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INTERVIEW

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PANORAMA

PANORAMA

Francesco Angelico (Generalmusikdirektor) und Florian Lutz (Intendant) nach der gelungenen Premiere von WOZZECK.

AUF INS THEATER!

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Im September und Oktober eröffnete das Staatstheater Kassel die Spielzeit 21/22 mit einem Reigen an Premieren. Mit einem fulminanten Auftakt starteten der neue Intendant Florian Lutz und die neuen Spartenleiter*innen Patricia Nickel-Dönicke (Schauspiel), Thorsten Teubl (Tanz) sowie Barbara Frazier (JUST+) in die erste Spielzeit unter ihrer Leitung am Staatstheater Kassel. Zur künstlerischen Neuausrichtung des Staatstheaters Kassel gehört neben einer verstärkten Öffnung zur Stadt hin sowie spartenübergreifendem, kooperativem und partizipativem Arbeiten ein starker Akzent auf der Oper als „Theater des Erlebnisses“. Besondere Bedeutung kommt dabei den Raumkonzeptionen von Hausszenograf Sebastian Hannak zu, der für Kassel ein „Musiktheaterparlament“ geschaffen hat: Im „Pandaemonium“, einer 360-Grad-Rauminstallation, rückt das Publikum in einer Art modernem (und coronasicherem) Logentheater so nah wie selten ans Bühnengeschehen, während das Orchester – und damit die Musik – einen zentralen Platz einnimmt. Wir haben Florian Lutz zum Interview getroffen und mit ihm über die Rückkehr des Publikums, das partizipative Arbeiten und allerlei Fragen zur Person Florian Lutz gesprochen.

Wie haben Sie die ersten Vorstellungen erlebt? Wie waren die ersten Kontakte mit Ihren Besucher*innen?

Denn das war ja nach dem letzten Jahr überhaupt nicht gewiss, ob das so kommen würde, und auch noch nicht während der Sommerferien, als man den Eindruck hatte, dass immer mehr Menschen in Deutschland und auch in Kassel geimpft sind. Trotzdem war die Sorge groß, da die Inzidenzen in Hessen und Kassel unglaublich angestiegen sind und es stand wieder in Frage, ob man überhaupt spielen darf.

Und insofern war die schiere Tatsache, dass Vorstellungen stattfinden konnten großartig, und das mit einer ordentlichen Zuschauerzahl: Im Falle des Opernhauses sogar mit einer Auslastung von fünfzig Prozent der regulären Plätze – auch hier hat das Pandämonium eine wichtige Rolle gespielt. Dass es geklappt hat, unter den Bedingungen alle sechs Eröffnungspremieren zu feiern, also zwei große Opernpremieren mit Wozzeck und Tosca, zwei große Schauspielabende mit FaustGretchen-Projekt und der Uraufführung „Die gute Erde“, der Gatsby-Bearbeitung „How to Gatsby“ im Jungen Staatstheater und dem fulminanten Aufschlag der neuen Tanzkompanie mit einer Schwanensee-Adaption, war eine sehr große Freude. Das sind so unterschiedliche Formate, die so unterschiedliche Herausforderungen an ein Ensemble, an ein Haus stellen, gerade wenn man unter den eingeschränkten Bedingungen der Pandemie arbeiten muss. Für mich persönlich am schönsten: Die letzten anderthalb Jahre konnte ich leider die Zuschauer*innen nicht kontinuierlich am Rande von Vorstellungen kennenlernen. Und plötzlich – wie von 0 auf einhundert – lernt man so viele Menschen neu kennen. Und man merkte, dass es eine extreme Aufgeschlossenheit, Neugier und Lust generell auf Theater gibt und dass man die neuen Impulse, die wir jetzt mitbringen, wahrnimmt. Für mich war es faszinierend und beglückend, dass ganz viele Menschen – regelmäßige Theater- und Konzert-Gänger, die dem Haus in den 17 Jahren, in denen das Haus Thomas Bockelmann geleitet und geprägt hat, sehr verbunden waren –, zu uns gekommen sind. Sie waren dem Stil und der Ausrichtung, die das Haus unter seiner Leitung und des Teams hatte, ganz bewusst zugeneigt. Und trotzdem haben sie nun Lust auf etwas Neues. Das finde ich eine ganz tolle Haltung, die in der Kunst- und Theater-Rezeption nicht selbstverständlich ist: Man mag das eine und trotzdem möchte man das andere gerne sehen. Durchgehend waren die Reaktionen des Publikums, aber auch der Presse sehr euphorisch und es herrscht eine große Zugewandtheit und Begeisterung für das, was wir jetzt machen. Das Haus ist fest verankert in der Stadtgesellschaft und das freut mich sehr, unter diesen Vorzeichen beginnen zu können.

