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Last Facts: Bart

Last Facts: Bart

Helmut Newton, Heather looking through the keyhole, Paris 1994, copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

Sein Blick galt den Menschen, die er durch den Sucher seiner Kamera betrachtete. Aus Fotografien wurden Kunstwerke, bestimmt zu überdauern. TASCHEN widmet dem großen Fotografen ein dickes Werk, die Berliner Helmut Newton Stiftung ihrem Namensgeber bis zum 22. Mai 2022 eine Ausstellung und wir ihm die folgenden Seiten. VOYEUR!Text: Matthias Harder Fotos: Helmut Newton Foundation

Helmut Newton, Cindy Crawford, US Vogue, Monte Carlo 1991, copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

Helmut Newton, Yves Saint Laurent, Queen, Paris, 1969., copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

Helmut Newton, Woman examining Man, Calvin Klein, US Vogue, St. Tropez 1975, copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

Helmut Newton, Prada, Monte Carlo 1984, copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

Helmut Newton, Hollywood 1996, copyright Alice Springs, courtesy Helmut Newton Foundation, Berlin

Helmut Newton, French VOGUE, Paris 1975, copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

elmut Newton ist nur schwer zu fassen. Die meisten von uns glauben, sein Werk zu kennen, zumindest die wichtigen Aspekte. Doch hat der deutsch-australische Fotograf ein so einfl ussreiches und ikonisches Œuvre hinterlassen, dass jede systematische Aufarbeitung scheitern muss, will man auch nur den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Und so ist auch diese Publikation, die – anlässlich seines 100. Geburtstags geplant – eine internationale Ausstellungstournee begleitet, nur eine weitere Annäherung an das vermutlich meistpublizierte fotografi sche Werk überhaupt. Es ist zeitgenössisch und zeitlos zugleich, es verstört und verzaubert uns bis heute. So erscheint es sinnvoll, sich Newtons Œuvre exemplarisch zu widmen, um zu untersuchen, wie er seine Motive inszeniert hat. Ausgewählte Bildbeispiele aus vier Jahrzehnten spiegeln auf unterschiedlichste Weise die drei Hauptgenres seines Werkes: Mode, Akt und Porträt, manchmal in derselben Aufnahme. Seinen unnachahmlichen Stil fand Newton in Paris in den 1960erJahren, etwa mit einer Bildserie der damals revolutionären Modeentwürfe von André Courrèges, realisiert 1964 für die britische Zeitschrift Queen. Newton benötigte, das wird im Rückblick deutlich, gewissermaßen einen adäquaten Sparringspartner – das Aufeinandertreffen verwandter Seelen wurde zur Voraussetzung einer kongenialen Auftragserfüllung und schließlich zum Türöffner zur Avantgarde. Später wiederholte sich diese Symbiose in der intensiven Zusammenarbeit mit Yves Saint Laurent, Karl Lagerfeld oder Thierry Mugler. Die teilweise strikten Rahmenbedingungen und hohen Erwartungen seiner Auftraggeber waren für ihn gleichzeitig ein Anreiz, gegen die traditionellen Darstellungsmodi zu opponieren. Wenn man – wie Newton – nicht im festen Regelsystem der Zeitschriften-Aufträge arbeitete, konnte man sich als unruhiger und kreativer Geist schnell in den unendlichen Möglichkeiten des Machbaren verlieren.

Während Newtons Courrèges-Sequenz in einem matt verspiegelten Innenraum entstand, dessen Oberfl ächen die Modelle schemenhaft verdoppelten, arbeitete er parallel häufi g in den Straßen von Paris, plein air. Seine weiblichen Modelle treten einzeln oder als Gruppe, mal lasziv und elegant, mal anarchisch und verspielt auf. Solche Modebilder irritierten und provozierten die Magazinleser, gleichzeitig kommentierten sie subtil die aktuellen Demonstrationen in Europas Metropolen bzw. die Radikalisierung der bürgerlichen Jugend. Dasselbe gilt für das farbige Modefoto für die amerikanische Zeitschrift Essence, das wirkt, als hätte Newton hier 1970, gewissermaßen als Street Photographer, eine spontane Demonstration in Paris abgelichtet. Tatsächlich wurden die fünf schwarzen

