Melancholie

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MELANCHOLIE DIE DUNKLE INSPIRATIONSQUELLE DER KUNST


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»Melancholie ist die Auszeichnung jenes Menschen der zu Ende denkt. Die Folge solchen Tiefsinns ist häufig Schwermut, Traurigkeit und Lähmung. Melancholie gilt deshalb, heute vielleicht mehr den je, als ein deutsches Gefühl.« – Dr. Christina Weiss



»Auch wenn der Begriff heute fast nur noch einen gewissen Zustand der Traurigkeit oder des Weltschmerzes bezeichnet, so ist die Melancholie doch ein Thema, das sich von der Antike bis in unsere Tage durch die ganze Geschichte des Abendlandes zieht. Unter verschiedenen Namen und Formen wurde die Melancholie immer wieder aufs Neue Gegenstand medizinischer und philosophischer Untersuchungen und erwies sich als unerschöpfliche Inspirationsquelle für Schriftsteller und Künstler – eine Bevölkerungsgruppe, die als saturnisch gilt und der Melancholie deshalb selbst in besonderem Maße ausgesetzt ist.« – Renaud Donnedieu de Vambres



INHALTSVERZEICHNIS ÜBERBLICK

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Der Heilige Antonius Martin Schongauer

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Die Tinte der Melancholie Jean Starobinski

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Stillstand und Bewegung Oliwia Kohnke

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Melencolia I Dürer und seine Nachfolger

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Ode to Melancholia Alexandrina Ana

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Saturn Hans Baldung

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Phänomenologie der Melancholie Wolfram Schmitt

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Foggy Memories Joanna Piekart


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Melodie der Melancholie Frederike Schrรถder

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Melancholie in der Psychiatrie Michael Schmidt-Degenhard

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Der typischen Romantiker Caspar David Friedrich

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Melancholie und Entartung Laura Bossi

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Entartung heute Laura Bossi

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Le enfant terrible Lars von Trier

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Drowned Nava Monde

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Index Register

Goethes Werther im Kontext zeitgenรถssischer Melancholie-Diskurse

Wilhelm Griesinger Melancholie in der deutschsprachigen Psychiatrie


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DER HEILIGE ANTONIUS, VON DÄMONEN GEPEINIGT MARTIN SCHONGAUER

Kupferstich um 1470. Antonius, der Vater des Mönchtums, wird in die Lüfte emporgetragen. Sein Gesicht wirkt gleichmütig und steht im Kontrast zu seinem zerzausten Bart, seinem zerknitterten Gewand aus grobem Wollstoff und einem am Gürtel befestigten Buch. Abscheuliche Chimären greifen ihn an. Sie ziehen ihn mit ihren Stöcken und ihren Schreien. Die Inspiration zu dieser Szene stammt aus der Biografie, die Athanasius nach dem Tode des Antonius im Jahre 356 verfasste.

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DIE TINTE DER MELANCHOLIE

Die Theorie der Melancholie entstand, als Philosophen und Ärzte auf den Gedanken kamen, Angst, Traurigkeit und Irrungen des Geistes auf eine natürliche Ursache zurückzuführen, deren Erklärung überzeugend genug sein sollte, alle mythischen Deutungen zu verdrängen. Weder die Götter, noch Dämonen, noch die geheimnisvolle Nacht würde die Vernunft der betroffenen Menschen trüben und verdünsten, was sie peinige, sei vielmehr eine Substanz, die sich in ihrem Körper im Übermaß angesammelt habe und deren Auswirkungen, vergleichbar den eines dunklen, schweren Weines, nicht rätselhafter seien als die Trunkenheit. Die Mythologie der Nacht lässt sich jedoch nicht so leicht vergessen: Die schwarze Galle, von der die ersten »Physiologen« sprachen, ist ein substanzieller Mythos, der an die Stelle der personalen Mythen tritt. Es steckt ein irrationaler Gehalt in der scheinbar so einfachen Theorie von den quattuor humores, den vier Körpersäften. Überdies hat die schwarze Galle nicht die konkrete Sinnfälligkeit des Blutes, des Schleims und der gelben Galle. Auch wenn man in der Batike geglaubt hat, sie in der von verdautem Blut herrührenden schwärzlichen Färbung von Körperausscheidungen oder Erbrochenem zu erkennen, ist ihre Existenz mehr erträumt als beobachtet: Ihre körperlichen Eigenschaften und ihre seelischen Auswirkungen sind ein Postulat der Imagination, die die Attribute feindlicher Gottheiten auf die Materie überträgt. Nun ist es nicht mehr die nächtliche Erinnye, sondern immer die Schwärze, nicht mehr der Gott, sondern immer das Unwiderstehliche, nicht mehr die lähmende Umklammerung des Dämons, sondern der träge Leim, der zähflüssig kalte Teer, der alle Bahnen des Organismus verstopft und den Strom der Lebensgeister hemmt. Man ist nicht mehr vom Übernatürlichen besessen, sondern wird von einer materiellen Substanz des eigenen Inneren blockiert; der göttliche Parasitismus wird durch einen humoralen Parasitismus ersetzt: Etwas in uns wendet sich gegen uns. An die Stelle des Exorzismus treten die prosaischen Methoden der Purgation. Man vertreibt keine Materie, wie man einen Dämon vertreibt. Aber während das Blut, der Schleim und die gelbe Galle sich sichtbar ergießen und ohne allzu große Schwierigkeiten ausgeschieden werden, findet die schwarze Galle, dieser in sich gefangene, verstockte Humor, kaum einen Abfluss. Ihren sitz hat sie in der Milz, aber es gibt kein Ausscheidungsorgan, durch das sie nach außen treten könnte. Sie ist das Bild einer erzwingenden Innerlichkeit, für gewöhnliche Arzneien nicht erreichbar: Will man sich nicht darauf beschränken, sie durch verdünnende Heilmittel mildern zu wollen, vermögen nur gefährliche Reizmittel, wie Nieswurz auf sie einzuwirken und sie in Bewegung zu setzen…

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Trauer und Melancholie I Tinte und Blut Francisco Villarroel Fuentealba → 196

JEAN STAROBINSKI


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winter‘s day sound fotografie julija kluseviciute → 196

Die Imagination, der dieser schwarze Körpersaft seine Existenz verdankt, macht ihn zu einem inneren Styx, zu seinem »Scheidewasser«, dessen Aggressivität sich bereits in den unheilvollen Auswirkungen der Dünste zeigt, die von ihm ausgehen. Schon seine bloßen Ausdünstungen sind in der Lage, unsere Ideen und unsere Umgebung zu verdünsten. Die dunkel getönte Brille befindet sich hinter dem Auge. In der Galle erkennen wir leicht den »stymphalisierten« Tümpel wieder, das mit »substanzieller Finsternis« vermischte Wasser, von dem Gaston Bachelard erzählt: »Diese Stymphalisierung ist meiner Überzeugung nach keine leere Metapher. Sie entspricht einem besonderen Zug der melancholischen Einbildungskraft. Diese nächtlichen Eindrücke haben, wie man einsehen muss, eine eigene Weise sich zusammenzufügen, zu vermehren und zu verschlimmern.Das mit Nacht vermischte Wasser ist ein altes Schuldgefühl, das nicht schlafen will« Wenn die Ärzte später das Delirium als Wallung der schwarzen Galle deuten, beweisen sie ihr Bestreben, den Bereich der natürlichen Ursachen tunlichst nicht zu verlassen. Doch sie werde auch dann noch unbewusst den trüben Zonen des Mythos verhaftet sein, und die Erinnerung an die nächsten Phantasmagorien wird ihre unfechtbar geglaubte Argumentation kontaminieren.

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STILLSTAND UND BEWEGUNG OLIWIA KOHNKE

»Ich versuche immer Emotionen in meinen Arbeiten darzustellen. Die Stimmung und die Gefühle des Moments, die ich selber empfinde. Meine Arbeit ist inspiriert von Melancholie, aber auch von dem Leben selber, der Einsamkeit, dem Dahinschwinden und der Depression.«

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stillstand und bewegung analoge und digital e fotografie oliwia kohnke → 196


»There is nothing you should see.«

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MONDNACHT Joseph von Eichendorff

Es war, als hätt’ der Himmel Die Erde still geküßt, Dass sie im Blütenschimmer Von ihm nun träumen müsst‘. Die Luft ging durch die Felder, Die Ähren wogten sacht, Es rauschten leis’ die Wälder, So sternklar war die Nacht. Und meine Seele spannte Weit ihre Flügel aus, Flog durch die stillen Lande, Als flöge sie nach Haus.

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MELENCOLIA I DÜRER UND SEINE NACHFOLGER

Die folgenden Bemerkungen skizzieren zunächst eine neue Deutung von Dürers Kupferstich Melencolia Als Gegenprobe wird dann im zweiten Teil gezeigt, wie sich die reiche Wirkungsgeschichte des Dürer‘schen Melancholiekupferstiches zu eben jener neuen Deutung verhält, in der wir den von Dürer intendierten Bildsinn zu erkennen glauben. Dies zielt keineswegs auf eine Beurteilung, wie gut oder wie schlecht ein jeweiliger Künstler das von Dürer gemeinte verstanden hat. Vielmehr soll deutlich werden, wie sehr Dürers mutmaßliche Intentionen seines Blattes noch dessen Nachleben bestimmten, wie sehr sich dieses anscheinend uferlose Nachleben von Dürer her strukturieren lässt. Das Ergebnis vorwegnehmend, lässt sich sagen, dass im Nachwirken des Dürerblattes als Partielles in Vereinzelung fortwirkt, was Dürer sich als Ganzes dachte.

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DÜRERS DENKBILD

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Durch seine in klassischer Capitalis geschriebene Inschrift »MELENCOLIA I« gibt sich Dürers Kupferstich, 1514 datiert, dem Betrachter unschwer als Darstellung des melancholischen Temperamentes zu erkennen. Die geflügelte Personifikation dieses Temperamentes sitzt zur Nachtzeit oder doch bei merklicher Dunkelheit im Freien auf einer steinernen Terrasse vor einem fensterlosen Gebäude auf der rechten Seite. Ihr Sitzplatz liegt hoch über einer weiten Küstenlandschaft, über der ein Komet und zugleich ein Regenbogen ein geheimnisvolles Zwielicht verbreiten. Umgeben von einer verwirrenden Vielfalt von Gerätschaften, wird die Melancholiefigur in ihrer Nachteinsamkeit von einem geflügelten kleinen Kind auf einem Mühlstein, sowie einem Hund begleitet, der am Boden zusammengerollt eingeschlafen ist. Ebenfalls am Boden, auf der mehrfach abgetreppten steinernen Terrasse sitzend, hat die von rechts vorne beleuchtete Melancholiefigur, deren lange helle Haare ein Blätterkranz schmückt, ihren Kopf in der zur Faust geballten linken Hand aufgestützt. Den linken Arm stützt das linke Knie, während der rechte Arm auf einem geschlossenen Buch im Schoß der Melancholiefigur ruht. Mit der rechten Hand hält sie dort einen großen Zirkel, mit dem sie jedoch nichts misst. Aus dem vom Licht des Vordergrundes abgewandten, tief verschatteten Gesicht scheint der Blick der Frau vielmehr über die unbegrenzte Wasserfläche in die Ferne nach links oben gerichtet.


Ganz ihrer Meditation hingegeben, erweckt Dürers Melancholiefigur, obzwar geflügelt, durch ihre massigen Körperformen, wie durch ihr stoffreiches Kleid den Eindruck eines schweren, unbeweglichen, aber auch unbeteiligten Dasitzens. Dieser Eindruck wird verstärkt durch den Schlüssel und den Beutel, die beide mit einem Riemen am Gürtel der Melancholiefigur befestigt, an ihrem einfachen, nur unterhalb der Taille verzierten Kleid anscheinend achtlos herab geglitten sind. Völlig unbeachtet von der Melancholiefigur bleiben auch ihre beiden Begleiter, der Hund vor ihr am Boden und das geflügelte Kind neben ihr. Dieses sitzt mit gesenktem Kopf auf einem Mühlstein, über den eine Decke gebreitet ist, und kritzelt emsig mit einem Griffel auf seiner Tafel. Ebenso wenig Aufmerksamkeit wie dem Kind und dem Hund schenkt die Melancholiefigur aber auch all den Handwerksgeräten und deren Erzeugnissen, die in bedrängender Fülle um sie herum verstreut sind.

Ganz links, von der Wasserfläche hinterfangen, sieht man am äußersten Rand der Terrasse einen Feuertopf, auf dem ein Gefäß erhitzt wird. Links daneben liegt die dazugehörende Feuerzange, unmittelbar davor, auf einer etwas niedrigeren Stufe, ein Hammer. Rechts von ihm steht ein kunstvoll behauener, irregulär geometrischer Körper aus Stein, der den Ausblick auf die Landschaft verstellt. Vor dem geometrischen Körper, wieder auf einer niedrigeren Stufe der Terrasse, befindet sich links neben dem schlafenden Hund ein rundes Tintenfass mit einem vom Bildrand stark überschnittenen Schreibzeugbehälter. Davor liegen eine Kugel, Modellholz, Hobel, Zange, Säge, Lineal, vier Nägel und ganz rechts ein Blasebalg, von dem allein die Spitze zu sehen ist, während der eigentliche Blasebalg vom Rock der Melancholiefigur bedeckt wird.

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Aber nicht nur vor und unterhalb der Melancholiefigur, sondern auch neben und über ihr befinden sich Gerätschaften. So lehnt links direkt neben ihr der zuweilen auch als Schleifstein angesprochene Mühlstein gegen das Gebäude. Genau über dem Putto auf dem Mühlstein sind an diesem Gebäude eine ausbalancierte Balkenwaage und über der Melancholiefigur eine etwa halb abgelaufene Sanduhr in einem kostbaren Gehäuse mit bekrönender Sonnenuhr, sowie eine Zugglocke befestigt. Unterhalb der Glocke ist ein vierzeiliges Zahlenquadrat in die Wand eingelassen. Die Architektur, fensterlos und karg, wird nur durch ein an der Vorderseite genau am oberen Bildrand entlanglaufendes Gesims gegliedert. Gegen die dem Betrachter abgewandte Rückseite des turmartigen Gebäudes lehnt eine schräg gestellte Leiter, von der sieben Sprossen sichtbar sind. Die Leiter führt hinter der Terrasse aus unbestimmter Tiefe zur Architektur herauf und reicht an dieser zu einer ebenso wenig einsehbaren Höhe empor, da ihr oberes Ende, ebenso wie das Gebäude selbst, vom oberen Bildrand abgeschnitten wird.

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Zwischen den Sprossen der Leiter blickt man auf die in großer Tiefe liegende Küstenlandschaft mit Bäumen, Häusern und Türmen unterhalb einer felsigen Steilküste. Gegen das Wasser hin sind der Ansiedlung baumbestandene Landzungen vorgelagert. Zwischen ihnen stehen einige Bäume und Büsche im Wasser, Anzeichen für eine Überschwemmung. Etwas dahinter, von der Leiter zum Teil verdeckt, liegen mehrere Schiffe nahe vor der Küste. Auf der Horizontlinie der Wasserfläche glaubt man in einiger Entfernung ein weiteres Schiff mit Segeln ausmachen zu können. Ansonsten liegt die nach links hin unbegrenzte Wasserfläche völlig leer und ruhig da unter dem silbrigen Schein eines Himmels, der auffällig von der doppelten Lichterscheinung eines Kometen und eines Regenbogens - wohl ein Mondregenbogen - beherrscht wird. Von diesen Lichtphänomenen ebenso abgewandt, wie von jener hell strahlenden Lichtquelle, die rechts vor dem Bild gedacht werden muss, flattert links oben am Himmel ein fledermausartiges Tier durch die Luft. Diesem, mit einem drachenartigen Schwanz und seinem aufgerissenen Maul höchst gespenstisch wirkenden Tier, ist in seinen ausgebreiteten Fledermausflügeln der Titulus »MELENCOLIA I« eingeschrieben. Monogrammiert und datiert hat Dürer den Kupferstich rechts unten an der steinernen Stufe, auf der seine Melancholiefigur sitzt.


DEUTUNGEN: DÜRER, BURTON, GIEHLOW, WARBURG, PANOFSKY UND SAXL

Von Dürer selbst gibt es außer dem Titulus nur eine einzige schriftliche Äußerung zur Deutung seines Melancholiekupferstiches. Auf einer Studie zum Putto hat Dürer handschriftlich vermerkt: »schlüssel, pewtell, betewt, gewalt reichtum«. Schlüssel und Beutel, die geläufigen Attribute damaliger Nürnberger Hausfrauentracht, werden damit von Dürer selbst allegorisch als Sinnbilder von Gewalt und Reichtum erklärt. Strittig bleibt freilich, ob der Melancholiefigur diese Eigenschaften zugedacht werden können oder ob, da Schlüssel und Beutel anscheinend unordentlich herabhängen, ihr diese von Dürer erwähnten Eigenschaften gerade fehlen.

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In Robert Burtons Anatomy Melancholy von 1621 wird das unordentliche Äußere der Melancholiefigur betont. Zugleich aber ist Dürers Blatt für Burton eine enzyklopädisch umfassende Darstellung sämtlicher Aspekte des melancholischen Temperamentes, all seiner intellektuellen Begabungen wie seelischen Belastungen: »Und wie Albertus Dürer die Melancholie malt, wie eine traurige Frau, die auf ihrem Arm lehnt, mit starrem Blick, vernachlässigter Kleidung & cetera, wird darum von einigen für stolz, mild, betrunken oder halbirr gehalten [...] und doch von großer Tiefe, hervorragendem Verständnis, besonnen, weise & geistreich.« Burtons Überzeugung, dass Dürers Melancholieblatt völlig Widersprüchliches zu einem Bild zusammenfasse, teilte unter den Kunsthistorikern auch Karl Giehlow. Für Giehlow war bei Dürer vereint, was vom jeweiligen Blickpunkt späterer Betrachter wieder getrennt wurde.

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Was aber Giehlow bei Dürer als bloße Zusammenschau melancholischer Eigenschaften konstatierte, hat dann Aby Warburg in eine Abfolge zu bringen versucht. Dürers Kupferstich, so Warburg, zeige die Personifikation des melancholischen Temperamentes nach ihrem erfolgreichen Ringen mit den dunklen melancholischen Mächten, also Wahnsinn, Trübsal, Trägheit und Trauer. All diese melancholischen Belastungen habe Dürers sinnende Frau durch die Nutzung der besonderen Begabung des Melancholikers zu den Wissenschaften und Künsten siegreich überwunden. Dürers Blatt ist für Warburg ein Trostblatt, weil es den Sieg des melancholischen Geistes über die ihn ständig bedrohende melancholische Verdüsterung anzeige. Dieser Deutung mochten Warburgs Schüler nicht folgen. Zwar nahmen Erwin Panofsky und Fritz Saxl ebenfalls Giehlows Gedanken vom Widersprüchlichen auf Dürers Blatt auf, gaben ihm auch eine ikonografische Bestätigung, indem sie das Blatt als eine Synthese aus dem traditionellen Faulheitstypus der Todsünde acedia und dem typus geometriae aus dem Zyklus der sieben freien Künste bestimmten. Für diese Nobilitierung melancholischer Trägheit wird schon bei Giehlow die Melancholieauffassung von Aristoteles und Marsilio Ficino verantwortlich gemacht, wonach das melancholische Temperament die Voraussetzung aller großen geistigen Begabung ist. Doch Panofsky und Saxl gehen nun noch einen Schritt weiter und sehen dieses melancholische Genie bei Dürer am Ende seines Wissensstrebens angelangt, resigniert durch die Einsicht seiner geistigen Beschränktheit gegenüber dem Göttlichen und deshalb wieder in melancholische Verzweiflung und Dumpfheit zurückgefallen. Explizit gegen Warburg gerichtet bedeutet dies


mit den Worten von Panofsky und Saxl, dass der Melancholiestich »vielleicht noch eher als ›Warnblatt‹ denn gerade als ›Trostblatt‹ zu bezeichnen« sei. Entsprechend beziehen Panofsky und später wieder Klibansky, Panofsky und Saxl den Titulus Melencolia I auf die unterste Stufe eines dreiteiligen Systems saturnisch inspirierter Melancholie, in Agrippa von Nettesheims um 1510 bereits in Handschriften zirkulierender Occulta philosophia. Dürers Kupferstich Melencolia I zeige jenen Zustand, wenn die zu Genialem befähigende melancholische Inspiration in das unterste Seelenvermögen des Menschen, in seine imagination dringt. Dieser Mensch leistet nach Agrippa Hervorragendes als Handwerker, Maler und Architekt, kann aber nicht zu jenen göttlichen Geheimnissen vordringen, die der melancholisch inspirierten Ratio oder gar dem melancholischen mens, den höheren Seelenvermögen des Menschen, offen stehen. Gegenüber diesen höheren Stufen melancholischer Begabung, bei Agrippa den Dichtern, Philosophen und Propheten vorbehalten, zeige Dürers Kupferstich Melencolia I das melancholische Genie auf unterster Stufe, untätig, gelähmt und in Trübsinn über seine Wissensohnmacht.

Unbefriedigend an der Deutung von Warburgs Schülern bleibt die ikonografische Bestimmung der wissenschaftlichen Tätigkeit der Dürer‘schen Melancholiefigur. Die allegorische Bildersprache kennt mit Einschränkung keine geflügelte Personifikation der Geometrie. Während aber der Erdmesskunst sinnvollerweise die Flügel fehlen, ist die dem Himmel zugewandte Sternmesskunst seit alters geflügelt. Als Astronomie und damit als höchste der mathematischen Künste bestimmt, ist Dürers Melancholiefigur mit den ranghöchsten sichtbaren Gegenständen beschäftigt. Ihr Tätigkeitsfeld liegt mithin, auch nach Agrippas Melancholiesystem, weit über die imaginatio hinaus im Bereich der Ratio, den bereits ihre frühere Bestimmung als Geometrie ihr nicht hätte versagen dürfen. Das heißt, Panofskys Erklärung des Titulus des Dürer‘schen Melancholiekupferstiches liegt im Widerspruch zur eigenen Deutung. Wo Geometrie als rationale Wissenschaft getrieben wird, kann keineswegs die unterste Melancholiestufe nach Agrippa dargestellt sein. Dies gilt noch weit mehr für die Astronomie als der würdigsten Kunst der Mathematik, deren Erkenntnisvermögen bis zu den höchsten Himmelsphänomenen emporreicht.

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Umgeben von einer Vielzahl von Geräten sitzt Dürers Melancholiefigur, wie beschrieben, bei geheimnisvoller Dunkelheit hoch über einer weiten Küstenlandschaft am Boden, den Kopf in der zur Faust geballten Linken aufgestützt, in der Rechten einen Zirkel über einem geschlossenen Buch, und blickt unbestimmt nach links oben in den Himmelsbereich. Dieser wird außer von einem Mondregenbogen auffällig durch die hellen Strahlen eines Kometen beherrscht. Kometen aber waren, trotz der gerade in Nürnberg von Regiomontanus unternommenen Versuche, für die Dürerzeit in ihrem Lauf noch nicht exakt berechenbar. Sie wurden deshalb als »stellas errantes«, als Irrsterne bezeichnet. Dürers Melancholiefigur meditiert also angesichts eines nach dem Stand damaliger Forschung für sie unlösbaren Problems. Sie ist an das Ende des damaligen menschlichen Wissens gelangt.

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Keineswegs aber hat sich der Dürer‘schen Melancholiefigur damit eine faustische Verzweiflung über die Ohnmacht des menschlichen Wissens bemächtigt, wie ihr dies eine psychologisch einfühlsame Deutung glaubt ansehen zu dürfen. Im allegorisch genau auskalkulierten Bildplan seiner Darstellung, deutlich an der genauen Halbierung des Blattes durch die linke Gebäudekante, hat nämlich Dürer seine Melancholiefigur auf der rechten Seite platziert, die durch die feste turmartige Architektur und die Verweise auf Vergänglichkeit in der Sanduhr und Glocke als die Tugendseite ausgewiesen ist. Die linke Bildhälfte vereint dagegen mit dem Blick auf das gefährliche, weil wandelbare Meer, mit dem Hinweis auf den bedrohlichen Absturz in die Tiefe durch die von unten heraufführende Leiter wie im Motiv der instabilen Kugel sowie durch den auf der Oberfläche des Polyeders vexierten Totenkopfes, sämtliche traditionellen Sinnbilder der unbeständigen Fortuna. Dürer hat also, überlagert durch eine stimmungsvolle Einkleidung, in seinem Melancholiekupferstich die in der humanistischen Allegorik geläufige Virtus-Fortuna-Antithetik aufgenommen. Als rigide Kontrastierung von Fortuna links und ebenfalls kosmoskontemplierender Sapientia rechts findet sich diese Antithese kurz zuvor auf dem Titelholzschnitt des Iri erschienenen über »de sapiente des Carolus Bovillus«. Dabei ist die Vertreterin der Weisheit, wie Dürers Melancholiefigur, durch ihren festen Sitz auf einer stereometrisch zugehauenen Stein bank ausgezeichnet, während die unbeständige Fortuna oder ihre Adepten zum Zeichen ihrer mangelnden Weisheit wie schon der Putto bei Dürer als offensichtliche Gegenfigur zur Melancholiegestalt auf höchst insta-


bilen Gegenständen - Kugel oder Rad - Platz genommen haben. Das Besondere des Dürerstiches innerhalb dieser reich entwickelten Bildtradition ist nun, dass seine Protagonisten an beiden Seiten dieses Virtus-Fortuna-Gegensatzes teilhaben. So wie der kindlich kritzelnde Putto als noch unentschiedener und unfertiger Charakter genau auf der Grenze zwischen den beiden Bereichen platziert ist, reicht auch Dürers Melancholiefigur bei ihrer Himmelskontemplation noch in den Fortunabereich hinüber. In ambivalenten Bildmotiven wie dem Gestus des aufgestützten Kopfes, ihrem ruhigen und anscheinend untätigen Dasitzens, wie mit ihren am Boden ausgebreiteten, aber nicht benützten Gerätschaften, zeigt Dürer an seiner Melancholiefigur einerseits einen vollendeten Zustand, den sie andererseits im Bereich des Irdischen, dem sie ja noch unverändert angehört, immer neu erlangen und gegen alle an ihr selbst noch ablesbaren melancholischen Anfechtungen der Trägheit und des Trübsinnes bewahren muss. Der von Dürer intendierte Sinn seines Melancholiekupferstiches ist demnach der eines Tugendblattes. In seiner Tugendaufforderung an den Melancholiker, vermöge seines ausgezeichneten Geistes sich gegen alle Widerstände zur göttlichen Vollkommenheit emporzubilden, ist das Blatt Trostblatt und Warnblatt zugleich. In der hier skizzierten Deutung sind also die gegensätzlichen Positionen Warburgs und seiner Schüler im Gedanken einer beständigen Tugendforderung miteinander zum Ausgleich gebracht.

In der durchgehenden Ambivalenz seiner Bildmotive und der darin ausgesprochenen Tugendaufforderung entspricht Dürers Melancholiekupferstich jener in Pico della Mirandolas berühmter Oratio de dignitate hominis beispielhaft formulierten humanistischen Anthropologie von der besonderen Würde des Menschen. Danach hat der Mensch als Mikrokosmos keine besondere Natur, sondern an allen Kosmosstufen Anteil. Es liegt deshalb an ihm, was er sein will. Folgt er seinen Trieben, so wird er – wie ebenfalls im Liber de sapientevon Bovillus bereits illustriert zum Tier, zur Pflanze, zum Stein degenerieren. Folgt er dagegen seinem Intellekt, so wird er zum wirklichen Menschen, zu einem gottebenbildlichen Wesen. Die Würde des Menschen besteht also nach humanistischer Auffassung darin, dass der Mensch, gleichsam als Künstler seiner selbst, durch den tugendhaften Gebrauch seiner geistigen Gaben, durch die vom richtigen Maß geleiteten Künste und Wissenschaften, sich als wirklicher Mensch und damit als Ebenbild Gottes selbst erst herstellt. Alles ist dem Menschen gegeben, damit er sich durch den richtigen, das heißt maßorientierten Gebrauch seiner Kunst als Liebhaber der göttlichen Weisheit vollendet.

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Welche der so vielfältigen Gaben ihres ebenso belasteten wie ausgezeichneten Temperamentes Dürers Melancholiefigur für sich entwickelt hat und entwickeln sollte, wird bei Dürer in ihrer Engelsgestalt und an ihrer festen Tugendposition eindeutig. Im Mikro-Makrokosmos-Zusammenhang begründet, korrespondiert ihrer Selbstvervollkommnung zur tugendhaften engelsgleichen Weisheit eine entsprechende Weltvervollkommnung, angezeigt in den zahlreichen Werken ihrer durchaus auf Maß, Zahl und Gewicht beruhenden Künste auf der Fortunaseite. Dort ist sie als tugendhafte Liebhaberin der Weisheit ferner siegreich den Lastern entgegengetreten. Im kritzelnden Putto hat sie die kindliche Dummheit zur Schule gesetzt, im gezähmten Hund den Neid gebändigt, das verderbliche Feuer nutzbar und das gefährliche Meer befahrbar gemacht. Als Schöpferin ihrer selbst und ihrer Umwelt residiert sie, ganz wie in Picos Oratio gefordert und in Bovillus‘ Liber de sapiente wiederholt, als deus in terris mit umfassender Verfügungsgewalt, worauf Dürer nach eigenen Worten im Schlüssel hingewiesen hat.

