Levan beridze fora (sample ger)

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Levan Beridze

Fora Der mittleren Sonnenzeit läuft die Zeit, in der Stadt, wo unser Flugzeug landete, drei Stunden voraus. In Tbilissi war es schon Nacht. Eine grubenvolle Schicht der Luft hatte sich so gedehnt und war so harmonisch in die holprige Landebahn aufgegangen, dass mich nur das Brausen der Bremsmotoren und der in der Kabine ausgebrochene, donnernde Applaus merken ließen, dass wir gelandet waren. In dem Stadtführer dieser Stadt, den ich mir einige Zeit vor meiner Abreise angeschafft hatte, stand über die Verkehrswege die Information, dass sie in einem schrecklichen Zustand seien, aber offenbar, dachte ich, das, was unten passiert, spiegelt sich oben ab, über der Stadt, und deshalb sind wir die letzte halbe Stunde auch so holpernd geflogen. Eine Stadt hat ihre Aura und wenn der Himmel an unterschiedlichen Stellen unterschiedlich ist, liegt es nicht nur an der geografischen Lage eines Orts. Da ich an Aura dachte, fiel mir auch die Warnung der Autoren des Stadtführers ein, es gebe viele Hexenkünstler in dieser Stadt und wenn z. B: ein Tourist auf eine Anzeige stoße, etwa wie „Ich korrigiere Ihnen die Aura“, solle er im Fall seines Interesses die Verantwortung auf sich nehmen. Die Klientel solcher Hexenkünstler schaute ich mir in der Kabine lange an: meine Landsleute, meistens Touristen, die unbedingt Interesse zeigen würden, weil sie wussten, dass in dieser Stadt, wo unser Flugzeug landete, außer vielen anderen Dingen auch diese Sache billiger war, als bei uns in Berlin. Einerseits, dachte ich, ist es vielleicht gar nicht so schlecht, dass sich diese Leute um ihre Aura kümmern, dass sie merken, etwas könnte bei ihnen nicht stimmen, etwas sei mit ihnen los. Aber zu diesem Etwas die richtige Richtung einzuschlagen, ahnte ich, waren sie nicht imstande, also gehörten sie zu den richtigen Klienten von Susana. Diese Dame, hatte man mir vor der Abreise erzählt, sei eine der fahrenden Zaubererinnen, die von vielen Prominenten - auf den ersten Blick seriösen Menschen - besucht


wird. Susana, sagte man, hatte noch vor kurzem in einer kleinen, in den Felsen versunkenen Stadt mit Namen Tschiatura gelebt und, kaum konnte der Erzähler sich das Lachen verbeißen, sei deshalb Hexenkünstlerin geworden, weil ihr wahrscheinlich der arme Mann im Karussellkorb, der an einem verfluchten Tag, von einem der höchsten Felsen Tschiaturas abgegangen war, über die ganze Stadt flog und vor dem Kino abstürzte, aus dem Fenster schauend, entweder wie ein Komet oder wie ein Engel vorgekommen sei. Diese Geschichte fiel mir gerade dann ein, als wir in der zerstörten Luftzone des Landes angekommen waren und jetzt freute ich mich riesig, dass unser Flugzeug schon gelandet war. Hier und da hörte man noch Beifall in der Kabine, in der sich etwa dreißig Fluggäste befanden, allesamt in der Economyklasse des Flugzeugs untergebracht. Ich saß an der Spitze dieser Abteilung und als alle aufgestanden waren, rührte ich mich nicht von der Stelle, wollte als letzter rausgehen, in der Hoffnung, dass ich vielleicht den Piloten treffen könnte, um mich bei ihm zu bedanken oder.... Wenn er nicht gewesen wäre, hätte ich vielleicht gar nicht fliegen können, weil ich wegen des an diesem Tag Erlebten, mich am Flughafen verspätet hatte. An dem Tag waren ich, Tibalt und Achim fast die ganze Zeit zusammen gewesen. Es war schon eine gute Woche, dass wir uns auf meinen Wunsch jeden Tag trafen, weil es nötig war, Tibalt und Achim noch vertrauter miteinander zu machen. In meiner Abwesenheit sollte der Hund bei Achim bleiben und ich passte auf, damit es keine Missverständnisse gäbe. Natürlich wären diese speziellen Seancen nicht nötig gewesen, wenn Sesilia Alesandro nicht nach Rom mitgenommen hätte, zu meiner Schwiegermutter. Hätte ich gewusst, dass mein Chef ausgerechnet mich auf eine Dienstreise schicken würde, hätte ich Sesilia gebeten und sie hätte die Reise um eine Woche verschoben. Aber es war zu spät und deshalb bat ich unseren Nachbarn und Familienfreund Achim um Hilfe. Er war einverstanden und freute sich. Ob der Hund selbst wisse, dass er bei ihm bleiben solle, ob er damit einverstanden sei, scherzte Achim und lachte wie immer herzlich: von Null aufsteigend bis zum höchsten Ton. Ich wunderte mich immer, dass dieser Mensch mit seinem Aussehen so eine unerwartete Stimme hervorbrachte. Er war eher hochgewachsen als mittelgroß, etwas dicklich, wegen des etwas vorgezogenen kleinen Bauchs, irgendwie hochnäsig und etwas nach hinten gebeugt. Er trug Bart und hinten etwas längeres, vorne spärliches Haar. Überhaupt: man merkte, dass er behaart war, weil die Haare auf der Brust ihm bis zum Hals reichten und auch die Hände mit drallen, kurzen Fingern, die er während des Gesprächs immer unruhig bewegte, waren behaart, so dass der große Ring mit einem Türkis, den