Eine neue Intendanz am Staatstheater Kassel. Ist das ein Spagat zwischen Kontinuität und Innovation?

Man könnte es als einen Spagat zwischen Kontinuität und Innovation bezeichnen, wobei das Haus in der Vergangenheit in vielen Bereichen sehr innovativ war. Unter der Leitung von Thomas Bockelmann, aber auch schon davor, haben oft innovative Impulse ihren Ausgang gefunden und somit ist das ein Stück weit Tradition.

Thomas Bockelmann hat einen Übergang ermöglicht, den es ganz selten am Theater gibt. Man ist sich offen und zugewandt begegnet. Die Wiederaufnahmen von Stücken von Bockelmann selbst und geplante Übernahmen für die nächste Spielzeit, beispielsweise die große Musical-Produktion „Next to Normal“, die eigentlich eine Produktion aus der Bockelmann-Zeit war, zeigen die Kontinuität. Es gibt ganz viele konkrete Kontinuitäten und darüber hinaus gibt es im Haus sehr viele personelle Kontinuitäten. Von den rund 500 Mitarbeitern ist der Großteil schon lange am Staatstheater und gleichzeitig gibt es natürlich im künstlerischen Bereich viele Wechsel, sowohl auf Leitungsebene als auch bei den drei Ensembles Oper, Schauspiel und Tanz. Das bedeutet natürlich auch eine künstlerische Weiterentwicklung und Neuausrichtung, die andere Akzente setzt. In allen Sparten legen wir großen Wert auf dieses innovative Potenzial.

Die größte Veränderung erlebt die Tanzkompanie – es gibt nicht mehr den einen choreografierenden Tanzchef, sondern ein kuratorisches Leitungs-Prinzip greift: Sechs bis teilweise acht Choreograf*innen werden pro Spielzeit eingeladen. Es wird diverser. Wir haben jetzt sieben eigenständige Tanzpremieren und noch drei CoProduktionen mit den anderen Sparten – also zehn verschiedene Stücke, in denen die Tanzsparte involviert ist. Alles modern, aber wie schon die Eröffnungsproduktion „Schwanensee“ zeigt, auch sehr dezidiert in der Auseinandersetzung und Abarbeitung am klassischen Kanon, der klassischen Ikonografie oder Formensprache von modernem Tanz und klassischem Ballet.

Im Oktober hat das interdisziplinäre Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ begonnen. Was ist das für ein Projekt?

