Anstelle eines „Vorwortersatzes“ Ich kenne kaum jemanden, der gern Vorworte liest. Umso mehr gilt dies für das Schreiben selbiger. Das kommt vermutlich daher, dass die überwiegende Mehrheit der Vorworte so lang 5
ist wie die Nacht des 21. Dezembers, so obligatorisch wie die gegenseitigen Komplimente während eines Banketts und so langweilig wie das Mitternachtsprogramm im Fernsehen. Allerdings wird dieses Vorwort, im Gegensatz zu allem oben Gesagten, kurz gehalten und so wird in ihm zum Glück kein
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Platz bleiben für solch gehobene Sätze wie „Der Stil des Autors ist durchdrungen von äußerster Eloquenz und Leichtigkeit“, „Auch ist jene meisterhaft verschleierte Symbolik zu erwähnen, mit der…“, „Im eklektischen Charakter der Hauptfigur lassen sich die aufkeimenden Anfänge der
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Melancholie erahnen“ und ähnliches. Erstens weil dieses Buch keinerlei tiefgründigen und allumfassenden Gedanken in sich trägt. Und zweitens ist es auch nicht mit jener Ideensymbolik beladen, deren Tiefe so gut wie jedem verborgen bleibt, in vielen Fällen auch dem Verfasser
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selbst. Ich möchte die Leser gleich an dieser Stelle warnen, dass man im Buch keinerlei Kraftausdrücken oder pornographischen Szenen begegnet und auch nicht irgendwelchen unstatthaften Skandalen, die dem Autor später das Getratsche der
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Gesellschaft in all seiner Tiefe zu ergründen ermöglichen. Dafür begegnet man Bildern und Dialogen, die den im vorausgehenden Satz erwähnten schmerzhaften Mangel, wenn nicht gänzlich, so doch wenigstens zu einem gewissen Grade, aufwiegen. Alles in allem ist das Buch leicht und
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unterhaltsam und kann nach grober Schätzung des Autors in
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sechstausenddreihundertfünfundzwanzig Atemzügen mühelos durchgelesen werden. Noch ein paar Worte zu den Lokalitäten: Ein Teil der Handlung von „Bestseller“1 verläuft in Frankreich. Das Land 35
wurde eigentlich zufällig ausgewählt und ist nur dem Klang des Namens der Hauptfigur -
Pierre Sonnage - zu verdanken.
Der zweite Teil der Geschichte findet in der Literatenhölle statt und weil es “leichter ist einen Teufel zu malen als einen Hahn, denn einen Hahn hat jeder schon mal gesehen, 40
einen Teufel dagegen noch keiner“ fiel dem Autor das Beschreiben derselben wesentlich leichter2. Was noch? Willkommen sei euer Auge in der Literatenhölle. I PR-Schritt oder Hopp in die Hölle
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Pierre Sonnage hatte sich fest vorgenommen, den Selbstmord an seinem dreiunddreißigsten Geburtstag zu begehen. Der Grund dafür war keineswegs banal - weder wurde er Zeuge einer wilden Sexszene zwischen der eigenen Braut und dem Trauzeugen vor der Hochzeit, noch hatte er in einem Casino
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erst sich selbst, dann die Hoffnung und zuletzt sein ganzes Vermögen verloren. Auch in existenzialistische Fragen hatte er sich nicht vertieft, um im Sumpf der Vergeblichkeit stecken zu bleiben. Schließlich lasteten auf ihm auch keine unermesslichen Schulden, wenn man natürlich von einem Haus,
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einem Baum und einem Kind absieht. Tatsächlich war seine 1 An dieser Stelle möchte ich Alexander (Che) Lortkipanidze einen besonderen Dank aussprechen, der das Buch bereits vor seiner Entstehung auf diesen Namen getauft hat. 2 Ursprünglich hatte der Autor nicht die Absicht, im Vorwort irgendeine „weise Phrase“ zu paraphrasieren, andererseits passt dieses konfuzianische Gleichnis vom „Hahn“ und dem „Teufel“ zu der Gegenüberstellung von Frankreich und der Hölle als deren Symbole derart gut, dass ihm einfach kein anderer Weg blieb (schäm. Anm. d. A.).
