Wir durchleben aktuell eine große Transformation. Wir sind gefordert – und werden Mut, Zuversicht und Kraft benötigen. Dazu soll dieses Buch beitragen. Die Vielfalt der darin enthaltenen Perspektiven ist als Einladung zu verstehen, den Blick zu weiten. Denn: Je flexibler unsere Sicht- und Handlungsweisen, desto höher sind die Chancen, dass wir nicht untergehen, sondern an den Aufgaben wachsen werden.
Transformations are part of our lives, part of the natural world. They mark transitions and represent important steps in our personal, communal or societal development. Transformation means change, upheaval and transition. It requires overcoming the old, familiar form and finding a new one. Doubts, insecurity and fear are frequent companions in this process, and they can also be useful ones if we learn to work with them and use their dynamics.
ROLAND URBAN
We are currently experiencing a major transformation. We are challenged. We will need courage, confidence and power. This book aims to contribute to this. The diversity of the contributions it contains should be seen as an invitation to broaden our view – because the more flexible our perspectives and ways of acting are, the greater are the chances that we will not perish but grow along with the tasks we face.
SCHAMANISMUS UND TRANSFORMATION | SHAMANISM AND TRANSFORMATION
Transformationen sind Teil unseres Lebens, Teil des Natürlichen. Sie markieren Übergänge und repräsentieren wichtige Schritte in unserer persönlichen, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung. Transformation bedeutet Veränderung, Umbruch und Wandel. Sie erfordert das Überwinden der alten, gewohnten Form und das Finden einer neuen. Zweifel, Unsicherheit und Angst sind dabei häufige, auch sinnvolle Begleiter:innen – wenn wir lernen, mit ihnen zu arbeiten und ihre Dynamik zu nutzen.
SCHAMANISMUS UND TRANSFORMATION SHAMANISM AND TRANSFORMATION Herausgeber l Editor
ROLAND URBAN
T he Foundation For Sha m anic Studies Europe www.shamanicstudies.net
The Foundation For Sha m anic Studies Europe
€ 15,00 ISBN 978-3-9519917-3-3
T he Foundation For Sha m anic Studies Europe
SCHAMANISMUS UND TRANSFORMATION SHAMANISM AND TRANSFORMATION Herausgeber l Editor
ROLAND URBAN
T he Foundation For Sha m anic Studies Europe
Wer bist du? fragte ich meine Seele Eine Mondsichel glitt über ihr Gesicht Ich wollte wissen Wo weilst du? Jenseits der Umarmung von Wo & Wann Sonderbar Bist du Teil oder Ganzes? Vollendet, ja, wie Spitzenstoff Ich bin erstaunt Hast du ein Ziel? Kein geringeres als Gnade Ich forschte weiter Und deine Rolle? Durch dich zu hinterlassen Seine Spur HOWARD FINE
who are you? i asked my soul a crescent crossed her face i inquired where do you dwell? beyond wherewhen’s embrace that’s odd are you part or whole? yes consummate as lace i’m perplexed have you a goal? no baser aim than grace still i probed what is your role? to leave through you His trace HOWARD FINE
INHALT VORWORT 10 BRUDER DAVID STEINDL-RAST Zum Geleit 12 ROLAND URBAN Einleitung
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION 24 MADLEN ZIEGE Transformation – ein fundamentales Prinzip der Evolution 38 ROLAND URBAN Das Ende des Anthropozäns – Eine Trilogie über Wandel und Transformation
GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG 94 TESS JAGGY, HOWARD FINE Persönliche Geschichten der Veränderung 116 MINKA VON KRIES Logbuch der Veränderung
NETZWERKE & KUNSTWERKE 138 ROLAND URBAN, MINKA VON KRIES Fungi 142 THE SPIRIT YURT Songs of Change and Transformation 144 HOWARD FINE eYe
WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST 152 KAI GOERLICH Leben in veränderten Landschaften – Gespräche über die Grenzen von Kulturen hinweg 164 SCOTT CLOUTIER Das Geschenk der Transformation: Warum es all die Mühe Wert ist
EPILOG 182
Reise zum Ende der Welt
186
Guldal fal
CONTENT FOREWORD 11 BRUDER DAVID STEINDL-RAST Foreword 15 ROLAND URBAN Introduction
FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION 31 MADLEN ZIEGE Transformation – A Fundamental Principle of Biological Evolution 65 ROLAND URBAN The End of the Anthropocene - A Trilogy of Change and Transformation
STORIES OF CHANGE 107 TESS JAGGY, HOWARD FINE Personal Stories of Change 125 MINKA VON KRIES Logbook of Change
NETWORKS & ARTWORKS 140 ROLAND URBAN, MINKA VON KRIES Fungi 142 THE SPIRIT YURT Songs of Change and Transformation 144 HOWARD FINE eYe
WHY IT´S ALL WORTH IT 159 KAI GOERLICH Living in Altered Landscapes – Conversations Across the Boundaries of Cultures 171 SCOTT CLOUTIER The Gift of Transformation: Why It´s All Worth It
EPILOGUE 184
Journey to the End of the World
186
Guldal fal
9
BRUDER DAVID STEINDL-RAST
ZUM GELEIT
LIEBE FREUNDINNEN UND FREUNDE DES SCHAMANISMUS! Es ist mir eine Ehre und Freude, dass ich als Freund Michael Harners ein Grußwort an Euch richten darf. Ich tue das umso lieber, als die Transformation unserer Gesellschaft auch mir ein Herzensanliegen ist. Ob wir an Umweltzerstörung, Überbevölkerung, die Einkommensschere, Hunger, Terrorismus oder den Aufrüstungswahnsinn denken, eines steht fest: unsere Gesellschaft hat sich völlig verfahren. Auf allen Gebieten sagen die am besten Informierten: So kann es nicht weitergehen. Aber wir haben so sehr die Orientierung verloren, dass wir das gemeinsame Grundübel aller Missstände gar nicht mehr finden können. Wir sind wie Schwerkranke, die nicht wissen, was ihnen fehlt. Was uns fehlt, ist die spirituelle Mitte. In dieser Hinsicht ist unsere Gesellschaft eine völlige Anomalie. Vor uns wurden alle Kulturen der Geschichte und schon der Vorgeschichte zusammengehalten und gekennzeichnet durch eine gemeinsame Mitte: durch die bewusste Begegnung mit dem Geheimnis des Lebens und des Kosmos, ganz gleich, wie sie es nannten. Diese Mitte ist unserer Gesellschaft verlorengegangen, weil wir das große Geheimnis aus dem Bewusstsein verloren haben. Und wenn ich „Geheimnis“ sage, dann meine ich nicht irgendetwas Vages, sondern eine Wirkkraft, die uns im Leben unausweichlich begegnet: jene letzte Wirklichkeit, die wir nicht begreifen – nicht durch Begriffe in den Griff bekommen –, wohl aber verstehen können, wenn sie uns ergreift. Diese Ergriffenheit ist ein zentrales Erlebnis im Core-Schamanismus, wie Michael und Sandra Harner ihn uns geschenkt haben. Was uns etwa bei der Arbeit mit der Trommel ergreift, ist das unbegreifliche Geheimnis. Nur durch Ergriffenheit können wir das Geheimnis im Herzen der Wirklichkeit wiederentdecken und auf neue Weise zur gemeinsamen Mitte machen. CoreSchamanismus hält hier also ein potenzielles Heilmittel für unsere ganze Gesellschaft in Händen. Schon seit den Anfängen unserer menschlichen Kultur sind Schamaninnen und Schamanen die „Fachleute“ für Transformation und Heilung. Darum könnte heute Core-Schamanismus zur Transformation und Heilung einer ganzen Welt, die im Argen liegt, entscheidend beitragen. Dass auch das vorliegende Buch zur Bewältigung dieser Aufgabe beitragen möge, das erhoffe ich mit großem Vertrauen. Alles Gute und viel Erfolg Euch allen! BRUDER DAVID STEINDL-RAST Benediktinermönch, Eremit und spiritueller Lehrer St. Gilgen, 25. Mai 2022
