menschen mit der Vergangenheit um und wie leben und bauen sie heute? Damals besuchten wir die Gedenkstätte Jasenovac. Diese weitläufige Grünanlage steht an dem Ort, wo während des zweiten Weltkriegs ein Konzentrationslager betrieben worden war. Die damalige kroatische Regierung internierte alle, die nicht ihrem faschistischen Menschenbild entsprachen. Unter den Opfern waren viele SerbInnen, auch Jüdinnen und Juden, MuslimInnen, Romni und Roma sowie nichtkonforme KroatInnen. Gesichert ist heute, dass mindestens 70‘000 Menschen in diesem Arbeits- und Vernichtungslager umkamen. Die Gedenkstätte steht auf kroatischem Staatsgebiet, direkt vor einem der Grenzübergänge in die Serbische Republik von Bosnien-Herzegowina und wurde 1959 bis 1966 von Titos hoch geschätztem Architekten Bogdan Bogdanovic gestaltet. Obwohl die Anlage von einer imposanten Blume aus Spannbeton überragt wird, wirkte sie auf uns nicht martialisch, sondern berührte in der sensiblen Gestaltung. Nach dem Gang durch das schlicht gehaltene Dokumentationszentrum gewannen wir sogar den Eindruck eines sehr differenzierten Umgangs mit der schweren Vergangenheit des zweiten Weltkriegs. Eine andere Erfahrung machten wir nach der Grenze in Bosnien. Vorbei an zerstörten Industrieanlagen und zugewachsenen Ruinen waren wir nach Kozarac gefahren. Dort suchten wir im Ortsteil Trnopolje das Schulgebäude, welches im Mai 1992 von den serbischen Bosniern zum Gefangenenlager umfunktioniert worden war. Eines Nachts
wurde damals die nichtserbische Bevölkerung der ganzen Gemeinde Prijedor, zu der Kozarac seit Ende der 1960er Jahre gehört, aus ihren Häusern geholt und in verschiedene zu Lagern umfunktionierte Gebäude verfrachtet. Obwohl wir einen ziemlich guten Beschrieb hatten, wo dieses Schulhaus sein sollte, fuhren wir zuerst daran vorbei. Auf dem Rückweg fiel uns dann aber am Strassenrand ein neu errichtetes Denkmal auf und wir hielten an, um uns das genauer anzuschauen. Es gedachte serbischer Soldaten, die im Krieg der 1990er-Jahre gefallen waren. Wie wir wussten, hatte es damals hier aber keine eigentlichen Kriegshandlungen gegeben und unsere Irritation liess uns eine Weile verharren. Dabei erkannten wir plötzlich, dass wir da ja vor der Ruine des gesuchten Schulhauses standen. Wir durchstöberten das Gelände, fanden aber nirgends einen Hinweis, was hier 1992 wirklich passiert war. In dieser Region war das Kriegsziel der bosnischen Serben die endgültige Vertreibung der muslimischen Bevölkerung. Das Ziel war erreicht worden und in den ersten Jahren nach dem Kriegsende blieb dies denn auch so, da das Dayton-Abkommen dieses Gebiet zur Serbischen Republik geschlagen hatte. In diesem Abkommen war zwar festgeschrieben worden, dass während der
Kriegsjahre 1992 bis 1995 beschlagnahmter Besitz wieder an die ehemaligen GrundeigentümerInnen zurück gegeben werden muss. Die Umsetzung des Friedensabkommens schritt aber nur sehr langsam voran. Vorerst blieben sogar die Grenzen zwischen den beiden Entitäten, der Bosnisch-kroatischen Föderation und der Serbischen Republik, geschlossen. Von staatlicher Seite gab es keine Bemühungen, den Vertriebenen zur Rückkehr zu verhelfen und international gab es wenig Unterstützung. Aber ab 