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Absicht während der Planung des Selbstmordes weitaus idealistischer als die bloße Aussicht auf die Lösung des ewigen Dilemmas der Unsterblichkeit der Seele hätte sein können. 60
Wenn auch sonst nichts, ein Schriftsteller war er jedenfalls. Zwar unbekannt und keine Person des öffentlichen Lebens, aber dennoch ein Schriftsteller. Er gehörte zu jenen Schaffenden, die viel lieber Bücher schreiben als welche zu lesen. Und so hatte er neben zahlreichen Erzählungen bereits
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vier Bücher veröffentlicht. In gewisser Weise glich er Rubens – er liebte das Schaffen „dickleibiger Werke“. Obwohl, den Feinschmeckern unter seinen Lesern zufolge ließen sich seine Bücher ungeachtet des Umfangs „mit Appetit lesen“. Die Einschätzung war gut, nicht so jedoch die
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Wertschätzung, denn auf einer Stufe mit Beigbeder, Le Clézio und Houellebecq zu stehen fiel Pierre trotzdem schwer. Nicht nur das, auf der Präsentation seines letzten Buches waren nur zwölf Leser erschienen. Es stimmt schon, dass die Präsentation nicht pompös war und verborgen vor der breiten
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Öffentlichkeit nur bei einem Büfett mit Wein und Baguette stattfand, dennoch muss man gestehen, dass zwölf Leser im Alter von Dreiunddreißig wenig sind. Auch dafür gab es selbstverständlich eine Erklärung. Pierre glaubte von ganzem Herzen daran, dass „die Gesellschaft
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einfach noch nicht bereit dafür war, seine genialen Ideen anzunehmen, und um die Menschen zur Wahrhaftigkeit zu bekehren war die Durchführung irgendeiner wirksamen Maßnahme notwendig“. Genau zu diesem Zeitpunkt reifte im Kopf des Schriftstellers jener Plan, der dieser ganzen verworrenen
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Geschichte den Anfang gab…
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[In Anbetracht der Tatsache, dass Pierre Sonnage am Ende dieses Kapitels Selbstmord begeht, hielt der Autor die Beschreibung seines Äußeren, sowie seiner persönlichen Charakterzüge vorerst nicht für angebracht.] 90
…Ja, Pierre beschloss sich seinen eigenen Werken zu opfern, denn er wusste, dass das Sterben über eine unsterbliche Eigenschaft verfügt – die Steigerung des Respekt solchen Menschen gegenüber3. Um den ewigen Ruhm zu erlangen schien der Selbstmord der einzige Weg zu sein, denn Pierre kannte
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noch eine weitere verbreitete Maxime4, nämlich dass „für die Unsterblichkeit in erster Linie das Sterben notwendig ist“. Da der Mensch den Selbstmord im Leben mehr oder minder nur einmal begeht, war es Pierres Wunsch, dieses Ereignis bemerkenswert und pompös zu gestalten. Dementsprechend
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begann er mit der Planung des Selbstmordes weit im Voraus. Für den Selbstmord ein Seil zu verwenden hatte er von Anfang an ausgeschlossen, weil das Seil, das Piere im Schrank vorgefunden hatte, dermaßen abgenutzt war wie die Methode selbst. Aus dem gleichen Grund verwarf er auch die Pistole.