10
VORWORT I FOREWORD
BRUDER DAVID STEINDL-RAST
FOREWORD
DEAR FRIENDS OF SHAMANISM, As a friend of Michael Harner, it is an honour and a pleasure for me to address a greeting to you. I am all the more glad to do so because the transformation of our society is a matter close to my heart. Whether we think of environmental destruction, overpopulation, the income gap, hunger, terrorism or the arms race, one thing is certain: our society has completely lost its way. In all areas, the best-informed people agree: things can’t go on like this. But we have so severely lost our bearings that we can no longer recognize the common root cause of all our ills. We are like gravely ill people who do not know what they are missing. What we lack is the spiritual centre. In this regard, our society is a complete anomaly. Before us, all cultures in history and even prehistory were held together and characterised by a common centre: the conscious encounter with the mystery of life and the cosmos, no matter what they called it. Our society has lost this centre because we have lost our awareness of the great mystery. And when I say “mystery”, I do not mean something vague, but an active power that we inevitably encounter in life: that ultimate reality which we cannot grasp – cannot get a grip on with concepts – but can comprehend when we are seized by it. This feeling of being seized is a central experience in Core Shamanism, as Michael and Sandra Harner have given it to us. What takes hold of us when we work with the drum, for example, is the incomprehensible mystery. Only by being seized can we rediscover the mystery at the heart of reality and make it our common centre in a new way. Core Shamanism offers a potential cure for our entire society. Ever since the dawn of human culture, shamans have been the “specialists” for transformation and healing. This is why Core Shamanism could contribute decisively toward transforming and healing an entire world in disarray. I hope with great confidence that this book will contribute toward accomplishing that goal. All the best and much success to you all! BRUDER DAVID STEINDL-RAST Benedictine monk, eremite and spiritual teacher St. Gilgen, 25. Mai 2022
11
ROLAND URBAN
EINLEITUNG „Nichts wird geschaffen oder zerstört; es bewegt und verändert sich nur, und das ist das Erste Gesetz. Schöpfung befindet sich fortwährend in einem Zustand der Bewegung, und als Hüterart müssen wir uns mit ihr bewegen, denn sonst fügen wir dem System Schaden zu und weihen uns dem Untergang. Nichts kann festgehalten, angehäuft oder aufbewahrt werden. Jede Einheit braucht in einem stabilen System Geschwindigkeit und Austausch oder sie stagniert – dies gilt für Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme ebenso wie für natürliche Systeme. Sie folgen alle den gleichen Gesetzen.“ Tyson Yunkaporta, Sand Talk1 Eines dieser Gesetze ist jenes der Transformation, der Umformung oder Verwandlung. Transformationen, abgeleitet aus dem lateinischen transformare, sind grundlegende, strukturelle Veränderungsprozesse, konstitutionelle Weiterentwicklungen also, die in einen substanziell veränderten Systemzustand münden. Transformationen sind Teil des Lebens. Wir können sie nicht aufhalten oder verhindern, sehr wohl aber bewusst initiieren und fördern. Erkennen und gestalten wir anstehende Transformationen aktiv, erhalten wir neues Wissen, neue Fähigkeiten und neue Kraft. Dadurch werden innovative Lösungen möglich und unsere Resilienz, unsere Widerstands- und Anpassungsfähigkeit erhöht sich. Die Unsicherheit, die Angst, die wir am Weg dorthin erfahren, gehören dazu. Sie können – und sollen – gar nicht vermieden werden. Sie stellen verständliche Reaktionen auf Veränderung und gefühlte Bedrohung dar. Wir müssen lernen, mit Unsicherheit und Angst zu leben und zu arbeiten. DIE WELLEN BRECHEN Es ist überall wahrzunehmen: Die Transformationsspannung steigt. Das „Alte“ geht zu Ende, das „Neue“ hat noch nicht Platz gegriffen. Dazwischen besteht ein destabilisierendes Vakuum. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem die Wellen brechen, an dem substanzielle und irreversible Veränderungen des globalen Systemzustandes im Gange sind, ob wir dies nun wollen oder nicht. An diesem Kipppunkt entsteht sogenannte Emergenz: Neue Phänomene, mit neuen Eigenschaften, die davor unbekannt waren, werden sichtbar bzw. nehmen Gestalt an.2 1 2
Yunkaporta, Tyson (2021): Sand Talk. Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt. Berlin: Matthes & Seitz. S. 51. Vgl. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
12
EINLEITUNG
Schamanen und Schamaninnen sind gewohnt, am Übergang zu arbeiten. Sie scheuen die damit einhergehenden Dynamiken und Kräfte nicht, sondern versuchen vielmehr, diese zu verstehen und nutzbar zu machen. Schamanen und Schamaninnen sind Expert:innen der Gestaltung von Wandel und Transformation. Sie wissen, was nach dem Ende kommt – dass etwas nach dem Ende kommt: Die „Rhythmen der Schöpfung“3, die sich in Phasen der Transformation eruptiv verdichten und kurzfristig in Stoß- oder Schockwellen übergehen, beruhigen sich wieder und werden regelmäßiger, wie der monotone Schlag der Trommel. Eine neue Struktur, eine neue Ordnung entsteht. Die involvierten Kräfte und die Gefäße, in denen diese wirksam werden, treten in die nächste Phase ihrer Evolution ein. Es wird weitergehen. Dies ist keine Einladung zum Nichtstun. Im Gegenteil: Jene Individuen, Gemeinschaften, Gesellschaften oder Landschaften, die vulnerabel sind, werden vermehrt unter Druck geraten und hohem Stress ausgesetzt sein. Jene, die flexible Handlungsstrategien zur Verfügung haben, werden besser durchkommen.
