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Die Schatten des Peter Pan
Peter Pan ist so facettenreich wie ein Kaleidoskop. Die Figur an sich, die originale Buchvorlage mit ihren unzähligen Adaptionen sowie das persönliche Schicksal des Autors liefern uns eine Vielzahl an Blickwinkeln und Denkanstößen. Im Kern dreht sich Peter Pan jedoch immer um die Angst des Menschen vor dem Erwachsenwerden, wodurch verschiedenste Verhaltensmuster ausgelöst werden, auch die spiegelverkehrte Reaktion, möglichst schnell erwachsen werden zu wollen. Genau genommen ist die Trennung zwischen Kindheit und Erwachsenenalter ein rein abstraktes Konzept, schließlich verstreicht das Leben in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess mit einem offensichtlichen „Ziel“, auf das jeder Mensch mit Schrecken blickt.
Allein durch die Anlehnung seines Namens an den griechischen Gott Pan haftet der Romanfigur etwas Mythologisches an. Pan ist ein Satyr, der Erinnerungen an wilde Wälder, Weiden und Natur in uns hervorruft. Er ist eine Gottheit mit dunklen Seiten, einem starken Temperament und einer ungehemmten Sexualität. Grund genug für die katholische Kirche, Pan der Ikonografie des Teufels zugrunde zu legen. Das alles ist weit entfernt von dem Bild, das wir heute gemeinhin von Peter Pan haben, denn die durchwegs schönfärberischen Kinoadaptionen des Peter-Pan-Stoffes haben uns gründlich konditioniert. Beispiele sind etwa der Disney-Animationsfilm aus dem Jahr 1953, die Spielberg-Adaption aus 1991 mit Robin Williams und Dustin Hoffmann oder auch Marc Forsters Film Neverland, mit Johnny Depp in der Rolle des J. M. Barrie. All diese Blockbuster orientierten sich zwar an der Handlung und an den Figuren Barries, leisteten sich aber große Freiheiten bei der Umsetzung der Romanvorlage.
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Fast 50 Jahre dauerte es, bis die Figur des Jungen, der nicht erwachsen wurde, im Kopf seines Schöpfers James Matthew Barrie nach und nach Gestalt annahm, in einem Hin und Her zwischen Buchdeckeln und Theaterbühne. Ein wichtiger Faktor dabei war der Erfolg beim Londoner Publikum Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch die persönlichen Erfahrungen des Autors flossen in die Entwicklung ein. Man könnte sogar sagen, dass Barrie selbst eine Art „Prototyp“ des Peter Pan war, sowohl aus körperlichen als auch existentiellen Gründen. Tatsächlich wurde der feingliedrige, zerbrechlich wirkende Barrie nicht größer als einen Meter fünfzig und wirkte noch als Erwachsener lange wie ein Jugendlicher, woran nicht einmal sein Schnauzbart etwas ändern konnte. Schon als Kind dachte sich der geistige Vater Peter Pans gerne Geschichten aus, die er dann anderen erzählte. Doch seine eigene Kindheit endete abrupt, als er nach dem tragischen Tod des großen Bruders beschloss, gegenüber der Mutter dessen Rolle einzunehmen, indem er ihn optisch imitierte und in seine Fußstapfen als junger Mann trat, dem eine erfolgreiche Karriere bevorsteht. Ausgerechnet J. M. Barrie zwang sich also dazu, seine Träume über Bord zu werfen und auf einen Schlag erwachsen zu werden.
Die paradigmatische Geschichte von dem Jungen, der nicht erwachsen wurde, fand nicht nur in die Literatur und in die Kunst Eingang, sondern in Form des sogenannten „Peter-Pan-Syndroms“ auch in die Psychoanalyse. Jedenfalls sollten die Erlebnisse des Autors erst 30 Jahre nach dieser einschneidenden Veränderung seiner Lebensumstände zu keimen beginnen, als Barrie in London der Familie Davies begegnete. Sie diente ihm als Inspiration für die Figuren, die sich in der Erzählung um Peter Pan scharen. Jede davon hat eine tiefere Bedeutung: zum Beispiel Wendy, die versucht, Peters Schatten wieder anzunähen (ein Bild, das für den tragischen Verlust des Bruders steht) oder die kleineren Kinder, die in der Geschichte zu Hauptfiguren werden. Die unschuldige Gutgläubigkeit, mit der sie Peter Pan nach Nimmerland folgen, sorgt bei uns für ein gewisses Unbehagen und ruft die Erinnerung an den Rattenfänger von Hameln wach. Gleichzeitig passt die Geschichte Peter Pans perfekt in die Tradition der Märchenerzählung im 19. Jahrhundert, besitzt sie doch diesen Hauch an Düsterkeit, der zwar nicht durchwegs im Vordergrund steht, aber doch stellenweise für beklemmende und beängstigende Momente sorgt. Auch heute noch ist Peter Pan eine höchst aktuelle Figur, wenn man die Symbolik der virtuellen Dimension bedenkt, in deren Kontext Kindheit und Jugend in unserer Zeit diskutiert werden.
Die Kernüberlegung jedoch liegt darin, wie sich die Gräben zwischen der Erwachsenenwelt und der Kindheit überwinden lassen. Peter jedenfalls lädt uns dazu ein, das Verstreichen der Zeit gelegentlich zu ignorieren oder gleich ganz zu vergessen. Erst das bedrohliche Ticken des Krokodils ruft uns die Zeit wieder in Erinnerung und zerstört die Utopie der ewigen Kindheit, die es uns möglich macht, zu „fliegen“.