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Scharia in Europa
Seit 1923 gilt in einem Teil Griechenlands Scharia-Recht. Auch bei uns kann das der Fall sein
Die Städte Alexandroupoli, Komotini und Xanthi finden sich in Reiseprospekten selten. Kein Wunder, denn Thrakien, so der Name der Region im Nordosten Griechenlands, ist touristisch kaum erschlossen. Dabei werden die Thraker schon in der „Ilias“ erwähnt. Meister der Metallverarbeitung seien sie gewesen, so Homer.
Interessant ist speziell Westthrakien aber auch aus einem anderen Grund: In diesem Teil Griechenlands, und damit auch in der Europäischen Union, gilt in Zivilrechtsangelegenheiten die Scharia, ein religiöses Rechtssystem, das (islamisches) Gottesgesetz allen menschlichen Gesetzen überordnet. Wie geht das?
So kam die Scharia auch nach Europa
Seit dem 14. Jahrhundert leben in Westthrakien sunnitische Muslime. Es ist eine heterogene Gruppe, bestehend aus Türk*innen, slawischen Pomak*innen, aber auch ursprünglich christlichen Roma, die im Laufe der Jahrhunderte zum Islam konvertiert sind. Bis zum Ersten Weltkrieg stand Westthrakien unter osmanischer Herrschaft. Durch den Vertrag von Lausanne 1923 nach dem GriechischTürkischen Krieg genießen Muslim*innen in Westthrakien, das Griechenland zugesprochen worden war, Minderheitenschutz. Für den griechischen Staat sind sie zwar keine nationale, jedoch eine religiöse Minderheit.
Dennoch wurden 1955 auf der Grundlage von Artikel 19 des griechischen Staatsbürgerschaftsgesetzes rund 60.000 sogenannte „Westthrakientürken“ ausgebürgert, während sie sich außer Landes befanden. Erst 1998 wurde dieser Passus gestrichen. Trotzdem sind die Westthrakientürk*innen laut Human Rights Watch im Alltag zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt. Andererseits gilt für sie in Erb und Eheangelegenheiten islamisches Recht, also die Scharia: konkret das „Millet“System, eine religiös definierte Rechtsordnung aus dem Osmanischen Reich.
Europäisches Zivilrecht gegen die Scharia
Im Jahr 2018 wurde Griechenland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt. Nicht deshalb, weil Angehörigen der Minderheit das islamische Erb und Eherecht vorenthalten wurde, sondern im Gegenteil, weil es in einem Erbrechtsfall angewandt wurde.
Mustafa Molla Sali, ein griechischer Staatsbürger islamischen Glaubens, hatte seiner Frau Chatitze Molla Sali, einer griechischen Staatsbürgerin islamischen Glaubens, in einem notariell beglaubigten Testament 2003 sein gesamtes Vermögen vermacht. Die Abfassung dieses Testaments bedeutet, dass sich der Erblasser für die griechische zivilrechtliche Rechtssprechung entschieden hatte – im Zuge
TEXT: SABINE EDITH BRAUN
STEFAN SCHIMA, UNIVERSITÄT WIEN der sogenannten Privatautonomie. Dieser juristische Begriff besagt, dass Personen die Möglichkeit haben, ihre rechtlichen Beziehungen zu anderen nach ihrem eigenen Willen frei zu gestalten. Als Mustafa Molla Sali 2008 starb, erbte seine 1950 geborene Witwe auch tatsächlich alles, so wie es im Testament verfügt worden war: Land, Wohnung, Kellerabteil und Garage, Anteile von Geschäften sowie Eigentum in Istanbul.