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Menschliche Erkenntnis kann jedoch, wie Dürer in seiner Kunsttheorie stets betont und auf seinem Melancholiekupferstich im rätselhaften Kometen angezeigt hat, nie zur Wahrheit vordringen, die ein Vorrecht Gottes ist. Mithilfe seiner unendlichen Schöpferqualitäten, denen auch bei Dürer – deutlich in der unendlichen Meereslandschaft seines Melancholieblattes - wie schon bei Cusanus eine unendliche göttliche Schöpfung entspricht, mithilfe seiner unendlichen Schöpferqualitäten vermag sich der Mensch aber durch stets verbesserungsfähige Hypothesen der Wahrheit immer mehr anzunähern. Solche zur Dürerzeit ausschließlich von der Astronomie entwickelten mathematischen Hypothesen der Welterklärung müssen sich jedoch stets wieder auf Beobachtung stützen. Andernfalls sind sie haltlose Spekulation, auf deren gefährliche Folgen Dürer auf der Fortunaseite seines Melancholiekupferstiches in der Tradition der Thaleslegende im stets drohenden Sturz in die Tiefe hingewiesen hat. Eben dieses, die durchgängige Beachtung des Maßes und die ständige Notwendigkeit des Messens wie der sorgfältigen Beobachtung hat Dürer auch in seiner Kunsttheorie als den einzig verlässlichen Grund aller Kunst angemahnt. Und ebenso gilt ihm das richtige Maß als Ausgleich zwischen den Extremen als Inbegriff menschlicher Tugend. Entsprechend formuliert Dürer in einem 1503 datierten Entwurf zu seinem Lehrbuch der Malerei:


»das dy mass in allen Dingen, sittlichen und natürlichen, das pest sey.«

Diese Begründung des Wissens in der Beobachtung und in der Mathematik setzt jedoch allem menschlichen Wissen eine unüberwindliche Grenze im Metaphysischen. Diese Beschränkung ist für Dürer kein Grund der Verzweiflung, sondern die Erkenntnis des Nichtwissens gilt ihm als höchstes Wissen. Das Nichtwissen oder das Nichtwissen-Wollen des Nichtwissens hat Dürer im Titulus seines Melancholiekupferstiches in der entschiedenen Abwendung des fledermausgeflügelten Nachttieres vom göttlichen Licht angezeigt. Im positiven Gegensatz dazu schaut Dürers engelsgeflügelte Melancholiefigur mit größter Konzentration auf die Himmelsphänomene, die ihr rätselhaft bleiben müssen. Im Wissen von seinem Nichtwissen als der Vollendung des Wissens ist der Mensch, wie bei Cusanus und Bovillus so auch bei Dürer, im höchsten Maße zur Einheit mit dem Göttlichen gelangt. Deutlich bezeugt dies die Eins im Titulus des Dürer‘schen Melancholiekupferstiches. Als Prinzip des Mathematischen bezeichnet die Eins seit alters den Grund alles Wissens wie dessen Vollendung in Gott als der Einheit hinter aller Vielfalt. In seinem Liber de sapiente hat Bovillus das Attribut der Einheit zum Inbegriff und Kennzeichen des Weisen gemacht. Nur der Weise, der alle seine ihm verliehenen Gaben ergriffen und genutzt hat, ist mit sich selbst eins und deshalb gottesebenbildlich.

Auf solche Einheit des Menschen mit Gott verweist auf Dürers Melancholiekupferstich auch der Regenbogen als traditionelles Sinnbild der Versöhnung Gottes mit den Menschen. Auf diese Einheit verweist ferner die christiformitas der Dürer‘schen Melancholiefigur. Denn mit aufgestütztem Kopf sitzt sie zwischen ihren Geräten, wie Christus meditierend zwischen seinen Passionsgeräten, eine alte, auch von Dürer schon früher zitierte Bildtradition. Diese seit seinem Münchner Selbstbildnis immer wieder thematisierte Vorbildlichkeit Christi gründet bei Dürer in der humanistischen Gleichsetzung Christi mit der Weisheit Gottes. So nur, durch ein alles menschliche Wissen und alle menschlichen Künste übersteigendes Liebesstreben nach der göttlichen Weisheit, lässt sich für Dürer in der Nachfolge der Kreuzespassion Christi zur göttlichen Weisheit aufsteigen. Diese liegt, wie Dürers Melancholiekupferstich im abgeschnittenen Turm und Leiteraufstieg deutlich zeigt, jenseits des Sichtbaren. Und dort nur wird jener durch Maß und Mäßigkeit erworbene status perjeetus der Melancholiefigur, der im Leben noch stets von unberechenbaren Wechselfällen wie von kosmischen Katastrophen - Komet und Überschwemmung - erschüttert wird, in Ewigkeit andauern. Dort wird sie als rastlose Liebhaberin der göttlichen Weisheit endlich mit ihrem göttlichen Vorbild eins sein.

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DÜRERS DREI MEISTERSTICHE

Was Dürer dem Melancholiker zugesprochen hat, dass er nämlich trotz der vielfältigen Gefährdungen seiner melancholischen Disposition durch den rechten Gebrauch der ihm eigenen Begabungen in den Künsten und Wissenschaften zu einem gottebenbildlichen Wesen sich emporbilden kann, wenn er dies nur will, das konnte Dürer nach der humanistischen Überzeugung von der Würde eines jeden Menschen auch den anderen Temperamenten nicht verweigern. Es erscheint deshalb nicht nur naheliegend, sondern geradezu notwendig, alle drei formatgleichen und gleichzeitig entstandenen Meisterstiche Dürers als Temperamentenbild aufzufassen. Ritter, Tod und Teufel , von Panofsky als Inbegriff des christlichen Ritters gedeutet, zeigt alle Gefährdungen und Gaben des streitbaren Cholerikers.

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Dürers Hieronymus im Gehäus ergibt im Bild des gelehrten Theologen, der weitergehend noch als die Melancholiefigur von der Welt abgeschieden ist, den positiven Typus des Phlegmatikers. Als dessen beste Eigenschaft gilt in den populären Temperamentendarstellungen seine Frömmigkeit. Entsprechend wird das phlegmatische Temperament dort auch als Kleriker dargestellt. Zusammen mit dem Putto der Melancholiefigur als sanguinem Vertreter eines nur kurz andauernden Zustandes glücklicher Jugend, zeigen Dürers drei Meisterstiche von 1513/14 somit vier Personen, die sehr wohl temperamentisch deutlich differenziert sind. Alle, selbst bereits der kritzelnde Putto unter der Balkenwaage, streben nach Tugend, Weisheit und Frömmigkeit, um so den Tod und den Teufel zu überwinden. Das gilt für den bewaffneten Reiter, als christlicher Ritter ein Muster tugendhafter Stärke in der Nachfolge Christi, ebenso wie für den Heiligen in seiner Studierstube, der auf seinem Arbeitstisch im Kruzifix stets das Vorbild der Passion Christi vor Augen hat. Sie alle betreiben bei Dürer ganz im Sinne humanistischen Weisheitsstrebens mit sichtbarer Energie und Entschiedenheit eine Philosophia Christi, die in der Wiedergewinnung der Einheit mit Gott und in der Rückkehr zur göttlichen Heimat ihr Ziel hat. Im Ablauf der Lebensalter, die sich ebenfalls in den vier Personen der drei Meisterstiche dargestellt finden, ist Hieronymus mit Lichtaureole als frommer Phlegmaticus bereits zu Lebzeiten anschaulich auf seinem gelehrten und frommen Tugendweg zu einem Heiligen geworden. Zu einem wirklich vierteiligen Temperamentenzyklus werden Dürers drei Meisterstiche durch den frü-

heren, ebenfalls nahezu formatgleichen Adam und Eva-Kupferstich von 1504. Das ideale erste Menschenpaar hat im Paradies noch jene vollkommene Einheit, die durch den Sündenfall dann in die vier Temperamente zerfällt, die Dürer – wie von Panofsky gezeigt – in den Tieren zu Füßen von Adam und Eva bereits vorgestellt sind: Der Hase mit seinem sprichwörtlichen Triebleben steht für die tierische Entartung des sanguinen Temperamentes, die Katze, welche die Maus töten wird, bezeichnet das cholerische Temperament, der Elch steht für Melancholie und der liegende Ochse bezeichnet das Phlegma. Adam und Eva als vollkommenes Liebespaar im Paradies entsprechen hingegen dem Idealbild des sanguinen Temperamentes, das als das glückhafteste nach dem Sündenfall nur noch kurzfristig den unschuldigen Kindern vorbehalten ist.

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Was Dürer auf seinem Melancholiekupferstich als Summe seiner humanistischen Überzeugungen zur Moral, zur Kunst und Wissenschaft sowie zur Frömmigkeit in einem Bildnis des melancholischen Temperamentes mit all seinen Begabungen und Gefährdungen zusammengefasst hat, gleichsam in einem melancholischen Denkbild über Würde, Glanz und Elend des menschlichen Denkens, das hat Dürer als Antwort auf seinem Adam und Eva-Kupferstich, als Antwort auf den Sündenfall und seine Folgen in seinen drei Meisterstichen zu einem humanistischen Bildungsprogramm für alle Temperamente ausgebaut. Auf seinen drei Meisterstichen zeigt Dürer als Abfolge der Lebensalter die lebenslange Verpflichtung zu Tugend, Weisheit und Frömmigkeit von der Kindheit bis ins hohe Greisenalter, vom emsig kritzelnden Putto über den furchtlosen Ritter und die zum höchsten Endpunkt menschlichen Wissens vorgedrungene Melancholiefigur bis hin zur vorbildlichen Frömmigkeit des hochbetagten Heiligen im weltabgeschiedenen Frieden seiner Studierstube. Dürers drei Meisterstiche sind somit Programmbilder. Sie bilden eine Enzyklopädie humanistischer Bildungsideale in drei Meisterwerken der Kunst.

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Dürers Melancholiekupferstich ist offenkundig eine ebenso stimmungshafte wie ausgeklügelte Bildsumme der philosophischen Grundüberzeugungen des europäischen Humanismus. Auffällig ist dabei, wie sehr Dürers allegorische Bildersprache geläufigen Traditionen folgt, die sich kurz vorher bereits in den Holzschnitten des 1510/11 in Paris und Amiens erschienenen Liber de sapientevon Carolus Bovillus dargestellt finden. Ernst Cassirer hat das Liber de sapiente des französischen Klerikers, Mathematikers und Humanisten Carolus Bovillus (Charles de Bovelles, 1479-1553) als »vielleicht die merkwürdigste und charakteristischste Schöpfung der Renaissance-Philosophie« bezeichnet.


Was Dürers Melancholiekupferstich und Bovillus‘ Liber de sapiente erstaunlich verbindet, ist die Systematik, mit der Grundpositionen des humanistischen Denkens in vergleichbarer Anschaulichkeit auf den Begriff gebracht sind. Vereint sind hier Vorstellungen, die im Virtus-Fortuna-Gegensatz auf Petrarca, im Prinzip der Docta ignorantia auf Cusanus und in der Betonung des Menschen als willensfreier prometheischer Schöpfer seiner selbst auf das Dignitas hominis-Konzept des Pico della Mirandola zurückgehen. All diese verschiedenen Denkmotive vereint 1510/11 auch schon Bovillus‘ Liber de sapiente. Außer der inhaltlichen Übereinstimmung stellt dieses zudem im Titelblatt wie in den Holzschnittschemata zur Veranschaulichung dieser humanistischen Gedankenwelt bereits jene optischen Grundmuster bereit, deren sich auch Dürer auf seinem Melancholiekupferstich bediente.

Dürers Kenntnis des Liber de sapiente, in Nürnberg wie auch in anderen deutschen Bibliotheken in zahlreichen Exemplaren vorhanden, könnte im Kontext gesehen werden mit den besonders engen Kontakten zwischen französischen und deutschen Humanisten im Zusammenhang mit der langjährig geplanten Cusanusausgabe. Sein Interesse für Cusanus führte auch Bovillus 1503 zu ausgedehnten Bibliotheksreisen in die Schweiz und an den Oberrhein. Als Gemeinschaftswerk französischer und deutscher Humanisten ist diese Cusanusausgabe dann 1515 in Paris erschienen. Dürers Melancholiekupferstich, oft als das deutscheste Bild der Deutschen bezeichnet, könnte als Denkbild des europäischen Humanismus also sehr wohl und sehr direkt von Bildquellen des französischen Humanismus inspiriert sein.

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ODE TO MELANCHOLY ALEXANDRINA ANA

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Âťforests, mystery, eschatology, astrology, the earth, storms, mist, wind, rain, nature, the night sky, loneliness and sorrow.ÂŤ

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ode to melancholie fotografie alexandrina ana → p.104


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IN SPÄTEN JAHREN Betty Paoli

Mit jenen nicht, die mich umgeben, Verbring‘ ich diesen Rest von Leben, Nein! mit der Heimgegang‘nen Schaar. Mit ihnen, die in fernen Tagen Mich sah‘n in meiner Blüte ragen, Und deren Zeit die meine war! Beim Fest, im dicht gedrängten Saale, Im stillen Wald beim Mondesstrahle Verfolg‘ ich träumend ihre Spur; Und hier wie dort, auf allen Wegen Tritt mir vertraut ihr Bild entgegen, Nur reiner und verklärter nur! Und aus dem Mund der teuren Schemen Mein‘ ich die Frage zu vernehmen, Die mir im eig‘nen Herzen brennt: »Allein, allein auf dieser Erde, Was hoffst du wohl, daß dir noch werde? Was hält dich noch von uns getrennt?«

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SATURN HANS BALDUNG

Schwarze Kreide auf bräunlichem Papier. Die in schwarzer Kreide von Hans Ballung angefertigte Zeichnung zeigt den Kopf eines Mannes mit durchfurchten Zügen. Monogramm und Datum stammen ebenfalls von Ballung. Von späterer Hand mit Feder und Bister zugefügt wurde die Inschrift »SATVRNO – L« von dritter Hand ist mit Tinte die Zuordnung »Grien« vermerkt. Gewählt ist der Büstenauschnitt eines hageren alten Mannes, dessen langgezogenes, von Falten zerfurchtes Antlitz durch eine prominente Stirn und eine ausdrucksvolle Nase gekennzeichnet ist. Seine schmalen Lippen sind zusammengepresst. Die schräg liegenden, hellen Augen spiegeln eine misstrauische, alerte Gemütsverfassung , die durch die Verschalung der linken Gesichtshälfte unterstrichen wird. In Kontrast zu dem dürren, faltigen Schädel steht das ihnen umwehende feine, flaumige Haar. Ob es sich bei der Darstellung um ein Portrait nach der Natur oder eine Schöpfung des Künstlers handelt, ist ungewiss.

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ZUR PHÄNOMENOLOGIE UND THEORIE DER MELANCHOLIE WOLFRAM SCHMITT

I. PHÄNOMENOLOGIE Ich muß mit einer Enttäuschung beginnen: Was Melancholie ist, wissen auch die Psychiater nicht. Es gibt jedoch unter der Mehrzahl der Psychiater einen ungefähren Konsens darüber, was als Erscheinungsbild der Melancholie zu gelten habe. Es handelt sich hierbei um einen psychopathologischen Symptomenkomplex, ein Syndrom, besser um ein Kern- oder Achsensyndrom oder auch einen Idealtypus, den man als Melancholie oder auch zyklothyme Depression bzw. endogene Depression anzusprechen pflegt. Dieser Typus psychischer Abnormität, den man auch zu den affektiven Psychosen rechnet, ist auf der phänomenologisch-beschreibenden Ebene durch folgende Erscheinungen gekennzeichnet, die keineswegs stets vollständig ausgeprägt sein müssen: 1. Verstimmung 2. Vitalstörungen 3. Hemmung 4. Wahn 5. Suizidalität 6. körperliche Störungen

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Es besteht einmal zumeist eine Verstimmung im Sinne einer traurig gedrückten, auch mißmutigen oder ängstlich erregten, hoffnungslosen und verzweifelten Stimmungslage. Die Stimmung ist zugleich wenig moduliert bis monoton, schwingt im Rapport mit dem anderen nicht mit, man spricht von affektiver Einengung und verminderter affektiver Resonanz. Erlebnismäßig eng mit der Verstimmung verbunden und subjektiv oft damit zusammenfließend sind Veränderungen der Leibgefühle, die sog. Vitalstörungen, die die Stimmungslage oft im Sinne der »vitalen Traurigkeit« alterieren. Solche Vitalstörungen sind charakteristischerweise häufig Druckgefühle im Brustraum, Engegefühle im Hals sowie Druckgefühle im Kopf- und Bauchbereich oder auch ein allgemeines Schweregefühl der Gliedmaßen. Die Gefühlsstörungen können auch den Charakter von Schmerzen oder anderen Mißempfindungen annehmen. Ferner tritt als Vitalstörung auf eine Gefühlsentfremdung, die als »Gefühl der Gefühllosigkeit«, als Gefühl, sich nicht mehr freuen, aber auch nicht mehr traurig sein und nicht mehr weinen zu können, ja überhaupt keine Gefühle mehr zu haben, äußerst quälend erlebt wird. Diese Entfremdungserlebnisse gegenüber der eigenen Leibwahrnehmung können sich bis zu einem Schwinden des Realitätscharakters des eigenen Leibes, ja der eigenen Person steigern, zu sogenannten Depersonalisationserlebnissen. Die Kranken können dabei das Gefühl haben, daß sie eigentlich gar nicht mehr existieren. Die Unwirklichkeitsqualität der Wahrnehmung kann sich auch auf die Außenwelt erstrecken, sie wird eigenartig fremd, rückt


weiter weg und verliert ihre Gegenstands- und Körperlichkeitsqualität bis hin zur Leugnung ihrer Existenz. Man spricht hier von Derealisationserlebnissen. Verstimmung und Vitalstörung sind zumeist verbunden mit einer Hemmung des Antriebs, des Handelns und Denkens sowie der körperlichen Bewegungen. Man spricht von psychomotorischer Hemmung. Entschluß- und Entscheidungsfähigkeit sind beeinträchtigt, Arbeitskraft, Durchhaltevermögen, Interessen lassen nach. Auch im sozialen Bereich zeigt sich die Hemmung, das Auftreten wird unsicher, Kontakte belasten, Rückzug ist die Folge. Allgemeine Unsicherheit und Insuffizienzgefühle stellen sich ein. Ein sinnvolles, geplantes, ziel- und zukunftsgerichtetes Handeln ist nicht mehr möglich. Eng verbunden mit der Handlungshemmung ist die Denkhemmung: Das Denken wird langsam, erscheint blockiert, einfallsarm, unbeweglich, kreist grüblerisch um wenige Themen, das Sprechen wird wortkarg. Die Denkhemmung läßt sich auch als kognitive Störung beschreiben: Die Wahrnehmung scheint wie die Auffassung, die Aufmerksamkeit, die Konzentrations- und Merkfähigkeit eingeengt und erschwert. Zwangsphänomene wie Zwangsdenken oder Zwangshandlungen können auf dem Boden der Hemmung auftauchen. Die körperlichen Bewegungen sind oft langsam, schleppend, Gestik und Mimik sind gebunden, eingeengt, ausdrucksarm, die Blickzuwendung ist reduziert. Ist die melancholische Verfassung deutlich durch die psychomotorische Hemmung geprägt, kann man dieses Bild als gehemmte Depression (Melancholie) ansprechen. Die Hemmung kann zuneh-

men, bis der Patient handlungs-, bewegungs- und sprechunfähig gewissermaßen erstarrt: Dies ist der depressive (melancholische) Stupor. Auf der anderen Seite kann bei vorherrschender ängstlich-verzweifelter Stimmungslage eine erhebliche innere und äußere Unruhe, Erregung oder Gehetztheit, verbunden mit Klagen und Jammern, die Denk- und Handlungshemmung überlagern, so daß eine sogenannte »agitierte Depression (Melancholie)« in Erscheinung tritt. Eine schwere Agitiertheit kann auch aus einer zunächst gehemmten melancholischen Verfassung plötzlich und mit großer Vehemenz hervorbrechen und zu meist autoaggressiven Akten führen; dies ist der »Raptus melancholicus«. Oft, aber keineswegs regelmäßig, entwickelt sich ein melancholischer Wahn, dessen Thematik und Ausgestaltung eng mit Verstimmung, Hemmung bzw. Agitiertheit und Vitalstörungen zusammenhängt. Ein großes Wahnthema ist die Schuld oder Versündigung. Im Schuld- bzw. Versündigungswahn ist der Patient unkorrigierbar davon überzeugt, daß er schwere Schuld auf sich geladen hat, die objektiv oft in kleinen, längst vergangenen Verstößen besteht, oder daß er sich schwer versündigt hat. Der Patient fühlt sich nicht krank und glaubt auch nicht, krank zu sein, wie Melancholische sonst häufig, sondern er fühlt sich schuldig und sündhaft. Entsprechend diesem Erleben können auch wahnhafte Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen hinzutreten, etwa in dem Sinne, daß der Betroffene wegen seiner Schuld bald hingerichtet werde und die Häscher schon vor der Tür stehen.

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winter blues fotografie ambra iride sechi → 196

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Im Gegensatz zu schizophrenem Wahnerleben bleibt der »Zeiger der Schuld« stets auf den Betroffenen selbst gerichtet. In dieses Wahnerleben integrierte Sinnestäuschungen, etwa das Hören der Stimmen der Häscher, die den Patienten zum Schafott abholen, können gelegentlich vorkommen. Ein anderes melancholisches Wahnthema ist die Überzeugung, an einer schweren, unheilbaren körperlichen Krankheit, etwa Krebs oder Hirntumor, zu leiden. Dies ist der hypochondrische Wahn oder Krankheitswahn, der offenbar auch durch die Vitalstörungen gefördert wird. Groteske Überzeugungen von körperlichen Funktionsstörungen und morphologischem Verfall können diesen Wahn ausgestalten. Ein drittes Wahnthema der Melancholie ist das der Verarmung, der Verarmungswahn. Selbst bei guten finanziellen Verhältnissen können die Patienten unerschütterlich daran festhalten, daß sie finanziell zu Grunde gehen werden oder bereits ruiniert sind. Schließlich kann sich auch, wenn Entfremdungserlebnisse mit Derealisations- und Depersonalisationsgefühlen führend sind, ein sogenannter nihilistischer Wahn entwickeln, in dem die eigene Existenz oder die Existenz etwa naher Angehöriger oder auch von Teilen der Umwelt nicht mehr erlebt und abgestritten wird. Der Mensch in der Melancholie ist erheblich gefährdet durch eine hohe Suizidneigung. Sie ist besonders groß am Anfang und Ende einer Phase, wenn die Hemmung gegenüber der Verstimmung weniger ausgeprägt ist. Warnsignale sind Kontaktabbruch und Rückzug, aber auch starke Agitiertheit; plötzliche Durchbruchshandlungen im Rahmen des erwähnten »Raptus melancholicus« sind möglich. Das stimmungsgetragene Erleben der Sinn- und Hoffnungslosigkeit, die Hemmung aller Lebensvollzüge, Angst und Selbstvorwürfe, Schuldgefühle und das Gefühl des Versagens führen zu zunehmender Einengung, aus der nur die Selbstvernichtung als Ausweg


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möglich scheint. Voraus gehen meist Suizidphantasien, bis dann der Handlungsimpuls durchbricht. Meist werden ernsthafte und radikale Suizidversuche gemacht, so daß die Rate der erfolgreichen Suizide höher ist als bei nicht melancholischen und nicht-psychotisch motivierten Selbstmordhandlungen. Gelegentlich werden im sogenannten »erweiterten Suizid« Familienangehörige mit in den Tod genommen, wenn sich die Überzeugung des Melancholischen von der Sinn- und Hoffnungslosigkeit auch auf die nächststehenden Menschen bezieht und er auch für diese keinen anderen Ausweg mehr sieht. Zur Melancholie gehören des weiteren objektiverfaßbare körperliche Störungen, vor allem charakteristische Störungen des Biorhythmus. Schon das Auftreten und der Verlauf der Melancholie selbst ist offenbar Ausdruck einer Alteration biologischer Rhythmen: Sie tritt nämlich in Phasen auf, meist von mehreren Monaten Dauer, die von selbst wieder abklingen und sich nach unterschiedlich langen »freien Intervallen« wiederholen können. Treten im Laufe eines Lebens nur melancholische Phasen auf, ist das ein monopolarer Verlauf; treten zusätzlich auch manische Phasen in Erscheinung, auf die ich hier nicht eingehe, ist dies ein bipolarer Verlauf einer Zyklothymie. Rhythmusveränderungen kennzeichnen auch die melancholische Phase selbst: Typisch sind die sogenannten »Tagesschwankungen«, d.h. das Befinden ist am Vormittag am schlechtesten und bessert sich jeweils gegen Nachmittag oder Abend. Die umgekehrte Rhythmik ist wesentlich seltener. Charakteristisch sind auch Störungen des Schlaf- Wach-Rhythmus mit Durchschlafstörungen und Früherwachen, wobei die Patienten mit quälenden Sorgen und Angst

vor dem Tag wach liegen. Vegetative und hormonelle Störungen verschiedenster Art treten hinzu, vor allem Appetitlosigkeit mit starker Gewichtsabnahme, Obstipation, Minderung der Libido, bei Frauen Menstruationsanomalien, ferner Herzrhythmusstörungen, Kreislaufdysregulationen, Mundtrockenheit, Tremor, Schweißausbrüche u.a. Der Hautturgor kann herabgesetzt, das Aussehen welker und vorgealtert, die Körperhaltung schlaffer sein. Verschiedene Laborwerte im Serum können verändert sein, z.T. als Ausdruck hormoneller Dysregulationen, bestimmte Überträgerstoffe der Nervenerregungsleitungen in gewissen Hirnbereichen sind blockiert bzw. vermindert. So viel zur Phänomenologie der Melancholie. Keineswegs sind immer alle Symptome in der Melancholie vorhanden. Man kann je nach Symptomakzentuierung verschiedene Prägnanztypen unterscheiden: Neben der schon erwähnten gehemmten und der agitierten Form eine vitale Melancholie (mit vorherrschenden Vitalstörungen, die bei anscheinend wenig veränderter Stimmungslage auch als »larvierte Depression« bezeichnet wird) und eine wahnhafte Melancholie (bestimmt durch melancholischen Wahn). Symptom-arme und leichte Verläufe können differentialdiagnostisch schwer gegen depressive Syndrome anderer Art, etwa reaktive, neurotische oder persönlichkeitsgebundene Depressionen abgrenzbar sein. Wenn rhythmologische Veränderungen wie phasischer Verlauf, Tagesschwankungen, Durchschlafstörungen das Bild prägen, Vitalstörungen und depressive Wahninhalte vorhanden sind, nicht zu vergessen schließlich auch eine Gewichtsabnahme, läßt sich die Diagnose der Melancholie absichern.

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II. THEORIEN

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Es gibt eine ganze Reihe von Theorien der Melancholie, die Aussagen zur vermuteten Ätiopathogenese bzw. zum »Wesen« der Melancholie machen und versuchen, eine zentrale oder basale Störung herauszuarbeiten, aus der sich alle Phänomene der Melancholie erklären oder verstehen lassen. Alle diese Versuche blieben bis heute kontrovers. Soweit ich sehe, lassen sich folgende Konzepte oder Modelle der Melancholie unterscheiden, die ich größtenteils nur aufzählen kann: Das biologisch-naturwissenschaftliche Konzept: Danach ist die Melancholie eine genetisch determinierte, an eine Hirnstoffwechselstörung gebundene Gemütskrankheit, die teils autochthon, teils auch ausgelöst durch »Lebensereignisse« in Erscheinung tritt. Biochemische und endokrinologische Veränderungen sind nachweisbar. In einem chronopathologischen Modell wird Melancholie als hirnorganisch fundierte Rhythmusstörung, insbesondere eines Stimmungs-Antriebs-Systems, erklärt. Die psychoanalytischen (Modelle: Diese Ansätze sind psychogenetisch-hermeneutisch. Für bedeutsam werden Versagung und Hemmung oraler und aggressiver Triebe und deren Wendung gegen das eigene Ich, die Umwandlung in depressive Affekte, gehalten. Eine pathogenetische Rolle spielt der primäre Objektverlust, d.h. der frühkindliche Verlust von Bezugspersonen, aufgrund dessen spätere Verlustsituationen in die Depression führen können. Auf Weiterentwicklungen des psychoanalytischen Ansatzes kann ich hier nicht eingehen.


Der strukturdynamische Ansatz: Die seelische Dynamik, d.h. Antrieb und Emotionalität, kann in ihrer Bewegung vor dem Hintergrund der »Struktur«, d. h. des Gefüges dispositioneller Gerichtetheiten, das die individuelle Kontinuität begründet, entgleisen. Die »dynamische Entgleisung« ist die Grundlage der Psychosen; im speziellen ist die »Restriktion« der Dynamik, d. h. die psychomotorische Erstarrung und affektive Einengung, das Korrelat der Melancholie. Die an die Struktur gebundene Dynamik kann durch situationsabhängige Erschütterungen der Struktur entgleisen. In dieser Konzeption wird also die Bedeutung der Situation gesehen. Dies gilt – von einer mehr soziogenetischen Sicht her – auch für den interaktionalen Ansatz: Psychische Abnormität ist in dieser Perspektive primär zu erfassen als Beziehungsstörung in der Situation der Zweierbeziehung zwischen Patient und Psychiater. Die Melancholie zeigt sich hier in der Unmöglichkeit einer gleichgestimmten Begegnung in der Situation. Der Melancholische ist auf sich selbst bezogen in einer unübersteiglichen Welt, ist unzugänglich, ja autistisch. In seiner schwermütigen Verstimmung bleibt er durch den anderen unerreichbar, eine stimmungsmäßige Resonanz ist eingeschränkt oder nicht mehr möglich. Das rollentheoretische Konzept: Melancholisch Kranke, insbesondere monopolar Depressive, sind von ihrer Persönlichkeit her wert- und rollenverhaftet und neigen zu Übergewissenhaftigkeit und Übererfüllung ihrer Pflichten. D. h., sie tendieren zu einer Überidentifikation mit ihrer Rolle und neigen zu einem hypernomischen Verhalten. In entsprechenden Situationen geraten sie immer weiter in diese Überidentifikation

und Hypernomie hinein, die Ich-Identität wird entsprechend geschwächt. Alle melancholischen Symptombildungen werden als Phänomene dieser Überidentifikation verstanden. Der lerntheoretische Ansatz: Er geht davon aus, daß bereits als prämorbider Persönlichkeitszug eine »gelernte Hilflosigkeit« vorliegt. In der Depression sind Hilflosigkeit, Passivität und mangelnde Durchsetzungsfähigkeit bis zur völligen Selbstentmächtigung gesteigert. Melancholie als kognitive Störung: Dieser Ansatz glaubt als Grundstörung der Melancholie kognitive und perzeptive, also Wahrnehmungsveränderungen, annehmen zu können. Kognitive Störungen in der Melancholie sind, wie erwähnt, feststellbar, jedoch ist fraglich, ob Verstimmung und Hemmung daraus abgeleitet werden können. Eher modifiziert die Gestimmtheit die Wahrnehmung. Während die bisher aufgelisteten Konzepte der Melancholie wesentliche, wenn auch unterschiedlich gewichtige Beiträge zu einem vertieften Verständnis liefern, sind die beiden nun zu besprechenden Perspektiven die für das heutige Melancholieverständnis wohl grundlegenden Positionen: zum einen die phänomenologisch deskriptiv-verstehende Richtung der Kurt-Schneider-Schule, fortgeführt vor allem durch Weitbrecht, und zum anderen die phänomenologisch -anthropologisch -daseins analytischen Ansätze, verbunden mit den Namen Minkowski, Straus, v. Gebsattel, Binswanger und Tellenbach. Ich gehe daher auf beide etwas ausführlicher ein.