EIN NEUES NARRATIV Als Weltgemeinschaft stehen wir vor enormen Herausforderungen. Die Digitalisierung verändert unser „Mindset“, mit offenem Ausgang. Die Covid19-Pandemie, vor allem deren soziale, finanzielle und politische Folgen, hallt nach. Der Krieg in der Ukraine hat den Mythos von Frieden in Europa jäh zerstört und eine neue geopolitische Weltordnung eingeläutet. Zeitgleich wüten viele andere Kriege. Die Auswirkungen des Klimawandels, der größten aller aktuellen Herausforderungen, werden immer drastischer spürbar. Unser Handeln in den nächsten zehn Jahren wird maßgeblich darüber entscheiden, welche Lebensbedingungen die Generationen nach uns vorfinden werden.4 Sicher ist: Das Anthropozän5, jenes Zeitalter, in dem der Mensch versuchte, sich die Natur untertan zu machen, kommt zu einem Ende. Wollen wir als Spezies überleben, werden wir ein neues Narrativ entwerfen müssen, charakterisiert durch wiedergewonnene Demut, durch die Reduktion auf das Wesentliche und eine Rückkehr zum Gemeinschaftlichen. Die globalen Entwicklungen unserer Zeit erinnern uns nachdrücklich daran, dass wir
3
Vgl. dazu Yunkaporta (2021), S. 97.
4
IPCC – The Intergovernmental Panel on Climate Change (2023): AR6 Synthesis Report: Climate Change 2023. https://www.ipcc.ch/report/ar6/syr/; 19.09.2024.
5
Vgl. dazu etwa Laux, Henning, Henkel, Anna (2018): Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän. Bielefeld: transcript.
13
nicht einfach „Land nehmen“ können, sondern das Land beschützen müssen; dass wir mit allem verbunden, von anderen abhängig und selbst Natur sind.6.
TAGEBUCH DER TRANSFORMATION Man kann eigentlich kein Buch über aktuelle, sich gerade entfaltende Transformationen schreiben. Es wird nie „fertig“ sein, man wäre zu keinem Zeitpunkt up to date oder gegenwärtig, sondern immer „hinten nach“. Man kann lediglich Momentaufnahmen anfertigen, eingebettet in einen konkreten zeitgeschichtlichen und kulturellen Kontext. Diese bergen nichts Endgültiges, nichts Finales, sondern lediglich Vorübergehendes in sich. Bei genauerer Betrachtung aber lassen solche Momentaufnahmen strukturelle Merkmale, allgemeine Prinzipien und Prozesshaftes erahnen, die auf Zugrundeliegendes und Essenzielles hindeuten. Die vorliegende Publikation ist ein Tagebuch der Transformation, entstanden zwischen 2020 und 2023. Die Texte berichten von schamanischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema, von alltäglichen Begegnungen genauso wie von bewussten Dialogen mit Geistern. Wurden die ersten Artikel unter dem Eindruck der einsetzenden Covid19-Pandemie verfasst, waren die letzten zu einem – von Kriegen und den Effekten des Klimawandels geprägten – Zeitpunkt geschrieben worden, als immer klarer wurde, dass es nicht „5 vor 12“, sondern bereits „5 nach 12“ ist. Die Stadien, die während dieses Entstehungsprozesses durchlaufen wurden, waren geprägt von starken Emotionen, von Innovation und Tatendrang, von Resignation, Nihilismus und – von Hoffnung. Am Ende bleibt die Nüchternheit des klaren Blickes und die Erkenntnis, dass – rund 250 Jahre nach Beginn der industriellen Revolution, 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und knapp 35 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zerfall der Sowjetunion – die große Veränderung unserer Zeit begonnen hat. Wir werden Zuversicht, Kraft und Perspektiven benötigen. Dazu soll diese Publikation beitragen.
6
Vgl. Urban, Roland, Huguelit, Laurent (2018): Schamanismus und Ökologie. Chamanisme et écologie. Wartberg ob der Aist: FSSE.