er an der rechten Hand trug, schien, als liege er für eine Präsentation auf schwarzem Samt, wie man bei einem Juwelier in einem geöffneten Kästchen ein besonderes Schmuckstück ausstellt. Was für ein Juwelier, Schmuck konnte man bei Achim immer finden! Es war schon sieben Jahre her, dass er den Mathematiklehrerberuf aufgegeben hatte und mit Schmuck handelte. Er reiste ununterbrochen und brachte aus aller Welt Kostbarkeiten mit, besonders war er auf asiatische Länder konzentriert, in unermesslicher Menge lockten unterschiedlichste Kleinodien, die er, in seinem kleinen, im Zentrum der Stadt liegenden Laden, ausstellte. Ansonsten hatte er seinen Reichtum zuhause untergebracht: überall lagen Taschen, kleine Kisten und Tüten rum. Wenn man ihn besuchte, musste er in erster Linie unbedingt ein neues Schmuckstück vorzeigen. Dabei trug er einen Morgenmantel. Solche Mäntel mochte er sehr. Aus bestem Stoff waren diese und lang und besonders tizianfarbige trug er gerne. In dieser Kleidung sah er wie ein echter orientalischer Händler aus. Sesilia nannte ihn manchmal Achimchan. Den Mantel um die Schulter, flatterte er, vor sich hin singend, irgendwohin und verschwand für kurze Zeit in seiner riesigen Wohnung. Dann, irgendwann, erschien er wieder. Mit langsamen Schritten nahte er sich und das, was er zeigen wollte, brachte er mit großer Vorsicht mit, wie bei einem Zeremoniell, so dass man beim Erblicken der Gegenstände sofort angespannt war. Es konnte etwas sehr Unwichtiges sein, aber er wählte einen würdigen Hintergrund dafür und präsentierte es so, dass man an seiner Begeisterung unbedingt teilnahm. Schau wie vollkommen das ist, pflegte er das Ding zeigend, zu sagen und in einer Sekunde erschallte wieder jenes kurze helle Lachen, das diese Vollkommenheit irgendwie noch vollkommener machte. Danach folgte die Geschichte des Schmuckstücks, die Achim detailliert erzählte. Am ehesten würde ein Bariton zu seiner Stimmlage passen, aber nach dem Tempus seines Sprechens und in erster Linie, wegen des schon erwähnten ab und zu erschallenden, betäubenden hellen Lachens, konnte man sich nicht festlegen, was das für eine Stimme war. Die Sache war die, dass dieser hohe, fast schreiende Ton, den Hörer prägte, dass es egal war, was und wie Achim weiter sprach, man dachte irgendwie nur an diesen Ton. Er war dermaßen natürlich, dass, wenn er erschallte, alles stehen blieb, als existierte in dem Augenblick nichts mehr außer jenem Lachen. Gerade während jener intensiven Treffen habe ich bemerkt, dass dieser Ton auf Tibalt sehr ungewöhnlich wirkte. Unabhängig davon, was er gerade machte, wenn Achims seltsames Lachen erschallte, hielt der Hund sofort inne, starrte etwas an, als ob er den Ton innerlich nochmal erklingen ließ, dann bellte er und ging weg, verschwand aus der Sichtweite der Menschen. Es war ja ein Protest, aber


ich wunderte mich, weil Tibalt seinen Protest sonst nicht in dieser Form ausdrückte. Im Gegenteil, wenn ihm etwas nicht gefiel, griff er sofort an und beruhigte sich nicht, bis er das erreicht hatte, was er wollte. Wie es sich herausstellte, war diese Eigenschaft für diese Gattung Tibalt war ein Dobermann Pinscher - charakteristisch. Noch mehr erklärte mir ein Vertreter einer Tierschutzorganisation, als ich dort einen Hund kaufen wollte. Sie seien dermaßen eigensinnige Typen, dass, wenn ihnen eine Situation nicht gefalle, sie sogar ihren Herrn angreifen könnten. Sie haben bestimmt gehört, sprach er weiter, wenn man sagt, ein Hund erkenne seinen Herrn nicht, genau das sei es, aber im direkten Sinne dieses Ausdrucks. Dieser Mann saß an einem großen Schreibtisch, sprach mit mir und gleichzeitig suchte er die Alben der zu verkaufenden Hunde in den Schubladen. Dann hörte er auf einmal zu suchen auf, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und redete genau so nebenbei weiter wie vorher: es kann sein, dass ich mich irre, aber darüber habe ich meine eigene Meinung. Sie haben bestimmt mal gesehen, dass manchmal der Herr und der Hund einander sehr ähnlich sind. Für den Hund wird diese Ähnlichkeit in einem gewissen Moment dermaßen intensiv, dass er den Herrn nicht mehr erkennen kann, sich selbst in dem Herrn sieht wie vor dem Spiegel. Dann fängt er zu bellen an und greift den Herrn, in diesem Fall seine Abspiegelung, an. Ein Dobermann hat wahrscheinlich diese Eigenschaft in übertriebenen Dosen und wenn er merkt, dass der Herr, willkürlich oder unwillkürlich jene Grenze überschreitet, wo ein Mensch immer noch ein Mensch ist und ein Hund ein Hund, wird er sofort eigensinnig. Warum sollte er ansonsten seinen Herrn angreifen; diese Gattung ist aus sechs Gattungen gestaltet und sollte doch intelligenter sein als jede Gattung für sich genommen, sagte er und zählte alle sechs auf: deutscher Schäferhund, Rottweiler, Manchester Terrier, Jägerhund, deutscher Pinscher und Greinhund. Was würden Sie dazu sagen, fragte er lächelnd, stand auf, sprach weiter, er wolle den Katalog holen und ging aus dem Zimmer, so, dass ich die Antwort, dass er Recht habe, vor mich hin sagte. Dieser Mann sprach über den wahrhaften Grund meines damaligen Zustands, erklärte ihn sogar auf eigene Art. Zu jener Zeit verfolgte mich der Gedanke an den Tod. Es war gleichgültig, wo ich war, was ich machte, überall und in allen Dingen war er. Das ging so weit, dass ich, wenn ich einen Menschen sah, egal wer er war, mir in Kürze vorstellte, wie er tot aussehen würde. Deshalb mied ich Kontakte mit den Nächsten, überhaupt den Kontakt mit jemandem. Auch Alleinsein war für mich sehr schwer und den größten Teil des Tages nutzte ich für einen Spaziergang in der Stadt. Während eines solchen Spaziergangs habe ich bemerkt, dass, wenn ich früher draußen die Energie von den Menschen