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Zunächst zum phänomenologisch-deskriptiven Verständnis der Melancholie: Für Kurt Schneider ist die endogene oder zyklothyme Depression (den Ausdruck »Melancholie« verwendet er nicht) primär eine Störung der Vitalgefühle mit dem »vitalen Charakter der Verstimmung«, der »vitalen Traurigkeit«. Die endogene Depression ist also wesentlich eine emotionale Störung. Die übrige Symptomatik ist sekundär, ist »Ausbau«. Schneider beruft sich seit den frühen 20er Jahren für seine Lehre vom Aufbau der Depression auf die Phänomenologie des emotionalen Lebens von Max Scheler. Nach Scheler besteht eine Schichtung der Emotionalität in sinnliche Gefühle, Leib- und Lebensgefühle (= vitale Gefühle), seelische Gefühle (Ich-Gefühle) und geistige Gefühle (Persönlichkeitsgefühle ). Schneider zieht die bei den Gefühlsschichten der Vitalgefühle (als tieferer Schicht) und der seelischen Gefühle (als höherer Schicht) für die Psychopathologie der Depression heran und gelangt hierdurch zugleich zu einer Abgrenzung der endogenen gegenüber der reaktiven Depression. Die endogene Depression ist durch die Störung der Vitalgefühle, die reaktive Depression durch die Störung seelischer Gefühle (Traurigkeit, Angst) gekennzeichnet. Die endogene Depression erstreckt sich auch auf die seelischen Gefühle, sie sind jedoch typischerweise durch die Veränderung der Vitalgefühle modifiziert oder unterdrückt. Allerdings können auch bei der reaktiven Depression im Lauf der Zeit Vitalstörungen sekundär auftreten; Schneider spricht dann von »sekundärer Vitalisierung«. In der endogenen Depression ist die »vitale Traurigkeit« im Unterschied zur bloß reaktiven Traurigkeit ein Beispiel für die Veränderung seelischer Gefühle durch die tiefere Schicht der Vital-

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gefühlsstörungen. Das »Gefühl der Gefühllosigkeit« erklärt sich dann dadurch, daß die vitalen Gefühlsstörungen so hochgradig sind, daß seelische Gefühle gar nicht mehr in Erscheinung treten können. Aus dem emotionalen Schichtaufbau der endogenen Depression erklärt sich für Schneider auch, daß die Verstimmung hier motivlos und relativ unempfindlich gegen äußere Einflüsse ist. Sie ist im Gegensatz zu anderen Ansätzen starr gegenüber der Situation.


Im Gegensatz zu den reaktiven Depressionen, die seelisch begründet, verständlich, motiviert sind, ist die zyklothyme Depression nicht sinnvoll, nicht verständlich. In Fortführung von Karl Jaspers‘ Dichotomie von Verstehen und Erklären sind für Schneider reaktive Depressionen verständlich in den Lebenszusammenhang eingebettet, während die zyklothyme Depression die Sinnkontinuität, den Sinnzusammenhang der Lebensentwicklung unterbricht. Die Verstimmung und die anderen Symptome der zyklothymen Depression sind etwas qualitativ anderes als diejenige der reaktiven Depression, aber auch als die frei steigenden Verstimmungen der sogenannten Untergrunddepression des normalen und psychopathischen Lebens. Obwohl Schneider die zyklothyme Depression als einen Symptomenkomplex oder auch Typus psychischer Abnormität ansieht, macht er auch nosologisch-ätiologische Annahmen, indem er der zyklothymen Depression als endogener Psychose eine noch unbekannte - körperliche Krankheit unterstellt. Diese »körperliche Begründbarkeit« der zyklothymen Depression - die der reaktiven nicht zukommt - ist nach Schneider lediglich noch nicht nachgewiesen, aber aus guten Gründen zu postulieren. Auch von hierher begründet sich die qualitative Andersartigkeit der zyklothymen Depression gegenüber der reaktiven, die eine lediglich »quantitative« Abweichung vom normalen seelischen Erleben darstellt. Schneider hält zwar eine reaktive Auslösung der zyklothymen Depression für grundsätzlich, wenn auch selten, möglich, kann sie sich aber dann nur durch die Auswirkung starker Affekte auf die supponierte leibliche Grundlage der Zyklothymie vorstellen. Die Rückbindung des primär phänomenologischen Ansatzes

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Schneiders in seiner Depressionslehre an die Hypothese einer somatischen Begründbarkeit der endogenen Depression, die er wohl unter dem Einfluß von Jaspers vollzog, führt zu Widersprüchen und erheblichen Problemen, die auch die Grenze dieser gleichwohl bis heute außerordentlich wirkungsvollen Konzeption markieren. Hieran kann auch der Versuch des späteren Kurt Schneider, in einer Annäherung an Heidegger den depressiven Wahn aus der »Geworfenheit« des Menschen zu erklären, nichts ändern. Schneider begreift hier den Versündigungswahn, den hypochondrischen Wahn und den Verarmungswahn nicht mehr als »Symptome« der Psychose, sondern als Aufdeckung von Urängsten des Menschen durch die Psychose, nämlich der Angst um die Seele, um den Leib und um die Notdurft des Lebens. Allerdings bleibt die Tatsache, daß solcher Wahn in der Depression auftritt, nach wie vor unverständliches Symptom der Psychose; lediglich die Themen des Wahns haben im Hinblick auf ihre allgemeine Menschlichkeit als verständlich zu gelten. Der von Scheler und Jaspers abhängigen Depressionslehre Schneiders wurde vor allem von seinem Schüler H.J. Weitbrecht weitere Geltung und Verbreitung verschafft. Auch für Weitbrecht ist die emotionale Störung, d. h. die Veränderung der Stimmung und der Vitalgefühle, das entscheidende Kennzeichen der endogenen Depression. Die grundlose traurige Verstimmung besitzt gegenüber der psychomotorischen Hemmung den Vorrang für die Diagnose.

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Wie Schneider betont auch Weitbrecht die Umweltstabilität der endogenen Depression. Der phänomenologisch-deskriptive Ansatz der Schneider-Schule wird wesentlich und, wie ich meine, auch notwendig ergänzt und vertieft durch die phänomenologisch-anthropologisch-daseinsanalytischen Konzepte, die philosophisch vor allem an Husserl, Bergson und Heidegger orientiert sind. Es geht hier um eine Wesensbestimmung der Melancholie, um das Erfassen der »Grundstörung«, aus der sich alles andere ableiten läßt. Der Weg ist allerdings nicht, wie bei den anderen Konzeptionen, erlebnis-, strukturoder tiefen psychologisch, auch nicht soziogenetisch und nicht naturwissenschaftlich-erklärend, sondern transzendentalphänomenologisch, eidetisch-typologisch die Grundstrukturen des menschlichen Daseins und dessen Abwandlungen ins Krankhafte erfassend. Die ersten und wegweisenden Anregungen kamen 1928 von Erwin Straus, der in Anlehnung an den Philosophen Hönigswald das Zeiterlebnis in der endogenen Depression analysierte. Straus unterscheidet eine erlebnisimmanente und eine erlebnistranseunte Zeit und stellt beiden die objektive, physikalische Zeit gegenüber. Die erlebnisimmanente Zeit ist die mit der Entfaltung der inneren Lebensgeschichte wachsende Ich-Zeit. Ihr Maß ist die Entfaltung der Persönlichkeit, das Grunderlebis ist das des antizipierten Wirkens bzw. der Rückschau auf die durchschrittenen Stufen. Ist die erlebnisimmanente Zeit die wachsende Zeit, so ist die erlebnistranseunte Zeit die vergehende Zeit, die Welt-Zeit, deren Maß die Dauer oder Veränderung der Umgebung. Sie hat zeitlich ausgezeichnete Punkte im Jetzt, Heute und Gestern. In der Melancholie nun kommt es zum Stocken oder Stillstand der


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erlebnisimmanenten Zeit und damit zu einer vitalen Hemmung des Wirkenkönnens, einer Veränderung des Zukunftserlebens, die auch zu einer Strukturveränderung der Vergangenheit, d.h. ihres Sinnes, führt. Mit dem Stocken der inneren Zeit schwindet die Möglichkeit der Erledigung des Vergangenen durch Weiterschreiten in die Zukunft, und die determinierende Gewalt der Vergangenheit nimmt zu. So erklärt sich der melancholische Wahn aus dem Bestimmtwerden durch die Vergangenheit und der Unmöglichkeit des Wirkenkönnens in die Zukunft, da diese durch ihr Schwinden bedrohlich geworden, ja bereits eingetreten und das Schicksal entschieden ist. Die Störung des Zeiterlebens bringt auch die Hemmung des Handelns und die Veränderung der Affektivität hervor. Da das Zukunftserleben ausgelöscht ist, entwickelt sich die depressive »Gefühllosigkeit«, Freude und Trauer haben keine Möglichkeit der Realisierung. Straus nimmt an, daß die Grundlage des Zeiterlebens und seiner Störung in der Melancholie eine biologische ist. Das Stocken der erlebnisimmanenten Zeit ist unmittelbare Folge einer vitalen, biologisch verstandenen Hemmung. So wird eine biologisch begründete Hemmung zur Kardinalstörung der Melancholie, im Gegensatz zur Depressionslehre Schneiders, wo die Emotionalität als Basis aller anderen Störungen angenommen wird. Die Herausarbeitung des Zeitmoments und der basalen Hemmung durch Straus erwies sich als fruchtbarer Ansatz. Er wurde noch im selben Jahr 1928 durch Viktor Emil von Gebsattel übernommen und bis Ende der 30er Jahre modifiziert. Von Gebsattel geht wie Straus von der endogenen Hemmung als dem biologischen Fundament der Melancholie aus. Die vitale Hemmung in der Melancholie verändert das Zeiterleben. Die Zukunft ist versperrt, die Selbstentfaltung der Persönlichkeit kommt zum Stillstand. Basal ist die »Hemmung des Werdedranges«, woraus letzt-

lich die Symptome Denkhemmung, Willens- und Gefühlshemmung, Wahn und Zwang hervorgehen. Zugleich mit der »erlebnisimmanenten Zeit» steht der Fluß des Werdens still, nicht aber die transeunte Zeit, die weiterfließt. Durch die »Werdenshemmung» werden nicht nur Denken und Handeln gelähmt. Die Diskrepanz zwischen stockender erlebnisimmanenter Zeit und fließender transeunter Zeit läßt das Vergehen der Zeit ständig hervortreten, woraus die Todesangst entsteht. Die Hemmung des zeitlichen Weiterschreitens enthält zugleich die Hemmung des immanenten Sterbens, die aus sich heraus das Angstbild des exogenen Todes hervortreibt. Später (1937) verdeutlicht von Gebsattel auch den Zusammenhang zwischen der Hemmung des Werdens, dem Stillstand der inneren Zeit, und den melancholischen Entfremdungsgefühlen, der Depersonalisation und Derealisation. Die Hemmung des Werdens ist zugleich eine Hemmung des Existieren-Könnens. Dies ist ein »Dasein im Leeren«. Der existentielle Sinn der Hemmung ist die »Existenz im Leeren«. Sie erscheint als Derealisation und Depersonalisation, ist aber auch der Untergrund von Verstimmung, Angst, Hypochondrien, Schuldgefühlen, Kleinheits- und Verarmungsideen. Letztlich sind alle Symptome der Melancholie nur Bilder der »existentiellen Leere«. Unter dem Einfluß von Eugene Minkowski, der 1933 ebenfalls, von Straus herkommend, die Änderung der Zeitstruktur in der Melancholie als Folge einer basalen biologischen Hemmung auffaßte, aber als Störung der »gelebten Zeit« bezeichnete, sprach von Gebsattel seit 1939 von einer Veränderung des unmittelbar gelebten elementaren Zeitgeschehens, nicht mehr von Störung des Zeiterlebens.

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»Die Welt der Melancholie ist nicht einfühlbar«

Die Zeit werde in der endogenen Depression nicht anders erlebt, sondern anders gelebt. Er spricht jetzt auch von einer Veränderung im Grundgeschehen der »sich zeitigenden Persönlichkeit« als Ursprung der Symptomatik der Melancholie. Der Strom des basalen Lebensgeschehens, der den Sinn des Werdens hat, verlangsamt sich in der Melancholie, wodurch zugleich die Störung des zeitlichen Werdens des Individuums bedingt wird. Es ist ein Nichtwerdenkönnen und überhaupt ein Nicht-Können. Das Maximum dieser Stockung des inneren Zeitgeschehens ist im melancholischen Stupor erreicht. Auf Straus, Minkowski, v. Gebsattel aufbauend und philosophisch auf dem Boden von Husserls Transzendentalphänomenologie und einer von Heideggers Ontologie herkommenden »Daseinsanalyse« stehend, wurde Ludwig Binswangers Melancholie-Studie von 1960 wegweisend. Bei der Melancholie ist nach Binswanger zunächst, wie bei anderen Psychosen, die Konsequenz oder der Folgezusammenhang der Erfahrung und damit die Durchführbarkeit des Lebensganges in Frage gestellt. Die melancholische Verstimmung ist nur möglich als Loslösung von den konstitutiven Bindungen der natürlichen Erfahrung. Der Rückzug vom natürlichen Erfahrungszusammenhang in der Melancholie beruht auch bei Binswanger auf einer basalen Veränderung der Zeitstruktur, die er aus Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins herleitet. Das Phänomen Zeit ist von der Intentionalität her zu verstehen; entscheidend ist, wie sich im subjektiven Zeitbewußtsein die intentionalen zeitlichen »Gegenstände« Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft konstituieren. Sie werden als Retentio, Präsentatio und Protentio bezeichnet. Normalerweise

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sind sie eng aufeinander bezogen, dergestalt, daß die Präsentatio nur zu leisten ist im gleichzeitigen Vollzug von Protentio und Retentio. Wenn ich spreche, in der Präsentatio, habe ich schon die Protentio, sonst könnte ich den Satz nicht vollenden, und auch die Retentio, sonst wüßte ich nicht, worüber ich rede. In der Melancholie nun sind diese drei Dimensionen und ihr Zusammenspiel nur in defizienten Modi gegeben, d. h. der intentionale Aufbau der zeitlichen Objektivität ist gestört. Dabei ist immer der ganze »Strom des Bewußtseins«, der ganze »Denkablauf«, der ganze Fluß- oder Kontinuitätscharakter der »Zeitigung« beeinträchtigt. Bei aller Verwandtschaft mit dem Zeitthema der Melancholie bei Straus ist »Zeit« bei Binswanger methodisch ganz anders begriffen, und vor allem lehnt Binswanger eine Ableitung der Zeitigungsstörung aus einer biologischen oder »vitalen« Hemmung ab. Die Störung ist vielmehr begründet in Veränderungen im Aufbau der zeitlichen Objektivität, also im Bereich der Intentionalität. So kann Melancholie auch niemals psychogen oder psychologisch-reaktiv in Gang kommen, sondern sie ist Ausdruck einer »endogenen Geisteskrankheit«. Ebensowenig kann sie im Sinne Kurt Schneiders vom Emotionalen und einer »Schichtung« des emotionalen Lebens her verstanden werden. Sie kann vor allem auch nicht als eine bloße Steigerung eines pessimistischen oder schwermütigen Temperaments gelten. In der Melancholie erfolgt auch nicht im Sinne des späten Kurt Schneider eine Aufdeckung menschlicher Urängste. Die melancholische Angst, Melancholie überhaupt, ist kein menschliches Urphänomen, sondern ein Naturphänomen, das sich in der Losgelöstheit von den kon-


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stitutiven Bedingungen der natürlichen Erfahrung als Krankheit erweist. Der Erfahrungsstil des Melancholischen und die Realität seiner Welt sind losgelöst von den zeitlichen Bindungen der natürlichen Erfahrung, sie besitzen für ihn eine Evidenz, an der jeder Zweifel abprallt. Mit der Welt des Nicht-Melancholischen ist daher kein Vergleich möglich. Die Welt der Melancholie ist nicht einfühlbar, allerdings - gegen Jaspers und Schneider - keineswegs nicht-verstehbar. Im wesentlichen besteht die Zeitigungsstörung in der Melancholie darin, daß die Zukunftsbezogenheit, die Protentio, zu einer »Leerintention« wird, nur zukünftige »Leere« oder die »Leere« als Zukunft produziert. Dadurch zieht sich die freie Möglichkeit der Zukunftsbezogenheit zurück in die Vergangenheit, die Retentio verwechselt sich mit der Protentio. D. h., die Zukunft ist nicht mehr frei bevorstehende Möglichkeit, sondern sie bekommt den Charakter der Vergangenheit, sie ist schon eingetreten und damit vernichtet. Damit kann sich auch keine Präsentation mehr entfalten, denn die Gegenwart ist nur lebbar, wenn sie im Spannungsbogen von Retentio und Protentio steht. Aus dem Zusammenbruch des Zeitgefüges resultieren die melancholischen Grundverfassungen wie Verlust, Schuld, Angst usw. Das Dasein büßt seine transzendentalen Möglichkeiten ein. Die referierten phänomenologisch-anthropologischen Melancholie- Konzeptionen wurden in Hubertus Tellenbachs seit den 60er Jahren vorgelegten bedeutenden Melancholie-Studien rezipiert und auf eine neue pathogenetische Basis gestellt. Tellenbach durchdringt die Melancholie von einer neuen Konzeption der Endogenität her. Das Endon als Ursprung der Melancholie sieht er in einem Bereich, der der

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Trennung von Soma und Psyche voranliegt. Der mitweltliche Kosmos, verschränkt mit dem Endon, provoziert in Form spezifisch bedeutsamer Situationen die endogene Daseinsabwandlung in die Melancholie. Die pathogene Bedeutsamkeit der Situation in ihrer Verschränkung mit dem Endogenen, unter dem Begriff der Endokosmogenität gefaßt, hat Tellenbach gegenüber anderen phänomenologischen Melancholie- Theorien am konsequentesten herausgearbeitet. Der pathogenetische Weg zur Melancholie beginnt dort, wo das Endon in einem bestimmten prämorbiden Persönlichkeitstypus in Erscheinung tritt. Dies ist der »Typus melancholicus«. Geraten Menschen vom »Typus melancholicus« in bestimmte Situationen, die ihrer Wesensstruktur entsprechen und die sie sich aufgrund eben dieses Wesens auch selbst schaffen (situieren), so ist die Inklination zur Krankheit Melancholie gegeben (dies gilt nur für die monopolare Melancholie). Der Typus melancholicus ist gekennzeichnet durch sein Festgelegtsein auf Ordentlichkeit. Er ist fleißig, gewissenhaft, pflichtbewußt und genau im Leisten. Er erhebt dazuhin einen überdurchschnittlich hohen Anspruch an das eigene Leisten. In dieser Wesenskonstellation liegt eine mögliche Gefahr, die wächst, wenn eine dieser Tendenzen das Übergewicht gewinnt oder in ihrer Entfaltung behindert wird. Die für den Typus melancholicus bedrohlichen Situationen von pathogener Relevanz sind die prämelancholischen Konstellationen der Inkludenz und der Remanenz.


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Diese Situationen entsprechen seinen bestimmenden Persönlichkeitszügen von Ordnungsgebundenheit und hohem Selbstanspruch. Aufgrund seines Wesens treibt er sich selbst in diese einengenden Situationen hinein, und zugleich kommen diese Situationen auch dieser Bewegung entgegen. Die Konstellation der Inkludenz ist verschränkt mit der Ordnungs gebundenheit des Typus melancholicus und meint sein zunehmendes Eingeschlossensein in Grenzen, die er schließlich nicht mehr auf den Vollzug seiner Ordnungen hin überschreiten kann. Ebenso ist die Konstellation der Remanenz bezogen auf den hohen Anspruch an das eigene Leisten und zeigt sich im zunehmenden Zurückbleiben hinter dem Selbstanspruch, das immer mehr zu einem uneinholbaren Schulden wird. Spitzen sich die beiden Situationen so zu, daß sich der Typus melancholicus ausweglos in Selbstwidersprochenheit darin verfangen hat, kommt hieraus die Abwandlung des Endon, die »Endokinese« in Gang, aus der die Melancholie entspringt. Aus der Unübersteigbarkeit der Situation ergibt sich die Abwandlung des Daseins in die Stagnation des Lebensflusses, die Hemmung, die Werdensund Zeitigungsstörung, die auch Tellenbach im Anschluß an Straus, von Gebsattel und Binswanger als das Wesen der Melancholie beansprucht. Die Verfassung in der Melancholie versteht Tellenbach darüber hinaus nach Heideggers Daseinsanalytik auch als Verfügung der »Geworfenheit« über den Daseinsvollzug, z. B. in den Tagesschwankungen oder den Störungen des Schlaf- Wach- Rhythmus.

Wie für seine phänomenologischen Vorgänger ist auch für Tellenbach die Daseinsverfassung in der endogenen Abwandlung der Melancholie inkommensurabel dem nicht-psychotischen Leben, und ebenso ist ihm das Wesentliche die Hemmung, das Stocken der inneren Werdezeit, die Unmöglichkeit der Entfaltung des Daseins in die Zukunft. Tellenbachs bleibendes Verdienst in der Melancholieforschung ist jedoch der phänomenologisch-empirische Nachweis der Existenz des Typus melancholicus und der Aufweis der mit diesem Persönlichkeitstyp verbundenen, spezifischen prämelancholischen Situation. Es bedeutete eine gewisse Bestätigung nicht zuletzt auch der methodischen Relevanz der phänomenologischen Forschungsrichtung, daß die Existenz des Typus melancholicus nachträglich durch die naturwissenschaftliche, objektivierend-quantifizierend vorgehende Psychiatrie (von Zerssen) bestätigt werden konnte.

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MELANCHOLIEPOSE Walther von der Vogelweide

Ich saß auf einem Steine und deckte Bein mit Beine. Darauf der Ellbogen stand; es schmiegte sich in meine Hand das Kinn und eine Wange. Da dachte ich sorglich lange, dem Weltlauf nach und irdischem Heil, doch wurde mir kein Rat zuteil: wie man drei Ding erwürbe, dass ihrer keins verdürbe. Zwei Ding sind Ehr und zeitlich Gut, das oft einanander Schaden tut, das Dritte Gottes Segen, den beiden überlegen: Die hätt ich gern in einem Schrein doch mag es leider nimmer sein, dass Gottes Gnade kehre mit Reichtum und mt Ehre zusammen ei ins gleiche Herz; sie finden Hemmungen allerwärts: Untreue liegt im Hinterhalt, kein Weg ist sicher vor Gewalt, so Fried als Recht sind todeswund, und werden die nicht erst gesund, wird den drei Dingen kein Geleite kund.

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FOGGY MEMORIES JOANNA PIEKART

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Joana Piekart studiert in Lublin, Polen. Ihre Fotografien zeigen die Natur als Zufluchtsort f端r den melancholischen Menschen.

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foggy memories fotografie joanna piekart → 196


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GOETHES WERTHER IM KONTEXT ZEITGENÖSSISCHER MELANCHOLIE-DISKURSE

Die Melancholie bildet im ausgehenden 18. Jahrhundert das Gravitationszentrumm zahlreicher moralphilosophischer Debatten, da sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf jene Areale der menschlichen Psyche lenkt, die sich dem vielbeschworenen Licht der Aufklärung beharrlich entziehen. Diese lichtscheuen Seelenbezirke gelten als Brutstätten schwermütiger Stimmungen und rufen deshalb all jene Zeitgenossen auf den Plan, die der Vernunft zur unumschränkten Herrschaft verhelfen wollen. Immanuel Kant beispielsweise charakterisiert 1798 die melancholische Gemütslage als Konsequenz eines inadäquaten Vernunftgebrauchs; sie resultiert seines Erachtens aus der Weigerung des Subjekts, traurige Empfindungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen und so ihre häufige Grundlosigkeit zu entlarven. Die Melancholie ist laut Kant »ein bloßer Wahn« vom Elend, den sich »der Trübsinnige (zum Grämen geneigte) Selbstquäler schafft. Sie ist selber zwar noch nicht Gemütsstörung, kann aber wohl dahinführen«. Schwermütige Schwärmereien und melancholische Gemütszustände erscheinen der Aufklärung und ihren Verfechtern als Skandalon, da im Siegeszeichen des Lichtes Enklaven der Dunkelheit nicht geduldet wer-den können. Die Dialektik von Licht und Schatten lässt sich indes nicht auflösen: Während die Melancholie von den Repräsentanten der Aufklärung als grundlose, krankhafte und weltabgewandte Traurigkeit denunziert wird, gilt sie den Anhängern der Empfindsamkeit als Ausweis eines höheren und inspirierten Lebens inmitten einer profanen Umwelt.

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»Komm, Königin erhabnerweiser Gedanken, Du Schwester ernster Phantasie! Du Wächterin des philo-sophischen Kranken, Komm, heilige Melancholie!«

Mit diesen empfindsamen Versen wendet sich Johann Jakob Guoth in einem 1772 publizierten Gedicht an die Melancholie, die er als Muse sakralisiert und hymnisch anruft. Der Streit um die Melancholie polarisiert die Intellektuellen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Eine indifferente Haltung ist in dieser mit ungewöhnlicher Schärfe geführten Debatte kaum möglich. »Wie hältst Du’s mit der Melancholie«, lautet die Gretchenfrage unter rationalistischen Aufklärern und deren empfindsamen Gegnern. Die außerordentliche Bedeutung der Melancholie für die Zeit vor und um 1800 lässt sich nicht zuletzt auch an Goethes und Schillers dramatischen Hauptwerken ablesen. Mit Faust und Wallenstein stehen zwei Melancholiker par excellence im Mittelpunkt der Weimarer Klassik. Goethe setzt sich freilich nicht erst in seiner Faust-Dichtung mit dem Phänomen der Melancholie auseinander; bereits in seinen frühen Werken aus der Leipziger und Frankfurter Zeit bildet es einen klar vernehmbaren ›Cantus firmus‹. Der 1774 publizierte Werther-Roman thematisiert mit besonderer Intensität die unterschiedlichen Facetten der Melancholie – er schildert die von ihr ausgehenden Gefährdungen ebenso wie ihre inspirierenden Wirkungen und nimmt damit in der zeitgenössischen Diskussion eine vermittelnde Position ein. Goethes Aufsehen erregendes Romandebüt bringt die Melancholie in ihrer ganzen Bandbreite und ihren weit verzweigten Traditionssträngen zur Darstellung. Die der Aufklärung verpflichtete Psychopathologie steht neben dem eigenwilligen Melancholiekult der Empfindsamkeit und – was sich im Rahmen dieser Abhandlung allerdings nur en passant berücksichtigen lässt – neben der auf die pseudoaristotelischen

Problemata zurückgehenden Inspirationstheorie, derzufolge die Melancholie den Künstler zu genialem Schöpfertum befähigt und den weltabgewandten Gelehrten zu kontemplativer Ideenschau erhebt. Bereits in den Maibriefen, die Goethes Roman eröffnen, offenbart sich Werther als ausgesprochener Melancholiker, der die Gesellschaft meidet und auf ausgedehnten Wanderungen elegischen Phantasien nachhängt. Werther kultiviert seine Einsamkeit: Er bezeichnet sie als »Balsam« für sein chronisch angegriffenes Herz und betrachtet sie als Vorbedingung für ein empfindsam gesteigertes Dasein, dem sich die letzten Geheimnisse der Natur enthüllen. Die Einsamkeit ist seit jeher fest mit dem Melancholiker assoziiert, ihre allgemeine Nobilitierung erfährt sie jedoch erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss zivilisationskritischer Tendenzen. Trotz dieser Neubewertung wird die Selbstisolierung auch im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht einhellig begrüßt, führt sie doch auf lange Sicht zu einer übertriebenen Selbstfixierung, die – wie im Falle Werthers – zu einer ruinösen Egomanie ausarten kann. Werther gefällt sich in der Rolle des sozialen Außenseiters, dessen melancholische Seelenstimmung außergewöhnliche Sensibilität verleiht und gesteigerte Gefühlsintensität ermöglicht. Die in den Maibriefen wiederholt artikulierte Klage, dass er zwar viele Menschen kennenlerne und auch rasch Kontakte knüpfe, indes mit niemandem in ein vertraulicheres Verhältnis treten könne, trägt deutliche Züge der Heuchelei. Als notorischer Einzelgänger meidet Werther bewusst sozialen Bindungen.