14
EINLEITUNG I INTRODUCTION
ROLAND URBAN
INTRODUCTION “Nothing is created or destroyed; it just moves and changes, and this is the First Law. Creation is in a constant state of motion, and we must move with it as the custodial species or we will damage the system and doom ourselves. Nothing can be held, accumulated, stored. Every unit requires velocity and exchange in a stable system or it will stagnate – this applies to economic and social systems as well as natural ones. They all follow the same laws.” Tyson Yunkaporta, Sand Talk1
One of these laws is that of transformation, of reshaping or metamorphosis. Transformations,
derived
from
the
Latin
verb
transformare,
are
fundamental, structural processes of change, i.e. further developments of constitutional quality that lead to a substantially altered system state. Transformations are part of life. We cannot stop or prevent them; however, we can consciously initiate and promote them. If we actively recognise and manage upcoming transformations, we gain new knowledge, new abilities and new power. This makes innovative solutions possible and our resilience, our ability to resist and adapt, then increases. The insecurity and fear that we experience along the way are part of this. They cannot and should not be avoided. They are understandable reactions to change and perceived threats. We have to learn to live and work with insecurity and fear.
THE WAVES ARE BREAKING It can be felt everywhere: The tension of transformation is increasing. The old is coming to an end, the new has not yet taken hold, and between them is a destabilising vacuum. We have reached a stage where the waves are breaking. Whether we like it or not, substantial and irreversible changes to the global system state are underway. At this tipping point, so-called “emergence” arises: New phenomena with new and previously unknown properties become visible or take gestalt.2
1
Yunkaporta, Tyson (2019): Sand Talk. How Indigenous Thinking Can Save the World. Melbourne: Text Publishing. pp. 45f.
2
Cf. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
15
Shamans are accustomed to working at the threshold. Rather than shying away from the dynamics and powers that accompany transformation, shamans seek to understand and harness them. Shamans are experts in managing change and transformation. They know what comes after the end. They know that something does indeed come after the end: The “rhythms of creation”,3 that eruptively solidify in phases of transformation and briefly turn into shockwaves, subside again and become more regular, like the monotonous beat of the drum. A new structure, a new order emerges. The powers involved and the vessels in which they take effect enter the next phase of their evolution. It will go on. This should not be misunderstood as an invitation to idleness. Just the opposite: The individuals, communities, societies or landscapes that are vulnerable will come under increasing pressure and experience high levels of stress, while the ones that have flexible strategies at their disposal will fare better.
A NEW NARRATIVE As a global community, we face enormous challenges. Digitalisation is changing our mindset, with an outcome still unknown. The Covid-19 pandemic, especially its social, financial and political consequences, continues to reverberate. The war in Ukraine has abruptly destroyed the myth of peace in Europe and heralded a new geopolitical world order. At the same time, many other wars are raging. The consequences of climate change, the greatest of all current challenges, are becoming increasingly drastic. Our actions over the next ten years will largely determine the living conditions for future generations.4 One thing is certain: the Anthropocene,5 the epoch in which humankind tried to subjugate nature, is coming to an end. If we want to survive as a species, we will have to create a new narrative characterised by a regained sense of humility, by a reduction of our lives to the essentials and by a return to community. The global developments of our era emphatically remind us that we cannot simply take possession of land, but must protect it, that we are connected to everything and dependent on others, and that we ourselves are part of nature.6 3
Cf. Yunkaporta (2019), p. 92.
4
IPCC – The Intergovernmental Panel on Climate Change (2023): AR6 Synthesis Report: Climate Change 2023. https://www.ipcc.ch/report/ar6/syr/; 19.09.2024.
5
Cf. for example Laux, Henning, Henkel, Anna (2018): Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän. Bielefeld: transcript.
6
Cf. Urban, Roland, Huguelit, Laurent (2018): Schamanismus und Ökologie. Chamanisme et écologie. Wartberg ob der Aist: FSSE.
16
INTRODUCTION
A DIARY OF TRANSFORMATION It is not really possible to write a book about the transformations that are currently taking place. Such a book could never be finished. It could never be up-to-date, but would always lag behind the times. All we can do is take snapshots, embedded in a specific historical and cultural context. These contain nothing final or conclusive, but only something temporary and provisional. On closer scrutiny, however, such snapshots might reveal structural features, general principles and processes that hint at the underlying and essential. This publication is a diary of transformation, written between 2020 and 2023. The texts report on shamanic, scientific and artistic explorations of the topic, on ordinary reality encounters as well as on dialogues with spirits. The first articles were written under the impression of the onset of the Covid-19 pandemic; the last ones at a time – marked by wars and the effects of climate change – when it became increasingly clear that it is no longer “five minutes to midnight”, but already “five minutes past midnight”. The phases that transpired during this process were characterised by strong emotions, by innovation and drive, by resignation, nihilism and – hope. What ultimately remains is the sobriety of a clear view and the realisation that – some 250 years after the beginning of the Industrial Revolution, 80 years after the Second World War and almost 35 years after the fall of the Iron Curtain and the disintegration of the Soviet Union – the great transformation of our time has begun. We will need confidence, power and perspective. This publication is intended to contribute to this.
17
18
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION MADLEN ZIEGE ROLAND URBAN
19
20
Morgengesang Schatten lang Mittagskunde Schatten kurz Abendkehrreim wieder lang Lunas Antwort Wiegenlied HOWARD FINE
21
22
morning’s song shadows long noon’s report shadows short eve’s refrain long again moon’s reply lullaby HOWARD FINE
23
MADLEN ZIEGE Biologin | Biologist
Madlen Ziege ist eine deutsche Biologin, Autorin und Künstlerin. In ihrer Promotion an der Goethe-Universität Frankfurt am Main spezialisierte sie sich auf urbane Ökosysteme und wie sich Lebewesen an das „Stadtleben“ anpassen. 2020 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Kein Schweigen im Walde“, das in acht verschiedene Sprachen übersetzt wurde. Sie arbeitet als Verhaltensbiologin und ist seit 2025 schamanisch Praktizierende. Madlen Ziege is a German biologist, author and artist. In her doctorate at Goethe University Frankfurt am Main, she specialised in urban ecosystems and how living creatures adapt to “city life”. In 2020, she published her first book “Nature Is Never Silent”, which has been translated into eight languages. She works as a behavioural biologist and has been a shamanic practitioner since 2025.
