Subjektive Kartographie der Schweiz Während zwei Monaten bin ich mit dem Pfeifer-Mobil durch die Schweiz gefahren und habe die durchreisten Orte und Landschaften, die zurückgelegten Strecken und Wege dokumentiert. Mein Vorhaben war es, eine neue, subjektive Kartographie der Schweiz zu erstellen. Begegnungen und Beobachtungen vor Ort wollte ich mittels Zeichnungen, Fotos und skizzenhaften Modellen festhalten, sodass eine vielfältige Sammlung an Aufzeichnungen und Plänen entsteht. Meine Reise begann am 1.August 2008 vor meiner Haustüre. Ich fuhr Richtung Südwesten, folgte Flusslinien, gelangte in Dörfer des Mitellandes und der Zentralschweiz, ich überquerte Pässe, kam an Staudämmen vorbei, gelangte bis an äusserste Zipfel des Landes in Grenzdörfer im Jura oder Bergell. Immer wieder bog ich von Hauptstrassen in unbekannte Seitenstrassen ab, die manchmal zu so engen und kurvigen Strässchen wurden, dass ich befürchtete, ich würde mit dem Wohnmobil irgendwann einfach nicht mehr weiterkommen und stecken bleiben. Auf dem Pragelpass habe ich nicht wenige erstaunte Blicke von Motorrad- oder Autofahrern geerntet, die sich wohl fragten, wie solch ein Ungetüm über die schmalen Schotterstrassen auf die Passhöhe gelangt sei. Während meiner ganzen Reise liess ich mich vom Zufall leiten und vom Klang der Namen, die ich auf Schildern las, immer neugierig darauf, was sich wohl dahinter verbergen möge: Soppensee, Matten, Gumm, Tschugg, Horrenbach, Gurmels, Abländschen, Gurnigel, Tschingelsee, Vrin, Val Lumnezia, Bärentritt, Zulg, Geschinen, Gletsch, Leontica, Castasegna. Manchmal durfte ich bei Bauern mein Nachtlager aufschlagen, dann wieder nächtigte ich auf Parkplätzen bei Restaurants oder Friedhöfen oder suchte brachliegende Felder in Industriegebieten oder an Waldrändern. Einsame und kalte Herbstnächte auf Passhöhen in dichtem Nebel wechselten sich mit lauen Sommernächten an kleinen Seen in der Ostschweiz, begleitet von Geräuschen der Wasservögel. Kleines, grosses Land Der mobile Arbeitsort war ideale Voraussetzung für mein Projekt: Je nach Aufnahmefähigkeit oder Inspiration habe ich mich fürs Fahren oder fürs Verweilen und Zeichnen entschieden. Dieser stete Wechsel von Fahren und Niederlassen war für die Art, wie ich arbeite optimal: In der Bewegung entstehen Ideen, da mein Blick scheinbar nur auf die Strasse, auf das Fahren fokussiert ist. Dafür ist der Gedankenraum weit geöffnet. Es ist ein sprunghaftes Denken und mutet hastig und unstet an; die Gegenstände werden unscharf, die Bedeutungen fliessen ineinander. Doch mein Denken muss spontan sein - ohne direktes Ziel - damit daraus unmittelbare Erkenntnis wird. Als Kartographin meiner unmittelbaren Umgebung habe ich tagsüber Erkundungstouren vor Ort gemacht. Ich traf ausnahmslos auf neugierige Einwohner und diese Begegnungen waren eine Inspirationsquelle für sich. In Buholz zum Beispiel wurde ich von der Bauernfamilie Amrhyn nebst Mahlzeiten und Duschmöglichkeit mit reichlich Geschichten und Legenden aus der Gegend versorgt: Der Wald auf dem nahen Hügel heisst Galgenbergwald, früher stand dort oben gut sichtbar ein Galgen (heute ist an dieser Stelle ein Stein, der bezeugt: Richtstätte 1793 aufgehoben). Seither geistern nachts anscheinend kopflose, brennende Männer durch die Gegend oder der Teufel in Gestalt eines schwarzen Hundes. Der kleine Ort Horrenbach oberhalb des Thunersees besteht aus einigen wenigen Höfen und einem Schulhaus, das bald geschlossen wird, da es hier nur noch 8 statt mindestens 10 Kinder gibt, welche die Schule besuchen; es hat weder Dorfladen, noch Restaurant oder Posthaltestelle. Horrenbach wurde für mich zu einem kleinen Kosmos rund um dieses Schulhaus. Innert kürzester Zeit nach meiner Ankunft bekam ich vom Gemeindeschreiber, einer mazedonischen Familie und der Lehrerin von Kaffee bis zu Strom aus der Werkstatt alles angeboten. Auf der Alp Abländschen oberhalb von Jaun inspirierten mich Ortsnamen wie Wolfsort oder Obere Bire und schliesslich der Blick auf das Gastlosen-Gebirge, dessen Name nicht von ungefähr kommt: Zerfurchter, spitzer Stein, wahrlich kein Ort zum Verweilen. Ich sass stattdessen in der kleinen Küche des Bergbauern Erwin, dessen Gesicht nicht weniger zerfurcht ist als die Felsen der Gastlosen. Erwin hat von Afrika bis Australien alle Kontinente bereist und ich lauschte seinen Erzählungen und lernte dabei neue Dialektworte wie „chüschtig“ und „muettereinzig“.
An vielen Orten war die Zeit visuell erfahrbar: Geschinen im Goms, mit seinen alten Speichern, von der Sonne fast ganz schwarz gefärbt. Die Steinplatten, die in der Konstruktion der Speicher in die Holz-Pfeiler eingebaut sind, wirken, als wären sie schon seit Ewigkeiten da. Im Grenzort Castasegna im Bergell ist fast alles aus Stein: Die Häuser, die Wege, die Treppenstufen, die Türen. Die Häuser sind so eng aneinander gebaut, dass man das Gefühl hat, es bräuchte nur ein minimes Antippen des Dorfes und alle Gebäude würden sofort aneinanderrücken, ohne einen kleinsten Spalt zwischen sich zu lassen. Diese Dichte prägte meine ganze Reise: Auf kleinstem Raum fand ich eine grossen Schatz an Geschichten. Reich an Eindrücken und Ideen bin ich nach zwei Monaten wieder in Zürich an der Aemtlerstrasse angekommen.