1999 schlossen sich Bosniaken und Bosniakinnen, von denen viele in der Föderation eine vorläufige Bleibe gefunden hatten, zusammen und erkämpften sich gemeinsam die Wiederinbesitznahme ihrer zwischenzeitlich bereits von Vegetation überwucherten Grundstücke. Warum interessierten wir uns besonders für Kozarac? Entgegen vielen anderen bosnischen Orten sieht es dort stellenweise aus wie in einem beliebigen Schweizer Vorort. Sehr viele Häuser sind fertig verputzt und oft gibt es sogar rund ums Grundstück einen „ordentlichen“ Gartenzaun. Nur fiel uns beim genaueren Hinschauen auf, dass praktisch alle fest verschlossen und offensichtlich unbewohnt sind. Nur die wenigen, nicht fertig verputzten Häuser, bei denen die oberen Geschosse oft noch nicht ausgebaut sind, schienen dauernd bewohnt zu sein. Von diesen Eindrücken erzählten wir unseren Freunden im 60 km entfernten Sanski Most und erhielten die Antwort: „Ja, Kozarac nennen wir die kleine Schweiz, das war schon vor dem Krieg so“. Wieder in der Schweiz wurde uns mehrfach erzählt, dass allein in und um Küssnacht am Rigi viertausend Menschen aus Kozarac leben. Wir wollten mehr wissen über diese Menschen, die hier neben uns in der Zentralschweiz leben, meist auf dem Bau oder im Gastgewerbe arbeiten und aber in ihrem Herkunftsort Häuser bauen. Wir knüpften Kontakte, fuhren wieder nach Bosnien im Frühling 2012 und bekamen dann dank der Stiftung Otto Pfeifer die Möglichkeit, im August und September 2013 vor Ort zu recherchieren. Kozarac liegt am Fusse des Bergs Kozara, einem beliebten Ausflugsziel mit monumentalem Partisanen-Denkmal und gut ausgebautem Wander- und Skigebiet. Südlich erstreckt sich eine fruchtbare Ebene mit einem See und am westlichen Horizont geht die Landschaft in die für Bosnien typische Hügellandschaft über. In Kozarac, Donja Ljubija und Hambarine war die Bevölkerung bis 1992 mehrheitlich muslimisch. Zur Gemeinde Prijedor gehört aber auch das in der Ebene liegende serbische Omarska und die einst mehrheitlich kroatische Bergwerksstadt Ljubija. Zudem leben und lebten auf dem insgesamt 834 km² grossen Gemeindegebiet auch immer schon zahlreiche Minderheiten wie Roma, Ukrainer, Albaner und weitere. In der Region gab es in jugoslawischer Zeit viele Arbeitsplätze in den Bergwerken und der industrialisierten Holzwirtschaft. Allerdings zog es bereits seit den 1970er Jahren auch immer junge Leute ins westlichere Europa um sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Wie uns erzählt wurde, ging man aus Ljubija meist nach Slowenien und Deutschland, aus Kozarac eher in die Schweiz. Mit den verdienten Devisen konnten denn auch damals schon die Häuser besser ausgestattet werden als in anderen Regionen. 1991 spaltete sich Slowenien und Kroatien vom damals bereits wirtschaftlich angeschlagenen Jugoslawien ab und BosnienHerzegowina fiel in eine schwere Wirtschaftskrise. 1992 kochte die ökonomische Krise zusammen mit dem seit Titos Tod überall erstarkten Nationalismus über und mündete in einen 4 Jahre anhaltenden Krieg. Die Bilanz daraus waren ca. 100‘000 Tote, die beinahe vollständige Zerstörung der Industrie, riesige Schäden an der Infrastruktur und über 2 Millionen vertriebene und geflüchtete Menschen.