Die Schwestern des Erblassers fochten das Testament an. Ihrer Meinung nach hätte islamisches Erbrecht und nicht das griechische Zivilgesetzbuch zur Anwendung kommen müssen, und außerdem hätte die ganze Angelegenheit von vornherein von einem Mufti, also einem islamischen Richter, geregelt werden müssen. Während in den unteren Instanzen die Witwe Recht bekam, siegten vor dem Höchstgericht ihre Schwägerinnen – und Chatitze Molla Sali verlor drei Viertel ihres Erbes. Daraufhin wandte sie sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Von diesem bekam Chatitze Molla Sali letztlich Recht. Im EGMRUrteil vom 19. Dezember 2018 heißt es in der Conclusio von Mārtiņš Mits, einem der EGMRRichter: „Angesichts des Sachverhalts war die Große Kammer nicht verpflichtet, eine mögliche Diskriminierung der Beschwerdeführerin aufgrund ihres Geschlechts zu prüfen – weder in Bezug auf muslimische Männer noch in Bezug auf nichtmuslimische Frauen. Sie musste sich auch nicht mit der umfassenderen Frage der Folgen der Anwendung eines Rechtssystems wie der Scharia, das in einem Umfeld unterschiedlicher kultureller und rechtlicher Traditionen entwickelt wurde, im europäischen Rechtsraum befassen.“ Sondern, und das ist der entscheidende Punkt: „Die Große Kammer wurde ersucht zu prüfen, ob die Beschwerdeführerin aus Gründen der Religion ungleich behandelt worden war. Die vorangegangene Analyse führt mich zu dem Schluss, dass Artikel 14 in Verbindung mit Artikel 1 des Protokolls Nr. 1 aufgrund der Religion des Ehemanns der Beschwerdeführerin und ihrer Religion verletzt wurde.“
Übersetzt heißt das: Für den EGMR war die Anwendung der Scharia eine ungerechtfertigte Diskriminierung. Wenn der Verstorbene nämlich kein Muslim gewesen wäre, hätte seine Witwe das gesamte Vermögen geerbt – wie es ja auch sein Wille war. Die Witwe sei jedoch ausschließlich aufgrund der Religionszugehörigkeit ihres Mannes anders behandelt worden.
Folglich wurde Griechenland wegen der Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit der Eigentumsgarantie (Art. 1 Zusatzprotokoll 1) vom EGMR verurteilt. „Griechenland hat allerdings“, so Stefan Schima vom Institut für Rechtswissenschaft der Universität Wien, „noch vor dem Urteil das Gesetz geändert – und das ist im Urteil auch lobend erwähnt worden.“ Nunmehr darf in Griechenland die Scharia privatrechtlich nur noch dann angewandt werden, wenn beide Streitpartner es ausdrücklich wünschen. Von anderen Rechtsbereichen – etwa dem Strafrecht – war ohnehin nie die Rede. Bei der Scharia in Griechenland ging und geht es ausschließlich um Teile des Privatrechts, konkret um das Erb und Eherecht.
Scharia im Westen: „Ordre public“ als Grenze
Wie sieht es in Österreich aus? Wäre SchariaRecht im privatrechtlichen Bereich auch hierorts möglich? „Es kann sogar zwingend zur Anwendung kommen – und zwar dann, wenn es um Internationales Privatrecht geht“, sagt Stefan Schima. Das Internationale Privatrecht (IPR) behandelt „Sachverhalte mit Auslandsberührung“, wie es im Paragraf 1 des IPRGesetzes heißt. Diese seien „in privatrechtlicher Hinsicht nach der Rechtsordnung zu beurteilen, zu der die stärkste Beziehung besteht“. „Auslandsberührung“ besteht etwa dann, wenn ein Ehepaar in SaudiArabien geheiratet hat, später nach Österreich übersiedelt und sich hierzulande scheiden lässt. Da sich die Rechtsordnung des Landes, im dem die Ehe geschlossen wurde, auf die Scharia beruft, müssten dann auch österreichische Richter, die eine solche Ehe scheiden, sich nach dieser Rechtsordnung richten.
Es gibt jedoch eine Ausnahme, und diese erläutert Paragraf 6 des IPRGesetzes. Demnach darf SchariaRechtsprechung nicht unseren Grundwerten – dem „ordre public“ – widersprechen: „Eine Bestimmung des fremden Rechts ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führen würde, das mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar ist. An ihrer Stelle ist erforderlichenfalls die entsprechende Bestimmung des österreichischen Rechts anzuwenden.“ Einen Ordre public gibt es nicht nur in Österreich, sondern in praktisch allen europäischen Rechtsordnungen.
Zwei Punkte im SchariaEherecht etwa widersprechen diametral dem Ordre public – nicht nur dem österreichischen, sondern dem europäischen: „Die einseitige Verstoßung der Ehefrau sowie die Polygynie, also die Ehe mit mehreren Frauen“, erläutert Stefan Schima die Vorbehaltsklausel. Das Eingehen einer Vielehe ist hierzulande auch ein Fall für das Strafgericht. Mit bis zu drei Jahren kann man dafür belangt werden.
Die SchariaRechtsprechung werde in Österreich im Rahmen des Internationalen Privatrechts zurückgedrängt. „Früher hat man sich in solchen Fällen eher an der Staatsbürgerschaft orientiert, nunmehr orientiert man sich eher am gemeinsamen Aufenthaltsort“, sagt Schima. Ist der gemeinsame Aufenthaltsort Österreich, kommt überwiegend österreichisches Recht zur Anwendung.