24
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
MADLEN ZIEGE
TRANSFORMATION – EIN FUNDAMENTALES PRINZIP BIOLOGISCHER EVOLUTION „Nichts ist so beständig wie der Wandel.“ Heraklit von Ephesus, 535–475 v. Chr.
Wer sich in der heutigen Gesellschaft vor einschneidenden Veränderungen fürchtet, hat ein ganz zentrales Prinzip der Natur aus den Augen verloren: Transformation. Unter Transformation wird ein grundlegender Wandel verstanden, der sich auf allen Ebenen des Lebens ereignet.1 Wenn das „Alte“ unter den sich wandelnden Umständen nicht mehr funktioniert, ist das Leben dazu angehalten, neue Wege zu finden. Somit ist ein grundlegender Wandel der Treibstoff für die Entwicklung neuer Lösungen und Innovationen. Und genau diese Bedeutung steckt hinter dem Wort „Evolution“, das vom lateinischen evolvere abstammt und mit „herausrollen“, „auswickeln“ oder „entwickeln“ übersetzt werden kann. Die biologische Evolution ist die Fähigkeit des Lebens, sich an ständig wandelnde, äußere Gegebenheiten anzupassen und aus sich selbst heraus zu entwickeln. Als
Evolutionsbiologin
interessiere
ich
mich
von
jeher
für
dieses
Prinzip und habe es eingehend an Fischen, Insekten und Säugetieren untersucht. wie
den
zeigen
Wie
reagieren
Verlust
Tiere
übergeordnete
und
des
Pflanzen
Disziplin
Organismen
eigenen
auf
drastische
Lebensraumes?
Welche
bei
der
Besiedlung
vereint
die
Evolutionsbiologie
neuer
Veränderung Anpassungen Gebiete?
Als
Erkenntnisse
aus der Ökologie, der Genetik oder Verhaltensbiologie. Nur auf diese integrative Weise lassen sich Fragen nach der Entstehung, Ausbreitung und Anpassung von Lebewesen auf unserer Erde ergründen. Oder wie der
berühmte
Evolutionstheoretiker
Theodosius
Dobzhansky
sagte:
„Nichts in der Biologie macht Sinn außer im Licht der Evolution!“2
1
Grießhammer, Reiner, Brohmann, Bettina (2015): Wie Transformationen und gesellschaftliche Innovationen gelingen können. Transformationsstrategien und Models of Change für nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel. Baden-Baden: Nomos.
2
Dobzhansky, Theodosius (1973): Nothing in Biology makes Sense except in the Light of Evolution. The American Biology Teacher. Vol. 35, Issue 3. S. 125–129.
25
WO ENDET WANDEL UND WO BEGINNT TRANSFORMATION? Aus der gesellschaftlichen Perspektive heraus charakterisiert Transformation eine sprunghafte Veränderung in der politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder technologischen Entwicklung3. In der Biologie bezog sich Transformation ursprünglich auf die natürliche Fähigkeit einiger Bakterienarten, freie DNA aus der Umgebung durch ihre Zellwand hindurch aufzunehmen. Heute wird der Begriff auch im Labor genutzt, wenn fremde DNA in ein Lebewesen integriert wird. In jedem Fall geht es um die Veränderungen fundamentaler Strukturen in einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne. Doch ab wann ist eine Veränderung in der Natur fundamental und somit transformatorisch? Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, denn wie schon der griechische Philosoph Heraklit von Ephesus feststellte, ist die Essenz des Lebens per se Veränderung. Ein stetiger Wandel findet sich im Kleinen wie im Großen. Im Inneren wie im Außen. In jeder Zelle – und sei sie noch so winzig – laufen zu jedem Zeitpunkt chemische UmWANDLUNGsprozesse ab. Erst solche Stoffwechselprozesse wie die Veratmung von Sauerstoff liefern die nötige Energie, um die innere Ordnung in einer Zelle aufrechtzuerhalten. Ein Stillstand dieser Prozesse würde den Tod des Lebewesens bedeuten. Diese lebensnotwendigen transformatorischen Prozesse zeigen sich auch im Außen. Jedes Lebewesen steht als offenes System im Austausch mit seiner Umgebung – dem Lebensraum. In diesem Lebensraum gibt es alles, was ein Organismus zum Leben braucht: vom Sonnenlicht über Sauerstoff bis hin zu Spurenelementen. Ein Lebewesen beeinflusst im Gegenzug durch seine schiere Existenz immer auch seinen Lebensraum. Ziehen Bäume mit ihren Wurzeln mehr Wasser aus dem Boden, kann auch wieder mehr Wasser verdunsten. Je mehr Wasser verdunstet, desto eher bilden sich Wolken zum Abregnen. Diese komplexen Interaktionen finden auch zwischen den Lebewesen selbst statt – egal, ob es sich um Bakterien, Pilze, Pflanzen, Tiere oder Menschen handelt. Sie alle teilen sich ihren Lebensraum und bilden zusammen ein integratives Ökosystem. In solch einem Ökosystem beeinflussen sich Organismen in unterschiedlichster Weise. Räuber-BeuteBeziehungen, Wirt-Parasit-Interaktionen oder Konkurrenzsituationen um Ressourcen sowie Nahrung gefährden das Überleben einer der beteiligten Parteien. Symbiotische und kooperative Wechselwirkungen haben eine neutrale oder sogar positive Auswirkung auf die involvierten Lebewesen.
3
Kollmorgen, Raj, Merkel, Wolfgang, Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.) (2014): Handbuch Transformationsforschung. Wiesbaden: Springer-Verlag.
26
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Letztlich hängt alles zusammen – und die Transformationsprozesse in der kleinen Zelle korrespondieren immer auch mit dem Ökosystem als großes Ganzes.