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In Werthers Briefen finden sich so gut wie alle Elemente des empfindsamen Melancholiekults, der im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas um sich greift. Die Anhänger dieser spezifisch modernen Oppositionsbewegung schätzen vor allem die traurigen Gemütszustände, die sie lustvoll in petrarkistischer Manier umschreiben. Oxymorale Wendungen wie »joy of grief« oder »süße Trauer« kursieren allerorten. Man glaubt, dass allein der Melancholiker in der Lage sei, sich von der Atmosphäre eines dunklen Waldes, dem klagenden Gesang einer Nachtigall oder der schwermütigen Stimmung einer stillen Mondnacht ansprechen zu lassen. Von zentraler Bedeutung für die Melancholie-Mode der Empfindsamkeit ist ferner der Kult um Tod und Jenseits, der sich in den elegischen Nachtgedichten von Edward Young oder auch in Klopstocks und Grays tränenseliger Stimmungslyrik paradigmatisch fassen lässt.

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»Hier stirbt ein verlassenes Mädchen, dort ertrinkt ein getreuer Liebhaber«, resümiert Goethe 1814 zurückblickend in Dichtung und Wahrheit, »und wenn ein Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene bekannten Melodien wieder anstimmt, so kann er versichert sein, eine Anzahl Freunde der Melancholie um sich zu versammeln« Werthers Briefe partizipieren in hohem Maße an der empfindsamen Zeitströmung, wie der Brief vom 10. September 1771 exemplarisch verdeutlichen kann: Werther, der sich nach langem Zögern entschlossen hat, Wahlheim zu verlassen, kommt am Abend vor seiner geheimen Abreise ein letztes Mal mit Lotte und Albert zusammen. Man will sich im Garten vor Lottes und Alberts Haus treffen. Werther findet sich als erster ein und sieht voller Wehmut der untergehenden Sonne nach, die ihn an glückliche Stunden mit Lotte erinnert. Im nachlassenden Abendlicht überblickt er den Garten, der sich am Ende der Terrasse zunehmend verjüngt, bis »zuletzt alles sich in ein geschlossenes Plätzchen endigt, das alle Schauer der Einsamkeit umschweben« Werther, der dieses Plätzchen schon öfters aufgesucht hat, schreibt im Hinblick auf die Begegnung mit Lotte und Albert:


»Ich ahnete ganz leise, was für ein Schauplatz das noch werden sollte von Seligkeit und Schmerz«

Seligkeit und Schmerz erscheinen hier als entgegengesetzte Seelenstimmungen, die von Werther simultan erlebt werden – dies ist genau jene melancholische Haltung, die mit dem Schlagwort des »joy of grief« umschrieben werden kann. Auch im weiteren Verlauf des Briefes betont Werther mehrmals die spezifische »Süße« des unmittelbar bevorstehenden Abschiedsschmerzes. Rückblickend erklärt er: »Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in schmachtenden, süßen Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehens geweidet, als ich sie die Terrasse heraufsteigen hörte. Ich lief ihnen entgegen, mit einem Schauer faßte ich ihre Hand und küßte sie« Gemeinsam mit Lotte und Albert begibt sich Werther in die Gartenlaube, wo »tiefe Dämmerung« herrscht, während die anderen Bereiche des Gartens durch den aufgehenden Mond in ein mattes Licht getaucht werden Blasser Mondenschein und tiefe Dunkelheit bilden die empfindsam-melancholische Atmosphäre einer pathosgeladenen Unterhaltung über Tod, Auferstehung und jenseitiges Leben. Werther kultiviert seine melancholischen Stimmungen, da er sie als besonders lustvoll erfährt. Doch es droht ernste Gefahr, denn in seinem Fall wächst sich die spezifisch empfindsame und gemeinhin auch gefahrlose Form der Melancholie zu einer massiven Bedrohung der Seelenbalance aus. Wie Werther bereits am 13. Mai hervorhebt, kann er das im Sinne der Empfindsamkeit vertretbare Maß »süßer Melancholie« nicht einhalten, da bei ihm die sanfte Schwermut immer wieder in den manischen Affekt der »verderblichen Leiden-

schaft« umschlägt. Werthers Melancholie erweist sich als ambivalent. Die empfindsame Vorliebe für elegische Stimmungen verbindet sich bei ihm von Anfang an mit pathogenen Wesenszügen: Dem schwärmerischen Enthusiasmus korrespondiert eine psychische Hyperlabilität, die Einkehr ins eigene Ich verschränkt sich mit einer überspannten Einbildungskraft, der genüsslich kultivierte Hang zur Einsamkeit korreliert mit einem obsessiven Inkludenzgefühl. Noch vor der Bekanntschaft mit Lotte drängen sich Werther Selbstmordgedanken auf, die über das empfindsame Melancholieverständnis weit hinausreichen. Das irdische Leben verengt sich zum quälenden Kerker, aus dem es zu fliehen gilt. Die Suizidneigung, die dem Melancholiker seit der Antike in fast allen medizinischen Abhandlungen zugeschrieben wird, entpuppt sich als Werthers ständiger Begleiter. Die pathogenen Eigenschaften werden in den Maibriefen zwar zunächst nur beiläufig erwähnt, doch bereits hier offenbaren sie ihre ruinösen Implikationen. Werther kann seine heftigen Stimmungen nicht auf ein Normalmaß eindämmen. Ohne Unterlass oszilliert er zwischen Euphorie und Verzweiflung, wobei sich die Stimmungsumschwünge oft ohne erkennbare äußere Einwirkung vollziehen. Neben die psychische Labilität tritt von Anfang an eine hypertrophe Einbildungskraft, deren chaotische Ausgeburten jeder Kontrolle enthoben sind. Werther erliegt einer Handlungshemmung und einem fortschreitenden Wirklichkeitsverlust. Die aufflammende Liebesleidenschaft forciert seine krankhafte Melancholie, da sie ihn in eine prekäre Situation manövriert. Das Verhältnis zu Lotte darf aufgrund ihrer Verlo-

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bung und Ehe mit Albert die Grenzen einer platonischen Seelenfreundschaft nicht überschreiten. Werther unternimmt daher alles, um sein erotisches Verlangen zu unterdrücken. Er stilisiert Lotte zu einer Heiligen, in deren Gegenwart seine sinnlichen Leidenschaften geläutert und zu einer keuschen Liebe sublimiert werden. »Sie ist mir heilig«, erklärt er am 16. Juli 1771 gegenüber Wilhelm mit Nachdruck. »Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart«« Werther sakralisiert Lotte und beteuert wiederholt in seinen Briefen, dass die Liebe zu ihr über jedes körperliche Verlangen erhaben sei. Doch er täuscht sich – das sinnliche Begehren lässt sich auf Dauer nicht unterdrücken und tritt nach dem kurzen Zwischenspiel bei der fürstlichen Gesandtschaft immer stärker hervor. Werther vermag seine idealistische und rein platonische Liebe nicht aufrechtzuerhalten und versinkt in einem wilden Gefühlsaufruhr. Die Beziehung zu Lotte steigert seine Melancholie ins hochgradig Pathologische, da keinerlei Aussicht auf Erfüllung seines körperlichen Begehrens besteht. In diesem Sinne äußert sich auch Goethe im Juni 1774 gegenüber Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn: Allerhand neues hab ich gemacht. Eine Geschichte des Titels: die Leiden des jungen Werthers, darinn ich einen jungen Menschen darstelle, der mit einer tiefen reinen Empfindung und wahrer Penetration begabt, sich in schwärmende Träume verliert, sich durch Spekulation untergräbt, biss er zuletzt durch dazutretende unglückliche Leidenschafften; besonders eine endlose Liebe zerrüttet, sich eine Kugel vor den Kopf schiesst. In dieser konzentrierten Inhaltsangabe skizziert Go-

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ethe mit unmissverständlicher Klarheit den Stellenwert und die Funktion der Liebesbeziehung. Werther verliert sich schon vor der Verbindung mit Lotte in schwärmerische Träume und tiefsinnige Spekulationen, die seine psychische Konstitution unterminieren und suizidale Sehnsüchte heraufbeschwören. Durch das von Leidenschaft und zunehmender Sinnlichkeit geprägte Liebesverhältnis verfällt Werther dann in immer stärkerem Maße der Melancholie, bis er zuletzt im Freitod seinem Leiden ein Ende setzt. Goethes Roman erzählt nicht nur die Geschichte einer tödlich endenden Melancholie, sondern gewährt auch einen umfassenden Einblick in die psychotherapeutische Praxis des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zu den gängigen psychotherapeutischen Heilmethoden der Goethezeit gehören ausgedehnte Reisen und gelegentliche Ortswechsel, eine klar strukturierte Tageseinteilung sowie produktive und abwechslungsreiche Tätigkeit. All diese Maßnahmen sollen den Melancholiker von seiner Fixierung auf die eigene Krankheit ablenken und seine depressiven Stimmungen lindern. Auch die schönen Künste werden als ästhetische Heilmittel für die psychotherapeutische Methode nutzbar gemacht. Insbesondere Musik und Dichtung sollen die seelischen Verspannungen des Melancholikers lösen, indem sie reinigend auf seine Affekte einwirken und ihn je nach Stimmungslage erheitern oder beruhigen. Die genannten Heilmethoden begegnen ohne Ausnahme auch in Goethes Roman. Bereits der Eingangsbrief vom 4. Mai dokumentiert, dass sich Werther auf Wunsch seiner Mutter zu einer Reise entschlossen hat, die ihn von seinen seelischen Konflikten und melancholischen Neigungen ablenken soll. Die Therapie scheint zunächst auch anzuschlagen:


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»Ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein«,

schreibt Werther an seinen Freund Wilhelm. Gerade der unverhältnismäßige Vergangenheitsbezug zählt zu den auffälligsten Symptomen des Melancholikers. Da er sich vom Einfluss zurückliegender Ereignisse nicht emanzipieren kann, verliert er jede Fähigkeit zur Bewältigung der Gegenwart. Das endlose Wiederkäuen der Vergangenheit, das auch andere Figuren Goethes als Melancholiker kennzeichnet, will Werther laut eigener Aussage künftig vermeiden. Dass ihm dies indes nicht gelingen wird, verraten bereits die Maibriefe.Den psychotherapeutischen Vorstellungen der Goethezeit zufolge kommt Wilhelm, dem Adressaten der Briefe, die wichtige Funktion zu, als enger Vertrauter immer wieder mahnend und ermutigend auf Werther einzuwirken. Als sich dessen Gesundheitszustand zusehends verschlechtert, bemüht sich Wilhelm, eine Anstellung bei der fürstlichen Gesandtschaft zu vermitteln. Sie soll Werther durch produktive Tätigkeit psychisch stabilisieren und dem besorgniserregenden Müßiggang ein Ende setzen. Werther, der bislang jede Form der Arbeit als inakzeptable Fron ablehnte, nimmt die von Wilhelm vermittelte Stelle als Gesandtschaftssekretär an, da er glaubt, nur noch auf diese Weise den Qualen der sich sukzessive verschärfenden Melancholie entkommen zu können. Wie bereits am Beginn des Briefromans scheint sich durch den neuerlichen Ortswechsel eine rasche Besserung einzustellen. Die Arbeit sowie der rege Umgang mit zahlreichen Menschen bindet Werthers Aufmerksamkeit und gibt ihm eine neue Lebensperspektive. Am 26. November schreibt er an Wilhelm:

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»Das beste ist, daß es zu tun genug gibt; und dann die vielerlei Menschen, die allerlei neuen Gestalten machen mir ein buntes Schauspiel vor meiner Seele«. Werther lernt an seinem neuen Aufenthaltsort mehrere Personen kennen, mit denen er gerne zusammenkommt, da er ihren Umgang besonders schätzt. Was ihn indes verärgert, ist das äußerst schwierige Verhältnis zu seinem unmittelbaren Vorgesetzten, der bei jeder Gelegenheit gegen ihn intrigiert. Werthers Verdruss steigert sich und kulminiert schließlich nach dem erniedrigenden Verweis aus der höfischen Adelssoirée. Er fühlt sich kompromittiert und reicht sofort seine Kündigung ein. Damit aber scheitert auch der erneute Versuch, durch einen Ortswechsel und durch produktive Tätigkeit die Melancholie zu überwinden. Werther verlässt die Gesandtschaft und folgt zunächst einem Fürsten, um mit diesem in einen Krieg zu ziehen. Liest man zwischen den Zeilen, so wird recht schnell deutlich, warum sich Werther mit einem Mal für das Militär interessiert: Er will den Tod auf dem Schlachtfeld suchen. Nicht zuletzt hierin gleicht er dem Melancholiker Eduard aus den Wahlverwandtschaften, der ebenfalls in den Krieg ziehen will, um sich und seinem seelischen Leiden ein gewaltsames Ende zu setzen.Die ästhetischen Heilmittel Dichtung und Musik gelten der Psychotherapie des ausgehenden 18. Jahrhunderts als besonders effiziente Palliative. Auch in Goethes Roman werden sie immer wieder in diesem Zusammenhang genannt. Wenn Werther in seinem Homer liest oder bisweilen auch Lotte beim Klavierspielen zuhört, so übt dies eine besänftigende und melancholiebannende Wirkung auf ihn aus.


GOETHE

Christian Morgenstern

Nur eine Seite deiner teuren Werke und schöner wird mein Wesen wie von Licht. Du strahlst mich an. Wo blieb die eigne Stärke, Du, mir zugleich Erfüllung und Gericht? Wie kann der Lebende vor Dir bestehen? Und über Wolken wandelt Antwort her: Du bist von denen, die doch immer gehen. Geh weiter denn, kein Sterblicher kann mehr.

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Die Homer-Lektüre beruhigt die ständigen Seelenstürme, und die von Lotte dem Klavier entlockten Melodien vertreiben die dunklen Obsessionen. »Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich«, erklärt Werther am 16. Juli 1771. »Wie mich der einfache Gesang angreift! [...] oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schießen möchte! Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich und ich atme wieder freier« Dichtung und Musik werden von der psychotherapeutischen Praxis des 18. Jahrhunderts zwar als überaus wirksame Heilmittel geschätzt, bei falscher Auswahl oder ungeschickter Dosierung drohen sie jedoch zu abträglichen Ergebnissen zu führen und die Melancholie in erheblichem Maße zu verschärfen. Diese ge-

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gensätzlichen Wirkungen, die bereits in der antiken Medizin reflektiert werden, treten auch in Goethes Roman deutlich zu-tage. So lange sich Werther an Homer hält, erfüllt die Dichtung ihre therapeutische Funktion. In dem Augenblick aber, da er seine Begeisterung für Ossian entdeckt, entfesselt sie ihre unterminierenden Kräfte. Die vermeintlich mythischen Gesänge aus irischer und schottischer Vorzeit entführen Werther in eine dämmrige Nebelwelt, die so gut wie alle Topoi einer melancholischen Landschaft aufweist. Immer wieder ist es Nacht, dichte Wolkenmassen ziehen vorüber, während der Mond die Ebene in ein mattes Licht taucht und steinerne Grabhügel beleuchtet, unter denen junge Männer ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die Ossianischen Gesänge mobilisieren das ganze Repertoire dunkler Stimmungen und verbinden es mit der permanenten Evokation des tragisch erlittenen Todes. Werther taucht in die nordische Sagenwelt ein und glaubt zuletzt selbst über die kahle Heide zu wandern. Er verliert sich in der schwermütigen und todessüchtigen Nebellandschaft, die im Kontrast zu den lichterfüllten Landstrichen der Homerischen Odyssee keine heilenden Energien mehr entfaltet. Die Gesänge Ossians verschärfen und beschleunigen Werthers melancholische Erkrankung, da sie seine Suizidneigungen weiter anfachen. Was Werther an den Ossianischen Gesängen fesselt, ist vor allem die sentimentale Totenklage, die sein eigenes Todesverlangen literarisch sublimiert.


Neben den bereits genannten Therapeutika rückt Goethes Roman auch die soziale Integration als melancholiemindernde Kraft ins Blickfeld. Gerade der Umgang mit Menschen könnte Werther vor seiner permanenten Introspektion bewahren, die ihn immer tiefer in die Melancholie hineintreibt. Werther fällt der Verkehr mit Menschen nicht schwer, er versteht es, rasch Kontakte zu knüpfen und das Vertrauen anderer Menschen zu gewinnen. Dennoch erscheint er von Beginn an als isolierter Einzelgänger, der zu seinen Weggefährten in unüberwindlicher Distanz verharrt. Der flüchtige Kontakt mit anderen Personen dient letztlich nur der melancholischen Selbstbespiegelung. Einzig und allein zu Lotte baut Werther eine intensivere Beziehung auf, die freilich auch von einem narzisstischen Selbstbezug überschattet wird: »Und wie wert ich mir selbst werde, [...] wie ich mich selbst anbete, seitdem sie mich liebt«, schreibt Werther am 13. Juli 1771 Auch in der Beziehung zu Lotte offenbart sich wiederholt ein Ausmaß an Ich-Bezogenheit, das jede zwischenmenschliche Beziehung zerstören muss. Die zahlreichen Heilversuche, die im Verlauf des Romans geschildert werden, führen zu keiner dauerhaften Genesung. Die Melancholie verschärft sich und kulminiert schließlich im Freitod. Bereits am 12. August 1771 berichtet Werther von einem Gespräch mit Albert, das um die Frage des Selbstmordes und um die Möglichkeiten seiner Rechtfertigung kreist. Werther vertritt in diesem Disput den Standpunkt, dass psychische Krankheiten somatischen Gebrechen vergleichbar seien und somit der Selbstmord aus seelischer Verzweiflung ein Pendant zum Tod aufgrund körperlichen Versagens darstelle. Gegenüber Albert erklärt er mit Nachdruck:

»Wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, dass teils ihre Kräfte verzehrt, teils so außer Wirkung gesetzt werden, dass sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist. Nun, mein Lieber, lass uns das auf den Geist anwenden. Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.«

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»Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien musste.« Obwohl Werther in diesem Disput nicht über seine persönliche Situation spricht, wird doch deutlich, dass er, indem er den Selbstmord als unabwendbares Ende einer psychischen Krankheit deutet, antizipatorisch auch seinen eigenen Freitod verteidigt und einer moralischen Verurteilung entzieht. Werthers allgemeine Ausführung liest sich wie eine verdeckte Beschreibung seines eigenen Melancholiker-Schicksals, denn auch er klagt bereits in den Frühlingsbriefen über das Gefühl unerträglicher »Einschränkung«. Zu diesem Inkludenzbewußtsein gesellt sich ebenfalls in den Maibriefen eine hypersensible Einbildungskraft, die schon durch gewöhnliche Alltagserscheinungen in höchstem Maße affiziert wird. Werthers gefährdete psychische Konstitution gerät dann durch die »wachsende Leidenschaft« zu Lotte immer stärker aus dem Gleichgewicht, bis er schließlich einer hochgradigen Melancholie anheimfällt und sich – »aller ruhigen Sinneskraft beraubt« – im Freitod das Leben nimmt. Das Streitgespräch zwischen Albert und Werther kreist nicht nur um die Rechtfertigung des Suizids, sondern auch um das zerstörerische Potential hemmungsloser Leidenschaften. Albert kritisiert Werthers Plädoyer für einen nachsichtigen Umgang mit Selbstmördern und lenkt das Gespräch auf die zweifelhaften Wirkungen der außer Kontrolle geratenen Affekte. Werther reagiert mit Empörung und Emphase:

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Werthers impulsives Bekenntnis lässt sich ansatzweise auf die Aussagen des pseudoaristotelischen Problems XXX I beziehen, das bereits im vierten vorchristlichen Jahrhundert die enge Beziehung zwischen Melancholie und genialer Veranlagung fixiert. Das Problem, das in seinen zahlreichen Verästelungen eine bis weit ins 18. Jahrhundert reichende Tradition begründet und durch Autoren wie Hamann und Lavater an Goethe vermittelt wird, sieht gerade den durch die Melancholie zu genialen Leistungen befähigten Menschen in der ständigen Gefahr, dem ebenfalls durch die Melancholie hervorgerufenen Wahnsinn anheimzufallen. Die zentralen Analogien zwischen der pseudoaristotelischen Abhandlung und Werthers Äußerungen sind offensichtlich. Ein wesentlicher Unterschied besteht freilich darin, dass im Problem der Wahnsinn als negative Kehrseite des melancholischen Genies erscheint; Werther hingegen nobilitiert den Wahnsinn und führt ihn als Parole gegen die banale Sittlichkeit der »vernünftigen Leute« ins Feld. Goethes Roman bietet genügend Anhaltspunkte, um Werthers tödliche Krankheit als Melancholie zu identifizieren. Es findet sich jedoch auch ein außerliterarischer Hinweis, der die Evidenz der Diagnose bestätigt. Goethe hat seinem Briefroman einen Bericht zugrundegelegt, der ihn nach seiner Abreise aus Wetzlar über den aufsehenerregenden Selbstmord des Legations-


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sekretärs Karl Wilhelm Jerusalem unterrichtete. Dieser von Johann Christian Kestner verfasste Bericht, der Goethe einen Einblick in die dramatischen Vorfälle vermitteln sollte, referiert nicht nur die Chronologie des Tathergangs, sondern analysiert zugleich auch den Charakter des Selbstmörders. Jerusalem erscheint bei Kestner als menschenscheuer Sonderling, der mit seinem Vorgesetzten am Reichskammergericht im Dauerzwist liegt und überdies eine aussichtslose Liebesbeziehung kultiviert. Er leidet dem Bericht zufolge auch an den allzu engen Erkenntnisgrenzen, die dem Verstand des Menschen gesetzt sind. Kestner verbindet Jerusalems Inkludenzgefühl mit dessen schwermütiger Haltung und bezeichnet diese expressis verbis als Melancholie, die zum tragischen Freitod geführt habe. Man ginge sicherlich zu weit, wollte man die Werthergestalt als eine poetische Nachbildung Jerusalems begreifen. Es scheint jedoch legitim, in Kestners Brief die Keimzelle für Goethes Dichtung zu sehen, da die Werthergestalt nach den Angaben des Berichtes konturiert wurde und einige Textpassagen sogar wortwörtlich in den Roman eingegangen sind. Indem Kestner den jungen Jerusalem dezidiert als Melancholiker darstellt, Goethe aber die zentralen Elemente aus Kestners Brief in seinen Roman aufnimmt, überträgt er auch Jerusalems Melancholie auf Werther. Goethes Roman thematisiert wie kein zweiter seiner Zeit die psychopathologischen Implikationen der Melancholie. Zugleich aber vermeidet er jede einseitige Verurteilung vom Standpunkt einer rigoristischen Moraldidaxe. Während die meisten Dichtungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Streit um die Melancholie Partei ergreifen, verharrt Goethes Roman in einer neutralen Position, die mit psychologi-

schem Scharfblick die Verlockungen und Gefährdungen der Melancholie auslotet. Einer Verherrlichung des Freitodes wird im Werther sicherlich nicht das Wort geredet, auch wenn viele Kritiker von Lessing bis Nicolai genau dies dem Roman vorgeworfen haben. Goethe idealisiert die Melancholie keineswegs. Er weigert sich aber auch, dem Roman jene »kalte Schlußrede« anzuhängen, die Lessing in einem Brief vom 26. Oktober 1774 an Johann Joachim Eschenburg zynisch einfordert. Der Dichter des Werther hat sich mit der Melancholie bis ins hohe Alter auseinandergesetzt. Noch in seinem letzten Werk – dem zweiten Teil des Faust – widmet er der Melancholie eine eigene Szene. Mit nahezu klinischer Exaktheit beschreibt er im Streitgespräch zwischen der ›Sorge‹ und Faust das altbekannte Krankheitsbild. Die Intensität, mit der sich Goethe in seinem ersten Roman dem Phänomen der Melancholie nähert, lässt auch in späteren Schaffensperioden nicht nach. Goethes literarisches Œuvre steht im Zeichen der Melancholie – wie kaum ein anderes Gesamtwerk ist es diesem Thema verpflichtet.

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GOETHE

Christian Morgenstern

Nur eine Seite deiner teuren Werke und schöner wird mein Wesen wie von Licht. Du strahlst mich an. Wo blieb die eigne Stärke, Du, mir zugleich Erfüllung und Gericht? Wie kann der Lebende vor Dir bestehen? Und über Wolken wandelt Antwort her: Du bist von denen, die doch immer gehen. Geh weiter denn, kein Sterblicher kann mehr.

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MELODIE DER MELANCHOLIE FREDERIKE SCHRÖDER

Rike’s Kunst findet ihren Ursprung in einer Form der Abstraktion. Sie kombiniert digitale, traditionelle und analge Techniken, meistens mit einem direkten Bezug auf ihre Fotografien. Aber erst als sie andere Kunstformen hinzugefügt hat, fand sie die Möglichkeiten, ihre Kreativität frei zu äussern. Ihre Arbeiten basieren auf dem Themengebiet der »verzerrten Wahrnehmung«, die vornehmlich aus dem Mix verschiedener »Grundge Effekten« entsteht. In den meisten Fällen ist Kunst ihr bestes Ausdrucksmittel und ist von Musik oder eigenen Emotionen beeinflusst. Sie versucht ihre Gefühle in einer abstrakten Form zu ausdrücken.

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melodie der melancholie fotomanipulation, digitales malen frederike schrÜder → 197


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ÂťArt never comes from happinessÂŤ

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BERLIN

Christian Morgenstern

Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht, wenn deine Linien ineinander schwimmen, zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen und Menschheit dein Gestein lebendig macht. Was wüst am Tag, wird rätselvoll im Dunkel; wie Seelenburgen stehn sie mystisch da, die Häuserreihn, mit ihrem Lichtgefunkel; und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah. Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben; in seine Schachteln liegt ein Spiel geräumt; gebändigt ruht ein ungestümes Treiben, und heilig wird, was so voll Schicksal träumt.

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MELANCHOLIE IN DER PSYCHIATRIE DES 19. JAHRHUNDERTS MICHAEL SCHMIDT-DEGENHARD

EINLEITUNG

Im folgenden werde ich versuchen, Wandlungen und Entwicklung des psychiatrischen Melancholiebegriffs im 19.Jahrhundert vornehmlich unter problemgeschichtlichen Aspekten darzustellen. Es wird mein Anliegen sein, die geistesgeschichtlichen Hintergründe und Leitlinien der jeweiligen Problemlösungsversuche aufzuzeigen und übergreifende Wirkungszusammenhänge herauszuarbeiten, die eine bis in die Psychiatrie der Gegenwart reichende ideengeschichtliche Kontinuität erkennen lassen. Gerade im Feld der Depressionsforschung zeigt sich heute eine überaus große, die Verständigung behindernde ›Sprachverwirrung‹ und Unschärfe der Begriffsbildung. (»Ein vielbesuchter, leider nur wenig fruchtbarer Trümmerplatz, dessen Fundamente verschüttet sind.« Briefliche Mitteilung von K. W. Bash). Leidtragender dieser Unsicherheit ist der depressive Patient, der hilfesuchend von Therapeut zu Therapeut gelangt und angesichts der verschiedenen Behandlungsmethoden somato- und psychotherapeutischer Natur förmlich zwischen den therapeutischen Fronten »zerrieben« zu werden droht. So wird es zur dringlichen Aufgabe, die Termini ›Melancholie‹ und »endogene Depression«, die oft in sehr ungenauer Differenzierung zur Bezeichnung der depressiven Psychosen angewandt werden, einander gegenüberzustellen und in einem eindeutig geklärten Bedeutungszusammenhang begriffsgeschichtlich zu erhellen. Zuvor eine erhebliche Einschränkung: Der eingrenzende zeitliche Rahmen läßt es nicht zu, angesichts der Fülle des Quellenmaterials, die nosologische Problematik des Melancholiebegriffes im 19. Jahr-

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hundert, d.h. seine Stellung im Rahmen der verschiedenen psychiatrischen Krankheitslehren und seine Abgrenzung von anderen Formen seelischer Abnormität, aufzuzeigen. Karl Kahlbaums (18281899) bahnbrechender Versuch einer Klassifikation der Seelenstörungen als Krankheitsarten aus dem Jahre 1863, der mit den Boden für die klinische Psychiatrie Emil Kraepelins (1856- 1926) bereitete, wird trotz seiner erheblichen Bedeutung für die Geschichte des Depressionsbegriffes - nicht behandelt werden. Ich werde mich also auf repräsentative, exemplarische Beiträge zur Klinik, Psychopathologie und Phänomenologie des melancholischen Krankseins konzentrieren. Die gegenwärtigen deutschsprachigen Lehrbücher der Psychiatrie assoziieren der als »Psychose« deklarierten »endogenen Depression« als Symptome zumeist den phasischen, nicht zu Residualsyndromen führenden Verlauf, die »grundlose, krankhaft übersteigerte Traurigkeit«, sowie die Klagen der Kranken über ihr »unsägliches Leid«, die depressiven »Wahnideen« der Versündigung, der Verarmung und der Hypochondrie und schließlich jenes so komplexe Phänomen der »Hemmung aller psychischen Vorgänge«. Melancholie als leidvolle Form seelischen Andersseins konstituiert sich aus einer Störung oder Abwandlung des Fühlens, der Gestimmtheit, somit einer affektiven Komponente und einer Veränderung des Psychomotoriums, des Antriebserlebens. Hauptziel meiner Ausführungen wird es sein, der Dialektik und der unterschiedlichen Bewertung die-


ser Konstitutionselemente der Melancholie in den verschiedenen Theorien nachzuspüren. Zentraler Angelpunkt jeder Psychiatriehistorie des 19.Jahrhunderts ist der Bruch und die Wende psychiatrischen Denkens und Handeins, die durch Wilhelm Griesinger (1817- 1868) repräsentiert werden, dessen Lehrbuch »Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« 1845 erstmals aufgelegt wurde. Dieses Jahr markiert einen Wendepunkt, der von den sich grundlegend wandelnden philosophischen Hintergründen nicht zu trennen ist: Die romantische Psychiatrie, die Philosophie als ihr Fundament betrachtete, verliert scheinbar endgültig ihre Bedeutung. Die empiristische Grundlegung der Psychiatrie, die letztlich die objektive Erkennbarkeit der Natur des Menschen postuliert, wird zur Doktrin erhoben. Die romantische Psychiatrie dagegen begegnete dem seelisch Anderen mit einer Einstellung, die das unbegreifliche Wesen des Menschseins ahnungshaft immer als Sinnhintergrund der Auseinandersetzung stehen ließ. Es offenbart sich der Kontrast der Möglichkeiten, Psychiatrie als positive Realwissenschaft oder phänomenologischanthropologische Seelenheilkunde zu konzipieren, die positive Realwissenschaft und die phänomenologisch-anthropologische Fundierung der Seelenheilkunde haben. Ein Konflikt, der auch die aktuelle Situation prägt und sich als Erbe des 19.Jahrhunderts zeigt. (Über Möglichkeiten einer Annäherung beider Denkweisen wird zu diskutieren sein). Für unser Problemfeld aber zeigt sich: Melancholie als Seelenstörung ereignet sich in der Spannweite zwischen »Naturexperiment« und geschichtlichem, existenziellen Ereignis. Den folgenden Ausführun-

gen vorangestellt sei die beeindruckende, betroffen machende Selbstschilderung einer melancholisch Kranken des französischen Psychiaters Esquirol (1772-1840), die Griesinger in sein Lehrbuch aufnimmt: »Noch immer leide ich beständig und habe keine Minute von Wohlbefinden und keine menschliche Empfindung; umgeben von allem, was das Leben glücklich und angenehm macht, fehlt mir jede Fähigkeit des Genusses und der Empfindung; beide sind physisch unmöglich für mich geworden ... In allem, in den zärtlichsten Liebkosungen meiner Kinder finde ich nur Bitterkeit, ich bedecke sie mit Küssen, aber es ist etwas zwischen ihnen und meinen Lippen und dieses gräßliche Etwas ist zwischen mir und allen Genüssen des Lebens. Meine Existenz ist unvollständig, die Tätigkeiten, die Handlungen des gewöhnlichen Lebens sind mir geblieben, aber bei jeder fehlt etwas, nämlich die Empfindung, welche ihnen angehörte - und die Freude, die ihnen folgt ... jeder meiner Sinne, jeder Teil meiner selbst ist wie von mir selbst getrennt und kann mir keine Empfindung mehr verschaffen; die Unmöglichkeit scheint von einer Leerheit abzuhängen, welche ich vorn im Kopfe fühle, und von der Verminderung der Empfindung auf der ganzen Körperoberfläche ; denn es scheint mir, als erreiche ich niemals eigentlich die Gegenstände, die ich berühre ... ich fühle wohl die Veränderung der Temperatur auf der Haut, aber die innere Empfindung der Luft beim Atmen habe ich nicht mehr ... Meine Augen sehen, mein Geist nimmt es auf, aber die Empfindung von dem, was ich sehe, ist nicht vorhanden etc.«

