RM Congress - Presentation - 14 Ortner

Page 1

Rete Montagna Interna,onal Congress Eurac Conven,on Center -­‐ Bolzano/Bozen -­‐ IT November, 6th -­‐ 8th 2014

Flurnamen und Landscha/swahrnehmung

Indikatoren für Veränderungen in der Berglandwirtscha8 LORELIES ORTNER & RÜDIGER KAUFMANN

Università di Innsbruck


2014


Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Flurnamen und Landscha/swahrnehmung Indikatoren für Veränderungen in der Berglandwirtscha8


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung Ein 36-­‐jähriger Landwirt über die FunkQon von Flurnamen: „Eben, die alten Leut’ hä6en noch viel mehr gewusst. … Da sind schon viele Namen in Vergessenheit geraten, weil man es nicht mehr braucht. [...] Kommen tut das hauptsächlich, glaub’ ich, durch das Bewirtscha/en und durch das Vieh. Weil diese Leute haben einen Anhaltspunkt gebraucht. Wenn du heute sagst: ‚Die Schafe sind im Geißbergtal‘, dann schaut der Bauer mit dem Fernglas von der Hohen Mut herunter und wird sie schon finden ... Früher wenn du noch kein Fernglas gehabt hast, da hast du genau wissen wollen, bei welchem Stein die Schafe gerade stehen.“ Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung Flurnamen als Anhaltspunkte für diejenigen, die mit der Bewirtscha8ung und mit dem Vieh zu tun haben

Hohe Mut


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung

1.  Fragestellungen und Methoden 2.  Flurnamen und Landscha/swandel 3.  Flurnamen und Landnutzungsänderung 4.  Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung

1.  Fragestellungen und Methoden 2.  Flurnamen und Landscha/swandel 3.  Flurnamen und Landnutzungsänderung 4.  Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


1. Fragestellungen und Methoden

Flurnamenforschung

Landscha8sökologie

Namenökologie

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


1. Fragestellungen und Methoden

•  Was war so wichOg, dass Bauern und Hirten einen eigenen Namen dafür geschaffen haben? •  Was ist vom Naturraum her gesehen für die Namengebung prädesOniert? •  Was ist für die Namenverwendung ausschlaggebend?

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


1. Fragestellungen und Methoden Flurnamen dienen zur Benennung von Landscha8selementen, die für die lokale Bevölkerung von besonderer Bedeutung sind und waren: Ø  Landnutzung für Siedlung, Landwirtscha8, Jagd, Wege Ø  GefahrenpotenQale Ø  Landmarken für die OrienQerung Ø  Ökologische Gegebenheiten zum Zeitpunkt der Namengebung In der Flurnamengebung hat sich das Wissen der Bevölkerung über ihren Lebensraum niedergeschlagen. Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


1. Fragestellungen und Methoden Interviews mit älteren Einheimischen •  Erhebung und KarQerung von Flurnamen •  Aufzeichnung von Flurnamenerzählungen


1. Fragestellungen und Methoden: Untersuchungsgebiet Ötztal Vent

Timmelsjoch

Obergurgl

Rabenstein

l a t r e r Pfelde

Kurzras

Pfelders

Pfossental


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung

1.  Fragestellungen und Methoden 2.  Flurnamen und Landscha/swandel 3.  Flurnamen und Landnutzungsänderung 4.  Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


2. Flurnamen und Landscha8swandel

Die (hoch)alpine Landscha8 weist eine immense Dynamik auf – diese schlägt sich im Flurnamennetz nieder.

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Dynamik der Berge •  Bergsturz Steinschlagbödele

hlp://www.alpine-­‐auskun8.at -­‐ Hochwildehaus


Dynamik der Gletscher Gletscherrückgang 1939 – 2011 Derzeit: 15 – 20 m pro Jahr Foto Lohmann

Ferner = Fernerle (‘Gletscherchen’): „Wenn’s kloan isch.“


2. Flurnamen und Landscha8swandel

Dynamik der Gewässer Bäche und kleine Seen sind ständig in Bewegung. •  Eisbach = Eisbachle „Manchmal Eisbach, wenn er größer geht [‘wird’], und sonst Eisbachle.“

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung

1.  Fragestellungen und Methoden 2.  Flurnamen und Landscha/swandel 3.  Flurnamen und Landnutzungsänderung 4.  Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung

Der Mensch, der das Land nutzt, braucht Flurnamen zur Lokalisierung und zur OrienOerung. •  Flurnamen: die Landkarte im Kopf •  Stabile Landmarken dienen als Lokalisierungspunkte.