STRESSANTWORTEN Eine Erklärung für die Abgrenzung des „alltäglichen“ vom „grundlegenden“ Wandel bietet das evolutionäre Stresskonzept. Aus Sicht der Evolutionsbiologie entsteht Stress immer dann, wenn sich die Fitness reduziert.4 Mit Fitness ist in diesem Zusammenhang die Darwinsche Fitness gemeint, benannt nach dem Naturforscher Charles Darwin. Die Darwinsche Fitness gibt die Anzahl der eigenen Nachkommen (direkte Fitness) und die Anzahl der Nachkommen enger Verwandte (indirekte Fitness) an. Je länger ein Tier lebt und je gesünder es ist, desto besser ist die Chance auf eine hohe Gesamtfitness am Ende des Lebens. Und nur wer bestens an die Bedingungen in seinem Ökosystem angepasst ist, hat eine Chance auf eine hohe Gesamtfitness. Ökolog:innen gehen davon aus, dass jede Art für jeden Standortfaktor wie Temperatur, pH-Wert oder Wassergehalt ein Optimum besitzt. In diesem Optimum ist die Fitness des Organismus maximal. Für den tropischen Süßwasserfisch Poecilia reticulata – besser bekannt als Guppy – liegt das Temperaturoptimum bei 25 °C.
Abb. 1: Der Guppy (Poecilia reticulata) erreicht seine höchste Fitness bei 25°C. Zeichnung: Madlen Ziege
4
Schulte, Patricia M. (2104): What is environmental stress? Insights from fish living in a variable environment. Journal of Experimental Biology. Vol. 217, Issue 1. S. 23-34.
27
Leichte Abweichungen von diesen optimalen Bedingungen beeinträchtigen noch nicht gleich die Fitness, denn dem Optimum schließt sich unmittelbar das Präferendum an. Das Präferendum ist der Bereich eines Standortfaktors, den Lebewesen bevorzugen und in dem sie sich noch fortpflanzen können. Im Falle der Guppys liegt das Präferendum zwischen 22 und 28 °C. Erst das Überoder Unterschreiten kritischer Werte gefährdet das Überleben und somit die Fitness. Die Standortfaktoren werden zu abiotischen Stressfaktoren, wenn sie die Toleranzgrenzen des Minimums und Maximums erreichen und die Fitness gefährden. Für die Temperatur liegt diese Grenze für fast alle Lebewesen bei 40 °C. Das ist die Grenze, bei der sich die Proteinstrukturen auflösen.
Abb. 2: Schematische Übersicht der Fitness (Anzahl direkter und indirekter Nachkommen) und des Toleranzbereichs eines Umweltfaktors. Die Fitness erreicht das Maximum im optimalen Bereich eines Umweltfaktors wie die Temperatur. Abbildung erstellt von Madlen Ziege, gemäß Freudig, Doris (Hrsg.) (2002): Lexikon der Biologie. Band 10. Heidelberg: Spektrum.
Bereits die alten Griechen sprachen von zerstörerischen Kräften, die das natürliche Gleichgewicht eines Lebewesens in Gefahr bringen. Gleichzeitig gingen sie davon aus, dass es Gegenreaktionen in einem Organismus gibt, um das lebensnotwendige Gleichgewicht wieder herzustellen.5 Diese Gegenreaktionen finden sich auch im evolutionären Stresskonzept und werden
5
Chrousos, George P. (2009): Stress and disorders of the stress system. Nature reviews endocrinology. Vol. 5, Issue 7. S. 374-381.
28
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
„Stressantworten“ genannt. Für das einzelne Individuum sind Stressfaktoren ein wichtiger Auslöser dafür, adäquate Stressantworten zu generieren, um zu überleben. War die Stressantwort erfolgreich, hat das Lebewesen die eigene Fitness im Idealfall wieder vollständig hergestellt. Gleichzeitig hat es sich weiterentwickelt, denn aus Stressantworten gehen Anpassungen im Verhalten, in der Physiologie oder der Genetik hervor. Anpassungen sind alle Eigenschaften, die ein Lebewesen dazu befähigen, auch unter den neuen Bedingungen die höchstmögliche Fitness zu erhalten. Im Laufe der Zeit verankern sich grundlegende Anpassungen an den Lebensraum in der DNA und werden von Generation zu Generation weitergegeben. In meiner Forschung an den Europäischen Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus) zeigte sich der Zusammenhang zwischen Stressantwort und Anpassung sehr schön. Das Wildkaninchen ist ein Fluchttier. Immer, wenn seine Fitness durch einen Räuber in Gefahr ist, flieht es in seinen schützenden Bau. Die Frankfurter Wildkaninchen zeigten deutlich weniger Fluchtverhalten als ihre Artgenossen auf dem Land. Die Stadtkaninchen haben mit jeder Fluchtreaktion gelernt, dass vom Menschen keine Gefahr ausgeht und dieser keinen Stressfaktor darstellt. Entsprechend haben sie ihr Verhalten angepasst und zeigen die Stressantwort „Flucht“ nur, wenn sie wirklich angebracht ist. Diese transformatorische Anpassung im Verhalten der Kaninchen war die Voraussetzung dafür, den neuen Lebensraum „Stadt“ erfolgreich für sich einzunehmen und sich zahlreich zu vermehren. Es wäre interessant zu erforschen, ob sich das „mutigere“ Verhalten im Laufe der Generationen auch im genetischen Bauplan verankert hat. Grundsätzlich lässt sich folgender Zusammenhang erkennen: Je länger ein Organismus in einem Gebiet lebt, desto besser ist er an die sich ändernden Bedingungen angepasst. Pflanzen und Tiere „kennen“ die täglichen, monatlichen
und
jährlichen
Schwankungen
in
ihrem
Lebensraum.
Entsprechend zeigen sich antizipatorische Verhaltensweisen wie das Anlegen von Vorräten für den Winter. Eine andere Strategie verfolgen heimische Säugetiere wie Igel, Siebenschläfer oder Fledermäuse, die in den Winterschlaf gehen
und
sich
zuvor
Fettreserven
anfressen.