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Erstens würde er schon vor dem Abdrücken des Abzugs hundert Tode sterben, und zweitens war er von ganzem Herzen davon überzeugt, dass sein Gehirn mehr verdiente, als nach dem Tod den Platz auf einer gewöhnlichen Wand eines gewöhnlichen Zimmers einzunehmen, stattdessen beispielsweise in einem mit
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spezieller Flüssigkeit gefüllten durchsichtigen Glas in 3 Er schrieb sogar in einem seiner Romane: „Würden wir unsere Liebe den Menschen gegenüber in einem solchen Maße Ausdruck verleihen, wie wir es nach ihrem Tod tun, würden diese Menschen möglicherweise noch lange und glücklich leben“. 4 Natürlich hätte der Autor anstelle von „Maxime“, mit dem gleichen Erfolg „Wahrheit“, „Axiom“, „Weisheit“ und viele noch stärker abgenutzte Wörter verwenden können, aber da der Autor ein Maximalist ist, beschloss er, die Illusion der Intellektualität zu schaffen (intell. Anm. d. A.).
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einer Museumsvitrine stolz ausgestellt zu werden. Eine Weile dachte er sogar daran, dreiunddreißig Schlaftabletten zu nehmen, doch dann dämmerte ihm, dass nach dem Aufschneiden seines Körpers die Anzahl der Tabletten sowieso keiner 115
zählen würde und diese Symbolik für die Geschichte der Weltliteratur für immer verborgen bliebe. Selbstverständlich hätte er auch im Abschiedsbrief auf diesen Zusammenhang hinweisen können, aber wie würde das denn klingen: „Also, da ich jetzt dreiunddreißig Jahre alt werde, habe ich
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beschlossen, dreiunddreißig Schlaftabletten zu schlucken“. „Nein“ – dachte Piere bei sich, „das ist so primitiv, bevor ich das tue, bringe ich mich lieber um“. Es gab noch viele andere Methoden Selbstmord zu begehen: Sich auf dem zentralen Platz von Rouen demonstrativ
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anzuzünden, vom Fluss des Lebens in den Fluss Seine zu wechseln, die Verkostung von rohem Fugu, einen Kredit bei der Bank zu nehmen oder sich mit den eigenen Büchern in den Händen vor einen Zug zu werfen und mit aggressivem Marketing, oder gar mit verzweifeltem Schreien, die erhöhte
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Aufmerksamkeit der Reisenden auf sich zu ziehen. Aber da Pierre der Meinung war, dass er der Zukunft auf Newtons Schultern stehend entgegenblickte5, beschloss er, auch dem Tod aus maximaler Höhe in die Augen zuschauen. Den Mond und den Everest verwarf er selbstverständlich von
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Anfang an. Den Mond deshalb, weil er zu weit war, den Everest aus dem gleichen Grund. Auch war zu bezweifeln, dass man irgendeinen im Orbit zum Satelliten gewordenen oder im
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5 Als Beweis dafür, dass des Autors Kenntnis des Wortes „Maxime“ keinen Zufall darstellte, meint er in diesem Fall, viel mehr noch verschärft er den berühmten Spruch von Isaak Newton: “Wenn ich weiter geblickt habe, so deshalb, weil ich auf den Schultern von Riesen stand“, mit dem sich Newton seinerseits auf ihn vorausgehende große Wissenschaftler bezog.
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Schnee vereisten französischen Schriftsteller für einen Selbstmörder gehalten hätte, wenn man ihn überhaupt gefunden 140
hätte, versteht sich. Deswegen wählte Pierre mit erhitztem Gemüt aber kühlem Verstand die Höhe aus, deren Erklimmen ihm nicht besonders schwer fallen sollte. Und so fand er sich selbst an seinem Geburtstag in Dubai. In einer fast aus dem Nichts geschaffenen Stadt, die jetzt
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ihrerseits fast aus dem Nichts die Zukunft Pierres schaffen sollte… [Da der Autor jegliche Art von Landschaftsbeschreibungen verabscheut und das Gedächtnis sich ohnehin weigert, mit verschnörkelten Worten wiedergegebene plastische sowie
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räumliche Details zu behalten, wurde hier bewusst auf die Beschreibung der Sehenswürdigkeiten von Dubai verzichtet. Ein Bild von Burj Khalifa kann ohnehin viel schneller im Internet gegoogelt werden, als das Lesen einer dreiseitigen Beschreibung in Anspruch nehmen würde.]