Frauen, die, Parolen rufend, auf den Betrachter zulaufen, zuvor H gecastet; sie tragen aktuelle Entwürfe aus der Rive Gauche-Kollektion von Yves Saint Laurent. Doch bei Newton kann man nie sicher sein, wo die Realität endet und die Illusion beginnt. Er ließ sich bei seinen Inszenierungen stets von realen Situationen inspirieren. Während die Chefredakteure und -redakteurinnen, darunter große Namen wie Alexander Liberman, Francine Crescent, Caroline Baker und Willie Landels, in jenen Jahren die Reihenfolge und Ausschnitte der Bilder und somit die Rezeption von Newtons Modeinterpretationen bestimmten, hatte der Fotograf selbst beim Shooting vor Ort nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Für eine Bademodenstrecke in der amerikanischen Vogue bestellte Newton 1971 auf Hawaii beispielsweise einen Hubschrauber, für eine Dessous-Strecke für Nova mietete er im gleichen Jahr ein Stundenhotel in Paris. Dort taucht er, mit Blick in die umliegenden Wand- und Deckenspiegel, als interagierende Figur mit Kamera im eigenen Bild auf. Eine weitere Straßenszene aus Paris wurde zu einem der bekanntesten Modefotos aller Zeiten, veröffentlicht 1975 in der September-Ausgabe der französischen Vogue im Rahmen eines mehrseitigen Editorials mit Aufnahmen zur Haute Couture 1975/76 von Yves Saint Laurent. Diese Aufnahme wird seitdem immer wieder publiziert, sie ist so zeitlos und ikonisch, so raffi niert und enigmatisch, dass sie bis heute in den unterschiedlichsten Kontexten erscheint. Die Bildstrecke in der Vogue bestand damals ausschließlich aus Nachtaufnahmen, einige in Farbe, andere in Schwarz-Weiß; stets war das Modell allein auf einer Straße zu sehen. „French Vogue, YSL, Rue Aubriot“ wird später als lebensgroßer Abzug in Newtons Ausstellungen in aller Welt gezeigt, die Bildkomposition funktioniert also nicht nur im Magazinformat. Aufgenommen hat er die Szene in der titelgebenden Gasse im Pariser Stadtteil Marais; im Bildhintergrund befi ndet sich sein Wohnhaus. Die Frau mit den kurzen, zurückgekämmten dunklen Haaren steht rauchend in einer engen, spärlich beleuchteten Wohnstraße; sie trägt einen schmal geschnittenen Hosenanzug von Yves Saint Laurent, ein für die damalige Zeit durchaus revolutionärer Entwurf, der in Newtons Bild seine adäquate Visualisierung erfährt. Hier schwingt BEI NEWTON KANN eine gewisse Ambivalenz mit, denn im nächtlichen Marais der 1970er-Jahre präsentierten sich auch Prostituierte den Blicken ihrer potenziellen Freier – MAN NIE SICHER und so erscheint die unnahbar wirkende Frau in Newtons Aufnahme einerseits modern, mode- und selbstbewusst, andererseits fragt man sich, auf wen sie dort SEIN, WO DIE eigentlich wartet. Newton rekurrierte mit dieser hintergründigen Inszenierung vermutlich auch auf die Berlin-Gemälde von Ernst Ludwig Kirch-REALITÄT ENDET ner aus den frühen 1910er-Jahren, auf denen die Kokotten nachts rauchend am Pariser Platz auf ihre UND DIE ILLUSION BEGINNT. Kunden warteten. Kirchner stellte damals – wie Newton später – die modisch gekleideten Frauen in ein Spannungsverhältnis zwischen Prostitution und urbanmodernem Lebensstil, zwischen Frivolität und Eleganz. Der Fotograf ergänzte hier eine weitere Realitätsebene, die gleichzeitig ein bloßer Tagtraum sein könnte, und öffnete so einen schier unendlichen Assoziationsraum. Helmut Newton hat an jenem Abend, als wollte er eine weitere Volte einbauen, noch ein zweites Bild dieser Szene in der Rue Aubriot aufgenommen, eine seiner berühmt-berüchtigten „Newton-Versionen“, das nicht für die Veröffentlichung in der Vogue gedacht war, sondern ein Jahr später in seiner ersten eigenen Publikation, White