Eine
ursprüngliche
Stressantwort auf den Stressfaktor „Kälte“ führte zu diesen ausgeklügelten physiologischen
Anpassungen.
Das
Wildkaninchen
hingegen
macht
keinen Winterschlaf oder legt Vorräte an, da es in seinem ursprünglichen Lebensraum – der iberischen Halbinsel – keinen vergleichbaren Winter wie in Deutschland gibt. Dennoch ist das Kaninchen als „Generalist“ in der Lage, auf größere Schwankungen in Temperatur oder Nahrungsverfügbarkeit zu reagieren und sich an neue Bedingungen anzupassen. Daher ist es auch als Kulturfolger so erfolgreich. Demgegenüber stehen „Spezialisten“ wie das
29
Rebuhn (Perdix perdix), das an ganz bestimmte Bedingungen angepasst ist und nur einen kleinen Toleranzbereich hat. Diese Art reagiert so sensibel auf menschliche Einflüsse, dass der transformatorische Sprung zum „Stadtvogel“ einer „Mission impossible“ gleichen würde.
WAS LEITET SICH AUS DIESEN ERKENNTNISSEN FÜR DEN UMGANG MIT JENEN TRANSFORMATIONSPROZESSEN AB, WIE WIR SIE AKTUELL DURCHLAUFEN? Transformationen stellen immer die Weichen für innovative Anpassungen auf unterschiedlichsten Ebenen, mit dem Ziel, das eigene Leben und somit auch die Integrität des Ökosystems zu erhalten und zu verbesssern. Zeiten des plötzlichen und grundlegenden Wandels gibt es seit Anbeginn des Lebens. Sie sind der Treibstoff für die „Ideenwerkstatt“ der Natur, aus der eine Fülle und Vielfalt an Innovationen und Kreationen hervorgehen. Und so können Menschen von anderen Lebewesen lernen, sich dem grundlegenden Wandel nicht entgegenzustellen, sondern flexibel darauf zu reagieren. Die Natur zeigt uns auch, dass es Lösungen gibt – egal, wie groß der Wandel ist. Welche Lösungen das sind, kommt auf das gewünschte Ziel an. Wie in der Natur auch könnten wir uns fragen, unter welchen Umständen die eigene Fitness maximal wäre. Ein Ökosystem funktioniert dann am Besten, wenn jedes Lebewesen gemäß seinen Fähigkeiten und seiner Biologie den passenden Platz einnimmt. Aus meiner Sicht lässt sich dieses Prinzip auch auf unsere Gesellschaft übertragen. Wer ein glückliches Leben gemäß seiner Biologie und Fähigkeiten lebt, der leistet einen wichtigen Beitrag zur positiven Gesamtbilanz in der Gesellschaft. Daher erachte ich es als wichtig, dass sich jede und jeder Einzelne(r) fragt, wie für sie oder ihn persönlich ein erfülltes und glückliches Leben aussieht.
30
FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
MADLEN ZIEGE
TRANSFORMATION – A FUNDAMENTAL PRINCIPLE OF BIOLOGICAL EVOLUTION “Nothing is as permanent as change.” Heraclitus of Ephesus, 535-475 BC
Anyone in today’s society who fears radical change has lost sight of an essential principle of nature: transformation. Transformation is understood to mean a substantial change that takes place at all levels of life.1 When the “old” no longer works under changing circumstances, life is forced to find new ways. Fundamental change is therefore the fuel for the development of new solutions and innovations. This is precisely the meaning behind the word “evolution”, which is derived from the Latin word evolvere and can be translated as “to roll out”, “to unroll” or “to develop”. Biological evolution is life’s ability to adapt to constantly changing external conditions and to develop out of itself. As an evolutionary biologist, I have always been interested in this principle and have studied it in detail in fishes, insects and mammals. How do organisms respond to drastic changes such as the loss of their habitat? What adaptations do animals and plants show when they colonise new areas? Evolutionary biology is an overarching discipline that integrates insights from ecology, genetics and behavioural biology. Only in this integrative way can we explore questions about the origin, spread and adaptation of living organisms on our planet. As the famous evolutionary theorist Theodosius Dobzhansky said: “Nothing in biology makes sense except in the light of evolution!”2
1
Grießhammer, Reiner, Brohmann, Bettina (2015): Wie Transformationen und gesellschaftliche Innovationen gelingen können. Transformationsstrategien und Models of Change für nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel. Baden-Baden: Nomos.
2
Dobzhansky, Theodosius (1973): Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution. The American Biology Teacher. Vol. 35, Issue 3. pp. 125-129.
31
WHERE DOES CHANGE END AND TRANSFORMATION BEGIN? From a societal perspective, transformation characterises an abrupt change in political, economic, social or technological development.3 Biologists originally used the word “transformation” to denote the natural ability of some types of bacteria to absorb free DNA from their environment through their cell walls. Today, the term is also used in the laboratory when foreign DNA is integrated into a living organism. In any case, transformation refers to changes that occur in fundamental structures over a comparatively short period of time. When exactly does a change in nature become fundamental and thus transformational? This question is not so easy to answer because, as the Greek philosopher Heraclitus of Ephesus noted, change per se is the essence of life. Constant change can be found in both the small and the large, inside and outside. Chemical processes of transformation are continually taking place in every cell, no matter how tiny it may be. Only metabolic processes such as the respiration of oxygen provide the necessary energy to maintain the internal order in a cell. If these processes came to a standstill, the living organism would die. These vital transformational processes can also be seen externally. As an open system, every living being interacts with its environment – its habitat, which contains everything an organism needs to live: from sunlight and oxygen to trace elements. In return, a living organism always influences its habitat through its very existence. If trees extract more water from the soil with their roots, then more water can evaporate. The more water that evaporates, the more likely it will be that clouds can form and rain will fall. These complex interactions also occur among the living organisms themselves – regardless of whether they are bacteria, fungi, plants, animals or humans. They all share their habitats and together comprise an integrative ecosystem in which organisms influence each other in many different ways. Predatorprey relationships, host-parasite interactions or competition for resources and food jeopardise the survival of one of the creatures involved. Symbiotic and cooperative interactions have a neutral or even positive effect on the organisms involved. Ultimately, everything is connected – and the transformational processes in a small cell always correspond to those that take place in the ecosystem as a whole.