holte (und je mehr Menschen es waren, desto besser war es, ich lud mich dabei immer mehr auf), jetzt das Gegenteil geschah: ein einziger Mensch reichte dafür, um zu spüren, wie die ganze Energie aus mir herauslief. Ich ging weniger spazieren und beschloss, zu Hause wieder Erleichterung zu finden. Ich glotzte in meinen Bücherschrank, suchte etwas zu lesen, um abzuschalten. Aus etwa zweihundert auserwählten Büchern, die mich jener „Blaue Vogel“ finden ließ, den man mir früher, in der Kindheit als ein Märchen vorgelesen hatte, konnte ich kein einziges berühren. Fast alle hatte ich gelesen und wenn ich mich an die Helden erinnerte, an die Abenteuer dieser Helden, wurde mir schlecht. Alle jene wunderbaren Entdeckungen, wie bei der Form, auch beim Inhalt, die mir gefielen und die ich mochte, eben was für mich richtig gute Literatur war, all das waren schwere Tragödien. Noch mehr, ich war selbst, als guter, intensiver Leser, einer der Haupthelden dieser Tragödien, jetzt in dem Bücherschrank eingekerkert und drückte von innen an die hohe gläserne Bücherschranktür, um sie aufzubrechen. Gerade wegen dieser Identifizierung geschah es oft, dass ich zu Hause während des Auf- und Abgehens im Wohnzimmer, als ich an dem Bücherschrank vorbeigehen musste, manchmal in einem Halbkreis-Traektorium an ihm vorbeiging und dann in der Loggia landete. Hier setzte ich mich in den Sessel und schaute durch das Fenster. Das Fensterbrett war in meiner Augenhöhe und hinter den geschlossenen Fenstern sah ich öfters das Schwanken (höher als der dritte Stock) der Pappelwipfel. Kein Rauschen war hörbar. Ich hatte auch kein Verlangen, dieses zu hören, dermaßen falsch war diese Bewegung. Als ob man für mich etwas angeschaltet hätte, wusste ich, dass man es wieder ausmachen würde und dann wären die Bäume stehen geblieben. Wie gewöhnlich merkte ich diesen Moment des Übergangs nicht, wie der Wind ausbrach oder wie er sich beruhigte, aber damals wurde ich sogar dessen Zeuge. Um es noch anschaulicher für mich zu machen, dass es wirklich geschah, stand ich auf, öffnete das Fenster, ließ das Rauschen ins Zimmer hinein und schloss es dann wieder zu, machte die Stimme aus. Dann zog ich die Gardinen zu, auch der Bildschirm verschwand und blieb doch in meiner Welt, dort wo nichts schwankte, nichts unecht war und nichts nichts versprach, wo sich nichts verabschiedete und nichts begrüßte. Und was die Hauptsache war, es hatte eine Chance, für immer so zu bleiben. Es wäre auch geblieben, aber wie man weiß, gerade in solchen Momenten geschieht etwas Entgegengesetztes. Vor dieser Kraft kann man sich nicht verstecken, überall findet sie dich, selbst in deiner eigenen, eingeriegelten, mit Gardinen zugezogenen, in eine Krypta verwandelten Wohnung. Dieser Angriff fing an einem schönen Tag, genau um 12 Uhr, an. Von einer Uhr, als


solcher, gab es damals bei mir keine Spur. Ich hatte einen zerschmetterten Wecker und sogar aus dem nahm ich die Batterie raus und steckte ihn in eine der Schubladen der Kommode, dermaßen nervte mich dieses Spielzeug der Erwachsenen. Die Uhrzeit erfuhr ich über die Glocken der Kirche, die sich neben unserem Gebäude befand. Besser, ich erfuhr keine Zeit, ich zählte nicht wie viele Male die Glocken schlugen, sondern ich hörte nur die Stimme, die nicht von draußen kam, sondern irgendwie in meiner Wohnung war, in allen in meiner Wohnung existierenden Dingen und Sachen, ihr Atmen war und im Gegenteil, hinaus ging, sich ausbreitete. Wenn sie ein letztes Mal erklang, dessen ungeachtet, dass ich nicht zählte, wusste ich sie trotzdem: die Uhrzeit. Und nun, um zwölf Uhr, verband sich mit diesem äußerst objektiven Klang, mit der Musik, die einen niemals an etwas erinnert, eine schreckliche Melodie. Ich hörte hin und stellte fest, dass die Klaviertöne eindeutig von nebenan, aus der Wohnung eines Nachbarn kamen. Diese Wohnung stand schon seit einigen Monaten leer und ich staunte, wie dieser jemand einquartiert war, dass ich nichts mitbekam. Es war eindeutig jemand, weil als ich gedacht habe, es wären Bauarbeiter, die ein Radio anhätten, ging das Musikstück von vorne los. Es war Chopins zwölfte Nocturne. Ich dachte damals, und bin auch heutzutage der Meinung, dass die Bücher und die musikalischen Mittel ausschließlich nur mit Rezept verkauft werden sollten. Wie dem Buch sollte jedem musikalischen Mittel eine Gebrauchsanweisung beigelegt werden, in dem besonders Dosierung und Nebenwirkungen ausführlich erklärt werden. Das ist notwendig, in erster Linie für den Verbraucher, damit er nicht verblödet und natürlich auch für die Umwelt, die manchmal willkürlich oder unwillkürlich diesem Verbraucher zum Opfer fällt, wie ich damals meinem Nachbarn zum Opfer gefallen bin. Von Zwölf bis Drei Uhr war meistens ein und dasselbe Musikstück hörbar, in unterschiedlichen Variationen, als stünde vor dem Tor der Festung meines Gedächtnisses der Tod mit dem riesigen Musikschlüsselbund in der Hand und versuchte, ins Schloss einen Schlüssel zu stecken. Mein Widerstand drückte sich durch Staunen aus und stellen Sie sich vor, damit konnte ich das Aufmachen des Tors für kurze Zeit stoppen. Es war erstaunlich, dass diese, für mich sehr bekannte Bearbeitungsprozedur eines musikalischen Werks, mich nicht an meine Schwester erinnerte. Als man sie als Kind in die Musikschule brachte, wurde in sehr kurzer Zeit klar, dass das Kind musikalisch besonders begabt war. Die Lehrerin sagte, sie solle noch extra bei ihr Stunden nehmen, kostenlos, das Kind müsse unbedingt eine Pianistin werden. Diese Nachricht hat bei uns zu Hause große Veränderungen hervorgerufen. In erster Linie, haben wir uns ein Klavier