Helmut Newton, Lisa Taylor und Jerry Hall, Rudi Gernreich, US Vogue, Miami, 1975, , copyright Helmut Newton Foundation, Berlin

Women, auftauchte. Der Fotograf stellte der Frau im Figur im Bild, er „verzwergt“ geradezu neben der freizügig Tuxedo ein weibliches Aktmodell an die Seite – so wirkte posierenden Nackten. Newton schaute von oben in den Sucher die bekleidete Frau noch etwas androgyner als in seiner Kamera, dadurch bleibt sein Gesicht im Bild verborgen dem ersten Bild, das sie allein zeigt. Newton hat solche und er selbst im Hintergrund – und doch ist er der Regisseur der

Geschlechterspiele in zahlreichen anderen Bildern für die fran- Szene und Schöpfer dieser Aufnahme. Der Clou ist: Bei diesem zösischen Modemagazine in unterschiedlichen Kleidern und genreüberschreitenden Bild handelt es sich um eine Modeauf-

Hosenanzügen variiert. Heute wirken diese jahrzehntealten nahme für die italienische L’Uomo Vogue. Newton wurde 1981

Modeaufnahmen wie visionäre Genderstudien. gebeten, Regenmäntel für eine Editorial-Strecke zu fotografi eren – Und natürlich erinnert Newtons Bild aus der Rue Aubriot und so schlüpfte er kurzerhand selbst in die Rolle des männlichen auch an Brassaïs Prostituiertenporträts, die jener in den 1930er- Models. Gleichzeitig wird das eigentliche Bildmotiv, der Regen-

Jahren ebenfalls im Marais aufnahm. Nur ein Jahr später machte mantel am Körper des Fotografen, trotz seiner zentralen Positio-

Newton dort übrigens für den Playboy unter dem Titel „Love nierung im Bild marginalisiert. Wir fi nden in diesem Foto überfor Sale“ einige Nachtaufnahmen mit Models, die Prostituierte dies ein für Newton geradezu paradigmatisches Motiv: schwarze spielten, eine direkte Hommage an den von ihm verehrten High Heels. Die hohen Absätze der Modelle hat Newton nach älteren Kollegen. Die Kombination einer bekleideten und einer eigener Aussage besonders geliebt, weil sie die Beinmuskulatur nackten Frau, wie sie Newton in der Rue Aubriot erstmals reali- stärker modellieren – und gefährlich wirken. Immer wieder spielte sierte, war Mitte der 1970er-Jahre noch zu radikal für eine Ver- er in seinen Bildern mit dem Fetisch-Charakter solcher Schuhe. öffentlichung in einem Modemagazin. Doch 1981 erschien Newtons berühmte Serie „Naked and Dressed“ in der italienischen In dieser Zeit entwickelte sich auch Newtons Interesse an und französischen Ausgabe der Vogue und parallel in seinen der Porträtfotografi e, unterstützt durch Aufträge von Zeitschrif-

Bildbänden. Auch wenn, rückblickend betrachtet, ten wie Interview, Egoïste, Vanity Fair, Paris Match

Anfang der 1980er-Jahre ein solcher Paradigmenwechsel vom durch Mode verhüllten Körper zur oder Esquire. Seine Porträts werden zu visuellen Kommentaren und Interpretationen der Schauspie-WIE KEIN ZWEITER nackten Haut in der Luft zu liegen schien, war die Präsentation in derartigen Diptychen ein fundamentaler Tabubruch. Doch Newton hat es in seinem ler und Schauspielerinnen, der Künstler und Musikerinnen, er entwickelt für jeden und jede ein individuelles Szenario.VERSTAND ER ES,

