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Inselrallye

Inselrallye

Je genauer wir hinschauen, desto weniger erkennen wir. Jeder, der in klaren Nächten gen Himmel blickt, erlebt dieses überraschende Phänomen. Auch im Alltag, bei Gesprächen, beim Fotografieren, passieren spannende Dinge, sobald man das eigentliche Ziel aus dem Auge verliert. So ergibt es sich, dass wir unerwartet am Nordstrand stehen - und sich vor uns eine meterhohe Flamme in der Dämmerung erhebt. Wir starten in diese Ausgabe mit dem, was uns besonders interessiert - den Geschichten der Menschen auf Norderney.

RENA

Mein Name ist Rena Diehl, geborene Kluin, und ich bin 2022 im Alter von 86 Jahren nach über sechs Jahrzehnten zurück auf meine Heimatinsel Norderney gezogen. Trotz jahrelanger Abwesenheit blieb der Kontakt zur Insel immer sehr intensiv - vor allem auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Meine Eltern sind beide Ur-Norderneyer, haben die Insel jedoch Anfang der 1930er Jahre aus beruflichen Gründen verlassen. Ich bin 1936 in Köln geboren und habe dort meine ersten Lebensjahre verbracht. Norderney und das Haus meiner Großeltern in der Jann-BerghausStra8e sind aber immer Mittelpunkt unserer großen Familie geblieben. Viele Bombenangriffe habe ich während des Krieges in Köln erlebt, aber zum Glück niemals auf Norderney. Gerne erinnere ich mich, dass wir im Sommer zum Weststrand gegangen sind - unterhalb der ehemaligen Villa Hanebuth. Trotz der Kriegszeiten war die Insel für uns ein Zufluchtsort, an dem wir ein Stück unbeschwerte Kindheit erleben durften. Dafür bin ich dankbar. 1942 wurden wir in Köln total ausgebombt - und nach einer Zwischenstation in Bad Essen kamen wir nach Kriegsende nach Norderney, wo im Herbst auch wieder die Schule begann. Einige meiner damaligen Klassenkameraden leben bis heute auf der Insel - wir treffen uns immer noch regelmäßig. Nach dem Krieg hatten wir fast nichts und in dem Eiswinter 1946/47 war Norderney fast 1/4 Jahr eingefroren. Das habe ich noch deutlich in Erinnerung. Es konnten wegen des Eisgangs keine Schiffe fahren und die wenigen Lebensmittel wurden mit Pferd und Wagen bei Ebbe über das Watt transportiert. Während dieser Zeit haben wir wirklich Hunger kennengelernt. Das ist heute kaum mehr vorstellbar. Da ich gerne medizinisch-technische Assistentin werden wollte, ging ich nach der Beendigung meiner Schulzeit zunächst für ein Jahr als Praktikantin in die Krupp-Krankenanstalten nach Essen und anschließend für zwei Jahre an das Hygiene-Institut (MtA-Schule) in Gelsenkirchen. Nach meinem Examen 1957 wäre ich gerne auf "meine" Insel zurückgekehrt, aber leider gab es keine freie Stelle im Krankenhaus. Ich habe dann für mehrere Jahre im Norder Kreiskrankenhaus gearbeitet. Dort habe ich auch meinen Mann kennengelernt. Aus beruflichen Gründen sind wir häufig (insgesamt neun mal) umgezogen. Trotzdem bin ich mit "Leib und Seele" Norderneyerin geblieben. Bis vor drei Jahren habe ich auch das jährliche Butennörderneer Treffen in Bornheim bei Bonn mit organisiert, das seit 1985 mit wenigen Ausnahmen regelmäßig stattfindet. In der Hochphase kamen mehr als 200 Personen - von überall aus der Bundesrepublik. Seit der Pensionierung meines Mannes lebten wir in Ratingen bei Düsseldorf, wo ich auch nach seinem frühen Tod 1998 bis jetzt wohnte. In der letzten Zeit habe ich oft überlegt, wie es weiter gehen kann. Wir haben leider keine Kinder und ich wollte noch selbst entscheiden, wo ich meine letzten Jahre leben möchte. Deshalb bin ich jetzt zurück nach Norderney in die Marienresidenz gezogen - und ich fühle mich hier sehr wohl und gut aufgehoben. Ich lebe jetzt natürlich auf wesentlich kleinerem Raum als vorher, aber der Vorteil des Alters ist wohl auch, dass man ohne größere Schwierigkeiten anpassungsfähig ist. Ich bin wieder ganz zu Hause auf Norderney - meiner Heimatinsel.