angeschafft, besser einen kleinen Flügel, den man, weil er nicht durch die Tür passte, durch die hohen Fenster der Loggia hereinbrachte und ihn in die Mitte des Wohnzimmers stellte (die Dinge, die bis dahin an der Stelle des Flügels standen: eine alte Kommode, zwei Sessel und ein kleiner Tisch, brachte man in mein winziges Zimmer rein. Diese hier, sagte man, blieben vorläufig hier liegen und später würden sie diese rausbringen; später, hat man gesagt, später...). Das war ein wirklich schöner Flügel namens „Roinisch“, den man, bis man ihn nach Hause brachte, schon vorher auf Roinisch-Megi“ getauft hatte. Damals konnte ich die Bedeutung des Namens nicht bis zu Ende durchdenken, aber als ich das Riesending in der Realität gesehen hatte, das den Namen meiner Schwester hatte und in der Mitte des Zimmers so stand, als gebe es dort gar nichts mehr, da fand ich keine Ruhe mehr. Gleich an jenem Abend gab ich unserem Fernseher, der „Horizont“ hieß und auch im Wohnzimmer stand, für mich den Namen „Horizont-Lars“. Obwohl der Fernseher vom Volumen natürlich weit kleiner war als der Flügel, war ich trotzdem zufrieden, weil ich an der Priorität der Funktion des Fernsehers nicht zweifelte. Ich dachte, man wollte doch Filme gucken, dort waren auch Nachrichten, Reportagen und was weiß ich alles. Dazu, wenn ich mir vorstellte, wie sich alle vor dem Fernseher versammeln würden, dann war ich mit auf der Bühne und meine Freude hatte keine Grenzen. Aber die Freude erwies sich als zu vorzeitig. Anscheinend forderte die musikalische Karriere meiner Schwester nicht nur territoriale Opfer. Wie es sich klärte, sollte von meiner Freizeit ein großer Teil abgeschnitten werden. Außer dem, dass ich, als älterer Bruder, sie jeden Tag von der Schule abholen sollte, sie dann in der Musikschule lassen und von dort nach Hause bringen sollte, sollte ich sie jetzt noch viermal in der Woche zu jener Lehrerin bringen, die begeistert von meiner Schwester war und an ihrer Zukunft nicht zweifelte. In meinen Stundenplan, der über meinem Bett an der Wand befestigt war, wurde am Montag, Mittwoch, Donnerstag und Freitag der Name Marina Schalvovna rot eingetragen. Zu dieser Frau zu gehen, war die größte Last für mich, weil, wenn ich meine Schwester zu ihr brachte, auch ich bis zum Ende der Stunde bleiben sollte. Wenn wir da waren, empfing uns Marina Schalvovna mit so einer Wärme und Freude, dass der aktuelle Ärger und die Galle, die während der Fahrt von unserem Haus bis zu ihrem Haus mich in meinen Fundamenten erschütterten, auf einmal verschwanden. Aber wenn sie mit dem Unterricht begannen, ging dieser Prozess von vorne los. Zwei Stunden lang saß ich und quälte mich. Drei Jahre lang, viermal in der Woche, je zwei Stunden. In dieser Zeit habe ich mir fast alle bedeutenden Werke der klassischen Musik angehört. Und nicht nur angehört, unwillkürlich


erfuhr ich, wie grundsätzlich man sie bearbeiten konnte, wie man jedes Detail artistisch oder technisch ausfeilen konnte. Ich sah die Freude meiner Schwester und ihrer Lehrerin und konnte nicht verstehen, warum sie sich freuten. Durch dieses Missverständnis bekam ich Angst, dass für Megi diese Freude mehr Wert hatte, als ich, ihr Bruder. Auf dem Rückweg, als wir nach Hause kamen, gab ich ihr grundlos eines auf den Kopf. Sie schlug immer zurück. Trotz unserer Zankerei kamen wir immer nach Hause und damit ich mich von der Treue meiner Schwester überzeugen konnte, hielt ich den Atem an und fiel plötzlich aufs Sofa, als wäre ich am sterben. Ihr kamen die Tränen und wenn sie dann zu heulen anfing, lebte ich zufrieden wieder auf und lebte bis zu dem Moment, wenn Megi am Abend, der Familie alles vorspielte, was sie mit Marina Schalvovna an dem Tag bearbeitet hatte. In dem Augenblick hörte ich alles im Stakkato, weil jede Note in meinem zentralen Nervensystem wie ein Nadelstich wirkte; in meinem Gehirn pikste es so stark, dass es mir schien, als ob die Angehörigen auch im Stakkato sprachen. Ich wusste aber, dass es kein Stakkato war. Diesen schrecklichen, kurzen und hartnäckigen Ton, gegenüber dem ich am feindlichsten eingestimmt war, sonderte ich schon seit den ersten Unterrichtstagen ab und sein Name prägte sich mir als erstes ein. Dann pirschte ich unwillkürlich, weil ich wahrscheinlich meine Aufmerksamkeit auf etwas lenken wollte, was mich weniger nervte, zu anderen Lauten und Noten und fand mich allmählich in der musikalischen Terminologie zurecht. Gleichzeitig merkte ich eindeutig, dass meine Ohren sich bändigen ließen, wenn auch nicht ganz, einen bestimmten Teil eines musikalischen Werks konnte ich eindeutig wahrnehmen. Dann, als wir, die ganze Verwandtschaft, angefangen haben, Megis schulische Konzerte zu besuchen, habe ich langsam versucht, das ganze musikalische Werk wahrzunehmen. Öfters saß ich neben meiner Mutter und, in die Krallen ihrer ansteckenden Nervosität geraten, hörte ich und saß wie sie, also: während des ganzen Konzerts mit geneigtem Kopf und legte meine Hände auf die Stirn. Manchmal, wenn es im Stück einen Übergang gab, erblickte ich die zweite, freie Hand meiner Mutter, mit der sie sich aufs Knie klopfte und dann mit dem Kopf, ohne ihn hochzuheben, nickte, das hieß wohl, dass der Übergang gut gelungen war. Dann schaute ich mich im Saal um und beobachtete, wie die anderen zuhörten. Warum diese Leute die Augen zumachten, konnte ich nicht verstehen, aber wenn auch ich die Augen schloss und den Kopf auf die Lehne zurückwarf, war es mir irgendwie angenehm, bloß dann endete das Konzert immer sehr schnell. Die kleinen Kinder, die man extra ans Ende der Reihe setzte, damit sie sofort nach der Beendigung des Konzerts aufsprangen und Megi die vorher