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I. DER MELANCHOLIEBEGRIFF DER ROMANTISCHEN PSYCHIATRIE

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Das Spannungsfeld der Psychiatrie im beginnenden 19.Jahrhundert wird geprägt von der lebhaften Diskussion jener beiden Gruppierungen, die noch heute häufig - zu simplifizierend - als Somatiker und Psychiker gegenübergestellt werden. Die Analyse der historischen Quellen läßt jene Konfrontation wesentlich komplexer und vielschichtiger erscheinen: Geistesgeschichtlich erweisen sich diese Gruppen ungeachtet ihrer Polarität als Repräsentanten einer romantischen Psychiatrie unter dem Einfluß der Philosophie des deutschen Idealismus, dessen Hauptvertreter Schelling, Fichte und Hegel waren. Schelling (1775-1854) wird zum bedeutendsten Theoretiker dieser psychiatrischen Epoche; seine naturphilosophischen Werke üben einen tiefgreifenden Einfluß aus. Aber auch das Werk ›Religion und Philosophie‹ (1804), das Windelband in die Periode der Freiheitslehre Schellings einordnet, beeinflußt die Versuche der Psychiker, ein Verirren der Seele begreiflich zu machen. Es ist hervorzuheben, daß die Differenzierung in Psychiker und Somatiker unter Problem geschichtlichen Aspekten etwas gänzlich anderes bedeutet als der moderne Konflikt zwischen den Vertretern einer extremen Somato-Psycho- oder Soziogenese der sogenannten ›endogenen Psychosen‹: Es stehen sich nicht ätiologische Ideologien gegenüber, beide Richtungen entstammen vielmehr einer gemeinsamen philosophischen Heimat. Eine problemgeschichtliche Linie von den Somatikern über Griesinger bis etwa hin zur neuropsychiatrischen Konzeption Wernickes läßt sich nicht ziehen. Gerade der junge Griesinger hebt sich in radikaler Kritik von Maximilian Jacobi (1775-1858), einem der beiden Hauptvertreter der somatischen Schule, ab. Die romantischen Psychiater stellen, wenn auch mit verschiedenen Auffassungen und Antworten, ausführlich und mit tiefem Ernst die Grundfragen nach dem Wesen der Seele und ihrem Verhältnis zum Leib. Diese Fragen kulminieren schließlich in dem metaphysischen Problem, ob denn die Seele, das unsterblich Geglaubte im Menschen, überhaupt erkranken könne, somit sich verirren könne.


Für den somatischen Vertreter der romantisch-idealistischen Psychiater bleibt die Seele die unverletzbare »forma corporis«, das »principium vitae« des Aristoteles und der Scholastiker. Und so formuliert Friedrich Nasse (1778-1851), der andere Hauptvertreter der Somatiker, daß der »Seele Eigentum ... Freiheit« sei, daß »die Seele nur auf bedingte Weise durch den Leib gebunden sei.« (zit. nach Kirchhoff). Das Irresein ist ein Zustand, wo »Denken und Willen vom Körper bestimmt werden, nicht von der Seele«, so daß eine» Verrückung des normalen Verhältnisses von Leib und Seele« resultiert. Beinahe apodiktisch formuliert Jacobi (1844): »Nimmer hingegen erkrankt die höhere, eigentliche Seelentätigkeit in sich, das Innere des humanen Lebens, die Substanz der Persönlichkeit, dasjenige, was sie mittelst jener Form frei tätig in sich selbst wird.« (Jacobi, 1844, XXIX) Die Somatiker können sich auf Hegel beziehen, dessen Verdikt über die Autonomie des subjektiven Geistes eine Erkrankung des subjektiven Geistes nicht zulassen kann: »Der Geist ist frei, und darum, für sich, dieser Krankheit (d.h. der Verrücktheit) nicht fähig.« Die Hypostasierung der Seele, das Postulat ihrer Unverletzbarkeit verwehren somit den somatischen Psychiatern den Zugang zur inneren Lebensgeschichte des Leidenden, da eine historische Dimension der Seele für sie nicht existiert. Das Credo Johann Christian August Heinroths (1773- 1843), der als der Repräsentant der Psychiker gilt, bekennt dagegen: »So ist es doch bey weitem in den meisten Fällen nicht der Leib, sondern die Seele selbst, von welcher unmittelbar und zunächst, ja ausschließlich die Seelenstörungen hervorgebracht und durch diese erst mittelbar die leiblichen Organe affiziert werden.« (Heinroth, 1818), Somit öffnet sich die Perspektive zur Erforschung der inneren Lebensgeschichte, des Werdens des seelisch Anderen; der Entwicklungsaspekt seelischer Krankheit rückt ins Zentrum des Forschens. Es ist zu einem gern und oft benutzten Vorurteil geworden, den Einfluß der romantischen Naturphilosophie und Anthropologie auf die Psychiatrie als Hindernis für die Entwicklung

des Faches zu einer empirischen Disziplin zu werten. Naturbetrachtung im Sinne Schellings vernachlässigt nicht die Empirie; vielmehr wird diese mit zum Fundament und Träger auch philosophischen Erkennens. Im Jahre 1822 fordert Carl Gustav Carus (1789-1869) in ähnlicher Weise die Einheit von »Naturbetrachtung« und »spekulativer Betrachtung«. Das so erstrebte Maß und die Ausgewogenheit im Verhältnis von Beobachtung und Deutung der Naturerscheinungen, setzt aber die Notwendigkeit einer beide Erkenntniswege verknüpfenden Ausbildung voraus, um zum Ziel wissenschaftlichen Erkennens zu gelangen: der Anschauung des zu erforschenden Menschen oder Gegenstandes. ›Anschauung‹ in seiner ganzen begrifflichen Weite steht im Zentrum der romantischen Wissenschaftslehre. Anschauung bedeutet nicht einfach Deskription des Vorgegebenen, sie steht vielmehr im Gegensatz zum einfachen Vorgang des Beobachtens. Der Anschauende tritt in einem Erkenntnisakt, in dem Denken, Phantasie und Gefühl aktiv und rezeptiv ineinander greifen, in das Wesen des zu Erkennenenden ein. Entsprechend entwickelt Heinroth in der »inneren Architektonik« seines psychiatrischen Werkes eine Wesenslehre der Seelenstörungen. Die antizipierende Analogie der von Husserl ( 1859- 1938) konzipierten Gegenüberstellung von deskriptiver und reiner Phänomenologie sei nur angedeutet: Eben jene innere Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie beleuchtet eines der aufregendsten Kapitel des psychiatrischen Grundlagendenkens im 20. Jahrhundert.

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Heinroth wird 1818 auf den ersten deutschen Lehrstuhl für »psychische Heilmelancholiekunde« in Leipzig berufen. Im gleichen Jahr war sein zweibändiges »Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens« erschienen, das neben den »Beiträgen zur Krankheitslehre« umfassenden Aufschluß über seinen Melancholiebegriff gibt. Heinroth gilt bis heute als wichtigster Repräsentant der Psychiker. Mit seinem Namen wird häufig seine oft als moralisierende ›Sündentheorie‹ pauschal abgelehnte Wesenslehre der Seelenstörungen assoziiert. Diese so mißverstandenen Gedanken stellen einen zeitgebundenen, an Schelling angelehnten Versuch dar, dem Unfaßbaren, dem Geheimnischarakter des ›Verrückten‹ näherzukommen. Heinroth entwickelt daneben eine in der Folgezeit kaum gebührende Beachtung findende personale Anthropologie. Mit einer Deutlichkeit, die sich in der Folge nur noch in der personalistischen Phänomenologie Max Schelers (1874-1928) und der psychiatrischen Anthropologie V.E. von Gebsattels (1883-1976) findet, stellt Heinroth die leibseelische und geschichtliche Erfahrung des Person-Seins in den Mittelpunkt aller Erörterungen über Entwicklung und Verlauf der Seelenstörungen. Konsequent bezeichnet er diese Beschränkung als »menschlichkrankhaften Zustand«. Die Seelenstörungen werden als mißglückte Reifungskrisen im Übergang der Lebensalter beschrieben, in denen der »göttliche Schöpfungsplan« der menschlichen Entwicklung »verrückt« werde. Modern mutet seine Formulierung an, daß die Seelenstörungen die Folge eines »gestörten, inneren Organisationsprozesses zur Entwicklung des vollendeten Lebens« seien. Die Seelenstörung ist ein Zustand »dauernder Unfreiheit oder Vernunftlosigkeit«. Hauptaufgabe wird in dieser Perspektive die Erforschung der inneren Lebensgeschichte des Leidenden. Erstaunlich stehen daneben Heinroths Ansätze, eine »in der Natur des Menschen selbst begründete Ordnung der Seelenstörungen « zu entwerfen, d. h. diese als regelhafte Abwandlungen des Daseinsvollzuges zu verstehen. Heinroth formuliert, daß all die ver-

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schiedenen Formen der Seelenstörungen »nach Maßgabe ihrer Bedingungen genau bestimmt werden können.« Heinroths Ordnungsversuch der Seelenstörungen orientiert sich an der tradierten, auch von Kant beibehaltenen Lehre von den Seelenvermögen und unterscheidet Erkrankungen des Geistes, des Gemütes und des Willens. Heinroth benutzt übrigens den Begriff ›Seelenenergien‹. Hier nun zeigt sich ein wesentlicher Aspekt der Problemgeschichte der Melancholie: Sie wird im folgenden immer wieder als Krankheit des Fühlens, häufiger aber als Krankheit des Gemüts, als eine Störung der Affekte, »definiert«. Der Bedeutungswandel der zentralen Begriffe »Gemüt« und »Affekt« vor und unter dem Einfluß des geistesgeschichtlichen Hintergrundes führt ins Zentrum des psychiatrischen Melancholieproblems. Beim Betrachten der weiteren Entwicklung im 19. Jahrhundert hat die Frage, ob Melancholie als »affektive Psychose« zu charakterisieren sei, erhebliches Gewicht. Unter dem Einfluß der zeitgenössischen Krankheitslehre des Engländers William Cullen werden die Krankheitsgattungen in Zustände der Depression oder Exaltation der Seelenvermögen unterschieden. Bemerkenswert ist, daß Heinroth den in seinen Ursprüngen neuropathologisch intendierten, den Tonus der Hirngefäße beschreibenden Begriff »Depression« erstmals zur Bezeichnung von Seelenstimmungen anwendet. Ursprünglich bezeichnet der genuin organpathologisch intendierte Depressionsbegriff kein psychologisches Phänomen, sondern eine funktionelle Veränderung des körperlichen Substrats. Heinroth vollzieht eine psychologische Transformation des organisch konzipierten Depressionsbegriffes und begründet einen bleibenden Bedeutungswandel von »Depression«, der zunächst allerdings noch nicht den Bedeutungsraum von Melancholie verdrängt. »Depression« kennzeichnet zunächst noch das ubiquitäre Symptom der traurigen, gedrückten Verstimmung, während mit »Melancholie« ein definierter Zustand seelischen Leidens bzw. eine Krankheit gemeint ist.


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Die Gleichsetzung beider Begriffe und der nachfolgende Bedeutungsverlust von Melancholie gehören einer späteren begriffsgeschichtlichen Epoche an, die erst nach Griesinger anzusetzen ist. Melancholie ist für Heinroth eine Depression des Gemütes, eine Krankheit, in der das Gemüt von einer »deprimierenden Leidenschaft« affiziert wird. Bereits in den einleitenden Bemerkungen seines Buches skizziert Heinroth das oft zitierte Bild des »in sich zurückgescheuchten melancholischen Gemüts«, das »gleichsam an sich selbst nagt.« Die Metaphorik des Bohrenden und Grüblerischen zur Kennzeichnung des depressiven Wesens wirkt wirksam durch Heinroths physiognomische Ausdruckskraft und weist auf die daseinsanalytischen Arbeiten einer späteren Epoche voraus, die hier ihre ideengeschichtliche Voraussetzung finden. Die Untersuchung des Heinrothschen Gemütsbegriffes deckt einen zentralen problemgeschichtlichen Aspekt des Melancholieproblems auf: Heinroth beschreibt den Menschen als »fühlendes Wesen, als ein Wesen, das sich nach Befriedigung der ihm eingeborenen Bedürfnisse sehnt und in dem Gefühl dieser Sehnsucht als Gemüt oder Herz erscheint.« Hervorzuheben ist die Kongruenz von Gemüt und Herz. An einer anderen Stelle bezeichnet er das Gemüt als das, »was wir gewöhnlich und ausdrucksvoll Herz nennen«. Schließlich findet sich die folgende Anmerkung zum Gemütsbegriff : »Ist denn dieser Ausdruck zu provinziell, oder so vag und abstrakt, oder überhaupt unnatürlich, daß man ihn nicht mehr gleichbedeutend mit dem bildlichen Wort Herz gelten lassen mag? Also Kummer und Gram, wie Freude und Hoffnung, sie sollen nicht mehr ihren Sitz im Gemüt haben? Wo denn sonst?« Die Melancholie ist für Heinroth also die Krankheit des Gemütes, des Herzens. Heinroth steht somit aber in der alten abendländischen Tradition einer »Philosophia cordis«: »Herz« als anthropologischer Grundbegriff meint die personale Mitte des Menschen, es ist das Organ seiner substantialen Einheit. Das Herz steht als Wesensmitte im Gefüge von Leib und Seele, es ist Ausgangspunkt und Zentrum personaler Wesensentfaltung. Eine Ideen-

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geschichte des philosophisch-theologischen Herzbegriffes weist zurück auf Augustinus und die patristische Theologie. Die Akedia, die Herzensträgheit, die Cassian als eine einsamkeitsbedingte Krankheit und Versuchung der frühchristlichen Anachoreten beschreibt, gehört in diesen Zusammenhang. Die Philosophia cordis führt über die deutsche Mystik, vor allem Hildegard von Bingen und Meister Eckhart, über Paracelsus und Pascal bis hin zur schwermütigen Gebrochenheit Kierkegaards. Im geistesgeschichtlichen Kontext Heinroths postuliert erneut der junge Hegel die Identität der Erscheinungen »Herz« und »Gemüt«; in der »Phänomenologie des Geistes« stellt. er den »Wahnsinn des Eigendünkels« dem »Gesetz des Herzens« entgegen. Herz und Schwermut haben einen gemeinsamen Bedeutungsgrund, sind wesensverwandt. Melancholie ist also die Krankheit der personalen Mitte des Menschen; sie begründet eine schwerwiegende Störung der Entfaltung des personalen Gefüges. Heinroth nennt sie das Gegenteil der Vollkommenheit, sie ist der »elendeste Zustand«, in dem das Gemüt von der ganzen Welt getrennt ist. Als die Krankheit der personalen Mitte steht die Melancholie im Zentrum der psychiatrischen Krankheitslehre Heinroths, da das Gemüt oder Herz für ihn jenes Zentrum der leib-seelischen Einheit des Menschen darstellt, in dem er »auf das Ewige gerichtet ist«. Diese - in letzter Konsequenz - theologische Deutung des Gemütsbegriffes zeigt aber auch die Schwächen der Heinrothschen Melancholiekonzeption, die das klinische Phänomen der psychomotorischen Hemmung als Kardinalsymptom der depressiven Psychosen nicht entsprechend erfassen kann. Heinroth gesteht der vitalen Hemmung keine konstituierende Rolle im Aufbau des melancholischen Krankseins zu. Die ›reine Melancholie‹ wird als Gemütslähmung mit »Niedergeschlagenheit, Insichversunkenheit und Brüten über irgend einen Gegenstand des Verlustes, der Trauer, des Schmerzes, der Verzweifelung« beschrieben: »Unruhige, ängstliche, hastige Beweglichkeit, oder bewegungsloses Hinstarren mit Unempfindlichkeit gegen jedes an-


dere Interesse als das des befangenen Gemüths, unter Seufzen, Weinen und Wehklagen« kennzeichnen die Symptomatik der reinen Melancholie. Als Unterformen der Melancholie erscheinen die Melancholie mit Blödsinn, die Melancholie mit Willenlosigkeit, die allgemeine Melancholie sowie als Sonderformen das Heimweh, die »Nostalgia« und die »religiöse Melancholie«. All diese Formen tragen Züge der ›endogenen Depression‹ unseres heutigen Diagnoseschemas und beleuchten besonders das Phänomen der psychomotorischen Hemmung. Die Annahme eines basalen, noch vor der Differenzierung in die einzelnen Seelenvermögen gelegenen Psychomotoriums ist Heinroth fremd. Es findet erst unter dem geistesgeschichtlichen Einfluß des Sensualismus, der die Entstehung neurophysiologischer Konzeptionen der seelischen Krankheiten fördert, mit Jessen und Griesinger Eingang in die Psychiatrie. Heinroths zu dogmatische Charakterisierung der Melancholie als Krankheit des Gemütes verbietet, daß in ihrem Symptomaufbau gleichberechtigte Störungen des Denkens, Wollens und HandeIns bestehen. Seine Schwierigkeit, affektive und psychomotorische Störungen als die beiden tragenden konstituierenden Elemente der Melancholie zu verstehen, weist voraus auf die Problemstellungen späterer Generationen bis hin zur Moderne, denen die »vitale Hemmung« immer mehr zum Hauptproblem des Symptomaufbaus der Depression wird, während die Störung der Gestimmtheit nun eher sekundär bewertet wird. Im folgenden sei aus Heinroths »Wesenslehre der Melancholie« zitiert. Sie ist einer der souveränen, eindrucksvollen Versuche der psychiatrischen Literatur, in tiefer Betroffenheit das Leiden des melancholischen Menschen aus der Perspektive des begleitenden Therapeuten intuitiv zu erfassen: In der Melancholie »wird der Mensch eine Beute der zwingenden Gewalten, welche auf sein Herz eindringen – Sich loßzureißen und wieder selbständig zu werden, ist keine Möglichkeit mehr: Das Herz und sein Gegenstand sind verschmolzen. Weil aber in diesem Zustande das Herz nicht mehr des Menschen ist, sondern des Gegenstandes, so faßt den Menschen eine unendliche Qual, denn er ist in einen unendlichen Widerspruch versetzt, in diesen: daß er von sich selbst geschieden ist, und doch nicht von sich scheiden kann. Dies ist wahre Höllenqual: denn das Wesen der Hölle ist die Anschauung und

das Gefühl dessen, was in sich Eins ist, als eines Getrennten. In diesem Selbstgefühl des Nicht-sich-selbst-Angehörens ist das Gemüth bey der Melancholie verloren; und dieß ist das Wesen der Melancholie, welches allen Erscheinungsweisen derselben zum Grunde liegt.« Das melancholische Leiden wird als wahrlich Unzumutbares begriffen, als in einem bestimmten Sinn Un-Menschliches, das für den Betroffenen »In der Hölle sein« bedeutet. Es ist das absolut Schlechte, das sich für den melancholischen Menschen in ihm selbst personalisiert. Viktor Emil von Gebsattel (1883-1976) wird mehr als 120 Jahre später in seinem Versuch einer phänomenologischen Analyse des melancholischen Entfremdungserlebens von der Unvollziehbarkeit des Daseins in der Melancholie sprechen, die nur eine »Existenz in Leere« zulasse. Die Wesenserkenntnis seelischer Krankheit wird zur denkenden Voraussetzung der therapeutischen Begegnung mit dem seelisch Leidenden. Die Problemgeschichte unterstreicht hier Kiskers Forderung, daß »das Helfen im weitesten Sinne als unerläßliche methodische Bedingung des psychiatrischen Erkennens« integriert wird.

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II. DER MELANCHOLIEBEGRIFF GRIESINGERS UND DER NATURWISSENSCHAFTLICHEN PSYCHIATRIE

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Bereits im Jahre 1845 erscheint die erste Auflage von Griesingers »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten«. Die Melancholie wird hier als primärer affektartiger Zustand des Irreseins beschrieben. Diese Charakteristik führt den Affektbegriff als neuen Terminus in die Problemgeschichte der Melancholie ein. Griesinger entlehnt ihn der Assoziationspsychologie des Philosophen Johann Friedrich Herbart (1776-1841). Seine Hinwendung zu Herbart, auf den er sich in der Vorrede sowie im allgemeinen Teil seines Lehrbuchs wiederholt beruft, zeigt einen tiefgreifenden Wandel des geistesgeschichtlichen Hintergrundes der Psychiatrie im 19. Jahrhundert auf. Herbarts Psychologie ist der Versuch, »eine Physik des Geistes« zu begründen, um der »falschen Freiheitslehre der neueren Zeit«, dem Idealismus und seiner Psychologie ein Ende zu bereiten. Herbart lehnt im Widerspruch zur Philosophie des deutschen Idealismus die Idee einer schöpferischen Spontaneität des Subjekts als Fiktion ab; er erweist sich als konsequenter Sensualist. Die Vermögenspsychologie wird ersetzt durch eine Psychologie der Assoziationen. Seine Metaphysik nimmt den Erscheinungen der Welt zugrundeliegende sog. »Reale« an, die als absolute Qualitäten unerkennbar sind; sie ähneln im weitesten Sinne dem Begriff des »Dings an sich« (Kant). Die »inneren Zustände« der Reale aber sind erfahrbar ; als »Störungen« und »Selbsterhaltungen« konstituieren sie in wechselseitiger Dynamik den Aufbau der natürlichen Wirklichkeit. Die Selbsterhaltungen des Reals »Seele« sind die Vorstellungen, die anderen Vorstellungen als Störungen gegenübertreten können. Es gibt somit keine autochthone Spontaneität der Seele, kein seelisches Selbstgetriebe. Seelische Dynamik verdankt sich dem mechanischen Kräftespiel der Vorstellungen, die in ständigem Konflikt miteinander stehen. Das Bewußtsein erscheint so als »Bühne« wechselnder Vorstellungsreihen, deren innere Dynamik Herbart mit der quantitativen Größe der »Hemmungssumme« zu erfassen versucht. Mittels der Apperzeption nehmen die Vorstellungsreihen in Selbsterweiterung wiederum neue Vorstellungen auf.


Die Geschichte des für Herbarts Psychologie grundlegenden Begriffs der Vorstellung weist zurück auf Leibniz, der, im Gegensatz zur mittelalterlichen Auffassung der Seele als »Eidos« oder »forma substantialis«, das dynamisch-energetische Moment in der Wesensbestimmung des Bewußtseins betonte und so eine enge Wechselbeziehung zwischen Kraft- und Bewußtseinsprinzip herbeiführte: »Der Kern seelischen Seins ist Kraft.« (Leibniz, Theodizee, 1710) Als inhaltliche Bestimmung der seelischen Kraft definiert Leibniz die psychische Funktion der Vorstellung, die vis repraesentativa, die als konstitutives Merkmal des Psychischen zu erkennen ist: Die Grundlage des Seelenlebens ist das vorstellende und denkende Bewußtsein; beide sind nur gradmäßig verschiedene Stufen des Erkennens: die theoretisch-intellektuelle Funktion rückt in den Mittelpunkt, Seelen- und Bewußtseinsbegriff verschmelzen miteinander. Das Geheimnishafte des Seelenlebens wird aus den Möglichkeiten des Erkennens ausgeschieden. Der Begriff »Empfindung« wird definiert als »dunkle und verworrene Vorstellung«, als eine Perzeption minderen Helligkeitsgrades. Desiderat der Psychologie wird die »mathesis intensorum«. Christian Wolff (1679-1754) prägt erstmals den Begriff »Psychometrie« und sieht als Angriffspunkt quantitativer Bestimmung des Seelischen den Lust- oder Unlustwert der Vorstellungen in Abhängigkeit von den Eindrücken »Vollkommenheit« und »Unvollkommenheit«. Bei Herbart und Griesinger sind die Vorstellungen letztlich starre Größen, die Atomen ähneln, die sich im Gewicht unterscheiden; das Wesen des Vorstellens als psychologische Qualitas wird fast nicht beachtet. Es ist Herbarts Ziel, eine Psychologie analog der Naturforschung zu begründen. Seine intellektualistische Mechanik des Geistes bestimmt als Ziel für die psychologische Forschung die Quantifizierung und Mathematisierung der seelischen Abläufe. Wie kann man ihre Gesetzmäßigkeit aufdecken? Diese Frage steht im Mit-

telpunkt der psychologischen Forschung. Besonders kennzeichnend für die Herbartsche psychologische Blickrichtung ist somit der Versuch, mathematisches Denken konsequent auf das seelische Geschehen anzuwenden. Ein System von Statik und Mechanik seelischer Elementarvorgänge, das dem naturwissenschaftlichen Ideal einer kausal determinierten, in quantitative Formeln zu fassenden Bestimmung der Wirklichkeit gänzlich entspricht, ist das Ziel. Griesinger übernimmt Herbarts Vorstellungsbegriff für sein Lehrbuch: Das Gebiet des Vorstellens schiebe sich zwischen die beiden »Grundakte des psychischen Lebens«, »Empfindung« und »Motorik«, und beherrsche diese in vielen Beziehungen. Innerhalb der Vorstellungen spiele sich das ganze geistige Leben ab. Konsequent ist daher zu folgern, daß Geisteskrankheiten immer auch Störungen der Dynamik der Vorstellungen sind. Eine so intendierte Psychologie mußte einen tiefgreifenden Bedeutungswandel des tradierten Gemütsbegriffes zur Folge haben. Im ›Lehrbuch der Psychologie‹ formuliert Herbart : »Die Seele wird Geist genannt, sofern sie vorstellt, Gemüt, sofern sie fühlt und begehrt.« Affekt und Wille verschmelzen zu einer einheitlichen Gemütsfunktion, die Triplizität der Seelenvermögen wird aufgegeben. In sorgfältiger Differenzierung werden die »Affekte« den »Gefühlen« gegenübergestellt. Gefühle sind die Weisen, in denen das Vorstellen sich lust- oder unlustbetont, fördernd oder hemmend ereignet. Die Gefühle kennzeichnen jeden seelischen Akt, sie sind physiologisch, während die Affekte solche Gemütslagen darstellen, »worin die Vorstellungen beträchtlich von ihrem Gleichgewicht entfernt sind.«An anderer Stelle werden sie entsprechend als »leichte Krankheiten eines übrigens gesunden Geistes« definiert. Gefühle und Affekte müssen sorgfältig differenziert werden, sie sind nicht synonym, sondern repräsentieren unterschiedliche Bestimmungen der psychischen Zustände. Griesingers Gefühls- und Affektbegriff adaptiert ganz und gar die Herbartsche Konzeption.