Im Jahr 1992 führte ihn ein Auftrag für die Zeitschrift Vanity Fair in den französischen Küstenort Menton. Die hier entstandene Aufnahme von ClauLeben immer wieder vermocht, verbündete kreative Geister in den Chefredaktionen der Magazine zu fi nden, die auf seine ungewöhnlichen Bildideen FRAUEN AUF EINEN eingingen und sie publizierten. Er blieb sein Leben lang in erster Linie Modefotograf, doch seine Aktfotografi e hat sich über solche Veröffent-SOCKEL ZU HEBEN.dia Schiffer wirkt wie eine visuelle Paraphrase seiner berühmten nächtlichen Straßenszene in der Pariser Rue Aubriot aus dem Jahr 1975. lichungen entwickelt, und er verfolgte sie in den 1980er-Jahren Der entscheidende Unterschied besteht jedoch darin, dass Clauweiter. Gleichzeitig tauchten Abzüge seiner Mode- und Aktbil- dia Schiffer hier nicht in Verbindung mit einer bestimmten der in Galerien und Museen auf, und so erreichte er ein bestän- Modekollektion porträtiert wurde, sondern als Frau und Persöndig wachsendes Publikum. Diese Zweitverwertung seiner Foto- lichkeit für ein Lifestyle-Magazin. Nichtsdestotrotz trägt sie hier grafi en war ein weiterer Para digmenwechsel, eine grundsätzliche ein auffälliges, rotes, enges und tief ausgeschnittenes Kleid von

Verschiebung vom fotografi schen Handwerk zum Kunstwerk, das John Galliano, das farblich mit ihrem Lippenstift korrespondiert. museale Ehren empfängt und auf dem Kunstmarkt für immer Ihre langen, blonden Locken umspielen das Dekolleté, sie hebt höhere Beträge gehandelt wird. Diese Entwicklung konnte selbstbewusst, ja herausfordernd das Kinn und stützt sich mit man parallel auch bei seinen berühmten Kollegen Irving Penn, einem Arm an einer Hauswand ab, während sie den anderen Arm

Richard Avedon, William Klein, Frank Horvat oder Erwin hinter ihrem Körper verbirgt. Dies ist keine natürliche Haltung, Blumenfeld beobachten. sie steht nicht aufrecht, sondern stark zur Wand gebeugt. Und so Zu den ikonischsten, meistpublizierten und am teuersten gehandelten Aufnahmen von Helmut Newton gehört zweifellos sein „Self Portrait with Wife and Models“ aus dem Jahr 1981. Der Fotograf steht hier im Trenchcoat mit seiner doppeläugigen Mittelformatkamera neben einem Aktmodell in einem Innenraum und fotografi ert sich und die Frau über einen großen, bodentiefen Spiegel, der bildparallel vor ihnen aufgebaut ist. Da man das nackte Modell, in der linken Bildhälfte, gewissermaßen verdoppelt, gleichzeitig von hinten und gespiegelt von vorn sieht, muss sich der Foto graf hinter ihm befunden haben. Das Besondere an dieser außergewöhnlichen und ambivalenten Aufnahme ist das integrierte Porträt von June New-Z ergibt sich eine seltsam surreale Wirkung, nicht nur wegen der Unschärfe im Bildhintergrund und des beinahe psychedelischen Komplementärkontrastes rot-grün. Es könnte eine After-PartyStimmung sein, die Newton hier visualisiert hat, die Protagonistin wankt übermüdet oder leicht angetrunken nach Hause, hier hält sie kurz inne, doch hinter ihr verschwimmt die Gasse – die Szene wirkt wie ein Filmstill von David Lynch. Helmut Newton inszenierte die damals 22-jährige Claudia Schiffer als blonden, weiblichen Archetypus, wie eine Hollywood-Schauspielerin, vergleichbar mit Marilyn Monroe oder Brigitte Bardot. Das Bild vereint gewissermaßen die europäischen und amerikanischen Mythen des Femininen. Newton hat mit Claudia Schiffer sehr häufi g zusammengearbeitet; es begann kurioserweise mit einer SchwarzWeiß-Werbestrecke für eine österreichische Baumarktkette im Jahr 1988. Später posierte sie immer wieder für ihn, in den unterton, die in Höhe des Spiegels auf einem Regiestuhl sitzt und die schiedlichsten Rollen und Kleidern, gelegentlich auch als Vamp ganze Situation neugierig und professionell beo bachtet. Hin- oder deutsches Fräuleinwunder. Natürlich spiegeln sich in Newter ihr ist der Ausgang des Pariser Vogue-Studios mit Blick in tons unzähligen Mode- und Aktaufnahmen für die renommiertesden urbanen Außenraum zu sehen. Eigentlich kam June vorbei, ten Magazine weltweit auch die Veränderungen der gesellschaftum ihren Mann zum Mittagessen abzuholen; sie wusste nicht, lichen Rolle der Frau wider. Und wie kein Zweiter verstand er es, dass sie sich im Bildfeld befand. Formal und inhaltlich ist es die Frauen während seines gesamten Schaffens metaphorisch auf eine interessante Figurenstaffelung; der Fotograf ist die kleinste einen Sockel zu heben, der nicht mehr wie in der früheren Mode-