vorbereiteten Blumen auf die Bühne bringen sollten, rannten wie verrückt nach vorn und begruben Megi in den Blumen. Dem unendlichen Applaus, dessen Rhythmus im Saal die ganze Reihe der Verwandtschaft bestimmte, folgten später die Trinksprüche im Restaurant meines Onkels, wo wir uns, nach der Beendigung des Konzerts sammelten; besser gesagt, das zweite Konzert begann dort, man sang, lachte, tanzte. Einmal, es waren nur noch hie und da Leute am Tisch geblieben, stand mein Vater auf, ging zu Megi, legte die Hand aufs Sonnengeflecht, neigte den Kopf und forderte sie zum Tanz auf. Im Zentrum des fast geleerten Restaurants drehte er Megi zu sich, legte ihr die linke Hand auf den Rücken, mit der rechten brachte er ihre Hand etwas zur Seite und ohne Musik glitten sie in die Tiefe des Saals. Alle Anwesenden schauten sich die Szene mucksmäuschenstill an. Besonders wir waren erstaunt, weil, wie mein Vater Emotionen zeigte, es für uns unvorstellbar war. Ob Freude oder Ärger, das konnte man nur in seinen Augen lesen. Einmal nur sah er einen an und man wusste schon, was Sache war. Ich sah sie verblüfft an, wie sie sich bewegten, sich drehten, manchmal hinter der Wand verschwanden, die unseren Tisch von den anderen absonderte und sah ihren riesigen Schatten am hohen Fenster des Restaurants; in dieser Stille, wo nur das Geräusch von Megis Schuhen manchmal hörbar war, sehr rhythmisch, wenn Megi beim Drehen von den Zehen runterkam und die Absätze ihrer schwarzen Konzertlackschuhe den schwarzen Marmorboden berührten. Als dieses Geräusch ausklang, habe ich es an ihren riesigen, auf dem Fenster spiegelnden Schatten gesehen, wie mein Vater vor ihr den Kopf neigte, dann ihre beiden Hände in seine nahm, ihr eine Weile ins Gesicht schaute, sich dann beugte und ihr erst auf die erste und dann auf die zweite Hand küsste. Als sie sich dem Tisch näherten, sah ich auch, wie sie sich beide freuten und wie sie mit den gleichen Augen schauten. Nur Megi hatte jetzt eindeutig grüne Augen. Nachdem mein Vater sie bis zu ihren Platz, an der Spitze des Tisches begleitete, schaute ich immer zu ihr hin. Als sie sich setzte, war zuerst nur ihre Bluse sichtbar: dunkel sumpffarbig, Ich sah noch mal, dass wie die Bluse, auch Megis Augen grün waren, aber ich konnte nicht verstehen, was los war. Ich war den ganzen Abend mit dieser Sache beschäftigt. Als wir nach Hause zurückkamen, war es spät. Wir bereiteten uns alle darauf vor, ins Bett zu gehen. Als ich ins Badezimmer gehen wollte, sah ich Megi, die schon Hausklamotten an hatte, wie sie in der Mitte des Zimmers stand und etwas machte. Ich kam zu ihr, wollte jetzt aus der Nähe sehen, ob sie immer noch grüne Augen hatte. Warum ich so verrückt gucken würde, sagte sie zu mir und ging fort. Da hatte sie wie gewöhnlich braune Augen. Ich habe ihr auch etwas nachgerufen und ging ins Badezimmer. Ich


war mit der Abendtoilette fertig, wollte gerade die Hände abtrocknen und sah plötzlich, dass ich ein grünes Handtuch in der Hand hatte. Mechanisch wickelte ich das Handtuch um den Hals und sah mich kurz im Spiegel an: mit einem dummen Gesichtsausdruck, als ob ich darauf wartete, dass meine Augen auch grün wurden (natürlich wusste ich damals nicht, dass gerade jene Bluse der Grund dafür war, dass Megi grüne Augen hatte, dass Megi die Epiphanie der Augen von meiner Mutter geerbt hatte). Nichts änderte sich an meinen Augen. Dann ging ich in mein Zimmer, schloss die Tür und dachte daran, wie meine Schwester ihre Augenfarbe geändert hatte. Damals war ich überzeugt, dass Megi alles konnte. Vielleicht ist es deswegen so, weil sie Klavier spielen kann, dachte ich und mir fielen jene Leute ein, die mit zugemachten Augen im Konzertsaal saßen. Ich stellte mir vor, dass sie in dem Augenblick Epiphanie erlebten. So dachte ich, bis eines Tages Megi die Wände meines Zimmers durch Grieg einstürzen ließ und in einem durch ein tausendfarbiges Mosaik gemachten Raum Anitra tanzen ließ, die Dinge schweben ließ, aus sich selbst ausgehen ließ, so wie ich aus der schon stinkenden Larve meines Übergangsalters heraus kroch und vor der neuen Welt keine Angst hatte, im Gegenteil, mich freute, dass in diesem riesigen Mosaik auch ich ein Ton war, der in jeder Farbe ruhte. Von meinen ganzen Erinnerungen hatte diese eine Geschichte meiner Schwester so eine Kraft, dass sie sogar die Zeit ändern konnte (selbst änderte sie sich nicht, man konnte gar nichts hin fügen oder daraus wegnehmen), dermaßen real wurde sie, manchmal nach meinem Wunsch oder von alleine, also wegen etwas und zwar wegen der Musik. Aber ich erinnerte mich nicht daran, obwohl ich täglich, von Zwölf bis Drei Uhr das Musizieren meines verrückten Nachbars, für mich sehr bekannte Bearbeitungsprozedur eines musikalischen Werks hörte und das war erstaunlich. Also: ich hatte den gewöhnlichen Gang des Denkens geändert und manchmal, über den neuen Stil verwundert und auch etwas gereizt, fühlte ich, wie langsam das Schloss zum Tor meines Gedächtnisses aufging, in das sich schleppend der Gedanke rein begab, dem ich unwillkürlich folgte und mich in Gedanken unter die Leute mischte, die in einer Reihe da standen. Wir gingen in einem Eingang eine Treppe hoch, langsam, geneigten Kopfes. Eine andere Reihe ging neben uns die Treppe runter, in einem etwas schnelleren Tempo. Keine von beiden Reihen hatte ein Ende. Dann blieb unsere Schlange kurz stehen und als ich den Kopf erhob, um zu erkunden, warum wir wohl stehen geblieben waren, stand ich neben einem Deckel einer riesigen Kiste, der von innen einen weißen, glitzernden Stoff, am Rande mit Falten wie von aneinandergeschobenen Blumenblättern zeigte. Ich streckte unwillkürlich die Hand zu ihm und