OLIVER

Mein Name ist Oliver und ich pendele täglich von Norddeich nach Norderney. Ursprünglich stamme ich aus Schleswig-Holstein. Dort bin ich an der Ostsee in Eckernförde aufgewachsen - und habe bei Hochtief Beton- und Stahlbetonbauer gelernt und als Hochbaupolier gearbeitet. Nach Ostfriesland bin ich der Liebe wegen gekommen, weil ich hier 2002 meine heutige Frau kennengelernt habe. Ich habe dann in Emden eine Umschulung zum Groß- und Außenhandelskaufmann gemacht und 2006 beim Norderneyer Betonwerk angefangen. Das wurde damals noch von der Emder Firma Fritzen betrieben und arbeitet seit 2012 unter dem Namen Norderney Beton (www. norderney-beton.de) als eigenständiges Inselunternehmen. Das tägliche Pendeln macht mir nichts aus. Im Gegenteil. Wir wohnen in Norddeich direkt hinterm Deich - nur ein paar Schritte vom Fähranleger entfernt. Vom Arbeitsweg könnte ich es nicht besser haben. Ich gehe morgens fünf Minuten zum Hafen, setze mich auf die Fähre, fahre rüber, gehe nochmal fünf Minuten - und kann anfangen zu arbeiten. Früher in Schleswig-Holstein musste ich zum Teil zwischen 100 und 130 Kilometern Landstraße bis zur Baustelle fahren. Jeden Tag - hin und zurück. Verglichen damit, finde ich das jetzt total angenehm. Bei Norderney Beton kümmere ich mich als technischer Leiter um den gesamten Vorgang - vom Eingang der Bestellung bis zur Auslieferung. Wir arbeiten mit einer vollautomatischen Betonmischanlage. Ich berate die Kunden, gebe die Rezepte, wie der Beton hergestellt werden soll, in den PC ein und fahre die LKWs - ich bin hier ein bisschen das Mädchen für alles. Nur bei Bestellungen von mehr als 20-25 Kubikmetern hole ich mir bei einem Partnerunternehmen Unterstützung für die Auslieferung. Wir produzieren unseren Beton in unterschiedlichen Festigkeits- und Expositionsklassen. Was du brauchst, hängt auch davon ab, wo Du arbeitest - vorm Deich, hinterm Deich oder wie weit du entfernt bist. Hier bei uns an der Nordsee spielen ganz andere klimatische und saisonale Einflüsse eine Rolle als bei Betonwerken auf dem Festland. Man darf auch nicht unterschätzen, dass bei uns im Winter Hochsaison ist, wenn auf dem Festland wegen der Kälte schon gar nicht mehr gearbeitet wird. Die gesamte Logistik, die Rezepturen und auch das Ausliefern - das läuft hier alles ein bisschen anders. Aber gerade die Besonderheiten machen die Arbeit auch spannend. Wir sind wie ein kleiner Tante-Emma-Laden. Die meisten meiner Kunden kenne ich persönlich, zum Teil schon seit vielen Jahren. Zu den spannendsten Projekten der letzten Jahre gehören die großen Küstenschutzmaßnahmen am Weststrand und eine Sohle von 330 Kubikmetern bei einem Bauprojekt in der Innenstadt, bei der wir 24 Stunden am Stück betoniert haben mit unserem kleinen Werk. Denn Beton muss immer frisch auf frisch. Da kommen Wasser und Zement zusammen. Du hast 60 Minuten - und dann läuft deine Zeit. Seit 2013 steht ein Wohnwagen auf unserem Firmengelände. Da kann ich jederzeit übernachten, wenn ich mal bis spät abends betonieren muss oder wenn die Fähre wegen Sturm oder Niedrigwasser ausfällt. Aber das bleibt die Ausnahme. Wenn ich im Winter morgens um 4.00 Uhr aufstehe, weil mein Vorschiff um 5.00 Uhr fährt, und ich abends um 18.15 Uhr in der Regel die Fähre zurück nehme, dann war das ein langer Tag - und dann freue ich mich auf meine Frau und auf mein Zuhause. Die Überstunden kann ich im Sommer ausgleichen, wenn auf der Insel wegen des Saisonverbots die meisten Bauarbeiten stoppen. Norderney ist für mich ein perfekter Arbeitsplatz. Ich könnte mir nichts Besseres vorstellen.