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Im Gegensatz zu den plötzlich eintretenden Affekten werden die Stimmungen als länger andauernde Veränderungen der Selbstempfindung gekennzeichnet. Beide, Stimmungen und Affekte, bilden »zwei große Klassen, die expansiven (affirmativen) und die depressiven (und zugleich negativen).« (Griesinger, 1867) Daraus folgt, daß bei Griesinger »Depression« niemals zum Krankheitsbegriff wird. Der Depressionsbegriff meint immer eine Stimmungsoder Affektlage, der tradierte Melancholiebegriff bleibt hier noch unangetastet: Die psychopathologische Grundlage der Krankheit Melancholie bilden depressive Affekte und Stimmungen von unterschiedlicher Intensität. Eine kurze Betrachtung von Griesingers Gemütsbegriff illustriert den voluntaristischen Aspekt seines Denkens: »Das Gemüth ... hat nun eine ganz wesentliche Beziehung zur motorischen Seite des Seelenlebens, zu den Trieben und dem Wollen.« Findet sich auf physiologischer Ebene der spinale Tonus als augenblickliches Gleichgewicht der peripheren Sensomotorik, so herrscht im Gehirn als dem Organ des Vorstellens einpsychischer Tonus. Dieser wird gebildet durch das» Verhältnis der Summe aller Vorstellungen als eines Ganzen zu der Kraft und Leichtigkeit und Richtung der möglichen Bestrebungen«. Es resultiert ein »Zustand scheinbarer Ruhe, eben das Gemüt.« Steht am Beginn peripher-neurologischer Erkrankungen eine Irritation des Rückenmarks, so steht am Beginn seelischer Erkrankungen die Zerebralirritation, die zu einer Störung des psychischen Tonus führt. Als initiales Moment des Irreseins erscheint eine psychische Hyperästhesie, der Seelenschmerz der Melancholie. (Zit. nach Kirchhoff) Der Gemütsbegriff besitzt also bei Griesinger nicht mehr die anthropologische Bedeutung, die Heinroth noch in der Identifizierung von Herz und Gemüt erneuert hatte. Mit der Tradition der »philosophia cordis« wird gebrochen. Aber die Gemütskrankheit Melancholie wird in der aufgeklärten Perspektive und verständlichen These Griesingers erklärbar, rational faßbar; sie besitzt nicht mehr den Charakter des Unheimlichen und Dämonischen. Es zeigt sich das humanistisch-aufklärerische Grun-

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delement der Psychiatrie Griesingers, das auch sein überragendes Engagement für die humane Behandlung der Geisteskrankheiten bedingt. Vernünftige Aufklärung und humanes Wirken gehören zusammen; der Griesinger zugeschriebene Satz »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« ist mehr als Ausdruck eines vulgären Materialismus. Vor allem markiert er einen wesentlichen Schritt zur gesellschaftlichen Akzeptanz der seelisch Kranken. Die extreme Somatisation des Herbart-Griesingerschen Denkens findet sich bei Theodor Meynert (1833-1892), der in seiner psycho-physischen Architektonik ein das seelische Leben fundierendes Wechselspiel von Assoziations- und Projektionsfasern des Gehirns beschreibt. Ihr Funktionsgrad wird durch ihre nutritive Leistung bestimmt. Der Affekt ist so Ausdruck einer bestimmten Ernährungsweise des Gehirns. Die »traurige Verstimmung« als melancholisches Primärsymptom ist lediglich Folge der Selbstwahrnehmung des Chemismus der Hirnzellen. In seiner psychiatrischen Krankheitslehre orientiert sich Griesinger die längste Zeit seines Wirkens am zeitgenössischen Theorem der sog. Einheitspsychose, das lediglich eine seelische Erkrankung annimmt, das Irresein: Dieses umfaßt als einheitlicher, progredienter Prozeß die gesetzmäßig aufeinander folgenden Stadien der Schwermut (Melancholie), der Tollheit (Manie), der Verrücktheit (Paranoia) und des Blödsinns (Amentia). Griesinger bezeichnet diese successiven Stadien als »psychisch-anomale Grundzustände«. Seine Definition des Irreseins sei wegen ihrer Prägnanz im folgenden wörtlich wiedergegeben: »Zwei große Gruppen psychisch-anomaler Grundzustände ergeben sich aus der Analyse der Beobachtungen als die beiden wesentlichsten Verschiedenheiten des Irreseins. Einmal nehmlich beruht dasselbe auf dem krankhaften Entstehen, Herrschen, Fixirtbleiben von Affecten und affectartigen Zuständen, unter deren Einflusse nun das ganze psychische Leben die der Art und Weise des Affects adäquaten Modificationen erleidet. Das anderemal besteht das Irresein in Störungen des Vorstellens und Wollens, die nicht (nicht


mehr) von dem Herrschen eines affectartigen Zustands herrühren, sondern ein, ohne tiefere Gemüthserregtheit selbständiges, beruhigtes falsches Denken und Wollen (meist mit dem herrschenden Charakter psychischer Schwäche) darstellen. Die Beobachtung ergibt nun weiter, dass die Zustände, die in der ersten Hauptgruppe enthalten sind, in der ausserordentlichen Mehrzahl der Fälle den Zuständen zweiter Reihe vorangehen, dass die letzteren gewöhnlich nur als Folgen und Ausgänge der ersteren auftreten. Es zeigt sich ferner innerhalb der ersten Gruppe wieder eine gewisse bestimmte Aufeinanderfolge der einzelnen Arten affectartiger Zustände, und so ergibt sich eine Betrachtungsweise des Irreseins, welche in den verschiedenen Formen verschiedene Stadien eines Krankheitsprocesses erkennt, welcher zwar... modificirt, unterbrochen, umgeändert werden kann, im Ganzen aber einen steten succesiven Verlauf einhält, der bis zum gänzlichen Zerfall des psychischen Lebens gehen kann.« (Griesinger, 1867) Im Jahre 1865 wird das einheitspsychotische Dogma durch den berühmten Vortrag des Hildesheimer Psychiaters Ludwig Snell (1817- 1892) erschüttert. (»Über Monomanie als primäre Form der Seelenstörung«). Snell berichtet über acht seelisch Kranke mit einer primären Wahnbildung, d.h. im Sinne Herbarts und Griesingers mit einer primären Störung des Vorstellens und Denkens ohne melancholisches Vorstadium. Hierdurch wird der Weg frei zur systematischen Erforschung der Paranoia. (Die »Geburtsstunde« der Entwicklung zum Schizophreniebegriff ist hier anzusetzen.) Griesinger wird sich 1867, ein Jahr vor seinem Tod, Snell anschließen und die Nosologie seines Lehrbuchs widerrufen. In seinem Lehrbuch führt Griesinger als Unterformen der Schwermut die Hypochondrie, die eigentliche Melancholie, die Schwermut mit Stumpfsinn, eine Schwermut mit Äußerungen von Zerstörungstrieben und eine Schwermut mit anhaltender Willenserregung auf. Interessant ist seine Gleichsetzung des Melancholiebegriffs mit dem deutschen Wort »Schwermut«, ein Vorgang, der manchem seiner Zeitgenossen (z. B. Flemming) bereits überholt erscheint. Das Grundmuster der schwermütigen Erkrankungen ist ein depressiver, negativer Affekt, ein Zustand psychischen Schmerzes. Griesinger unterstreicht, daß ein Reizzustand, eine Hyperästhesie, das Grundleiden der Melancholie bilde; der

Depressionsbegriff könne die falsche Annahme einer Suppression der psychischen und intrazerebralen Vorgänge nahelegen. Mit Depression werde lediglich die aus den pathophysiologischen Vorgängen resultierende Stimmung bezeichnet. Der bereits skizzierte voluntaristische Grundzug im Denken Griesingers ermöglicht eine wesentlich treffendere Akzentuierung der psychomotorischen Hemmung im Symptomaufbau des Krankheitsbildes. Die zentrale Stellung des Hemmungsbegriffes in der Herbartschen Psychologie gebietet geradezu seine Adaptation zum Verständnis psychopathologischer Phänomene. Die Verschiedenheit motorischer Störungen im Verlauf melancholischer Erkrankungen begründet für Griesinger die Unterscheidung mehrerer Hauptformen der Melancholie. So finden wir die heute geläufige Differenzierung in psychomotorisch gehemmte und agitiert depressive Syndrome. Die Grundstörung der Melancholie liegt in einer affektiven Reizung des Vorstellungsorganes, der gleichsam reflektorisch Veränderungen des Psychomotoriums folgen. Die depressive Stimmung, aber auch die weiteren psychopathologischen Symptome (Schuld- oder Versündigungswahn) sind reaktiver und sekundärer Natur. Griesinger sieht im Wahn einen Erklärungsversuch des Kranken, um seine Affektstörung ertragen zu können.

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delirium / melancholy digitale fotomanipulation eylem elif coskun → 197


Die Schilderung der einzelnen Schwermutsformen überrascht durch feine psychopathologische Beobachtungen. Immer wieder begegnen treffende Schilderungen verschiedenartiger Entfremdungserlebnisse. Manchen Melancholikern scheine »die reale Welt ganz versunken, untergegangen oder ausgestorben«, es sei »nur eine Schein- oder Schattenwelt übrig geblieben«, in der der Kranke »zur eigenen Qual« weiterexistieren müsse. Den »Anomalien der Selbstempfindung« kommt eine zentrale Rolle im Erleben der Kranken zu. So finden sich in einer letztlich dem Ideal der naturwissenschaftlichen Forschung folgenden Psychiatrie auch Sentenzen, die dem Gedankenfeld einer anthropologischen Psychiatrie entstammen könnten: » Einen wesentlichen Charakter haben eben alle diese melancholischen Delirien, den der Passivität, des Leidens, des Beherrscht- und Überwältigtwerdens. « (Es sei nur kurz darauf hingewiesen, daß der Melancholiebegriff Griesingers weitaus umfassender ist als der unserer ›endogenen Depression‹ und eine hohe Zahl von heute unzweifelhaft als Schizophrenie diagnostizierten akuten Psychosen einschließt.) Bei den Unterformen der Melancholie wird die »melancholia religiosa« erwähnt. Unter dieser Form wird der typische depressive Schuld- und Versündigungswahn genannt. Zur Schwermut zählt Griesinger auch die Besessenheit, die »Dämono-Melancholie«. Die Beschreibung des psychopathologisehen Bildes der Besessenheit entnimmt Griesinger den 1834 erschienenen »Geschichten Besessener« des romantischen Arztes Justinus Kerner, wobei er aber »die Naivität dieser Erzählungen« unterstreicht und auf seine eigenen Ausführungen »Über den psychischen Zustand in epileptischen Anfällen« hinweist. Die Voraussicht Griesingers zeigt sich, wenn heute das psychopathologische Phänomen der Besessenheit nosologisch eher den epileptischen Psychosen mit ihrem religiös-ekstatischem Erleben oder aber gewissen Formen der Schizophrenie zugeordnet wird, keinesfalls aber den depressiven Erkrankungen.

Ähnlich bemerkenswert und herausragend ist Griesingers Stellungnahme zum Selbstmordproblem. Er handelt den Selbstmord unter der Rubrik »Schwermut mit Äußerung von Zerstörungstrieben« ab und sieht ihn neben nach außen gerichteten zerstörenden Handlungen als die andere Erscheinungsform einer basalen Destrudo an. Seine Äußerungen zum Krankheitswert des Suizids sowie zur Frage einer freien Entscheidung zur Selbsttötung sind von erstaunlicher Brisanz: »Der Selbstmord ist durchaus nicht immer das Symptom oder Ergebnis einer psychischen Krankheit. Da ist er es nicht, wo die Stimmung des Lebensüberdrusses in einem gewissen richtigen Verhältnisse zu den gegebenen Umständen, zu den äußerlich nachweisbaren psychischen Ursachen steht, wo der Entschluß frei gefaßt und nach Umständen wieder aufgegeben werden konnte und kein anderweitiges Zeichen psychischer Erkrankung sich findet.« Noch weiter geht Griesinger, wenn er meint, daß die Selbsttötung eines feinfühligen Menschen, z. B. aus Ehrverlust oder bei stets sich erneuernden körperlichen Leiden, kein Grund sei, diesen für geisteskrank zu halten, wiewohl vielleicht »seine Berechtigung hierzu von seiten der »Moral« anzufechten sein könne. Der Vorsatz der Selbstvernichtung entspräche der Stärke der widrigen Eindrücke, und die Tat wird mit Besonnenheit beschlossen und vollführt.«

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In einer Fußnote bezieht sich Griesinger auf den französischen Psychiater Brierre, der der Ansicht von der stets krankhaften Natur des Selbstmords entgegen getreten sei, u.a. durch die interessante Sammlung der Abschiedsbriefe von Selbstmördern. Die erörterten Passagen aus der speziellen Krankheitslehre des Griesingerschen Lehrbuchs zeigen eine klare Deskription der psychopathologischen Phänomene, sie antizipieren eine »deskriptive Phänomenologie« der Seelenstörungen im Sinne der Jasperschen Psychopathologie. Unreflektiert, naiv walten jedoch auch bei den naturwissenschaftlich orientierten Forschern die Methoden des statischen Verstehens, in Ansätzen auch des genetischen Verstehens, deren methodologische Erklärung und Bewältigung erst Karl Jaspers (1883 - 1969) in seiner epochalen »Allgemeinen Psychopathologie« (1913) gelingen wird. Für das 19. Jahrhundert gilt in der Psychiatrie eine »spontane Methodizität«, die der Bedingtheit der methodischen Reflexion durch die philosophische Vorentscheidung des Forschers entspringt und eine immer stärker werdende Tendenz zu »ätiologischen Ideologien« fordert, so Griesinger, besonders Meynert. Unabhängig hiervon und daneben aber werden die seelischen Faktoren verstehend berücksichtigt, wenn auch im methodologischen Kurzschluß dieses Verstehen als kausales Erklären mißverstanden wird. Auch für die sog. naturwissenschaftlich orientierte Psychiatrie, die die Anlehnung an die somatische Medizin zum Leitbild erhob, sind Erleben und Verhalten der Kranken der primäre Anstoß für Forschung und Therapie. Stransky faßt rückblickend, im Jahre 1921, die Epoche der spontanen Methodizität treffend zusammen: »Wir haben die psychischen Erscheinungen der Psychosen etwas allzusehr von neben- und obenher genommen.« In diesem Sinne sei abschließend noch auf die im Jahre 1874 veröffentlichte Melancholiestudie v. Krafft-Ebings, des wohl einflußreichsten klinischen Psychiaters des ausgehenden 19.Jahrhunderts, hingewiesen. Für ihn ist die Melancholie eine Psychoneurose, eine funktionelle Störung, deren Ursache in ei-

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ner Hirnanämie läge, die kortikale Reizzustände, die »psychischen Neuralgien« der melancholischen Kranken zur Folge habe. (1874,64) Grundsymptom der Melancholie ist die »einfache Gemütsdepression, der psychische Schmerz in seiner elementaren Form.« Von Krafft- Ebings Ansatz lehnt sich gänzlich an Griesinger an, wenn er die Melancholie »als Neurose der sensorischen Zentren der Korticalis des Großhirns« analog den spinalen Neuralgien beurteilt. Im Zentrum melancholischen Erlebens steht die schmerzliche Verstimmung«. Es besteht eine psychische Hyperästhesie (vgl. Griesinger), die dem Kranken »jeden Akt der Apperception der Außenwelt« zu einem unerträglichen psychischen Schmerz werden läßt, dem sich dann noch das Erlebnis der Hemmung des Vorstellens und Wollens verbindet. Ein übermächtiges» Gefühl der Überwältigung« verunmögliche es den Kranken, sich durch die Kraft ihres Willens den Verstimmungen zu entziehen. Im Gefühl der Überwältigung sieht v. Krafft-Ebing das Kernerleben der Melancholie. Er beschreibt den langsamen Rückzug des Kranken von der Außenwelt, der die nur noch als schmerzlich empfundene Wirklichkeit nicht mehr aushalten kann. Mit den Begriffen »psychische Anästhesie« und »Anaesthesia dolorosa« wird deutlich gemacht, daß der melancholisch Kranke im Tiefsten weniger unter einer traurigen Verstimmung als vielmehr unter der bewußt erlebten Verzweiflung über das Nicht- Mehr- Fühlen- Können leidet:


Er spürt, »daß er gefühllos, gemütlos geworden ist, sich über nichts mehr freuen kann, aber auch über nichts mehr betrüben kann.«

Im Jahre 1961 beschreibt W.Schulte das »Nicht-traurig-sein-Können im Kern melancholischen Erlebens«. Auch v. Krafft-Ebing diskutiert das Selbstmordproblem. Durch Aufenthalt in einer Klinik könnte der Gefährdete vor dem Suizid bewahrt werden. Das von Griesinger gesehene Problem der pathologischen Dignität und freien Willensentscheidung zum Suizid bleibt ausgeklammert. Mit dem bereits skizzierten »Gefühl der Überwältigung« versucht v. Krafft-Ebing auch den depressiven Suizid zu verstehen, den er als imitatorische Wiederholung von Todesfällen ansieht, die dem Kranken nahegingen, und die das Bewußtsein so stark okkupieren, es so sehr überwältigen, daß jeglicher Protest des geschwächten Ichs gegen die Selbsttötung machtlos wird. Die psychomotorische Hemmung wird unter dem Thema› Willens störungen der Melancholie‹ als eine »schmerzliche motorische Hemmung« erörtert: Die Unfähigkeit der Kranken zum Lösen der psychischen Spannungen, »ihr Wollen, aber nicht Können«, ist die Folge einer basalen »Depression der Selbstempfindung« Beeindruckend beschreibt v. Krafft-Ebing »die Wankelmütigkeit und Unentschlossenheit« der melancholisch Kranken, die verurteilt sind, ständig zwischen Antrieb und Verzicht zu schwanken, da ja die übermächtige basale Depression jegliche Möglichkeit eines erfolgreichen intentionalen Aktes unterbindet. Für eine Problemgeschichte der melancholischen Erkrankungen wäre hervorzuheben, daß v. Krafft-Ebing in seinem Werk weniger die Beschreibung und Erklärung der psychomotorischen Hemmung versucht, sondern mehr darstellt, wie Kranke dieses quälende Symptom erleben. Die Beeinträchtigung somatischer Funktionen und allgemeine leibliche Mißempfindungen werden als eigener Symptomenkomplex zusammengefaßt. So beschreibt v. KrafftEbing die Tagesschwankungen der depressiven Befindlichkeit mit dem morgendlichen Tief; auch werden die Schlafstörungen und gastrointestinalen Symptome des endogen-depressiven Kranken erwähnt. Die allgemeinen leiblichen Mißempfindungen werden

vom Verfasser mit dem in der Psychopathologie Kurt Schneiders (1887-1967) bedeutungsvoll werdenden Begriff der »gestörten Vitalempfindungen« bezeichnet. Eine qualvolle Leere und Öde des Bewußtseins entsteht bei der »Anaesthesia dolorosa«: In diesem Zustand ist jegliche Kommunikation mit der Außenwelt aufgehoben, und es resultiert eine diffuse, ängstliche Vorstellung der allgemeinen Nichtexistenz der Welt sowie des eigenen Subjektseins. Hier scheint die Beschreibung des »depressiven Autismus« antizipiert, den Kranz 1969 als ein »Eingefangensein in dem Innenraum des Ich« charakterisiert. Es resultiert der» allgemeine nihilistische Wahn« absoluter Trostlosigkeit infolge der Ahnung des eigenen und fremden Untergangs.

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Kurt Schneiders »Aufdeckung der menschlichen Urängste in der zyklothymen Depression« (»Die Aufdeckung des Daseins durch die cyclothyme Depression«, 1950) liegt nahe, wenn man bei v. Krafft-Ebing liest, daß die Inhalte der melancholischen Wahnideen »alle Varietäten menschlichen Kummers, Sorgens und Fürchtens in sich begreifen« und daß trotz der unendlichen Variabilität der individuellen Gestaltung aufgrund des jeweiligen kultur- und sozialgeschichtlichen Wandels dennoch »die Delirien unzähliger Melancholiker aller Völker und Zeiten übereinstimmende Züge und Inhalte« tragen, die als quasi anthropologische Konstanten gleichbleibende Sorgen und Befürchtungen des Menschen repräsentieren. Bereits im Jahre 1890 macht Meynert die feine psychopathologische Differenzierung der Verfolgungsängste im akuten Wahnsinn, d. h. in einer schizophrenen Psychose im heutigen Sinne, und in der Melancholie verständlich:

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Der Wahnsinnige erkenne die Verfolgung als ein Unrecht der anderen, dagegen erlebe der sich selbst anklagende Melancholiker sie als Ausdruck und Zeichen der Gerechtigkeit, die ihn wegen seines unsagbaren Vergehens der verdienten Strafe zuführt. W. Scheid, Schüler Kurt Schneiders, wird im Jahre 1934 dieses differentialdiagnostische Kriterium als »Zeiger der Schuld« in die Psychopathologie der endogenen Depression einführen. Meynert sieht gar im Selbstmord des psychotischen Melancholikers einen aus tiefster Qual motivierten Versuch negativ bestimmter Selbstheilung : Der quälende Wahn des Melancholikers, seine Strafe müsse darin bestehen, daß er gar nicht sterben dürfe, sondern ewig so leben und leiden müsse, habe die Neigung zum erlösenden Selbstmord zur Folge, »welche der Melancholie vor jeder anderen Psychose innewohnt.« Anerkennend äußert sich Meynert über die poetische Selbstdarstellung seelischen Leidens für das psychiatrische Erkennen, während Griesinger noch »allen nicht-ärztlichen, namentlich poetischen und moralischen Auffassungen des Irreseins für dessen Erkenntnis nur allergeringsten Wert« zugestand. Dichterische Ausgestaltung des eigenen seelischen Leids (Meynert, 1890) möge diese Ausführungen abschließen: »So selten Zitate in wirklicher Beziehung zu unserem Gegenstande stehen, so kann man doch die gänzliche Abschnürung des Melancholikers von allen Verbindungen, die das Ich bereichern und seine Gefühle wertvoll machen, in den Worten Byrons wiedergegeben finden:


»Der Blick der Schwermuth ist ein fürchterlich Geschenk, Was ist er anders als der Wahrheit Sehrohr, Das uns‘rer Träumereien Ferne kürzt, Das Leben in der nacktesten der Blößen, Und kalte Wirklichkeit zu furchtbar zeigt.«

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DER TYPISCHEN ROMANTIKER CASPAR DAVID FRIEDRICH

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»Warum, die Frag’ ist oft zu mir ergangen, wählst du zum Gegenstand der Malerei so oft den Tod, Vergänglichkeit und Grab? Um ewig einst zu leben, muss man sich oft dem Tod ergeben.«

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»SCHRECKLICHE MATTIGKEIT«: CASPAR DAVID FRIEDRICH LITT AN MELANCHOLIE

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Verlassene Kirchenruinen in einsamen Landschaften, erhabene Kreidefelsen auf der Insel Rügen - die Bilder des Malers Caspar David Friedrich (1774 bis 1840) haben die deutsche Romantik maßgeblich geprägt. Wie neue biographische Forschungen nun ergeben, litt der Maler - dessen 230. Geburtstag am 5. September mit der Eröffnung einer Dauerausstellung in seinem Greifswalder Geburtshaus begangen wird - offensichtlich zwei Drittel seines Lebens unter schweren, sich periodisch wiederholenden Depressionen. Der Krankheitsverlauf mit wiederkehrenden Phasen und einem Suizidversuch sei klassisch für eine mittel- bis hochgradige unipolare Depression, sagt der Psychiater Carsten Spitzer von der Universität Greifswald.


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AUFZEICHNUNGEN DES ARZTES CARL GUSTAV CARUS AUSGEWERTET

Spitzer und die Kunsthistorikerin Birgit Dahlenburg haben historische Quellen – Selbstzeugnisse, Briefe sowie Aufzeichnungen von Familienangehörigen, seines Freundes und Arztes Carl Gustav Carus – und das Werk Friedrichs untersucht und in Beziehung zueinander gesetzt. In der umfangreichen kunsthistorischen Literatur wird Friedrichs Schwermut und Melancholie oft als typisch für die Romantikergeneration erwähnt. Eine krankhafte Depression wird bisher nicht beschrieben, »offenbar, weil sich bisher nie Mediziner und Kunsthistoriker zusammengesetzt haben«, mutmaßt Birgit Dahlenburg. Erste Indizien für eine Depression finden die Forscher im 25. Lebensjahr des Malers. 1799 berichtet Friedrich in einem Brief an seinen Studienfreund Lund von einer »schrecklichen Mattigkeit..., daß ich ungelogen vier Tage und Nächte in einem fort geschlafen habe«. Dieser ersten Phase mit den typischen Symptomen von Erschöpfung und Rückzug gingen traumatische Kindheitserlebnisse voraus, die nach Ansicht des Psychiaters eine Depression begünstigt haben: Friedrichs Mutter stirbt, als er sieben ist. Als Zwölfjähriger muß der Sohn eines Seifensieders erleben, wie sein Lieblingsbruder bei dem Versuch, ihn zu retten, im zugefrorenen Bodden einbricht und ertrinkt. Zudem entspreche Friedrich dem Typus melancholicus - auf Ordentlichkeit konzentriert, die sich in seinem Schriftbild und seiner akribischen Ateliereinrichtung zeige, zurückgezogen lebend, mit einem überschaubaren persönlichen Bekanntenkreis, selbstzweiflerisch trotz Anerkennung in Künstlerkreisen und mit einem fragilen Selbstbewußtsein, sagt Spitzer. Dem ersten Schub folgt 1804 ein Suizidversuch. Die Friedrich-Zeichnung »Mein Begräbnis« ließ damals jeden Betrachter erschaudern. Neben einem frisch ausgehobenen Grab liegt ein Kreuz mit seinem Namenszug - so wird das Bild im zeitgenössischen »Journal des Luxus und der Moden« beschrieben. Seit seinem Selbstmordversuch trägt Friedrich einen Vollbart, vermutlich um Narben am Hals zu verbergen.

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TODESSYMBOLE AUF DEN BILDERN AUS DEPRESSIVEN PHASEN

Insgesamt fünf depressive Phasen diagnostizieren die Wissenschaftler bis zu Friedrichs Lebensende im Jahr 1840 - unterbrochen von Zeiten des Erfolgs und der Anerkennung. Außer schriftlichen Zeugnissen wiesen Veränderungen in Motivwahl und künstlerischen Techniken auf die Krankheit, erklärt die Friedrich-Expertin Birgit Dahlenburg. »Auffällig ist, daß Friedrich in den tiefen depressiven Phasen nicht malt, sondern nur reduzierte Techniken nutzt, wie Aquarell, Sepia oder Bleistift.« Zugleich häuften sich in diesen Phasen die Todessymbole: Geier, Gräber, Grabeskreuze, Eulen, abgestorbene Bäume. Symptomatisch dafür sei die Zeichnung »Skelette in der Tropfsteinhöhle«, die 1826 in der letzten depressiven Phase vor seinem Schlaganfall im Jahr 1835 entsteht. Würde Friedrich heute leben, läge er nach Ansicht von Spitzer auf der Couch eines Therapeuten, würde er Antidepressiva schlucken und wäre er möglicherweise sogar in stationärer Behandlung. Das hätte er sicher abgelehnt, hält Birgit Dahlenburg dagegen. »Friedrich wollte seine Depressionen durchleiden. Hilfe seines Freundes Carus lehnte er rigoros ab.«

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MELANCHOLIE UND ENTARTUNG LAURA BOSSI

»Wenn uns die Natur geschaffen hat, um in Gesundheit zu leben, so ist das Nachdenken ein widernatürlicher Zustand: ein Mensch, der sich in seine Betrachtungen vergräbt, ist folglich ein entartetes Tier.« – Jean-Jacques Rousseau

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MELANCHOLIA, BALNEUM DIABOLI

Bereits der antiken Temperamenten- und Säftelehre gilt die schwarze Galle, diese »Metapher, die nicht weiß, dass sie eine ist«, als degenerierte Gemütsart. Hippokrates beschreibt, wie die schwarze Galle, Auslöser von »Traurigkeit und Furcht«, im Übermaß vorhanden sein, sich entzünden, zersetzen und aus ihrem natürlichen Sitz abfließen könne. Melancholos, das Gift der von Sophokles beschriebenen Lernäischen Hydra, ist tödlich. Bei Galen wird die schwarze Galle von der »verbrannten« gelben Galle oder »dickem« Blut erzeugt; sie ist ein pathologischer Saft, eine Art Verbrennungsrückstand, der sich in einen entzündeten Saft verwandeln kann und sich selbst zu entzünden vermag. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts verbindet Pierre jean Georges Cabanis die Melancholie mit einem »Ausfluss zersetzender Säfte«, mit Kanälen, die mit schwärzlichen, klebrigen und verderblichen Materien verstopft sind.

des Teufels in den Menschen, ob er nun schläft oder wacht: Traurigkeit und Verzweiflung erwachsen aus der Melancholie, die durch die Sünde von Adam Besitz ergreift. Sobald er das göttliche Gesetz verletzt, setzt sich die Melancholie in seinem Blut fest, ganz wie die Helligkeit entschwindet, wenn man ein Licht löscht und nur ein rauchender, stinkender Docht zurückbleibt.

In der jüdisch-christlichen Überlieferung ist dieser ungewöhnliche Saft mit dem Sündenfall und der Erbsünde verknüpft. Glücklich und unsterblich geschaffen, wurde Adam als Vergeltung für seine Sünde in Endlichkeit und Traurigkeit gestürzt. Deshalb empfindet der Mensch als sein Nachfahre die Melancholie als Konsequenz eines schuldbeladenen Daseins. Wunderbar beschreibt Hildegard von Bingen diese Melancholie, die der Menschheit auf ewig im Blut steckt: Als Adam – der um das Gute wusste und doch das Böse tat – den Apfel verzehrt, beginnt als Auswirkung dieses Widerspruchs die Melancholie in ihm zu fließen, denn sie gelangt nicht ohne Eingreifen

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DEKADENZ, ENTARTUNG, MELANCHOLIE: DIE DUNKLE SEITE DES FORTSCHRITTS

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In jeder Epoche lassen sich Optimisten und Pessimisten finden, von Demokrit und Heraklit bis zu Gustave Flauberts Romanhelden Bouvard und Pécuchet. Es ist dennoch verwunderlich, dass gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer Epoche, die uns als durchaus fortschrittlich erscheint, Vorstellungen vom Niedergang der Zivilisation und rassischer Entartung aufkamen und die Melancholie als Symptom dieser Entartung angesehen wurde. Im Grand dictionnaire du XIXème siècle (1865) schreibt Pierre Larousse enthusiastisch: »Die Welt schreitet auf das Wohl zu. Der Glaube an das Gesetz des Fortschritts ist der wahre Glaube unseres Zeitalters. Ein Glaube, dem sich nur wenige verweigern. Fortschritt ist nicht nur im Individuum; er befindet sich ganz folgerichtig auch in der Menschheit. Er ist das eigentliche Gesetz der Gattung.« Dennoch birgt die Ideologie des Fortschritts bereits im Keim das Gefühl der Dekadenz in sich, die schmerzliche, angsterfüllte Wahrnehmung der Gefahren, die ihn untergraben:


»Fast alle Autoren jener Zeit hielten ihre Periode für dekadent. Dies war keine Laune einiger Exzentriker, sondern die entschiedene Meinung von Pathologen, Philosophen und Kritikern [ ... ]. Von den Ruinen der Gegenwart aus gesehen, sieht das 19. Jahrhundert fast unglaublich massiv aus, eine Ansammlung von Dampf, Gußeisen und Selbstvertrauen, etwa wie eine seiner internationalen Ausstellungen. Es war das Jahrhundert, das Kontinente absorbierte und die Welt eroberte [ ... ]. Warum ein solches Zeitalter, das ein so lebendiges Leben so kraftvoll lebte, soviel Zeit damit zugebracht hat, trübsinnig über seine eigene »Dekadenz« zu brüten, sei sie nun real oder eingebildet, ist ein seltsames Problem, auf das sich keine einfache Antwort geben lässt.«

Ist die Furcht vor Entartung die negative, untrennbare Schattenseite jeder Fortschrittsideologie? Definiert die Vorstellung der Perfektibilität durch ihr genaues Gegenteil auch diejenige des Verfalls? Wendet sich der Glaube an Vernunft und Wissenschaft entsetzt gegen diesen inneren Feind, die Unvollkommenheit des Menschen mit ihrem Gefolge an Unheil > Leid, Krankheit und Wahnsinn? In der ersten Jahrhunderthälfte weist ein prophetisches und zutiefst melancholisches Werk auf die Motive der kommenden Jahre voraus. Die junge Mary Shelley zeigt in Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) die Hybris der Wissenschaft, die das Leben beherrschen und einen neuen Menschen schaffen will, indem sie Sexualität und Tod hinter sich lässt. Neunjahre später beschreibt sie in The Last Man die Agonie und schließlich das Aussterben der Menschheit, die einer Seuche zum Opfer fällt. Das Gemälde von John Martin ist vielleicht eine Illustration dieses eigenartigen Romans.