fotografi e aus Galanterie bestand, sondern aus weiblichem Selbstbewusstsein. Die Modelle sind Subjekt und Objekt zugleich, sie sind stets handelnde Personen.

Helmut Newton hat es als Fotograf stets vermocht, zu überraschen und zu polarisieren. So entstand nicht nur ein außergewöhnlich charakteristisches und erfolgreiches Œuvre, sondern auch eines, das über die Verbreitung in den Zeitschriften ein Millionenpublikum erreichte. Sein genreübergreifendes und provozierendes Werk, das sich über sechs Dekaden erstreckte, entzieht sich jeder Kategorisierung. Konsum und Eleganz, Stil und Voyeurismus, außerdem die Bereiche Fashion-, Beautyund Glamour-Photography verband Helmut Newton zu einer unnachahmlichen, kaum zu entwirrenden Melange. Und er blieb innovativ bis zuletzt, auch medial. Abseitigesinteressierte ihn ebenso wie Paparazzi-Bilder, Polizei-Fotos und Kriminalgeschichten, kurzum, die Yellow Press, eine Mischung aus Sensationsnachrichten und den Artikeln der Rubrik „Vermischtes“ der Tageszeitungen. Dieses Interesse bildete die Grundlage für die gleichnamige Ausstellung Yellow Press, die noch vom Fotografen persönlich zusammengestellt und in seiner Züricher Galerie präsentiert wurde. In dieser ungewöhnlichen Mischung unterschiedlicher Werkgruppen fi nden sich auch Polaroids, die entstanden, als Newton seinen eigenen kurzen Schwarz-WeißWerbefi lm für den italienischen Reißverschlusshersteller Lanfranchi von 1988 von einem Bildschirm abfotografi erte. Die Sofortbilder seiner „Zipper“-Serie aus dem Jahr 2002 sind eine Form der visuell-künstlerischen Selbstaneignung, die in der damaligen Ausstellung gleich mehrfach auftauchte. Bei der „Zipper“-

Serie wählte Newton überdies eine doppelte mediale Transformation, indem er von den SX-70-Polaroids erstmals in seinem Werk auch Vergrößerungen auf dünnem Plotterpapier herstellte. Inhaltlich entsprechen der Werbefi lm und die spätere Übersetzung ins Polaroid einer ironischen Paraphrasierung einer Sadomaso-Fantasie. Newton inszenierte hier erneut wie ein Regisseur oder

Choreograf, indem er mit wenigen Accessoires in einer leeren, heruntergekommenen Industriehalle in Mailand eine Geschichte inszenierte und unseren voyeuristischen Blick auf die vermeintliche Verzweifl ung und Verwandlung der Protagonistin lenkt. Die

Reißverschlüsse an Schuh, Maske und Kleid werden zum zentralen, spannungsgeladenen Motiv. Macht und Eros sowie das erregende