Als wir anfangs August 2013 in Kozarac ankamen war auch die „Diaspora“ vor Ort. Die Strassen waren voller Autos mit Kennzeichen aus der Schweiz, Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweden, Norwegen und andern europäischen Staaten. Die sonst verschlossenen Häuser waren bewohnt und allerorten wurde weiter gebaut. Es wurde rege eingekauft und alle Strassencafés waren voll besetzt. Es herrschte eine Art Sommerparty-Stimmung und alles hatte plötzlich relativ wenig mit dem Bosnien, das wir bis jetzt kennen gelernt hatten, zu tun. Für uns ergab sich aber die Möglichkeit viele neue Leute kennen zu lernen und wir konnten mit ihnen über ihr Leben vor und nach der Vertreibung und ihre Sicht auf das heutige Bosnien reden. In diesen ersten Augusttagen herrschte eine Hitze von 44° und am Gedenktag der Befreiung des Konzentrationslagers Omarska waren wir beinahe versucht zu kapitulieren vor der Schwere der Geschichte. Dieses Lager, dessen Bilder einst um die Welt gingen und welches dann aufgrund internationalen Drucks im August 1992 aufgelöst werden musste, war in den Hallen eines Bergwerks untergebracht. Heute wird dort wieder produziert. Die Einrichtung einer Gedenkstätte wird (noch) nicht zugelassen, aber die private Organisation „Opfer des Genozids“ schafft es nun doch bereits seit Jahren, an diesem einen Tag wenigstens den Zutritt
zum weissen Haus zu ermöglichen. In diesem, einer Baracke ähnlichen, kleinen Bürogebäude hatte sich ein eigentliches Folterzentrum befunden und nun schwebten in allen vier Zimmern weisse Ballone mit an Schnüren befestigten Namensschildern. 700 Namen von Menschen, die zwischen Mai und August 1992 in dieses Lager verbracht worden waren und von denen seither jede Spur fehlt. Wir Fremden konnten nur erahnen, wie viel Leid hier geschehen sein musste und wie quälend die offenen Fragen für die Zurückgebliebenen und die Zurückgekehrten immer noch sind. Wir waren berührt von den Reden voller Bemühungen und Apellen zur individuellen Verarbeitung des Geschehenen, wieder Vertrauen zu fassen gegenüber den anderen und zusammen zu leben ohne erneuten Hass. Die Fahrt hin zu der Veranstaltung war nirgendwo ausgeschildert gewesen und wir hätten es wohl ohne unsere Übersetzerin nie bis dahin geschafft. Die Leute aus Omarska, einer der grössten traditionell mehrheitlich serbischen Siedlungen in dieser Gegend, hatten offensichtlich nicht verstehen wollen, nach was wir gefragt hatten. Für uns einmal mehr eine beklemmende Vorführung des in der Serbischen Republik vorherrschenden Umgangs mit der allerneuesten Geschichte. Die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung wird konsequent negiert. Wir fühlten uns hilflos und unsere ursprüngliche Fragestellung: „Was ist die Motivation, nach Krieg und Vertreibung in der alten Heimat zu bauen und doch nicht zurück zu kehren? Warum bauen sie diese Art Häuser? Ist es Ausdruck von Trotz gegenüber ihren Peinigern? Ist es Ausdruck und Manifestation des wirtschaftlichen Erfolges im Exil? Ist es Ausdruck ihrer Sehnsucht nach Heimat?“ kam uns mehr als nur trivial vor. Doch dann trafen wir wieder Leute, die uns sagten: „Toll, dass ihr hier seid und euch für uns interessiert. Sehr oft haben wir doch das Gefühl ihr dort oben hättet uns einfach vergessen.“ Wir hörten auch: “Wir verstehen doch auch nicht wie das alles geschehen konnte. Jetzt müssen wir aber irgendwie weiter leben, untereinander mögen wir aber auch gar nicht mehr über all das Schreckliche reden und doch: wir müssten uns doch auch mit dem Geschehenen auseinandersetzen.“ Bei zahlreichen herzlichen Einladungen zu bosnischem Kaffee lernten
wir mit der Hitze umzugehen und hatten das Glück weit verzweigten Verwandtschaften vorgestellt zu werden Familien, die durch den Krieg über halb Europa verstreut worden waren. Viele haben nach ihrer Flucht im Ausland Arbeit gefunden und ihre Kinder fühlen sich dort zu Hause. Die einen wollen nichts mehr wissen von all dem „da unten“, waren nur kurz da zu einer Hochzeit und wollten dann auch nichts mit uns zu tun haben. Andere hingegen kommen jeden Sommer mindestens für ein paar Tage, empfinden Bosnien als ihre richtige Heimat und redeten mit uns auch über diesen Begriff. Neben der Diaspora gibt es aber auch die Menschen, die ganzjährig wieder da leben. Zurück gekommen sind sie, weil