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MOREL ERFINDET DIE ENTARTUNG

Im Frankreich der 1850er Jahre, als die Verheißungen der Aufklärung durch die Schreckensherrschaft der Revolution, die Niederlage in den Napoleonischen Kriegen und die Anarchie von 1848 verraten geworden waren, entsteht die Vorstellung eines Niedergangs von Land und Volk der Franzosen. Ärzte und Naturwissenschaftler verbinden diese Vorstellung mit derjenigen einer Entartung des Individuums und der Gattung als solcher. Der pessimistische Romantiker Joseph Arthur (Comte) de Gobineau verkündet, große Zivilisationen würden von höheren Rassen geschaffen, die dann aber infolge der Kreuzung mit minderwertigen Rassen Kraft und schöpferisches Vermögen einbüßten. Für diesen Aristokraten ist die Vermischung der Rassen eine Mesalliance – sie stört das soziale Gefüge und führt die Nationen, die Herden der Menschheit, ins Verderben. Sein Essai sur l‘inégalité ist eine Schilderung des Weltuntergangs, ein regelrechtes Epos der Entartung. Der Irrenarzt Benedict Augustin Morel (1809-1873) und seine Nachfolger, die über die »beständig wachsende Zahl« an Hypochondern, Hysterikern, Epileptikern, Alkoholikern, Irren, Kretins, Idioten, Schwachsinnigen und Verbrechern besorgt sind, werden eine Erklärung und ein entsprechendes medizinisches Vokabular für dieses fortschrittshemmende Phänomen liefern und zu einer richtig gehenden Mobilisierung aufrufen, um die »Entarteten«, die den gesunden Teil der Bevölkerung bedrohen, dingfest zu machen und zu isolieren.

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Morel entwirft in seinem Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l‘espèce humaine (1857) eine psychiatrische Theorie, die beinahe alle bekannten Geisteskrankheiten unter dem Begriff »Entartung« umfasst. Nach dem Morel‘schen Gesetz sind Entartungen »krankhafte Abweichungen vom Normaltyp der Menschheit, die vererbt werden und allmählich zur Zerrüttung führen«. Diese »Abweichung vom perfekten Typus« des ursprünglichen Menschen ist nicht durch ihre klinische Erscheinungsform definiert, die ganz unterschiedlich sein und sich in allen möglichen körperlichen, geistigen und sittlichen Störungen äußern kann, sondern durch ihre Vererbung und fortschreitende Verschlimmerung in nachfolgenden Generationen. Diagnostiziert man in der ersten Generation ein labiles und krankhaftes Temperament mit Symptomen wie Gereiztheit und Gewalttätigkeit, so wird die nächste an schwereren Nervenleiden erkranken, wie Hypochondrie (eine der Bezeichnungen für die antike melancholia), »dem Typus des leidenden Wesens«; in der dritten Generation werden angeborene Veranlagungen zum Irresein auftauchen und Tendenzen »schlechter Natur« (heute würde man von Perversionen sprechen). In der vierten Generation schließlich kann es zu vollständigem Schwachsinn und zum Aussterben der Familie aufgrund von Fortpflanzungsunfähigkeit kommen. Dieser Entartungsbegriff unterscheidet sich von dem der Naturforschung, die mit Entartung die selektionsbedingte Rückkehr tierischer oder pflanzlicher Arten zum ursprünglichen Typus bezeichnet, oder - wie Georges Louis Lederc Comte de Buffon -, die Anpassung von Rassen an die Umwelt. In diesen Fällen bleibt die

Einheit der Gattung unangetastet, die Entartung umkehrbar und die Fruchtbarkeit erhalten. Morels Auffassung zufolge sind Entartete hingegen endgültig zu »anderen« geworden und zu Zerrüttung und Aussterben verurteilt. Sie sind unheilbar, folglich muss man sie isolieren und verhindern, dass sie ihr morbides Erbgut weitergeben. Als Hauptursachen der Entartung nennt Morel den Genuss von Alkohol, Tabak und Opium, aber auch Blei (als saturnische Vergiftung mit melancholischem Wahn), sumpfiges Milieu, Hungersnöte, Seuchen, schlechte Luft, Unter- und Mangelernährung, Kretinismus, gesundheitsschädigende Berufe und soziales Elend. Entartung kann indes auch von Funktionsstörungen des Gehirns herrühren, wie etwa die wahnhaften Ideen der Maniker, Melancholiker und an progressiver Paralyse leidender Syphilitiker; oder von einem Gehirn, das außerstande ist, seine Funktionen auszuüben; oder auch von einer erblichen Beeinflussung: »Die Unheilbarkeit, an der wir oft ungeachtet bester Bemühungen scheitern, ist manchmal nur der tödliche Abschluss einer Reihe vorangegangener Existenzen.« Morels Abhandlung bedeutet die Abkehr der Psychiatrie von der Symptomatologie zur Ätiologie, von der Behandlung des kranken Individuums zu einem Schutzprogramm für die Gesellschaft und die menschliche Gattung. Diese »krankhaften Abarten« und »krankhaft veränderten Rassen«, für die der Katholik Morel eine wohlmeinende Sozialmedizin in die Pflicht nimmt, sind jedoch bereits im Ansatz jene »Minderwertigen«, die später einmal dem Ideal einer »reinen« Gesellschaft geopfert werden sollen.

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CESARE LOMBROSO VERBRECHEN UND ATAVISMUS

In Italien, einem erst kurz zuvor vereinigten Land also, in dem noch heftige Gegensätze zwischen den Wohlhabenden und den Armen, zwischen »europäischem« Norden und rückständigem Süden, zwischen einer geschwächten katholischen Kirche und dem atheistischem Positivismus, der bei den »Professoren« an Boden gewinnt, bestehen, beschäftigt man sich mit den »Abweichlern«, die Gefängnisse, Hospize und Spitäler bevölkern, und sucht die »Stigmata« zu definieren, an denen sich geborene Verbrecher, Päderasten, Prostituierte oder entartete Genies erkennen lassen. Die Entstehung dieser forensischen Anthropologie ist mit dem Namen Cesare Lombroso (1835-1909) verknüpft, Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie aus dem Veneto und aus Piemont. Er ist noch ein unbekannter Psychiater in der Provinz, als er am Schädel des kalabresischen »Räubers« Giuseppe Vilella eine eigenartige Anomalie feststellt: eine »mittlere Hirngrube«, die dem Kleinhirn ein dreilappiges Aussehen verleiht, »wie bei dem der Nagetiere, Halbaffen und niederen Affen«, oder wie man es bei den Vögeln feststellen kann oder auch beim drei oder vier Monate alten menschlichen Embryo.

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EIN ALTES STAMMBUCH Georg Trakl

Immer wieder kehrst du Melancholie, Lombroso hat eine veritable Erleuchtung: Er »sieht« Doch dieser unermüdliche Forscher und Vielschreiber O Sanftmut der einsamen Seele. den Atavismus als Natur des Delinquenten. In Zügen hat auch über sehr breit gestreute Themen gearbeitet: Zu Ende glüht ein goldener Tag. und Taten reproduziert er Kennzeichen des primitiven Wie aus der Legende unter seinem Porträt hervorgeht, Menschen und sogar des Fleisch fressenden im rekonstruierten Büro des Lombroso-MuDemutsvoll beugt sichRaubtiers, dem Schmerzdas derman Geduldige, weil er einen StillstandTönend der Entwicklung repräsentiert, seums in von Wohllaut und weichem Wahnsinn.Turin sehen kann, widmete er sein ganzes der ihn in der wildenSiehe! Frühzeit der MenschheitsgeLeben der »wissenschaftlichen« Erforschung von Gees dämmert schon. schichte gefangen hält, in einem rückständigen Sta- nie, Wahnsinn, Verbrechen ... und Pellagra. Nach der dium der Entwicklung.Wieder kehrt die Nacht und klagt einAtavismus-Hypothese sind Verbrechen, Wahnsinn, Sterbliches Genie und Prostitution auf analoge regressive StöAusgehend von dieserUnd Entdeckung und gestützt auf es leidet ein anderes mit. die Physiognomik Johann Caspar Lavaters und Franz- rungen zurückzuführen, auf eine Rückkehr zum UrJoseph Galls sowie auf Schaudernd eigene Forschungen in Armee,Sternen sprung, zur primitiven, wilden und teuflischen Kindunter herbstlichen Krankenhäusern, Heimen, Gefängnissen, GerichtsNeigt sich jährlich tiefer das Haupt.heit des Menschengeschlechts. sälen und Leichenschauhäusern, entwickelt Lombroso eine morphologische Theorie zur Offenlegung der »Stigmata« des kriminellen Typus: kräftiger Kiefer, fehlender Bartwuchs, ausgeprägte Stirnhöhlen, dunkler und verschleierter Blick, dichtes, buschiges Haar, Henkelohren, vorspringende Backenknochen, Schielen, fliehende Stirn, vorstehender Oberkiefer, asymmetrisches Gesicht, weibliche Züge bei den Männern, männliche bei den Frauen, starrer Blick, hängende Lider, extreme Behaarung (besonders der Stirn), dünne Lippen ... Sein monumentales, wunderliches Werk L‘uomo delinquente erlebt fünf Auflagen; die erste von 1876 zählt 252 Seiten; die fünfte, 1896/97 veröffentlichte zählt 1903 Seiten und enthält einen phantasmagorischen »Atlas des Verbrechens«. Diese Summa des Positivismus wird zu einem in mehrere Sprachen übersetzten Standardwerk; es ist die überbordende, fabulierwütige, visionäre Schöpfung eines bürgerlichen Genies, das in die Finsternis des Verbrechens und des Wahnsinns eintaucht.

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GENIE UND WAHNSINN

Jacques-Joseph Moreau de Tours hatte bereits 1859 die Beziehungen zwischen Genie, Wahnsinn und Schwachsinn untersucht. Hatten schon zahlreiche Autoren seit der Antike eine Verbindung zwischen Genie und melancholischer Veranlagung beobachtet (ausgehend von der pseudoaristotelischen Schrift Problemata physica, XXX), so konstatierte Moreau de Tours eine merkwürdige Korrelation zwischen körperlicher Krankheit und geistiger Größe oder Mischzuständen von Wahnsinn und Idiotie. Es gibt höher stehende, aber befremdliche, umwölkte, theosophische, mystische, erleuchtete, ekstatische oder visionäre Geister, die zuweilen an der Grenze zu Fanatismus, Verbrechen oder Prostitution stehen… Die günstigsten Bedingungen für die Entfaltung von Fähigkeiten sind zugleich diejenigen, die den Wahn entstehen lassen: Inspiration kann manischer Erregung nahe stehen, Genie der Neurose, kurz: Genie und Wahnsinn sind gleichartig, stammen gleichsam aus ein und derselben Wurzel, in radice conveniunt. Die Inspiration kommt immer nur dann, wenn es ihr beliebt. Das sicherste Mittel, sie fern zu halten, ist, sie herbeirufen zu wollen. Zwischen dem genialen Menschen, der sich fragt, ob die Ideen in seinem von Begeisterung erhitzten Gehirn tatsächlich eigene sind, und dem Irren, der sie auf eine höhere Macht bezieht, auf einen vertrauten Schutzgeist oder Gott selbst, besteht in psychologischer Hinsicht nur ein Unterschied - der Grad der psychisch-zerebralen Erregung. »Ein wirklicher Zustand des Wahnsinns, des offensichtlichen Wahnsinns, kann sich mit den glänzends-

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ten Erscheinungen der menschlichen Seele verbinden, sei es, dass dieser Wahnsinn streng auf gewisse Sinnesirrtümer begrenzt ist, sei es, dass er den Charakter von Träumerei und Ekstase aufweist, sei es, dass er in fixen Ideen oderwahnhaften Überzeugungen besteht, sei es schließlich, dass er die unbestimmten Züge von Melancholie, Spleen oder Hypochondrie annimmt, lauter Erkrankungen, die bei hoch stehenden Geistern so üblich sind.« (Moreau de Tours) Erst Ces are Lombroso jedoch zieht in Genio e follia die »Summa« dieses Themas. Das Genie, der Irre und der Kriminelle werden als verwandte, durch die Stigmata ihrer Anomalie gekennzeichnete und durch eine geheime Affinität verbundene psychophysiologische Typen beschrieben. Sie leiden an Halluzinationen, fixen Ideen, Verfolgungswahn und Melancholie. Das Genie und der Irre, beide mit der Energie des Manikers und originellem Denken versehen, werden dazu getrieben, ihrer Andersartigkeit Ausdruck zu verleihen - entweder in künstlerischen oder intellektuellen Werken oder durch verrücktes oder kriminelles Verhalten. Große Künstler können übrigens vom Abnormalen und vom Verbrechen fasziniert sein und sogar selbst verbrecherische Taten begehen, während Irre und Kriminelle, die im Gefängnis daran gehindert sind, ihre wahre Natur auszuleben, ein breites Spektrum eigenartiger Werke produzieren: Zeichnungen, Artefakte, Schriften, Gedichte, Tätowierungen und Graffiti. Die Sammlung von Lombroso, die man heute im kriminologischen Museum von Turin besichtigen kann, steht den Sammlungen der Art brut in keiner Weise nach. »Ich vermute«, schrieb bereits Denis Diderot, den Lombroso zitiert, »dass diese düster und melancholisch veranlagten Menschen diesen außerordentli-

chen und beinahe göttlichen Einblick, den man in Abständen bei ihnen feststellte und der sie zu bald so verrückten, bald so erhabenen Ideen geführt hat, nur irgendeiner periodisch wiederkehrenden Deregulierung der Maschine zu verdanken haben. Sie wähnten sich inspiriert, und sie waren verrückt; ihren Anfällen ging eine Art Abgestumpftheit voraus, die sie als den Zustand des Menschen im verderbten Naturzustand ansahen. Vom Tumult der Stimmungen, die sich in ihnen erhoben, aus dieser Lethargie gerissen, bildeten sie sich ein, die Gottheit steige herab, besuche sie, bearbeite sie ... Oh! Wie nahe Genie und Wahnsinn doch aneinander grenzen!« Genies weisen körperliche Merkmale von Entartung auf: Henkelohren, spärlichen Bartwuchs, unregelmäßige Zähne, exzessive Asymmetrie von Gesicht und Schädel, geschlechtliche Frühreife, Kleinwüchsigkeit und Mangel an körperlichem Ebenmaß, Mancinismus (Linkshändigkeit), Stottern, Rachitis, Schwindsucht, außerordentliche Fruchtbarkeit oder absolute Sterilität.

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Unter den psychischen Symptomen zählt Lombroso auf: »Apathie, Verlust des moralischen Empfindens, Tendenz zum Impulsiven, Beherrschung durch das Unbewusste, Hang zum Zweifel, seelische Disproportionen, bewirkt durch die extreme Ausbildung bestimmter Fähigkeiten (Gedächtnis, Schönheitsempfinden) oder das Fehlen anderer (wie Rechnen), Geschwätzigkeit oder Schweigen, wahnsinnige Eitelkeit, Exzentrik, exzessive Beschäftigung mit der eigenen Person, mystische Deutung einfachster Tatsachen, Missbrauch von Symbolen, ausschweifende Fantasie«. Vor allem aber Hyperästhesie, eine »krankhaft verfeinerte Sensibilität«, Originalität, Amnesien, Melancholie, Verfolgungswahn: »Personen, denen das seltene Glück beschieden war, in der Gesellschaft genialer Menschen zu leben, sind rasch darüber verwundert, wie leicht es Letzteren fällt, alle Taten der anderen falsch zu deuten, sich verfolgt zu fühlen, überall tiefen und endlosen Anlass für Schmerz und Melancholie zu finden ... Melancholie, Niedergeschlagenheit und Schüchternheit sind der traurige Preis für erhabenste Werke des Geistes, ganz so wie Gebärmutterkatarrhe, Impotenz und Tabes dorsalis mit geschlechtlichen Exzessen einhergehen oder Gastritis das Resultat kulinarischer Exzesse ist.« Das Buch enthält klinische Fallstudien zahlreicher geisteskranker Genies. Gerard de Nerval zum Beispiel litt laut Lombroso »an zirkulärem Irresein mit Perioden von Erregung und Niedergeschlagenheit, die jeweils sechs Monate anhielten«. Charles Baudelaire erscheint uns in dem Porträt, das der Ausgabe seiner postumen Werke vorangestellt ist, als Prototyp des Irren, der von Größenwahn besessen ist: provokante Haltung, herausfordernder Blick, extravagante Selbst-

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zufriedenheit. Er stamme aus einer Familie von Irren und Exzentrikern, und man brauche kein Irrenarzt zu sein, um an ihm Wahnsinn zu konstatieren. Von Kindheit an litt er an Halluzinationen und empfand, wie er selbst eingestand, zwei entgegengesetzte Gefühle: Er litt an Hyperästhesie und zugleich an einer Apathie, die in ihm den Wunsch weckte, sich »inmitten einer Wüste der Langeweile in einer Oase des Grauens« durchschütteln zu lassen. Das umfassendste Beispiel für den Typus des Wahnsinn im Genie bietet laut Lombroso Arthur Schopenhauer: Seit frühester Kindheit sei er immer melancholisch gewesen. Einmal- er mochte wohl achtzehn Jahre alt gewesen sein – habe er trotz seiner Jugend bei sich selbst gedacht, dass diese Welt nicht das Werk eines Gottes sein konnte: nein, vielmehr das eines Teufels. Oder: Wenn ihn nichts beunruhige, sei er von dem Gedanken gequält, dass dahinter etwas ihm Verborgenes stecken müsse.


»Diese Geisteskrankheit, die man als Genie bezeichnet...«

Das charakteristische Symptom, das all jenen gemein ist, die die Grade bis zur Lypemanie durchlaufen, dem raschen Wechsel von tiefer Traurigkeit zu überschäumender Freude, findet man auch bei Schopenhauer. Mit sechs Jahren glaubt er, seine Eltern wollten ihn verlassen. Als Student ist er beständig mürrisch. Zu den Dingen, die ihm am unangenehmsten sind, gehört Lärm, vor allem der der Kutscherpeitschen. »Qui non habet indignationern, non habet ingenium.« Aber er trug persönlich zu viel Empörung und sogar krankhafte Wut in sich. Als wahren Hypochonder vertreibt ihn die Angst vor den Blattern aus Neapel, die Angst davor, vergifteten Tabak geschnupft zu haben, aus Verona, Furcht vor Cholera und Rekrutierung aus Berlin. Geniale Menschen, schreibt Lombroso, seien nicht nur unangenehm, sondern auch mit einem schwachen Sinn für Moral ausgestattet und böse. »Solche Menschen können nur wenige Freunde haben; auf den Gipfeln herrscht Einsamkeit. - Das Genie steht dem Wahnsinn näher als der durchschnittlichen Intelligenz. - Das Leben der genialen Menschen zeigt uns, dass sie ganz wie die Irren oft einer permanenten inneren Unruhe ausgeliefert sind.« Das Eigentümlichste am Wahnsinn all dieser großen Köpfe liegt für Lombroso indes in »einer extremen Übertreibung zweier entgegengesetzter Zustände, wie Erethismus und Atonie, Inspiration und Erschöpfung [...] dennoch ist die charakterliche Beschaffenheit dieser Menschen so verschieden von der gemeinen Natur, dass sie den verschiedenen Psychosen (Melancholie, Monomanie und so weiter), von denen sie befallen sind, einen speziellen Stempel aufdrückt und so eine Psychose für sich bildet, die man als Psychose des Genies definieren könnte.«

Lombroso zieht auch die Hypothese in Betracht, das geniale Schöpfertum könne »eine degenerative Psychose aus der Familie der Epilepsien« sein, vor allem aufgrund der »Ähnlichkeit der Inspiration mit dem epileptischen Anfall«, wie dies die Aufzeichnungen der Brüder Goncourt, Buffons, Mohammeds und Fjodor Dostojewskijs nahe legen. Allerdings ist für Lombroso die Entartung nicht ein Phänomen, das den Untergang der Gattung ankündigt, sondern vielleicht sogar zukunftsträchtig ist. Die Norm des Gesunden ist ein Zustand des Gleichgewichts, aber auch der Trägheit. Die meisten Menschen scheuen Veränderungen, klammern sich an die bestehende Ordnung und lehnen alles Neue und damit auch den Fortschritt ab, was Lombroso als »Misoneismus« (Angst vor Neuerungen) bezeichnet. Die gesellschaftliche Rolle des Genies, vielleicht aber auch des Verbrechers und Irren könnte also darin liegen, für Veränderung, Originalität und Innovation zu sorgen und ihr dadurch Entwicklungschancen zu eröffnen. Die großen Sozialreformer wie Karl Marx wären demzufolge »Mattoide«, BeinaheIrre von übertriebenem Altruismus. Geniale Irre, aufgerufen, das Volk, das vor Veränderungen eigentlich zurückscheut, für Neuerungen empfänglich zu machen.

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STÄDTISCHE ENTARTUNG UND MELANCHOLIE IM VIKTORIANISCHEN ENGLAND

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Im viktorianischen England findet man neben dem Optimismus der Liberalen, des triumphalen Imperiums und der postdarwinistischen Evolutionslehre auch eine Furcht vor dem Niedergang der robusten englischen Rasse durch die Industrialisierung, Urbanisierung, Einwanderung und die zunehmende Hektik des modernen Lebens. In England entsteht zwar kein so grundlegendes Werk, wie es die Texte Morels und Lombrosos für Frankreich und Italien waren, doch vermitteln Medizin und Wissenschaft sehr wichtige Anstöße. Die Theorien Charles Darwins über den Ursprung der Arten durch natürliche Auswahl (1859) und die Abstammung des Menschen von affenähnlichen Vorfahren (1871) haben bis in unsere Tage das Bild vom Menschen und von der Gesellschaft nachhaltig geprägt. Der Psychiater Henry Maudsley (1835-1918) wiederum entwickelte eine englische Variante der Theorie der Entartung. Und der Geograf und Naturkundler Francis Galton, ein Cousin Darwins, begründete mit dem Mathematiker Karl Pearson die Eugenik (1883). Maudsley war mit der kontinentalen Psychiatrie vertraut, insbesondere mit den Arbeiten von Jean Étienne Dominique Esquirol, Morel, Wilhelm Griesinger und Lombroso. In Physiology and Pathology of Mind (New York 1867) beschrieb er die Entartung in Begriffen, die Morel entlehnt, jedoch durch den Darwinismus revidiert und korrigiert sind. Irre und Abweichler empfindet er als Auswurf der Evolution, Randerscheinungen im Lebenskampf, in dem »die Schwachen leiden müssen und manche in den Wahnsinn gestürzt werden«. Es besteht jedoch ein gewisser Widerspruch zwischen diesen Ideen und dem Insistieren darauf, Kriminelle seien unterentwickelte Wesen, die in einem primiti-


ven Stadium der menschlichen Gattung verharren. Einige Jahre später, kurz bevor Lombroso im Schädel Vilellas die Hinterhauptgrube entdeckt, schreibt Maudsley in Body and Mind (1870): »In Wirklichkeit steckt im Inneren des menschlichen Gehirns das Gehirn eines wilden Tieres; und wenn Letzteres in seiner eigentlichen menschlichen Entwicklung innehält – wenn es das Niveau eines Orang-Utans oder ein noch tieferes erreicht -, kann man annehmen, dass es seine primitivsten Funktionen ohne eine einzige seiner höheren Funktionen ausdrückt. Aus dem Bereich der Psychopathologie ließen sich gewichtige Argumente zugunsten der Theorien des Herrn Darwin gewinnen. Wir könnten ohne allzu große Schwierigkeiten die Wildheit in der Zivilisation nachzeichnen, ebenso wie wir die Animalität in der Wildheit antreffen; und im Wahnsinn, dieser Entartung, im Verlust dessen, was die menschliche Gattung auszeichnet, gibt es Merkmale der elementarsten Instinkte, aus denen sie sich zusammensetzt.« Als Maudsley dreizehn Jahre später Body and Will niederschrieb (London 1883), hatte seine Theorie jedoch inzwischen eine pessimistische Wendung genommen. Die Entartung ist nicht mehr, wie bei Morel, dazu ausersehen, durch Aussterben zu verschwinden. Sie wird zu einer Kraft, die sich der Evolution entgegenstellt. Selbst die Sonne kann erlöschen. Die Gesellschaft besteht aus einem aufsteigenden und einem absteigenden Fluss, wo Dekadenz und Entartung ebenso gut möglich sind wie Fortschritt und Evolution. Das letzte, während des Ersten Weltkriegs verfasste Werk Maudsleys, Organic to Human (London 1916), ist von ähnlich pessimistischem Unterton wie die Werke Oswald Spenglers oder Jose Ortega y Gassets:

»Organische Entartung ist eine Folgeerscheinung organischer Entwicklung, folglich kann sich keine Gesellschaft vor dem Gesetz des Wachstums und der Entartung gefeit fühlen.« Als politischer Reaktionär warnt Maudsley insbesondere vor den Gefahren von Sozialismus, Kommunismus und Klassenkampf. In eben diesen 1880er Jahren definiert Francis Galton die Eugenik als »Wissenschaft von der Verbesserung der Nachkommenschaft«. Er formuliert als einer der Ersten ganz klar einen nicht Lamarck‘schen Begriff der Erblichkeit: Sie ist hier nicht Weitergabe angelernter Merkmale, sondern nur derjenigen, die schon bei der Zeugung vorhanden sind. Das führt ihn zu der Behauptung, nur »die künstliche Selektion des Menschen durch den Menschen« könne ein wirksames Mittel gegen die Dekadenz der modernen Gesellschaft sein. In seinem Roman The Strange Case of Dr. Jekyll and Mister Hyde schildert Robert Louis Stevenson den Versuch, das Gute und Böse im Menschen mit chemischen Mitteln zu separieren. Doch anstatt das »Tier in sich« los zu werden, entdeckt Jekyll, dass die Kraft des großen, wilden, behaarten Affen Hyde dominiert und dass sich das Tier sogar befreit, während er schläft. »Mein Teufel war lange Zeit angekettet, jetzt hat er sich brüllend losgerissen.« Im selbenjahr erscheint Richard von Krafft-Ebings Psychopathia sexualis.

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AN DIE MELANCHOLIE

Nikolaus Lenau

Du geleitest mich durch‘s Leben, Sinnende Melancholie! Mag mein Stern sich strahlend heben, Mag er sinken - weichest nie! Führst mich oft in Felsenklüfte, Wo der Adler einsam haust, Tannen starren in die Lüfte, Und der Waldstrom donnernd braust. Meiner Toten dann gedenk ich, Wild hervor die Träne bricht Und an deinen Busen senk‘ ich Mein umnachtet Angesicht.

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WILHELM GRIESINGER UND DAS BURGHÖLZLI DIE MELANCHOLIE IN DER DEUTSCHSPRACHIGEN PSYCHIATRIE

Höchst repräsentativ für die Psychiatrie Mitte des 19. Jahrhunderts ist gewiss der Schweizer Wilhelm Griesinger (1817-1869). Nach einem mehrjährigen Ägyptenaufenthalt veröffentlichte er 1845 seine Schrift Pathologie und Therapie der psychiatrischen Krankheiten und übernahm 1860 die Leitung des Burghölzli, der kurz zuvor gegründeten psychiatrischen Klinik der Universität Zürich. Die zweite Ausgabe seines Lehrbuches (1867) avancierte zum Standardwerk für eine ganze Generation. Angeregt von dem belgischen IrrenarztJoseph Guislain (1797-1860), entwickelte Griesinger den Begriff der »Einheitspsychose«: Danach gelten die verschiedenen Formen von Geisteskrankheit als Etappen eines einzigen pathologischen Prozesses. Die Melancholie nimmt darin eine sehr wichtige Stelle ein. Das melancholische Stadium, das Griesinger als Zustand tiefer emotionaler Perversion von deprimierendem und traurigen Charakter beschreibt, ist das Anfangsstadium der überwiegenden Mehrzahl der Geisteskrankheiten. Diese Melancholie als Vorstufe des Wahnsinns ist wiederum meist die direkte Folge eines peinigenden Gefühls, wie beispielsweise der Eifersucht, unterscheidet sich jedoch vom moralischen Schmerz (wie ihn gesunde Personen empfinden) durch extreme Intensität, Dauerhaftigkeit und die allmähliche Trennung von äußeren Einflüssen.