„Kein Schlussstrich!“ ist ein großer Zusammenschluss von Städten beziehungsweise kulturellen Trägern und Theatern aus Städten, die in irgendeiner Form mit der Geschichte des sogenannten NSUs zu tun hatten. Vor allem von Städten, in denen die Morde des NSUs geschehen sind, aber auch andere Städte, in denen die Täter lange Zeit aktiv waren oder gelebt haben. Es ist ein ganz wichtiges Signal, gerade jetzt, dass die kulturellen Akteure, Institutionen und Theater sich kritisch damit auseinandersetzen und sich klar abgrenzen – ein Zeichen der Solidarität für die Opfer und die Familien und eine Abgrenzung zu den Tätern und einer Neuen Rechten. Wir als Staatstheater Kassel sind mit einer Schauspielproduktion involviert, die aus Eigeninitiative bei uns entstanden ist. Das ist „mädchentreu“ – eine theatrale Recherche zu Frauenbildern und Erziehung der Neuen Rechten von Mirja Biel. Mit Theateraufführungen, musikalischen Interventionen im öffentlichen Raum, Lesungen, Diskussionsveranstaltungen und Workshops möchte das Projekt die Auseinandersetzung mit dem institutionellen und strukturellen Rassismus in unserer Gesellschaft anregen.

Einen Ausblick auf das Jahr 2022, das Jahr der documenta fifteen. Erzählen Sie uns bitte etwas zur Produktion: „Temple of Alternative Histories“ und zum Abschluss der Saison.

Es ist eine wunderbare Situation, in einer Stadt Theater machen zu dürfen, die alle fünf Jahre durch die documenta zum Hotspot der internationalen Kunstszene wird und dadurch seit Gründung per se einen dezidierten Fokus auf zeitgenössische Kunst legt. Alle im Team freuen sich auf diese 100 Tage und den Sommer 2022. Wir sind in Gesprächen mit dem Kuratorenteam, aber auch mit Dr. Sabine Schormann, über mögliche Formen der Zusammenarbeit: Es geht um Gastspiele und Produktionen, die vonseiten der documenta in unseren Spielstätten stattfinden. Wir werden eine eigene Produktion gestalten: „Temple of Alternative Histories“. Das ist eine Uraufführung, ein interdisziplinäres und spartenübergreifendes Projekt von Anna Rún Tryggvadóttir und Thorleifur Örn Arnarsson mit Musiktheater-, Schauspiel- und Tanzensemble, Chor und großem Orchester sowie digitalen Technologien, Wissenschaft und Kunst. Die Arbeitsweise ist für das Theater relativ untypisch, da über das ganze Jahr in Form von Workshops Material gesammelt und dieses Stück kreiert wird.

Ein gesellschaftliches Highlight ist der Theaterball, der alle zwei Jahre stattfindet. Coronabedingt musste er für 2021 abgesagt werden. Wann dürfen wir wieder im Theater tanzen?

Als ich zu meinem Beginn erfahren habe, dass es diese Institution des Theaterballs gibt – das zentrale Highlight im Kalender der Stadtöffentlichkeit –, habe ich mich sehr gefreut. Wir haben nun einen Termin für den Herbst 2022 festgelegt und holen den Termin aus 2021 nach. Wir hätten möglicherweise im Rahmen einer 2G-Veranstaltung den Termin in diesem Jahr halten

von Wozzeck Im „Pandaemonium“ rückt das Publikum in einer Art modernem Logentheater so nah wie selten ans Bühnengeschehen.

Die Statisterie des Staatstheater Kassel beim Premiereneinlass WOZZECK.

können, aber die Vorbereitungszeit war einfach zu knapp bemessen. Der Theaterball wird ja von der Fördergesellschaft Staatstheater Kassel e.V. und dem Staatstheater veranstaltet und wir blicken sehr positiv in Richtung Herbst 2022.

Gestatten Sie uns noch ein paar persönliche Fragen. Eine Zeitkapsel beamt Sie in jede beliebige Zeitepoche. Welcher Inszenierung hätten Sie gern beigewohnt?