wollte ihn berühren, aber gerade in dem Moment wurde die Musik hörbar. Sofort nahm ich meine Hand zurück und besorgt schaute ich mich um, dachte wohl, ich hätte die Ruhe gestört. Niemand schaute zu mir. Die Stimme wurde lauter und lauter. Ich wollte, bis jemand herauskriegen würde, dass ich der Grund dieser Musik war, noch einmal meine Hand dahin stecken und sie vielleicht ausschalten. Ich war dabei, das zu tun, aber es war zu spät, unsere Reihe kam in Bewegung und ich konnte nur mit den Fingern meiner gestreckten Hand den Deckel berühren. Kaum dass ich sie vom Deckel wegnehmen konnte, so klebrig war es. Nachdem wir eine Treppe höher gingen, schaute ich noch einmal zum Deckel und dachte, dass es eine Art von jener fleischfressenden Blume war, die in meinem großen Buch über Tiere und Pflanzen gemalt war. Wenn sie ein Insekt berührt, sagt man, sondert sie in dem Augenblick eine klebrige Flüssigkeit ab und klebt das Insekt fest. Zuerst ertränkt sie es in ihrer klebrigen Flüssigkeit und dann geht sie langsam zu, um das Insekt zu absorbieren. Es gab auch drei Bilder von dieser Blume in diesem Buch. Auf einem war sie geöffnet und in der Mitte saß schon angeklebt eine Heuschrecke. Auf dem anderen Bild sah man die ganz in der klebrigen Flüssigkeit eingesunkene gewölbte Kontur der Heuschrecke und auf dem dritten Bild war die Pflanze verschlossen. Ich dachte daran und spürte gleichzeitig, wie intensiv der gemischte Duft der Blumen wurde und das mit der Musik zusammen, die ich mir jetzt als Rauschen dieser Blumen vorstellte, dermaßen leidenschaftlich war ihr Charakter. Ich dachte, ich ginge in einen Garten hinein. Es wunderte mich ein wenig, dass im Eingang schwarz gekleidete Männer standen, ohne sich von der Stelle zu rühren (sie bewegten nur Köpfe und Hände) und überall hingen schwarze Samtgardinen. Als wir an dieser Reihe der Männer entlang gingen, öffnete sich vor uns ungefähr das Bild, das ich mir vorstellte. In einem riesigen Zimmer waren unzählige Blumen. In der Mitte des Zimmers, blühte eine von jenen fleischfressenden Blumen, die ich im Eingang gesehen hatte und um sie, mit tausendfarbigen anderen Blumen zusammen, saßen in Schwarz gekleidete Menschen, ohne sich zu rühren und wie mit mohnkopfähnlichen erröteten Augen sahen sie diese seltsame Pflanze an, auf der nur noch eine weiße, hier und da schillernde, gewölbte Kontur der Heuschrecke sichtbar wurde. Es waren auch an der Wand Blumen befestigt, unter einem einzigen Bild, auf dem ein alter Mann lächelte. Ich schaute hin und habe jenen Menschen erkannt, vor dem ich große Angst hatte. Das war der etwa neunzigjährige Baldoa Brinkman. Ich habe ihn einmal gesehen, als meine Familie ihn zu Hause besucht hatte und seit dem ging er nicht mehr aus meinem Gedächtnis. Als er aus seinem Zimmer kam, zunächst


steckte er seinen Kopf mit grüner Mütze heraus, schaute er hin und her, rollte mit schmalen, blauen Augen und dann, etwas gebeugt und mit den Händen auf dem Rücken, so dass die Ellbogen parallel fast bis zu der Höhe des Kopfes hinauf ragten, mit sehr kurzen und schnellen Schritten, als hüpfe er, kam er direkt in meine Richtung, gleichzeitig flüsterte er, wobei sein gepflegter Schnurrbart tentakelgleich zitterte und er die Prothese des unteren Kiefers mit der Zunge festhielt. Nein, er will dich bloß anschauen, das habe ich schon in der Tür gehört, so außer mir, rannte ich raus und kam auch nicht mehr hoch aus dem Hof, bis die Unseren später runterkamen. Ich war mir sicher, dass dieser Mann, den ich auf dem Bild sah, mich damals nicht anschauen, sondern fressen wollte und zweifelte daran nicht, da sich auf der Brust der Königsblume genau seine Kontur wölbte. Als man mir gesagt hat, er liege und schlafe, dachte ich für eine Sekunde, es hieße, er werde wach und werde aufstehen, aber ich war mir sicher, dass, wie es in meinem Buch stand, die Heuschrecke keine einzige Chance mehr hatte, sich von der Blume zu befreien. Ich stand ruhig und wartete darauf, wann sich die Pflanze schließen würde. Ich hatte ein angenehmes Gefühl, irgendwie sogar das Gefühl eines Siegers, das durch eine marschähnliche Musik noch gestärkt wurde. Nicht nur ich, sondern alle dort Anwesenden hatten wenigstens ab und an dieses Gefühl, deshalb waren sie einander ähnlich, mit jener augenblicklichen Versteinerung des Blicks, wenn das Auge alles erfasst, Bewegliches und Unbewegliches, Verlangweiltes und Nochnichtgesehenes, um dich vorsichtig, ganz vorsichtig rauszuholen: aus der süßen Flüssigkeit der Lebenspflanze. Die Musik meines Nachbars holte mich nicht raus, sondern sie senkte mich hinab, ertränkte mich in den Serien von Erinnerungen der letzten dreißig Jahre. Spielte die Musik oder nicht, es hatte keinen Sinn mehr, weil das, an das ich mich erinnerte, und ich erinnerte mich daran detailliert, seine eigene Musik hatte und ich überzeugte mich, dass ich mir die ganze klassische Musik schon früh (bei den Begräbnissen) angehört hatte. Damals, vor dreißig Jahren, als es begann, war die Sterblichkeit bis zu einem gewissen Alter sehr verbreitet. Wir waren oft auf Begräbnissen, dass ich schon als Kind die ganze Struktur dieser Zeremonie kannte und besonders die Kulissen. Hier entschied alles ein Hauptmann. Aus der Verwandtschaft wählte man einen cleveren Mann und dank dem wurde die ganze Sache unter den Hut gebracht. So einer war bei uns Onkel Seva, der überall war und auf die Papiere, die er immer mit hatte, immer etwas notierte. Das waren die Aufzählungen von dem, was man machen musste und wer was machte: jemanden schickte er, um die schwarzen Gardinen zu holen, jemand sollte in der Zeitung die


