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Wessen Religionsfreiheit?
Das Verhältnis des Staates zu Religionen unterscheidet sich in Europa von Land zu Land erheblich
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen (in der nichtdeutschen Fassung „spirituell-moralischen“) Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“, heißt es im ersten Satz der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Bevor dieser Satz im Jahr 2000 in seiner endgültigen Fassung auf dem Papier stand, wurden zahllose Debatten geführt.
Der Streit über die Religionsfreiheit
Wenn bereits die Formulierung allgemeingültiger Grundsätze zähe Verhandlungen und übersetzerische Spitzfindigkeiten nach sich zieht, sind Unstimmigkeiten in der konkrete Gesetzgebung wenig überraschend. Einzelne Staaten sind durch völkerrechtliche, europäische und für die Mitgliedstaaten der EU auch unionsrechtliche Gesetze gebunden. Dazu gehören etwa Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit und das allgemeine Diskriminierungsverbot. Innerhalb dieses Rahmens ist der Handlungsspielraum der Regierungen groß. Obwohl man Westeuropa insgesamt als säkular bezeichnen kann, lässt sich über Religionsfreiheit im großen Stil streiten.
Bevor in Frankreich 2004 das Kopftuchverbot an Schulen eingeführt wurde, war es über Monate eines der meistdiskutierten Themen. Der Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern hatte sich schon über fünfzehn Jahre hingezogen. 2009 klagte eine Familie den italienischen Staat wegen Verletzung der Religions- und Meinungsfreiheit ihrer beiden Söhne, das Verfahren landete vor dem Verfassungsgerichtshof in Straßburg. Er entschied zugunsten der Kläger, woraufhin die Empörung in- und außerhalb Italiens so groß war, dass die Verhandlungen in der großen Kammer des Gerichtshofes wieder aufgenommen wurden –mittlerweile unterstützten zehn europäische Länder den italienischen Staat. Der erste Entscheid wurde widerrufen, Kreuze, die den Anlass zum Streit boten, blieben im Klassenzimmer.
Wie Säkularismus wahrgenommen wird Säkularismus ist nicht gleich Säkularismus. „In vielen Teilen der Welt wird europäische Religionspolitik als einheitlich ‚westlich‘, das heißt säkular wahrgenommen“, sagt Ahmet T. Kuru, Politikwissenschaftler an der San Diego State University und Autor von „Secularism and State Policies toward Religion: The United States, France, and Turkey“ (Cambridge University Press, 2009). „Tatsächlich gibt es aber nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb einzelner Staaten eine Vielzahl von Modellen.“ Auf Staatsebene, so Kuru, kann grundsätzlich zwischen „friedlichen“ und „bestimmenden“ säkularen Modellen unterschieden werden. Während erstere vom Staat verlangen, verschiedene Konfessionen im öffentlichen
TEXT: LINN RITSCH
„Mit dem Islam in Europa bricht ein jahrhunderte- alter Konsensus auf“
JULIA MOURÃO PERMOSER, UNIVERSITÄT INNSBRUCK
Ahmet T. Kuru, San Diego State University
Raum gleichwertig zu akzeptieren, ist der bestimmende Säkularismus eine Doktrin, die Religion komplett aus dem öffentlichen Leben verbannt.
Am striktesten wird diese zweite Art der säkularen Politik in Frankreich umgesetzt. „Laïcité“, die strenge Trennung von Kirche und Staat, ist in der französischen Verfassung festgeschrieben. 2017 bewerteten in Umfragen 84 Prozent aller französischen Staatsbürger*innen den Laizismus als einen grundlegenden Wert der Republik. An Frankreichs Schulen gibt es außer im Elsass, wo eine Sonderregelung besteht, keinen Religionsunterricht, an den Universitäten keine theologischen Fakultäten, im öffentlichen Raum keine religiösen Prozessionen und keine staatlich anerkannten Imame, Priester oder Rabbiner.
Sehen wir hier die perfekte Umsetzung staatlicher Neutralität und Gleichbehandlung aller Konfessionen? Nicht unbedingt, sagt Kuru. „Die Hauptschwierigkeit dieser kämpferischen Form von Säkularismus ist, dass er reaktionär und ausgrenzend ist.“ Exklusion und Anfeindungen fänden aber nicht allen Glaubensrichtungen gegenüber gleichermaßen statt. Bei Weitem am stärksten betroffen sei der Islam. Muslim*innen bilden nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa nach den Christ*innen die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft. In Medien und auf Wahlplakaten hat der Islam die zweifelhafte Ehre des ersten Platzes.