sie von den Aufnahmeländern zurück geschafft worden waren, sonst nirgends ein Auskommen gefunden hatten oder aber auch weil sie das Heimweh einfach zu sehr gequält hatte. Für uns ergaben sich durch die Anwesenheit der Diaspora, unter denen nicht wenige Deutsch sprechen, die verschiedensten Gelegenheiten Fragen stellen und spannende Portraits machen zu können. Wir liessen uns auch an Orte führen, wo es „früher, vor dem Krieg, so schön war“, uns schildern, wie das Zusammenleben damals funktioniert hatte und was heute wieder möglich und aber auch was nicht mehr möglich ist. Im September waren die Menschen, die ganzjährig in Bosnien leben, mit der Bereitstellung des Brennholzes für den Winter beschäftigt. Einerseits wurden dadurch die dauernd bewohnten Häuser deutlich erkennbar. Andererseits zeigte sich durch die Grösse der Holzhaufen auch wie energetisch schlecht sie gebaut sind und welcher enorme Aufwand für die Beheizung jeder einzelnen Wohneinheit betrieben werden muss. Zusammen mit der Art Bereitstellung ergab das für uns recht eigentlich das Bild einer archaischen Gesellschaft aus vorindustrieller
Zeit. Tatsächlich scheint es auch so, dass kaum Industrie wieder aufgebaut worden ist und es mangelt an regulären Arbeitsplätzen. Die wenigsten Leute verfügen über ein regelmässiges, die Lebenskosten deckendes, Einkommen und es gibt keine günstigere Alternative als sich das Holz mit einem Pferdefuhrwerk aus dem Wald bringen zu lassen und vor dem Haus von Hand selber zu zerkleinern. Wie sie es schaffen, die Energie aufzubringen sich den Alltag immer wieder von neuem selber zu organisieren, rief bei uns grossen Respekt hervor aber auch die Erkenntnis, dass der letzte Krieg dieses Land um Jahrzehnte und die Menschen auf sich selber zurück geworfen hat. Der Staat scheint inexistent oder vorallem mit sich selber beschäftigt zu sein. Die Diaspora, die im August das Land belebt und beschallt hatte, war wieder abgereist. Sie waren mit ihren prächtigen Autos wieder zurückgekehrt „nach oben“. Geblieben sind die verschlossenen Häuser, die nicht nur durch ihr Verlassensein befremdend wirken. Es schien uns sogar so, als würden sie sich immer mehr abzugrenzen versuchen von der Umgebung durch immer mehr Geländer, Zäune und pompöse Tore. Ausgeführt zunehmend nur noch in Chromstahl, neubosnisch bezeichnet mit dem Wort „rostfraj“. Dieses glänzende Metall rostet nicht und wird bei Sonneneinstrahlung so heiss, dass es kaum noch angefasst werden kann. Die oft gehörte Erklärung, die Anwendung dieses teuren Materials rechtfertige sich, weil es völlig unterhaltsfrei sei und 200 Jahre halte, bekam für uns zunehmend etwas Absurdes. Beinahe befreiend begannen wir uns dann aber auch zu amüsieren über die am meisten gehörte Begründung: „Die Leute der Diaspora haben das wohl in der Schweiz gesehen und nachdem die ersten solche Geländer mitgebracht und an ihren Häusern hier montiert hatten, wollten das alle andern auch.“ Bald ertappten wir uns dabei, fasziniert diese „schweizerische Spezialität“ im Detail der bosnischen Umsetzung zu studieren. Zusätzlich durften wir dann auch feststellen, dass sich uns durch dieses Thema ein viel direkterer Zugang zu den Menschen eröffnete. Als willkommener, oft wohl auch nur als erhoffter, zusätzlicher Verdienst übernehmen einige der ganzjährig da lebenden Menschen die Aufgabe, während der Abwesenheit der BesitzerInnen ein Auge auf deren schöne Häuser zu werfen. So auffällige Passantinnen, wie wir sie mit unserem Mobil zweifellos darstellten, wurden denn natürlich gefragt was wir wollen. Die meisten zeigten sich beinahe erleichtert, dass uns dieses „rostfraj“ auch befremdete und wenn wir dann ihre gepflegten Gemüsegärten oder einen liebevoll hergerichteten Sitzplatz sehr schön fanden, war das ein idealer Einstieg darüber zu reden wie das Leben in der Heimat für sie ist und darüber zu sinnieren, was das für andere vielleicht bedeutet.
Wir haben viele Geschichten gehört und sehr viel gelernt darüber, was es heisst in Bosnien ein Haus zu haben. Und auch wie verschieden die Sichtweisen auf „ein Haus zu haben“ sein können. Wir werden mit dem gesammelten Ton- und Bildmaterial weiter arbeiten und danken vorerst der Pfeifer-Stiftung ganz herzlich für die zweimonatige Zurverfügungstellung ihres fahrbaren Hauses! Paula Giger und Jutta Vogel