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Spitziger Stein

Landmarken für die OrienQerung

Flurnamen sind das GPS für Jäger, Hirten und Bauern

Am Spitzigen Stein


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung Flurnamen verweisen auf GefahrenpotenOale. Sie sind gleichsam die Warnschilder einer früheren Zeit: Scha1od Bösrain Schiachegge: „… das geht so steil ums Eck, und wenn’s noch nass ist oder Schnee gehabt hat, ist es schon ö8er passiert, dass [das Vieh] drübergefallen ist.”

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


die Hรถll


Flurnamen und Besiedlung Was war vor den deutschen Flurnamen? Jäger vor 6000 bis 8000 Jahren in Vent: Sprache unbekannt

Hohler Stein


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung Namenschichten und Besiedlungsgeschichte Flurnamen geben Hinweise auf frühe alpine Weidewirtscha8 (Sommerweide – über der Waldgrenze). Uralte Wegverbindungen über den Alpenhauptkamm – auch heute noch Scha8rieb.


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung

Vordeutsche Wörter: Relikte früher alpiner Kultur Romanisch: ab 15 v. Chr. vorrömisch •  •  •  •

Gampe Trai Plais Pille

‘ebener Platz bei der Almhüle’ (romanisch) ‘Viehweg’ (kelQsch) ‘steiler Grashang als Weide und Bergmahd’ (vorrömisch) ‘Heuhüle, Heustadel’ (kelQsch)

Hausner (2005): Alpiner Wortschatz; Schatz (1955/56): Wörterbuch der Tiroler Mundarten; Finsterwalder (1995): Tiroler Ortsnamenkunde.


Pille Â


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung Vordeutsche Wörter für Landscha/sformaOonen •  •  •  •

Riep Gande Tauf (Hohe) Mut

‘Steinhalde, Geröllhalde’ (romanisch) ‘Hang mit Steingeröll’ (vorrömisch) ‘steile Rinne, Lawinengraben’ (romanisch) ‘stumpf’ (vorrömisch)

Hohe Mut Schatz (1955/56): Wörterbuch der Tiroler Mundarten; Finsterwalder (1995): Tiroler Ortsnamenkunde.


Dauerbesiedlung ab dem 13. Jh.

Die Höfe in Vent um 1870 mit freundl. Genehmigung von Caroline Moser (Pirpamer)


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung Besiedlungsgeschichte und Namenschichten Ab dem Milelalter: allmähliche Ablösung der vordeutschen Namen durch deutsche Namen: •  selten Glaseir, häufiger Infang ‘umzäunter Grund’ •  selten Traje, häufiger Gasse ‘Viehweg’


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung

Tiefgreifende Landscha8sveränderungen durch intensive Rodung im Milelalter Rodungsnamen mhd. riuten ‘roden’ Raut

mhd. swenden

mhd. brennen

‘verschwinden machen’

Gschwendt

Brand/Brandle

Anraitle

Brenner Brennbichl In den Brinsten

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Viehzucht und Almwirtscha/ Sommeralm Geißköfel Ochsenrast Salzbödele


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung Mahd und Ackerbau •  Sonntagmahd •  GersFeld Brauchbarkeit (Bewertung der bewirtscha/eten Flächen) •  Schönmahdl •  Schlechter Boden Starke Differenzierung durch Flurnamen →

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Wiese

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck

07.11.2014


Äußere Wiese Innere Wiese Obere Wiese

Spätwiese Hirtenwiese

Schweinwiese Kälberwiese Kuhwiese

Untere Wiese Hintere Wiese

Fuchswiese Altwiese

Enzianwiese

Pfarrerwiese

Kuhmahdwiese

Streitwiese

Steinwiese

Waldwiese Bergwiese

Mooswiese Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Kasparwiese Trines Wiese

Mühlwiese

Bachwiesl Sandwiese

Schmiedwiese

Ta6ermannw.

Neuwiese

Eschenwiese

Messnerwiese

Schönwiesl SonnseiOge W. Nörderwiese

Universität Innsbruck

Stadelwiese Stallelewiese Ebene Wiese Langwiese

07.11.2014


Entstehungs-­‐ zeit

Neuwiese Obere Wiese

Lage

Ebene Wiese

Beschaffenheit

Enzianwiese

VegetaOon

Ta6ermann-­‐ wiese

Fauna Landwirtsch. Einrichtung

Stadelwiese Spätwiese/ Schönwiese

Kasparwiese Streitwiese

Nutzung/ Bewertung BesitzerIn Menschliches Verhalten


Von der Berglandwirtscha/ zum Tourismus


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung

Neben alten Flurnamen gibt es neue, werbewirksame Namen •  Annakogl –> Zahme Anna •  Hohe Wilde –> Wilde Hilde •  Auf den Haglen –> SeenplaLe „Schi-­‐Namen“, z.T. familieninterne KommunikaQon •  Am Wams –> Rippenbrecher •  Beim StarthüLle •  Schuelerwald: „wo die Schüler das Skitraining haben“

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung Neue Namen für neue Sachen •  Rotlehngalerie: neue Bauten in der Landscha8 •  Beschneiungssee im Rotmoostal

Rotmoossee???