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Und so sah Pierre Burj Khalifa mit eigenen Augen, er ging mit eigenen Füßen in den Fahrstuhl hinein, drückte mit der eigener Hand den Knopf für die oberen Etagen und nahm mit den eigenen Ohren jenen Druck wahr, den ihn die Höhenänderung spüren ließ. „Jeder hat sein eigenes Golgota“,
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- bemerkte Pierre zu einem etwa 22-jährigen Mädchen, das auf dem achtundzwanzigsten Stock zerstreut ausstieg und wahrscheinlich noch einige Minuten über diesen Satz nachdachte. Im Fahrstuhl ereignete sich sonst nichts, was Pierres Leben hätte ändern können. Weder stieg mit ihm
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zusammen eine attraktive Frau ein, auf die zuerst Pierre und dann auch der Fahrstuhl abgefahren wären; Noch fiel der Strom aus, was Piere als Zeichen Gottes verstanden haben
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könnte. Im Gegenteil, die Kabine fuhr so lange nach oben, dass es Pierre Sonnage in der Zwischenzeit schaffte, dreimal 170
zu gähnen, vier Selfies zu schießen, seine Lieblingsmelodie ein paar Mal zu summen, ein Sujet für einen Roman zu erfinden und jenen sentimentalen Text in seinen Gedanken zu verfassen, den er während des freien Falls über die unbarmherzige Welt zu denken vorhatte. Zu seiner Beruhigung
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dachte er, dass „er ja von oben wesentlich schneller nach unten kommen musste“. Psychologen sagen (bzw. irgendwelche Leute sagen, dass Psychologen sagen) – dass der Mensch beim Herunterschauen aus der Höhe, normalerweise, das Verlangen zu springen
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verspüre. Im Falle von Pierre traf das nicht zu. Noch mehr, wäre es nicht für die PR notwendig gewesen, hätte Pierre es sich mit diesem „Salto Mortale“ anders überlegt. Doch als er sich auf dem Gipfel der Architektur den Gipfel seines Ruhmes vor Augen führte, winkte er ab, und ohne viel zu zögern
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machte er in Richtung der Leere den PR-Schritt… …Pierre fiel so lang, dass er unterwegs zunächst den Glauben an Galileis Fallgesetzte gewann, dann den an Gott und schließlich – als er sich mit seitlich ausgestreckten Armen der Kreuzung näherte – überzeugte er sich auch gründlich von
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Newtons Gravitationsgesetz. II Höllische Popularität Veraltete idiomatische und manchmal sogar idiotische Vergleiche nervten Pierre immer. Er bevorzugte es zu
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schreiben - „Sie hatte eine Stimme so süß wie ein Novembertag“, anstatt auf die Einzigartigkeit der Stimmbänder von Meerjungfrauen Bezug zu nehmen. Auch bei der
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Beschreibung der Schönheit zog er anstelle von „Engel“ „schön wie das eigene Spiegelbild“ vor. Umso mehr, weil 200
niemand je den Meerjungfrauengesang gehört hatte, noch vom häufigen Erscheinen der Engel besonders verwöhnt wurde. Nichtsdestotrotz verspürte Pierre, als er die Augen öffnete, eine „Höllenhitze“. Irgendwie dachte er, dass er das zu erwartende Bild – schnell aufeinanderfolgende gleichartige
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Deckenleuchten eines Krankenhauses - sehen würde, aber er wurde enttäuscht. Einmal, weil er für den Fall vom hundert siebenundfünfzigsten Stockwerk erstaunlich unversehrt auf dem Boden lag; außerdem glich auch das sich vor ihm befindliche Tor nicht besonders dem eines