Sache mit dem Nekrolog erledigen und was weiß ich, was noch alles.... Eine der wichtigsten Komponenten der Zeremonie war natürlich die Musik. Demjenigen, den Seva zur Erledigung dieser Sache schickte, sagte er unbedingt, du weißt doch „Es“ muss unbedingt dabei sein, wenn „Sie“ kommen, wir müssen “Es” unbedingt laufen lassen (alle wussten dass „Es“ „Lacrimosa“ war, das Seva sehr gefiel und „Sie“ änderten sich oft, je nach dem, wer gestorben war). Also war Seva unbewusst auch ein DJ und wehe dem, der ihn während der Gestaltung der Zeremonie gestört hätte, der wäre ihm gnadenlos ausgeliefert worden. Mit zugekniffenen Augen blickte er, wenn die Verwandten wieder zurück kamen und bei ihm Bericht erstatteten. Es wurden kleine Versammlungen veranstaltet und dort wurde alles geklärt. Ich erinnerte mich daran, wie ich mich, auf einer dieser Versammlungen, der ich zufällig beigewohnt habe, zufällig, weil die Jüngeren solchen Versammlungen nicht beiwohnen durften, wirklich überzeugt hatte, dass dieser Mensch gnadenlos Gesetze schuf. Damals klärte er ein Problem wegen 120 Kilo Gurken auf der Versammlung und als er auf die Negation der empörten Leute stieß, wozu man so viel Gurken brauche, versuchte er zunächst sein entscheidendes Wort angriffslustig durchzuziehen und als dies nicht ging, drohte er, von seiner Position zurückzutreten. Diese Tatsache würde einen Kataklysmus in dem Bewusstsein der Verwandtschaft hervorrufen und deshalb waren alle mit dem Heranholen von Gurken einverstanden. Ein, mit Gurken geladenes Auto kam an das Haus unserer verwandten Nachbarn von hinten herangefahren und wir, die Kinder der Verwandtschaft, haben bis zum Spätabend Gurken in den Keller getragen, dort wo noch viele andere Dinge für das Begräbnis lagerten, um die sich auch von Seva bestimmte weitere Verwandte kümmerten, die sich spielend an die alten Geschichten erinnerten, lachten und auch uns lachen ließen. Ich kannte schon alle, die Verwandten, die aus den Rayons, die aus anderen Städten und Ländern kamen, mit denen wir, vielleicht wegen des Abstands, wenig Kontakt hatten, sogar diejenigen, die ich nie zu Gesicht bekommen hatte und nur vom Hören etwas über sie wusste. Das waren unheimlich viele Leute, unheimlich viele Charaktere, die nach und nach, als wir erwachsen wurden, sich allmählich klärten, sich auszeichneten und sich in der Beziehung definierten, entweder als eine echt verwandte Seele oder als belastende Verwandte. Ich erinnerte mich an diese Leute und dachte, dass es schon lange her war, dass keiner gestorben war. Wie eine Sehnsucht schoss mir der Gedanke durch den Kopf. Im Grunde war es eine Tatsache, dass es schon fast fünf Jahre her war, dass ich über den Tod eines Verwandten etwas hörte. Wenn aber etwas geschehen wäre, hätte ich es unbedingt erfahren, wo ich auch immer gewesen wäre, wie


letztens, vor fünf Jahren, als Onkel Seva in Petersburg starb, da hatte uns die Nachricht in Griechenland, bei meinen Verwandten erreicht. Das war es, seitdem ist nichts mehr geschehen. Ich erfuhr ab und an etwas und es tat mir auch leid, aber da war nicht solch ein Schmerz, der mit dir etwas macht, etwas in deinem Leben ändert. Wie der Gedanke an den Tod mich während der fünfjährigen Pause geändert hatte und mich sogar nach ihm suchen ließ. Um ihn leichter zu finden, habe ich an den Tod eines Nahestehenden gedacht und sah ein, dass dieser idiotische Wunsch, das Reinschleichen in Erinnerungen, eine der Tricks des Todes war, damit er mich noch mehr überzeugen konnte, dass , um ihn zu finden, nicht die Geschichten nötig waren, die in der Vergangenheit passierten oder das Warten auf die Zukunft, mit der Hoffnung, dass jemand aus deiner Verwandtschaft stirbt, sondern eine lebendige Situation, lebendige Menschen, Bekannte oder Unbekannte. Damit ich an diesem Prozess teilnehmen konnte, damit ich ihn hier suchen sollte, hat er als Lockmittel alles so eingerichtet, dass ich mich überall und in allen Dingen abspiegeln sollte, mich sehen sollte. Vielleicht gerade deshalb habe ich mir immer vorgestellt, als ich einen Menschen gesehen habe, was für ein Toter er gewesen wäre. Ich sah mich in dem Menschen und in einem bestimmten Moment, in dem mir die Persönlichkeit dieses Menschen keine Gelegenheit gab, mich weiter in ihm zu sehen, tötete ich ihn in meiner Vorstellung, gewann mich zurück. Damals, in diesem Stadium, empfand ich unbewusst sogar Genugtuung. Dann verwandelte sich diese Genugtuung von alleine in einen unterdrückten Schmerz. Bei einem Spaziergang entdeckte ich, dass ich die falsche Richtung eingeschlagen habe, weil in der ganzen Stadt nirgendwo so viele Läden waren, als auf dieser Straße, auf die ich geraten war, dicht aneinander, dass ich ging und mein Schatten mir in den Schaufenstern folgte. Wir gingen eine Weile. Ich schaute zu meiner Silhouette, die vor verschiedenen Hintergründen auftauchte und erinnerte mich daran, was mir ein Bekannter, den ich an dem Tag zufällig traf, sagte: Du... lass uns nicht verlieren. Wer wird dir die Möglichkeit geben, dich zu verlieren, wenn du es auch gewollt hättest, dachte ich. Nicht nur mich verlieren, sondern noch mehr wollte ich tun und versuchte mir, den Ort oder die Situation vorzustellen, wo ich ganz allein gewesen wäre, wo mich nichts an nichts erinnern würde, wo ich mich nirgendwo abspiegeln, wiederholen würde; aber wenn ich zur Seite schaute, sah ich meine Silhouette genau in solchen nichtexistenten Orten oder Situationen, die ich mir nie vorstellen konnte: da steckte ich den Kopf zwischen Wurstreihen und in der Hand hatte ich sie: nagelneue, noch blutige Rinderschenkel, auch auf meinem Hacken. Dann etwas entfernt, stand ich in einem Zeitungsladen hinter einem Mann, wie