Spiel mit der Gefahr sind häufi ge Begleiter der Newton’schen

Bildwelt. Die Fotosequenz wirkt wie ein Gesellschaftsstück mit ungewissem und schließlich kuriosem Ausgang. Auf dem Filmsetting und den daraus entstehenden Stills herrscht ein kaltes Theaterlicht. Newtons Nähe zu Literatur und Kino als wichtige Inspi-

rationsquellen ist hier evident. Er war ein ebenso intelligenter wie raffi nierter Geschichtenerzähler im Hochglanzformat. Das kulturelle Wissen, das Newton als neugieriger, belesener und kreativer Mensch im Laufe der Zeit abspeicherte, fl oss direkt oder indirekt in sein Werk ein. Manchmal kann man die Zitate sofort erkennen, wie bei den 1967 entstandenen Modeaufnahmen für die britische Vogue, für Alfred Hitchcocks Film North by Northwest Pate stand. In anderen Fällen bleiben die Bezüge eher verborgen und schwingen als Metaebene mit, weil Newton Realität und Fiktion zu einem unentwirrbaren visuellen Knäuel verband. Solche Motive und künstlerischen Ansätze wie die „Zipper“Sequenz mit ihren unterschiedlichen medialen Spielarten, mit denen uns Newton auch in seinem Spätwerk in Erstaunen versetzt, bereichern das Bild, das man von ER WAR EIN seinem Werk gemeinhin hat. Im Spannungsfeld von Kunst und Kommerz hat Helmut Newton es stets vermocht, zu verführen und gleichzeitig zu provo-INTELLIGENTER zieren. Und so gab es verständlicherweise auch – teilweise heftige – Kritik an seinem Werk, zuerst in den 1970er-Jahren von der Frauenbewegung, WIE RAFFINIERTER die Newton unter anderem damit konterte, er selbst sei ein Feminist. Natürlich hat es manchen Rezipienten nicht gefallen, wie er seine GESCHICHTENERZÄHLER IM HOCHGLANZFORMAT. Modelle auch instrumentalisiert oder mitunter manipuliert hat. Kurz nach seiner letzten Galerieausstellung in Zürich schloss sich im Herbst 2003 ein Lebenskreis für Helmut Newton: 65 Jahre nachdem er seine Heimatstadt Berlin verlassen musste, wählte er das ehemalige Preußische Landwehrkasino als Sitz für die zukünftige Helmut Newton Stiftung. Wenige Monate später starb der Fotograf. Inzwischen befi ndet sich sein Archiv nahezu komplett in der Berliner Stiftung und wird hier systematisch aufgearbeitet. Legacy war eine umfangreiche, gründliche Sichtung dieses Archivs, etwa der publizierten und inzwischen vergessenen Editorials sowie Tausender von Kontaktabzügen, auf denen sich häufi g Markierungen fi nden, die auf Newtons persönliche Auswahl verweisen. Und so tauchen hier neben zahlreichen ikonischen Bildmotiven unter anderen auch Fotografi en auf, die Newton seit den 1950er-Jahren in legendären Magazinen veröffentlicht oder später als Werbeaufnahmen im Auftrag von Couturiers realisiert hat. Auch ausgewählte Notizbücher mit seinen Bildideen, Polaroids und Kontaktbögen seiner stets analog belichteten Filme fi nden sich hier erstmals in Buchform. Newton wollte eine führende Persönlichkeit in der Modefotografi e werden, und durch sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und Talent, mit unermüdlichem Fleiß, einer großen Portion Chuzpe und seiner unwiderstehlichen visuellen Überzeugungskraft ist ihm dies auch gelungen.

HELMUT NEWTON. LEGACY Er war ein professioneller Voyeur – und als solchen hat sich Helmut Newton gleich selbst betitelt. Alles, was Rang und Namen hat, stand vor seiner Linse und insbesondere Frauen, die er auf einen Sockel zu stellen wusste wie kaum ein anderer. Mit wachem Kopf und kreativem Geist wurden so aus Fotografien Kunstwerke, die nicht im Archiv verstauben sollen. So widmet TASCHEN dem Fotografen mit einem über drei Kilogramm schweren Wälzer ein Werk (Helmut Newton, Matthias Harder & Philippe Garner, „Legacy“, 424 Seiten, 100.–) und das zu einer Zeit, in der auch die nach dem Fotografen benannte Stiftung in Berlin eine Ausstellung kuratiert, die mehr ist als ihre Wortbedeutung, viel mehr, eine Hommage nämlich. „HELMUT NEWTON. LEGACY“ ist bis zum 22. Mai 2022 in der Helmut Newton Stiftung im Museum für Fotografie zu sehen.

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