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Reanimationssaales. Pierre erhob sich. Das Tor war groß, in einen Triumphbogen eingelassen, und zu seinen Seiten zog sich eine riesige Rundmauer aus schwarzen Obelisken hin. Rundum herrschte Stille. Am Tor stand ein Mann mittleren Alters, lächelnd und
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in einer längst vergessenen Mode des Mittelalters gekleidet. Daneben war mit einem bunten Band ein riesiger Hund festgebunden, der von Zeit zu Zeit Feuer aus dem Maul spie und eine flammrote Spur in der Luft hinterließ: „- Fürchte dich nicht! In Wahrheit ist ruhig der Hund,
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So schuf ihn Herr Doyles, ihn trifft keine Schuld, Er ist ein Statist, unser Kerberos ist im Urlaub…„ beruhigte ihn der Mann mit italienischem Akzent von weitem und beschloss, sich ab dem nächsten Satz menschlicher zu gebärden, sonst könnte es ja passieren, dass seine
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Ausdrucksweise einem Schriftsteller des einundzwanzigsten Jahrhunderts etwas komisch vorgekommen wäre. Pierre kratzte sich am Kopf. Das passierte hauptsächlich
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dann, wenn er ratlos wurde. Und jetzt war er in der Tat so ratlos, wie James Cook in jenem Augenblick, als er begriff, 230
dass die hawaiianischen Aboriginies vorhatten, nicht ihn sondern sich mit ihm zu sättigen. „Normalerweise würde ich jetzt aufwachen und alles wird ein banales Ende nehmen“, dachte Pierre, und weil jedermann im Traum doppelt so mutig ist, ging er furchtlos auf den italienischen Mann zu.
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Außer dem Mann und dem Hund stand am Tor ein rahmenförmiges Gerät der Marke Esh.Mac – mit einem von einer Schlange umschlungenen doppelt angebissenen Apfel als Logo. [Bedauerlicherweise findet der Autor, dass er an dieser Stelle einer besonders eloquenten Allusion auf die Spur
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gekommen ist.] - Das ist ein Hoffnungsdetektor. Wir geben uns Mühe mit der modernen Technik Schritt zu halten. Oder genauer gesagt Griff - der Italiener fuhr mit dem Finger über das an dem Tor stehende Gerät und entsperrte es – Vivere est militare…6
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Deshalb, wenn Ihr irgendeine Hoffnung mitführt, solltet Ihr sie draußen lassen. - Das heißt? – Pierre begriff, dass er nichts mehr begriff. - Das heißt, ich hege die Hoffnung, dass Euch keinerlei Hoffnung übrig geblieben ist.
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- Was mich betrifft habe nicht nur ich jegliche Hoffnung verloren, sondern auch meine Leser, - gab Pierre lächelnd zu und beschloss, in diesem selbsternannten Traum mitzuspielen, - alles was ich hatte, habe ich drüben gelassen. Hmmm… im vorherigen Leben, Signor…
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6 (lat.) „ Leben heißt Kämpfen“. Weder diese noch weiter unten angeführte lateinische Aphorismen haben eigentlich einen Bezug zum Text. Der Autor ist einfach der Ansicht, dass lateinische Sentenzen dem Schreiben einen zusätzlichen Keck verleihen.
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- Alighieri, Dante Alighieri, - kam ihm der Mann zu Hilfe und gab auf der elektronischen Tafel „1984“ ein um das Tor zu öffnen – Wenn es so ist, heiße ich Euch willkommen… in der Literatenhölle.