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung

Wandel von Einstellungen: scherzha/e Neubildungen: •  Advokatenbichl •  SchwiegermuLerschlucht

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Flurnamen und Landscha8swahrnehmung

1.  Fragestellungen und Methoden 2.  Flurnamen und Landscha/swandel 3.  Flurnamen und Landnutzungsänderung 4.  Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


4. Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen Die Kenntnis der Flurnamen ist an die tradiOonelle Berglandwirtscha/ gebunden. •  „Die, die hoi, wenn du die jetzt fragst … die einen wissen nichts mehr, die Jungen mit 40 Jahren, die wissen alle nichts. Da wär [mein Sohn] noch weit der beste gewesen mit diesen Namen, weil er immer die Kühe holen gehen musste; da hat man gesagt: ‚Da, bei den Köfelen oder in der Rinne, da sind die Kühe.‘“ •  „Die Flurnamen wissen der Hansjörg und die viel besser, weil die dort gemäht haben. Weil wissen tust du es, wenn du da gearbeitet hast.“ Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


4. Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen Der Rückgang der tradiQonellen Berglandwirtscha8 führt auch zu einem rapiden Namenschwund. Namenschwund bedeutet: Verlust eines Teils des kulturellen Erbes Sicherung des kulturellen Erbes durch •  Flurnamenerhebung und FlurnamendokumentaQon: mehrere groß angelegte Projekte in NordQrol und in SüdQrol

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


4. Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen Ausblick Gibt es eine Möglichkeit der Wiederbelebung von Flurnamen, um sie vor dem endgülQgen Vergessen zu bewahren? Neue Klientel – neue technische Möglichkeiten •  Nutzeffekte: Ergebnisse der Flurnamenerhebung für die Katastrophen-­‐ bzw. Einsatzplanungen der Leitstelle Tirol – auch in Zeiten von GPS-­‐Koordinaten! (Tiroler Flurnamenprojekt) •  TradiOonsbewusstsein: Wanderwege mit Flurnamenschildern •  Liebhaberei: moderne Medien mit Webanwendungen (mobile APPs), für Einheimische und auch für landscha8s-­‐ und kulturinteressierte Gäste

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


4. Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen

TradiOonsbewusstsein und Liebhaberei Schlusswort eines Einheimischen aus dem Wintersportort Obergurgl: „Weil, wenn wir ehrlich sind: Notwendig hat [die Landwirtscha8] kein Einziger. [...] Es ist halt, du musst die Einstellung dazu haben, also rechnen darfst du nicht. [...] Du machst aus TradiOon weiter und weil wir es uns leisten können.“

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


Pius Ägidius


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!



4. Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen Warum brauchen Menschen Flurnamen? §  Wahrnehmung und Unterscheidung: Geländevielfalt löst Namenvielfalt aus. §  Lokalisierung und OrienOerung in den verschiedenarQgen Landscha8en: Anhaltspunkte – Warnung vor Gefahr §  Mi6eilung: mit anderen über Orte reden §  Besitzkennzeichnung: Was gehört wem?

Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


4. Flurnamen – das immaterielle kulturelle Erbe in alpinen Regionen Nicht nur die Alpen sind in Bewegung, auch die Sprache ist mobil! Stabilität und Dynamik des Flurnamensystems im Hochgebirge •  Fortbestand:

kelQsche Reliktwörter: Trai

•  Wandel:

Auf den Haglen → SeenplaLe

•  Schwund:

1776/77: Auf der alten Theyen (‘Sennhüle’)

•  Neuentstehung: Beim StarthüLle → Alte und neue Flurnamen lassen Schlüsse auf vergangene und aktuelle Landnutzung zu. Lorelies Ortner & Rüdiger Kaufmann

Universität Innsbruck


2. Flurnamen und Landscha8swandel Dynamik der Gewässer Bedrohung durch Vermuhrung •  Weiße Mure •  Murbachle •  Dreckbachle Aus einem Urbar von 1843 •  „Ein ganz verrunnener Neuraut, und unwiederbringlich verlohren, daher ohne Kataster Tax“ •  verrunnener Neuraut [vermuhrtes frisch gerodetes Land] Tiroler Landesarchiv: Urb. 76/16, pag. 4043, 4045


3. Flurnamen und Landnutzungsänderung •  Forstwirtscha//Jagd: Holzführweg, Jägergarten •  Wasserwirtscha/:

Waalerweg, Wehrmauer

•  Gewerbe:

Bei der Mühle, KohlstaLl, Beim Kalkofen

•  Fischzucht: Fischteich: "Der Nasensee ist das. Jetzt nennen sie ihn Fischteich, weil der Anton Fische da oben hat."


2014


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.