Die Präsenz des Islam in Europa
Historisch gesehen ist Europa christlich geprägt. Im Augenblick findet aber eine Diversifizierung statt. Erstens weil die Freiheit, nicht religiös zu sein, zunehmend eine Option darstellt. Zweitens aufgrund von Migration, durch die der Islam in den letzten Jahrzenten an Bedeutung gewann. „Die Präsenz des Islam in Europa führt dazu, dass soziale, politische und religiöse Konzeptionen von Identität wieder neu diskutiert werden. Ein jahrhundertealter Konsensus wird aufgebrochen“, erklärt Julia Mourão Permoser, die an der Universität Innsbruck zu europäischer Religionspolitik forscht. Während eine solche Neuorientierung theoretisch Chancen bieten könne, seien in vielen Staaten ein feindlicher Zugang zum Islam und eine Instrumentalisierung der Islampolitik zu beobachten.
Laut Astrid Mattes, Politikwissenschaftlerin und Migrationsforscherin an der Universität Wien, sind islamfeindliche Tendenzen auch in Österreich immer stärker spürbar. „Religionspolitik findet hier abseits von Islampolitik – jedenfalls auf der öffentlichen Bühne – kaum statt“, sagt Mattes. „Religionspolitik wird mittlerweile gewöhnlich in einem Atemzug mit Migrationspolitik genannt.“ 2020 sind die beiden Bereiche auch faktisch zusammengefallen: im Ressort der Integrationsministerin Susanne Raab, die seit Anfang letzten Jahres auch für Kirchen und Religionsgemeinschaften verantwortlich ist. Als einen der wichtigsten Aspekte dieses Aufgabenbereichs sieht Raab den „Kampf gegen den politischen Islam“. Um die anderen der 16 anerkannten Religionsgemeinschaften bleibt es still.
Dabei ist Österreichs Verständnis von Religionsfreiheit aus seiner Geschichte als Vielvölkerstaat traditionell ein pluralistisches. In der Habsburgermonarchie war es für den Staat praktisch überlebensnotwenig, verschiedenen im Reich vertretenen Konfessionen gleiche Freiheiten und Rechte zuzugestehen.
Zwischen Frankreich und England
Noch heute besteht in Österreich, ähnlich wie etwa im Nachbarland Deutschland, zwar Religions- und Glaubensfreiheit, religiöse Institutionen sind allerdings nicht komplett von staatlichen Belangen abgelöst. Religionsgemeinschaften sind staatlich anerkannt und haben Rechte, die über jene von weltlichen Vereinen hinausgehen. So dürfen Kirchen Steuern erheben und Religionsunterricht an Schulen anbieten. Im religionspolitischen Spektrum Europas steht Österreich damit in der Mitte zwischen dem laizistischen Frankreich auf der einen Seite und Ländern wie Dänemark oder England, deren System eine Staatskirche beinhält, auf der anderen Seite. Das österreichische Kooperationsmodell wird in der Wissenschaft als System der geteilten Aufgaben oder als Beispiel „hinkender Trennung“ bezeichnet – je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.
Die Präsenz des Islam in Europa
Welches ist nun das erfolgreichere System? „Von einem demokratiepolitischen Standpunkt gesehen ist keine dieser Herangehensweisen per se gut oder schlecht“, sagt Mattes. „Das französische Modell der absoluten Trennung zwischen Religion als Privatsache und einem säkularen öffentlichen Raum ist ebenso gutzuheißen wie ein gleichberechtigtes Einbeziehen aller Glaubensgemeinschaften, wie es die deutsche und die österreichische Verfassung vorsehen. Beide Herangehensweisen sind allerdings dann zu kritisieren, wenn real eine Ungleichbehandlung stattfindet.“
Verfassungstexte und rechtliche Regelungen sind also die eine Sache, der faktische Umgang mit ihnen ist eine ganz andere. Eine dritte Sache ist die Bereitschaft zur Veränderung – sowohl in rechtlichen als auch in sozialen und politischen Fragen. Hier seien nicht nur Politik und Rechtsprechung wichtig, so Kuru, sondern auch die Zivilgesellschaft. „Regierungen und Staaten sind problematische Gebilde. Im Hinblick auf den Islam erwarte ich viel stärker einen pluralistischen und integrativen Diskurs, der von der Bevölkerung ausgeht. Von religiösen und säkularen Gemeinschaften, Intellektuellen und auch von den Medien.“