sein Geist oder wie seine Seele. Dieser Mann las etwas, hatte eine Zeitung in der Hand. Ich stand hinter ihm. Ich weiß nicht warum, der Mann wechselte das Bein, sah sich um und sah dann nach hinten. Dann warf er noch einen Blick auf seine Zeitung, knickte sie, legte sie aufs Regal und ging aus dem Laden, die Straße entlang. Ich folgte ihm mechanisch, ging hinter ihm in vier bis fünf Meter Entfernung und merkte an seinem Gang, dass er Zeit hatte, er eilte nicht, ganz ruhig war er trotzdem nicht, grundlos zog er an seiner Jacke, einige Male blickte er zurück. In dem Moment mied ich natürlich seinen Blick und gleichzeitig war ich trotzdem aufmerksam, damit Passanten mich nicht stören würden, ihm zu folgen. Allmählich zog mich dieser Prozess an, reizte mich dermaßen, dass mir dieser Mann als ein Opfer vorkam. In erster Linie deswegen, weil er keine Ahnung hatte, dass ich ihm folgte, dass er dennoch ein Flüchtling war. Deswegen kam es vielleicht, dass ich ihn auslachte. Weh dir du armer, was dir zustößt, dachte ich. Was ihm zustoßen würde, wusste ich am Anfang auch nicht, wusste nicht wer er war und wohin er ging. Solchermaßen aufgedreht, habe ich auch dieses „Problem“ schnell gelöst. Aus dem Gespräch der Passanten habe ich unbewusst die Information erhascht, dass Frau Krause aus Argentinien gekommen wäre für zwei Tage und ich habe mir vorgestellt, dass dieser Mann zu ihr ging. Warum wäre es unmöglich, dass dieser Mann wirklich diese Frau gekannt hätte und zu ihr ginge? Es war nicht nur möglich, sondern es war wirklich so, redete ich mir ein und stellte mir vor, dass diese Frau heimlich Sesilia sein könnte, die aus Verona kam. Damals kannte ich Sesilia nicht gut, ich hatte sie nur einige Male in Verona gesehen, bei meiner Schwester. Megi, besser Megi Daneman-Danjelo war, wie es auf den Plakaten stand, schon eine berühmte Pianistin und lebte schon seit Jahren in Verona, mit ihrem ehemaligen Manager Enzo Danjelo zusammen. Ihre Kindheitskonzerte waren schon in die seriösen, triumphalen Siege hinübergewachsen, denen ich einige Male beigewohnt hatte. Dort traf ich Sesilia. Dann kam sie, während ihres Aufenthaltes in Berlin, ein paar Mal auch bei mir vorbei. Am Anfang habe ich an mir nichts Besonderes bemerkt, was in eine seriöse Beziehung hinüberwachsen würde, aber nach und nach dachte ich öfters an diese Frau. Manchmal geschah es, dass ich ihr in meinen Gedanken sagte, wer sie letzten Endes und überhaupt sei. Besonders in dieser schizophrenen Periode geschah das oft und auch jetzt stellte ich mir vor, dass statt Frau Krause Sesilia gekommen wäre und dieser Mann zu ihr ging. Ich zeige es dir, du Arschloch, dachte ich, und ungeachtet dessen, dass ich diesen Mann in meiner Vorstellung schon geschlagen hatte, schmiedete ich andere Pläne, damit ich ihn vollkommen vernichten konnte. Nachdem wir eine zentrale Straße endlich hinter uns gelassen


hatten, bog der Mann in einen großen, neben dem Zoo liegenden Garten ein und verschwand hinter hohen Büschen an einer Abbiegung. Ich legte einen Zahn zu, war aber ruhig, weil ich wusste dass er mir nicht entgehen konnte, weil in diesen Garten, von dieser Seite nur ein Weg reinging, mit einer großen, auf beiden Seiten mit menschengroßen Büschen versehenen Biegung, die neben offenem, riesigen Gras weiter lief. Um diese Zeit, es war ein Mittag im Herbst, war fast kein Mensch in dem Garten und ich war froh, dass mein Opfer, eigenfüßig zum Schlachtort ging. Endlich wurde der Weg wieder gerade und als sich der Garten öffnete, erblickte ich den Mann, der friedlich dahinging, aber plötzlich wurde ich lahm, auf einmal habe ich jeden Reiz und jede Empörung verloren. Ich stand wie versteinert und spürte, dass mich jemand oder etwas ansah. Da war ein gnadenloser Blick, der dich auf keinerlei Weise in Betracht zieht, dir keine einzige Sekunde die Möglichkeit gibt, etwas mit der Vorstellung zu ändern oder durch Erinnerungen, seinen Ernst zu versüßen. Er stoppt dich vollkommen und wenn du allmählich beginnst, zu forschen, was los ist, dann wirst du spüren, dass der linke Teil deines Gehirns den rechten Teil deines Körpers regiert, und der rechte Teil des Gehirns bringt den linken Teil des Körpers in Bewegung, dass der Forschungsprozess vom Überschneidungspunkt dieser Punkte her geführt wird, oder besser von dort, wohin dieser Blick trifft, als hätte er dich aufs Korn genommen, wie er mich damals hatte, und wenn ich mich hin und her bewegt habe, weil ich bemerkt habe, dass meine rechte Hand freier wurde, ich war eindeutig kein Linkshänder mehr, er hat auch das auf das Korn nehmen richtig gemacht und als ich mit den Augen gefolgt war, sah ich vor dem Hintergrund der an nackten Baumstämmen, wie eine Terrasse hingebrachten, hohen, durch die Dichte hier und da verschwärzten, gekämmten Büsche, auf einer riesigen, mit braunen Blättern bedeckten Wiese, einen sitzenden Dobermann, der mich ansah. Der Abstand war nicht groß zwischen uns, aber der Hund schrieb sich in diese Umgebung ein, dass ich nur die Funken seiner Augen sah und sah ein, was für eine große Bedeutung dieser Abstand hatte. Wie gut man alles aus diesem Abstand sehen konnte, wie alles seinen eigenen Platz hatte: ein Hund war ein Hund, ein Blatt ein Blatt, im Garten herrschte der Duft des Herbstes und auf dem Weg ging ein Mann.


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