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Das zweite Stadium geistiger Depressionszustände ist nach Griesinger die Hypochondrie: ein wahnhafter Hang zu melancholischer Grübelei als leichtester Form des Wahnsinns. Ihr Gegenstand ist vor allem die Furcht vor oder die Empfindung einer körperlichen Krankheit, gewöhnlich ohne Einschränkung des Denkvermögens. Das dritte Stadium ist die Melancholie im eigentlichen Sinne, ein Zustand anhaltenden moralischen Schmerzes, der durch äußere Eindrücke noch verschärft wird. Es ist ein Zustand tiefen Unwohlseins, verbunden mit Handlungsunfähigkeit, dem Erlöschen der körperlichen Fähigkeiten, Depression und Traurigkeit, Gereiztheit und wahnhaften Ideen. Die Entwicklung verläuft meist chronisch mit diversen Abschwächungsphasen, aber manche Fälle verschlimmern sich durch das Auftreten von Manie und durch Schübe von Aggression und Erregung. Später übernahm Auguste Forel (1848-1931), den Oskar Kokoschka 1910 in bemerkenswerter Weise porträtierte, die Leitung des Burghölzli und sicherte der Klinik weltweites Renommé Forel erlernte bei Hippolyte Bernheim die Technik der Hypnose und wurde ein herausragender Spezialist auf diesem Gebiet. Zu seinen Schülern zählen Eugen Bleuler (18571939), der durch seine Beschreibung der Schizophrenie zum berühmtesten Schweizer Psychiater wird, und Adolf Meyer (1855-1950), einer der prominentesten Psychiater in den USA.


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EMIL KRAEPELIN UND DIE MANISCH DEPRESSIVE PSYCHOSE

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Deutschland bewegt sich um 1880 auf dem Höhepunkt eines positivistischen und wissenschaftlichen Optimismus, und die Universitäten des Landes glänzen in allen Fächern, insbesondere in Medizin und Naturwissenschaften. Unter Bismarck wird ein Krankenversicherungssystem etabliert. Der Psychiater Emil Kraepelin (1856-1g26) begründet, von Morel und der neuen Mendel‘schen Vererbungslehre beeinflusst, die organische Psychiatrie und definiert die manisch-depressive Psychose als endogene Krankheit mit starkem erblichen Anteil. In seinem vierbändigen Compendium der Psychiatrie (Leipzig 1883) erarbeitet er eine Kategorisierung und rationale Nosologie der Geisteskrankheiten. Kraepelin unterscheidet zwischen »Verblödungsprocessen«, Involutionspsychosen (altersbedingte Phänomene der Rückentwicklung, wie senile und präsenile Demenz und involutionsbedingte Melancholie) und manisch-depressiven oder periodischen Psychosen (Manie, Melancholie, gemischte Zustände). Letztere sind durch einen Wechsel zwischen Erregung und Niedergeschlagenheit gekennzeichnet, Ideenhemmung oder Ideenflucht, Hypermotorik oder motorische Hemmung, durch starken erblichen Anteil und periodisches Auftreten im Wechsel mit Phasen abgeschwächter Symptomatik. Aus Kraepelins Compendium der Psychiatrie entsteht schließlich sein Lehrbuch der Psychiatrie, das zahlreiche Neuauflagen erlebt und in den 1880er Jahren, während des gesamten 20. Jahrhunderts und bis heute großen Einfluss ausübt. In der achten Auflage (1g0g1g15) verschwindet die Involutionsmelancholie als Sonderform und wird wieder den manisch-depressiven Psychosen zugeschlagen.


RICHARD VON KRAFFT-EBING

Der in Mannheim geborene und in Graz und Wien lehrende Richard von Krafft-Ebing (1840-11902), ein Bewunderer Morels, wendet die Theorie der Entartung auf die »conträren Sexualempfindungen« ( 1877) an. In der »angeborenen Verkehrung der Geschlechtsempfindung mit dem Bewusstsein der Krankhaftigkeit dieser Erscheinung« sieht er Stigmata der Entartung, nämlich ein »funktionelles Degenerationszeichen« . In seinem Lehrbuch der Psychiatrie fasst er die verschiedenen geistigen Pathologien in zwei große Kapitel: geistige Störungen des erwachsenen Gehirns und Stillstände der seelischen Entwicklung. Der zweite Teil behandelt die Idiotien und solche, die als »moralische Idioten« angesehen werden. Der erste Band ist in die funktionellen Psychosen (Psychoneurosen, einschließlich Melancholie und Manie, die in einem gesunden Gehirn auftreten; seelische Entartung nach der Charakterisierung von Morel) und die organischen Psychosen unterteilt. Der melancholische Zustand, der am Beginn verschiedener Neurosen und Psychosen als zusätzliche Störung auftritt, muss seines Erachtens nach von der Melancholie als Krankheitsform unterschieden werden. Das melancholische Symptom ist oft ein Vorsymptom der Manie und ein supplementäres Phänomen bei Altersdemenz und paralytischer Demenz, aber auch bei Epilepsie, Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie und zuweilen bei Paranoia.

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»FIN DE SIÈCLE«

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In Paris und in Wien lässt die Jahrhundertwende eine Literatur und Kunst erblühen, die Dekadenz und Melancholie als Merkmal antibürgerlicher Noblesse begreift. Man denkt an Pessimismus, an den AntiPhysis-Kult des verdorbenen Bürgers, der in die gierigen Fangarme der Großstadt Emile Verhaerens verstrickt ist, an raffinierten Ästhetizismus, an Narzissmus, an den Kult von Erlesenheit und Exzentrik bei Joris-Karl Huysmans‘ Held Floressas des Esseintes. Die Zeit ist von einer vagen Mystik geprägt, die sich Okkultismus und Spiritismus, Hypnose und Wahnsinn zuwendet. Die ganze Schriftstellergeneration Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthais lässt sich direkt von der medizinischen Literatur über Perversionen und von der neuen Psychiatrie inspirieren. Henry F. Ellenberger weist darauf hin, dass Hofmannsthals Elektra der berühmten Anna O. von Josef Breuer gleicht und Sigmund Freuds Dora direkt aus einer Novelle Schnitzlers zu stammen scheint. Die dekadente Erotik ist offen für alle Perversionen und verleiht der von zahllosen Schriftstellern und Künstlern, wie Henri de Toulouse-Lautrec oder Gustav Klimt, gepriesenen Prostituierten regelrechten Kultstatus. Der Typus des männlichen Vampirs (des heimtückischen Verführers) weicht der Femme fatale und dem Vamp.


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»ENTARTUNG«: NORDAU UND NIETZSCHE

Als Bewunderer Lombrosos widmet Max Nordau ihm sein berühmtestes Werk, Entartung, das 1892 erscheint. Nordau (eigentlich Simon Maximilian Südfeld), assimilierter Jude, Arzt, Journalist, Positivist und Szientist wie Lombroso, lebte ab 1880 in Paris und entstammte ebenfalls der Vielvölkerkultur der österreichisch-ungarischen Monarchie (Lombroso aus dem Norditalien vor der Unabhängigkeit, Nordau aus dem ungarischen Pest). Er studierte Medizin in Wien und brachte die Hoffnungen und Ängste seiner Generation und seines Milieus zum Ausdruck, eines Provinzbürgertums, das Europa gegenüber allerdings sehr aufgeschlossen und kosmopolitisch war. Ab 1896 schließt sich Nordau im Kontext der Dreyfus-Affäre dem Zionismus Theodor Herzls an und wird zu einem bedeutenden Mitglied dieser Bewegung. In seinen zionistischen Schriften wünscht er das Auftreten des »neuen Juden« herbei, eines regenerierten Juden mit den sozialen Tugenden, die er in Entartung beschreibt: Würde, Selbstachtung, Wille, Männlichkeit; ein Jude mit klarem Geist, gutem Magen und harten Muskeln, der eifrig Gymnastik treibe. Mens sana in corpore sano. Unter den derzeitigen Juden gebe es weder Bauern noch Soldaten, deren Tätigkeiten gesunde Körper schafften, und darin liege der Grund für ihre Entartung. Nordau beruft sich zu Beginn seiner Abhandlung auf die Autorität Lombrosos. Im Gegensatz zu den meisten kunst- oder literaturkritischen Büchern sei seines »ein Versuch wirklich wissenschaftlicher Kritik, die ein Werk nicht nach den sehr zufälligen, grillenhaften und mit dem Temperament und der Stimmung des einzelnen Lesers wechselnden Emotionen beur-

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teilt, welche es erweckt, sondern nach den psychopathologischen Elementen, aus denen es entstanden ist. Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituirte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler. Aber diese weisen dieselben geistigen - und meist auch leiblichen Züge auf wie diejenigen Mitglieder der nämlichen anthropologischen Familie, die ihre ungesunden Triebe mit dem Messer des Meuchelmörders oder der Patrone des Dynamit-Gesellen statt mit der Feder oder dem Pinsel befriedigen. Nordau verwendet schließlich auch die Taxonomie der forensischen Physiognomik Lombrosos und merkt beispielsweise an, der Schädel Paul Verlaines mit seinen rätselhaften Höckern demonstriere den ›entarteten‹ Charakter seiner Verse ebenso deutlich wie seine Neigung zum Vagabundieren, seine Epilepsie, seine sexuelle Psychopathie sowie seine kriminellen Akte. ›Aber so thöricht das Wort, fin de siècle‹ sein mag, die Geistesbeschaffenheit, die es bezeichnen soll, ist in den führenden Gruppen thatsächlich vorhanden. Die Zeitstimmung ist eine seltsam wirre, aus fieberhafter Rastlosigkeit und stumpfer Entmuthigung, aus ahnender Furcht und verzichtendem Galgenhumor zusammengesetzte. Die vorherrschende Empfindung ist die eines Untergehens, eines Erlöschens. ›Fin de siècle‹ ist ein Beicht-Bekenntnis und zugleich eine Klage. Der alte nordische Glaube enthielt die schauerliche Lehre von der Götterdämmerung. In unseren Tagen erwacht in den höher entwickelten Geistern ein dunkles Bangen vor einer Völkerdämmerung«

Die Entarteten erkenne man an den historisierenden Elementen in Haarschnitt oder Kleidung, einem Gemisch aus den Trachten aller Völker und Zeiten, an einem affektierten Bedürfnis nach Selbstinszenierung; einem eklektizistischen Stil bei Inneneinrichtungen, einer ungezügelten Vorliebe für das Ornament, einem überzogenem Widerspruch zwischen Form und Zweck, der widernatürlichen Verwendung von Farben und einem Wahn zum Sammeln und Kaufen, der eine Ausstellungs- und Museumskultur fördere. Bei aller Bewunderung für ihn ist Nordau allerdings »nicht der Ansicht Lombrosos, daß die genialen Degenerirten eine treibende Kraft des Fortschritts der Menschheit sind.« Lombroso denkt nicht daran, das Genie oder den Wert genialer Werke infrage zu stellen, obwohl sie mit den Merkmalen von Neurose, Psychopathie, Entartung oder Epilepsie in Beziehung stehen. Für Nordau hingegen gibt es kein Genie ohne vollkommene körperliche und seelische Gesundheit, ohne dass Wille und Urteilskraft, die eigentlichen menschlichen Fähigkeiten, Leidenschaften und Triebe kontrollierten. An die Spitze seiner Hierarchie stellt Nordau Staatsmänner und Gesetzgeber (Genie der Urteils- und Willenskraft), gefolgt von Gelehrten und Erfindern (Genie der Urteilskraft, gut ausgebildete Willenskraft), schließlich Philosophen (Genie der Urteilskraft) – erst an vierter Stelle rangieren bei ihm die Dichter und weitere »emotionale Genies«. »Entartete« Genies sind für ihn folglich keine Genies, sondern Entartete. Sie müssen behandelt, ja sogar eliminiert werden, um die »Gesundheit des Volkskörpers« zu gewährleisten.

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Unter den entarteten Künstlern beschreibt Nordau zunächst die große Kategorie der Mystiker. Als »mystisch« gilt ihm dabei alles, was sich der Beherrschung durch den Willen entzieht: unkontrollierbare Gedankenassoziationen, allgemeiner Assoziationswahn und Unschärfe, wie bei den englischen Präraffaeliten (Dante Gabriel Rossetti, William Holman Hunt, John Everett Millais und ihr Umfeld: Algernon Charles Swinburne, William Morris), den französischen Symbolisten (Charles Morice, Desjardins, Henri de Régnier, Stephane Mallarme, Paul Verlaine, Jean Moreas) oder den Adepten des Tolstoismus und des Wagnerkults. Ein anderes großes Kapitel seines Buches befasst sich mit der Ichsucht: »Parnassier« und Diaboliker (Charles Baudelaire, Maurice Barrès, Jules Barbey d‘Aurevilly), Dekadente, Ästheten und Ibsenisten werden hier untersucht, und Nietzsche nimmt dabei eine zentrale Stelle ein, als Anreger Nordaus und zugleich als bevorzugt attackierter Denker: ein Inbegriff intellektueller und moralischer Entartung, dem er Ichsucht, »Verhimmelung des Dreckelns«, Unzucht, Krankheit und Verderbtheit ankreidet. In den Schriften Nietzsches begegne der aufmerksame Leser, von der ersten bis zur letzten Seite, nichts als einem Verrückten, mit funkelnden Augen und unkontrollierter Gestik, der schäumenden Mundes großsprecherisch und betäubend salbadere. Bei Nietzsche versucht der Mensch, sich in ein Kunstwerk zu verwandeln, während Nordau die Kunst aus seiner Idealgesellschaft mehr oder minder verbannt, eine Gesellschaft, die er als braver, positivistischer Arzt auf Vernunft gründen will, auf die Erweiterung des Bewusstseins und die Zügelung des Unbewussten, auf

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Willensstärke, erhöhte Selbstverantwortung und Unterdrückung des Egoismus. Bei näherer Betrachtung wird man indes auf zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Nordau und Nietzsche aufmerksam: auf die Beschäftigung mit Normalität und Abnormem, Krankheit, Dekadenz und Entartung; Kritik am Wagnerkult, Lob des Männlichkeits-Ideals, den Wunsch nach gesunden, regenerierten Menschen mit harten Muskeln - und natürlich beteiligen sich beide am Diskurs über die Entartung. So lässt Nietzsche Zarathustra rhetorisch fragen: »Sagt mir, meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und als Schlechtestes? Ist es nicht Entartung?« Oder er selbst verheißt in seiner philosophisch-autobiografischen Schrift Ecce Homo: »jene neue Partei des Lebens, welche die grösste aller Aufgaben, die Höherzüchtung der Menschheit in die Hände nimmt, eingerechnet die schonungslose Vernichtung alles Entartenden und Parasitischen, wird jenes Zuviel auf Erden wieder möglich machen, aus dem auch der dionysische Zustand wieder erwachsen muss.« Diese Art von Diskurs fand Eingang in die nationalsozialistische Ideologie. Deren Auffassung von »Entartung« war eindeutig von Nietzsche inspiriert, und nicht von Nordau.


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Am Schluss seiner Schrift Entartung allerdings schlägt Nordau eine radikale Therapie vor: Er empfiehlt, eine Kommission für ethische Kultur zu gründen, die entartete künstlerische und literarische Produktionen der Zensur unterwerfen solle: »Wenn eine solche Gesellschaft, der gerade im Hinblick auf diese Thätigkeit die besten Männer des Volkes beitreten würden, nach ernster Untersuchung und im Bewußtsein schwerer Verantwortlichkeit von einem Menschen sagen würde: »Er ist ein Verbrecher!« und von einem Werke: »Es ist eine Schande für unser Land!«, so wären Werk und Mensch vernichtet. Kein anständiger Buchhändler würde das gerichtete Buch führen, kein anständiges Blatt es erwähnen oder seinem Leser Zugang zu seinen Spalten gestatten, keine anständige Familie den Gebrandmarkten in ihr Haus lassen.« Nordaus Entartung war großer Erfolg beschieden, wenn dieser auch nicht von langer Dauer war. Die Idee der Entartung wurde später aufgegriffen und instrumentalisiert, unter anderem von dem antisemitischen Historiker Adolf Barteis und dem Eugeniker Wilhelm Hildebrandt, um schließlich den vom Nationalsozialismus bekannten Weg einzuschlagen, etwa in Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur oder bei Paul Schultze-Naumburgs Feldzug gegen »Entartete Kunst«.

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Das am 14. Juli 1933 in Deutschland verabschiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses definierte die Erbkranken, die zur Zwangssterilisation vorgesehen waren, wie folgt: Jede Person, die mit einer Erbkrankheit behaftet sei, könne mittels eines chirurgischen Eingriffs sterilisiert werden, sofern nach wissenschaftlichen medizinischen Kriterien mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass die Nachkommen dieser Person schwerwiegende erbliche Schäden mentaler oder körperlicher Natur davontrügen.


Als mit einer Erbkrankheit belastet galten im Sinne dieses Gesetzes alle Personen, die unter folgenden Gebrechen litten:

1. angeborener Schwachsinn 2. Schizophrenie 3. zirkuläres (manisch-depressives) Irresein 4. erbliche Epilepsie 5. erblicher Veitstanz (Chorea Huntington) 6. erbliche Blindheit 7. erbliche Taubheit 8. schwere erbliche kÜrperliche Missbildung 9. Unfruchtbar gemacht werden konnte auch, wer an schwerem Alkoholismus litt. Die Melancholie steht damit an dritter Stelle unter den Krankheiten, die es auszumerzen galt.

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MELANCHOLIE UND ENTARTUNG HEUTE Die kollektive Vorstellung, die uns heute aufdrängt, immer jung, schön, schlank, gesund, in Form, aktiv, »positiv« und gut gelaunt sein zu müssen, ist vielleicht nur der Schatten einer großen Angst, einer wiedererwachten Angst vor Entartung. Wir lehnen Missgebildete, Behinderte, Alte, Schwachsinnige und Kranke ab – jene, die den utopischen Vorgaben obligatorischer Gesundheit nicht entsprechen. Die Eugenik erlebt eindeutig eine Renaissance, wenn auch nicht in totalitärer Weise, sondern in einer, individualistischer und »liberaler« Form, die dennoch starken normativen Druck ausübt. Wir haben Angst vor Tabak, Alkohol, Drogen und Fettleibigkeit, vor AIDS, der Gewalt von Jugendlichen, Umweltverschmutzung und vor allem den »neurodegenerativen Krankheiten«, einer »Epidemie von Alzheimer«, Gehirnweichung und -durchlöcherung. Die von Morel vertretene Idee erblicher Entartung ist heute lebendiger als je zuvor, und zwar unter dem gefälligen Namen »Antizipation«: zahlreiche neuere Publikationen deuten darauf hin, dass bei mehreren »neurogenerativen« Krankheiten die Symptome in späteren Generationen immer früher und ausgeprägter auftreten, bis hin zu juvenilen Spielarten; dieses Phänomen wird von der Forschung einer Instabilität der DNS zugeschrieben. Mehr und mehr Arbeiten befassen sich mit der Genetik der Geisteskrankheiten, insbesondere mit der Erforschung instabiler Mutationen in Patientenfamilien mit manisch-depressiver Psychose, Schizophrenie und anderen Geisteskrankheiten – darüber hinaus (wozu Limbroso geraten hätte) in Familien von Kriminellen, Alkoholikern, Perversen, Asozialen … »Genetische Anomalien«, also die biologischen »Indikatoren« von Wahnsinn und Verbrachen, sind die modernen Wiedergänger früherer »Stigmata« der Entartung. So ist die Melancholie, allerdings in zeitgemäßer Terminologie – Vererbung, Antizipation, neurodegenerative Krankheit – zurückgekehrt in die Domäne der Entartung, mitsamt ihrer Gefährten Wahnsinn und Verbrachen im Gefolge.

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brain dead tinte thomas overloop → 197

LAURA BOSSI


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VERGÄNGLICHKEIT Nikolaus Lenau

Vom Berge schaut hinaus ins tiefe Schweigen Der mondbeseelten schönen Sommernacht Die Burgruine; und in Tannenzweigen Hinseufzt ein Lüftchen, das allein bewacht Die trümmervolle Einsamkeit, Den bangen Laut: ›Vergänglichkeit!‹ ›Vergänglichkeit!› mahnt mich im stillen Tale Die ernste Schar bekreuzter Hügel dort, Wo dauernder der Schmerz in Totenmale Als in verlassne Herzen sich gebohrt; Bei Sterbetages Wiederkehr Befeuchtet sich kein Auge mehr. Der wechselnden Gefühle Traumgestalten Durchrauschen äffend unser Herz; es sucht Vergebens seinen Himmel festzuhalten, Und fortgerissen in die rasche Flucht Wird auch der Jammer; und der Hauch Der sanften Wehmut schwindet auch. Horch ich hinab in meines Busens Tiefen, ›Vergänglichkeit!‹ klagts hier auch meinem Ohr, Wo längst der Kindheit Freudenkläng entschliefen, Der Liebe Zauberlied sich still verlor; Wo bald in jenen Seufzer bang Hinstirbt der letzte frohe Klang.

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LE ENFANT TERRIBLE LARS VON TRIER

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Lars von Trier gilt seit Jahren als das Enfant terrible der Filmszene. Mit seinen Werken wie »Antichrist« und »Dogville« provoziert er regelmäßig die Kinogänger. Bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes sorgte er dann bei der Präsentation, seines neuen Films »Melancholia« sogar für einen der größten Eklats in der Geschichte des Festival.

INTERVIEW

In einem verschlafenen Bergdörfchen etwas abseits von Cannes. Von Trier empfängt die Journalisten in dem Garten eines Nobelhotels, unter Sonnenschirmen und bei Vogelgezwitscher. Er selber sitzt in einem Ledersessel, hinter ihm ein antiker Raumteiler mit Stiefmütterchen-Muster. Von Trier, der seit seiner Kindheit wegen Depressionen in Behandlung und getrieben von zahlreichen Phobien ist, gibt sich selbstbewusst, doch seine Hände zittern immer wieder. Wie fühlen Sie sich? »Schrecklich (lacht).« Können Sie das etwas ausführen? »Ich bin heute auf der ersten Seite einer großen dänischen Zeitung und die titelt »Nazi-Schwein«. Positiv interpretiert ist das interessant. Meine Familie ist darüber aber natürlich nicht so glücklich. Die Leute in dieser Zeitung wissen eigentlich auch, dass ich kein Nazi bin. Ich mag ein Schwein sein, aber ein Nazi bin ich nicht. Aber das ist eben, wie solche Medien funktionieren.« Warum haben Sie solche Sätze überhaupt gesagt? »Ich denke, wenn ich so etwas dänischen Medien in Dänemark gesagt hätte, dann hätten die verstanden, auf was ich hinauswill.«

Entschuldigen wollen Sie sich also nicht? »Ich hasse das Wort »Entschuldigung«. Denn das ist für mich ein sehr hohles Wort, das oft sehr oberflächlich benutzt wird und etwas sehr Amerikanisches ist. Ich muss immer noch daran denken, wie (der ehemalige US-Präsident) Bill Clinton das zu seiner Frau gesagt hat - und alle nur gelacht haben. Denn: Welchen Unterschied macht das? Ich möchte mich dagegen dafür entschuldigen, dass sich Leute wegen meiner Äußerungen schlecht fühlen. Ich wollte nicht, dass Leute sich schlecht fühlen.« Können Sie verstehen, dass sich besonders Opfer des Holocausts verletzt fühlen? »Ja. Und nein, denn diese ganze Sache basiert auf einem großen Missverständnis und wurde aus dem Zusammenhang gerissen. Was ich gemeint habe, war: Ich dachte mein halbes Leben lang, ich sei ein Jude. Aber dann fand ich heraus, dass ich einen anderen Vater hatte. Heute tut mir leid, dass ich nicht gesagt habe, dass er ein Deutscher war. Wir in Dänemark sagen manchmal so Sachen wie »Er war Deutscher .... er war ein Nazi«. Diese Äußerung war aber eigentlich nicht für ein größeres Publikum gedacht. Das war natürlich total bescheuert. Ein blöder Witz. Es war meine Art klarzumachen, warum ich in diesen

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Film auch deutsche Romantik einbezogen habe. Als ich also gesagt habe, ich sei ein Nazi, meinte ich damit, dass ich selber ein Deutscher bin – kein Nazi.« Und die Äußerung, dass Sie mit Hitler sympathisieren? »Natürlich sympathisiere ich nicht mit dem, was Hitler getan hat. Natürlich nicht. Ich kann ihn mir nur vorstellen, besonders da, wo er im Bunker sitzt. Ich kann ihn als ein menschliches Wesen sehen. Und wenn es irgendeinen Sinn in dem gegeben hat, was ich gesagt habe, dann ist es dieser: Es ist wichtig, dass wir nicht nur ein paar Leute dafür verantwortlich machen, das Böse der Erde zu sein - und uns selbst dabei vergessen. Denn in jedem von uns steckt ein kleiner Nazi, da bin ich mir sehr sicher.« Steckt in jedem Ihrer Filme auch immer ein bisschen das Gefühl von Melancholie? »Oh ja, da bin ich mir sicher! Ich glaube, dass es in jedem Stück Kunst steckt, das wir mögen. Es gibt immer etwas Melancholie mit drin, zum Beispiel in Musik. Ich glaube, dass es ein wichtiger Teil jedes Menschen ist. In diesem Film habe ich versucht, die Essenz der Melancholie zu erfassen. Es ist ja irgendwie auch ein verlockendes Gefühl, von der Erde zu verschwinden.«

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Welche Aspekte einer Depression wollten Sie mit Ihrem Film darstellen? »Ich kann mich nur auf meine eigene Depression beziehen, also die physischen Symptome und die Art und Weise, wie sie behandelt wird. Meine Depression begann durch Angst. Ich vermute, dass, wenn man zu viel Angst hat, der Körper irgendwann eine Auszeit braucht. Und das führt zu einer Depression, bei der man nicht mehr aus dem Bett herauskommt. Die Angst ist furchtbar für einen selbst, aber eine Depression ist auch furchtbar für die Familie, weil man nichts für sie tun kann.

Danach fängt man an, wieder ganz langsam kleine Schritte zu gehen - und kann in ein Gefühl der Melancholie übergehen.« Hilft Filmemachen da als eine Art Therapie?


»Ja, ich glaube, die Krankheit hilft beim Filmemachen.« Was würden Sie sagen: Fühlen Sie sich mehr von Licht oder von Dunkelheit angezogen? »Je älter und reifer ich werde, desto mehr kann ich Licht und Leichtigkeit besser genießen. Das heißt aber nicht, dass Sie künftig viel leichtere Filme von mir sehen werden!« Sie haben auf Ihrer einen Hand die Buchstaben FUCK tätowiert. Warum? »Ich bin im sogenannten Panik-Alter. Ich bin jetzt 55 Jahre alt. Und Gilles Jacob (der Leiter des Filmfestivals Cannes) hat in einem Buch geschrieben, dass ich einst ein Rebell gewesen sei. Das hat mich natürlich extrem provoziert. Denn wenn du 55 und kein Rebell mehr bist, dann musst du Sachen wie diese machen (zeigt auf seine Tätowierung). Meine Töchter, die 20 und 16 Jahre alt sind, haben allerdings zu mir gesagt: »Aber Papa, das geht nicht mehr ab!«

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»Do not take photos of what you see – take photos of you that feel.«

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»Alle Menschen, die sich ausgezeichnet haben, sei es in der Philosophie, in der Politik, in der Dichtkunst, in den Künsten, scheinen melancholisch zu sein.« – Aristoteles

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196 fco.villarroel.f@gmail.com fcogoya.deviantart.com

alexandrinaanamaria@gmail.com alexandrinaana.deviantart.com thedoublelifeofana.tumblr.com

Oliwia Kohnke Fotografin Torun, Polen czarna_olivka9@o2.pl lostoneself.deviantart.com artlimited.net/22823

Joanna Piekart Fotografin Siedlce, Polen joanna.piekart@o2.pl joannapiekart.tumblr.com

22-27 ←

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62-78 ←

82-85 ←

julka.julija@gmail.com pienesky.blogspot.com

Fotografin Alytus, Lithauen

Fotograf Las Plassas, Sardinien ambrairidesechi@yahoo.it flickr.com/photos/iride_

Julija Kluseviciute

Ambra Iride Sechi

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Künstler Santiago, Chile

Fotografin Rumänien

50-55 ←

Francisco Villarroel Fuentealba

Alexandrina Ana

INDEX KÜNSTLERREGISTER


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nf-86@mail.ru behance.net/neuen 96-100 ←

Frederike Schröder Fotomanipulationen, & traditionelle, digitaler Malerei Köln, Deutschland

tomoverloop@gmail.com thomasoverloop.com 175 ←

Nava Monde Fotografin Moskau, Russland

184-191 ←

117-124 ←

eco.elm@gmail.com

Digitale Fotomanipulation Türkei

Eylem Elif Coskun

105-109 ←

info@rikeart.com rikeart.com

Fotograf Yekaterinburg, Russland

Künstler Haacht, Belgien

maria@avecart.com avecart.com

Feder Novykh

Thomas Overloop


198 http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/werther_valk.pdf

http://www.stern.de/kultur/film/lars-von-trier-im-interview-ich-magein-schwein-sein-aber-ein-nazi-bin-ich-nicht-1735271.html

Melancholie und Inspiration ISBN 3-533-02612-4

Melancholie Genie und Wahnsinn in der Kunst ISBN 3-7757-1647-5

Melancholie in Literatur und Kunst ISBN 3-87646-065-4

INDEX LITERATUR QUELLEN


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200

Bindung Buchbinderei Mohr DietrichstraĂ&#x;e 35 54290 Trier

Druck RaabDruck GmbH Niederkircher Str. 2 54294 Trier

Bachelorarbeit Kommunikationsdesign Hochschule Trier Sommersemester 2014 Design Typografie Prof. Andreas Hogan

Fabian Ring info@fabianring.com fabianring.com

INDEX IMPRESSUM



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