GILBERT

Ich heiße Gilbert und habe in meinem Leben viele verrückte Sachen gemacht. Besonders gerne erinnere ich mich an die Zauberschule und an den Kinderzirkus, den ich in den 00er Jahren auf der Insel gegründet habe. Das war eine wunderschöne Zeit. Ursprünglich stamme ich vom Niederrhein und habe als junger Mann unter anderem auf den Trabrennbahnen in Krefeld und Düsseldorf gearbeitet. Die Erfahrung mit Pferden hat mir später geholfen, eine Anstellung als Kutscher auf Juist zu bekommen. Dort habe ich meine Frau kennengelernt und eine Familie gegründet. Anfang der 1980er Jahre hat es mich auf Umwegen nach Norderney verschlagen. Seitdem hänge ich hier oben fest - und fühle mich auf der Insel sauwohl. Die Geschichte mit der Zauberei und dem Zirkus hat sich eher zufällig ergeben - da ist eins zum anderen gekommen. Ich war damals beruflich im Straßenbau tätig - und hatte als Ausgleich angefangen, mir selbst das Jonglieren beizubringen. Da muss man am Anfang ziemlich viel üben, bis man die Kaskaden und komplizierten Figuren richtig gut beherrscht. Ich stand in der Mittagspause oft bei der Milchbar, habe "Jive Bunny And The Mastermixers" gehört und zum Rhythmus der Musik trainiert. Eines Tages haben mich ein paar Kinder angesprochen und gefragt, ob ich auch zaubern kann. Ich habe mir dann aus Neugier in einem Zauberladen in Aurich meine ersten Tricks gekauft - und es sind nach und nach immer mehr geworden. Am Ende hatte ich ein eineinhalbstündiges Zauberprogramm, mit dem ich als Straßenkünstler am Strand und in der Fußgängerzone aufgetreten bin. Als sich die Chance bot, habe ich mit Unterstützung von zwei Freundinnen im heutigen Hotel Seesteg, das damals noch als Strandkorbhalle genutzt wurde, eine Zauber- und Zirkusschule für Kinder eröffnet - und das Interesse war riesig. Im Sommer hatten wir da jede Menge Platz - und haben den Kindern so spannende Dinge wie Einradfahren, Akrobatik, Jonglieren, Clownerie und natürlich Zaubern beigebracht. Unseren ersten großen Auftritt hatten wir am Weststrand vor Tausenden von Zuschauern. Das war ein unvergessliches Erlebnis. Mich persönlich hat schon immer das Feuer gereizt, seit ich mit dem Jonglieren angefangen habe. Ich habe mir Feuerbälle, Feuerkeulen, Feuerketten und Pyrofluid zum Feuerspucken besorgt - und gelernt, damit umzugehen. Bei einem Piratenfest im Norderneyer Hafen habe ich mich sogar als lebende Fackel von einem Zauberschüler anzünden lassen - aber das war natürlich alles abgesichert. Ich habe sehr großen Respekt vor dem Feuer - denn es kann wärmend, aber auch vernichtend sein. Wer mit dem Feuer spielt, muss ganz genau wissen, was er tut. Nach dem Ende der Zirkuszeit habe ich in einem Fahrradverleih in der Friedrichstraße gearbeitet - und seit 2015 fahre ich Taxi auf Norderney. Jonglieren mit brennenden Fackeln oder Feuerspucken hatte ich seit über 15 Jahren nicht gemacht. Aber so etwas verlernt man offensichtlich nicht. Ab dem 1. Januar 2023 bin ich Rentner - und weiß das Leben auf der Insel noch immer zu schätzen. Ich genieße es, in Ruhe am Strand zu stehen und Wolfsbarsch oder Scholle zu angeln. Vielleicht ergibt sich irgendwann noch einmal die Möglichkeit, etwas für die Kinder zu tun - so wie damals in unserem Kinderzirkus.

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