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Zur gleichen Zeit ging die „drüben gelassene Hoffnung“ in Erfüllung. Banal ausgedrückt – eine solche Volksliebe hätte Pierre sich zu Lebzeiten nicht erträumen können. Für die Popularität haben ein paar sentimentale Sujets
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vollkommen ausgereicht – „Ein aussichtsloser Schritt eines aussichtsreichen Schriftstellers“, die künstliche Verwunderung auf dem Gesicht des Türnachbarn und seine vorsichtige Skepsis (Bedenken) – „Dabei schien er in letzter Zeit einigermaßen glücklich“, die durch den
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Landespräsidenten vom Blatt abgelesene „große Trauer um den großen Verlust…“. Dann zahlreiche klatschige Meldungen, dass “man ihn in Wahrheit ermordet hatte“, dass „er einfach ausgerutscht sei“, dass „er kein Glück in der Liebe hatte“ (und Reporter fanden in der Tat irgendeine Marie, die
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„Pierre vor sieben Jahren in Abstand von drei Sekunden zweimal auf die linke Ecke der Oberlippe geküsst hatte“), dass „er gay war“ (das letztere war ein latentes Gerücht und kam einfach neben den anderen Gerüchten empor), dass „er einige Staatsgeheimnisse wusste“. Dass „dies“ und dass
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„jenes“… Kurz, alles drehte sich letztlich um Da(ss)seinsfragen. Dem Puls des Fernsehens folgten auch die Zeitungen. „Ein Prosaist, der einen Poetentod fand“, - schrieb der Eine (was daran allerdings Poetisches war, von einer
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schwindelerregenden Höhe mit der Stirn auf dem Asphalt aufzuschlagen, konnte sich wahrscheinlich nur der Journalist vorstellen). „Seine Bücher gleichen einem erfrischenden Sommerregen, der unsere durch die Alltäglichkeit ausgezehrten Gehirne tränkt“, - schrieb ein anderer,
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betagter Kulturkommentator. „Pierre litt unter Altophobie7, sonst hätte er sicher die Gipfel des Schaffens erreicht“, schrieb ein Dritter, ein in Selbstsucht verfallener Schriftsteller. „Wenn er vor Jahrhunderten gelebt hätte, hätte Napoleon vor dem Tod zweifelsohne gesagt: Frankreich,
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die Armee, Josephine, Pierre…“ – schrieb wiederum ein Vierter, ein berühmter Literaturkritiker und dachte sich dabei, wenn er nur ein Buch von Pierre gelesen hätte, hätte er ein noch kompetenteres Urteil abgeben können. Auch die Leser wurden von einem solch grenzenlosen
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Enthusiasmus ergriffen, dass die für die Bücher von Pierre bestimmten Plätze binnen weniger Tage leer wurden. In sozialen Netzwerken erschienen zahlreiche Profile, die den mit allerlei Smilies geschmückten Pierre als „Proust/Sartre/Flaubert/Mérimée usw. unserer Tage“
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bezeichneten, „einen Karyatiden8, auf dem die französische Literatur ruht“, „einen literarischen Jongleur, der mit Wörtern spielte“, „ein Genie, dessen Bücher niemals ein Lesezeichen benötigen“ und vieles mehr. Der verbalen Trauer mischten sich derartige Herz- sowie zahlreiche Kusssymbole
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bei, dass man eine Weile lang gar an eine Massennekrophilie 7 Der Autor weißt, dass die absolute Mehrheit der Leser zu faul ist, um dieses Wort nachzuschlagen, deshalb erläutert er selbst, dass Altophobie Höhenangst bedeutet. 8 Der Autor war nicht zu faul, die genaue Bedeutung von Karyatiden zu googeln und er fand heraus, dass es sich dabei um „eine, das Gebälk eines Gebäudes tragende Säule, die eine menschliche Figur darstellt“ handelt.
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denken musste. Menschen waren betroffen, Menschen weinten, Menschen ersetzten ihre Profilbilder durch Pierres Bilder und Pierres Image verwandelte sich mehr und mehr ins Positive. 315
Alles in allem erreichte Pierre mit einem gesetzten Schritt das, was er dreiunddreißig Jahre lang vergeblich versucht hatte – man vergötterte ihn.
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