Der Erstaufführung der Oper „Die Stumme von Portici“ / „La muette de Portici“ des Komponisten Daniel-François-Esprit Auber. Sie stand aus heutiger Perspektive wie kein anderes Stück im 19. Jahrhundert für das, was Theater und Musiktheater überhaupt war: eines, wenn nicht das zentrale künstlerische Medium, in dem der gesellschaftliche Diskurs stattfand und die wichtigen und brennenden Fragen der Zeit diskutiert wurden. Der Legende nach: Die Aufführung von Aubers La muette de Portici am 25. August 1830 im Brüsseler Opernhaus La Monnaie brachte das Publikum derart in Aufruhr, dass es sich erhob, aus dem Theater stürmte und eine Revolution begann, die zur Gründung des belgischen Staates führte. Heute ist es schwer vorstellbar, dass so eine Kraft von einer Oper ausgehen kann, aber wir arbeiten daran.

Sie haben Ihren Zivildienst in Israel absolviert. Was aus dieser Zeit prägt Sie bis heute?

ist ein Alter, in dem man so unglaublich viele Informationen aufsaugt, so schnell lernt und sich so vielseitig für unterschiedliche Dinge begeistern kann. Daher rührt eine vielseitige und tiefe Kenntnis der drei monotheistischen Weltreligionen, die dort aufeinandertreffen: Judentum, Christentum und Islam und ein großes Interesse an der Historie dieses Landes, die ja sehr bewegt ist. Mein Hebräisch war damals sehr passabel – wenn jetzt auch nach der Zeit etwas eingestaubt – und ich freue mich sehr darauf, wenn Noa Wertheim, die Grande Dame des israelischen Tanzes, bei uns zu Gast ist, mit ihr auf Hebräisch zu smalltalken.

Was gefällt Ihnen an Ihrer Arbeit am besten?

Da gibt es unendlich viele Sachen, die mir gut gefallen. Meine Arbeit hat nun viel mit Administration und Organisation zu tun, die mich teilweise von 9:00 Uhr bis 19:00 Uhr beschäftigen, und für mich ist es sehr beglückend, wenn ich nach einem Arbeitstag die Abendprobe besuchen kann. Zum einen wird einem bewusst, was man für einen traumhaften Job hat und man mit öffentlichen Mitteln spannende und schöne Theater- und Musikkunst auf die Bühne bringen kann. Auf der anderen Seite kann ich anderen Regisseur*innen über die Schulter schauen. Ich selbst komme aus der Regie und habe meinen eigenen Inszenierungsstil, den man jetzt bei Alban Bergs Wozzeck als Eröffnungsstück erleben konnte. Dadurch, dass ich jetzt als Intendant für die anderen 43 Premieren im Jahr mit Gästen oder anderen Regisseur*innen zu tun habe, ist es für mich besonders spannend zu erleben, wie sie eigentlich arbeiten. Der Premierenreigen zu Beginn der Spielzeit hat die Unterschiedlichkeiten und Bandbreite der ästhetischen Handschriften gezeigt. Mich fasziniert es, dass wir eine klare inhaltliche Linie und Ausrichtung haben, aber eine unglaubliche Vielfalt für die Zusachauer*innen bieten. Wir können voneinander lernen und das finde ich grandios.

Was bedeutet Glück für Sie?

Wenn man mit anderen Menschen gemeinsam etwas erreicht, was man sich vorgenommen hat. Oder das, was man sich vorgenommen hat, vielleicht sogar übertrifft und dadurch eine starke Verbindung entsteht, sei es in persönlichen oder arbeitstechnischen Beziehungen. Wenn man nur durch die Gemeinsamkeit zu einem Ergebnis, einem Verbund kommt, der vorher nicht da war. Beispielsweise die Planung und Entstehung des Pandaemoniums. Vor einem Jahr wusste keiner, wo die Reise hingeht, da keiner der Beteiligten vorher jemals so etwas gemacht hatte. Und ein Jahr später stößt man darauf an und man ist so in diesem Prozess zusammengewachsen. Es ist ein neues Moment von Gemeinschaftlichkeit entstanden – das finde ich sehr beglückend.

Wir bedanken uns ganz herzlich für Ihre Zeit und freuen uns auf viele weitere Premieren und Highlights in Ihrer ersten Spielzeit.

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