3
Kollmorgen, Raj, Merkel, Wolfgang, Wagener, Hans-Jürgen Transformationsforschung. Wiesbaden: Springer-Verlag.
32
(eds.)
(2014):
Handbuch
FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
STRESS RESPONSES The evolutionary concept of stress offers an explanation for the distinction between “everyday” and “fundamental” change. From the perspective of evolutionary biology, stress always arises when fitness is reduced.4 In this context, fitness refers to Darwinian fitness, which is named after the natural scientist Charles Darwin. Darwinian fitness describes the number of an animal’s own offspring (direct fitness) and the number of offspring of its close relatives (indirect fitness). The longer an animal lives and the healthier it is, the better the chance of high overall fitness at the end of its life. Only those animals that are best adapted to their ecosystem’s conditions have a chance of achieving high overall fitness. Ecologists assume that for each species, there is a corresponding optimum for each site factor such as temperature, pH value or water content. The organism’s fitness is maximised at this optimum. For example, the optimum temperature is 25°C for the tropical freshwater fish Poecilia reticulata, better known as the guppy.
Fig. 1: The guppy (Poecilia reticulata) reaches its peak fitness at 25°C. Sketch: Madlen Ziege
Minor deviations from these optimal conditions do not immediately affect fitness because the optimum is directly adjacent to the preferendum. The preferendum denotes the range of a site factor that living organisms prefer and in which they can continue to reproduce. The temperature preferendum for guppies is between 22 and 28°C. Survival and thus fitness are only jeopardised if critical values are exceeded or undershot. Site factors become
4
Schulte, Patricia M. (2104): What is environmental stress? Insights from fish living in a variable environment. Journal of Experimental Biology. Vol. 217. Issue 1. pp. 23-34.
33
abiotic stress factors when they reach the tolerance limits of the minimum and maximum and threaten fitness. The tolerance limit for temperature is 40°C for almost all living organisms: this is the limit at which interactions in protein structures begin to break down.
Fig. 2: Schematic overview of the fitness (number of direct and indirect offspring) and the tolerance range of an environmental factor. The fitness reaches its maximum in the optimal range of an environmental factor such as temperature. Figure created by Madlen Ziege, according to Freudig, Doris (ed.) (2002): Lexikon der Biologie. Volume 10. Heidelberg: Spektrum.
The ancient Greeks were already aware of destructive forces that endanger the natural balance of a living being. They also assumed that an organism undertakes counter-reactions to restore the balance on which its life depends.5 These counter-reactions can also be found in the evolutionary concept of stress and are called “stress responses”. For the individual, stress factors are an important trigger for generating adequate stress responses in order to survive. If the stress response was successful, then the organism has ideally fully restored its own fitness. At the same time, the creature has evolved because stress responses result in adaptations in behaviour, physiology or genetics. Adaptations are those characteristics that enable an organism to maintain the highest possible fitness even under new conditions. Over time, fundamental adaptations to the habitat become anchored in the organism’s DNA and are passed on from generation to generation.
5
Chrousos, George P. (2009): Stress and disorders of the stress system. Nature reviews endocrinology. Vol. 5, Issue 7. pp. 374-381.
34
FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
My research on the European wild rabbit (Oryctolagus cuniculus) very clearly showed the connection between stress response and adaptation. The wild rabbit is a prey animal whose survival strategy is to flee. Whenever its fitness is threatened by a predator, it flees to its protective burrow. The wild rabbits in Frankfurt, Germany, showed significantly less escape behaviour than their rural counterparts. With each escape reaction, the urban rabbits learned that humans pose no danger and are not a stress factor. The animals have adapted their behaviour accordingly and only show the stress response “escape” when it is really appropriate. This transformational adaptation in the rabbits’ behaviour was the prerequisite for them to successfully take over the new urban habitat and reproduce there in large numbers. It would be interesting to investigate whether the “bolder” behaviour has also become anchored in the rabbits’ genetic blueprint over the generations. In principle, the following correlation can be recognized: the longer an organism lives in an area, the better it is adapted to the changing conditions there. Plants and animals “know” the daily, monthly and annual fluctuations in their habitat. This results in anticipatory behaviour such as stockpiling for the winter. Native mammals such as hedgehogs, dormice and bats follow a different strategy, going into hibernation and eating copiously beforehand to build up reserves of fat. An ancient stress response to the stress factor “coldness” led to these sophisticated physiological adaptations. The wild rabbit, on the other hand, neither hibernates nor stockpiles food because the cold season in its original habitat (the Iberian Peninsula) is much milder than winters in Germany. Nevertheless, as a “generalist”, the rabbit is able to respond to major fluctuations in temperature or food availability and adapt to new conditions. This is why it is so successful as a “camp follower” of human settlements. In contrast, “specialists” such as the partridge (Perdix perdix) are adapted to very specific conditions and have only a narrow tolerance range. This species reacts so sensitively to human influences that the transformational leap to becoming an “urban bird” would be a “mission impossible”.
35
36
FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
WHAT CAN BE DEDUCED FROM THESE FINDINGS FOR DEALING WITH THE TRANSFORMATIONAL PROCESSES WE ARE CURRENTLY UNDERGOING? Transformations always set the course for innovative adaptations on a wide variety of levels, with the aim of maintaining and improving our own lives and thus also the integrity of the ecosystem. Times of sudden and fundamental change have existed since the beginning of life on Earth. They are the fuel for nature’s “think tank”, from which abundant and diverse innovations and creations emerge. Humans can accordingly learn from other living beings not to oppose fundamental change, but to respond to it flexibly. Nature also shows us that there are solutions – no matter how big the change may be. Which solutions these are depends on the desired goal. As in nature, we could ask ourselves under what circumstances our own fitness would be maximised. An ecosystem functions best when every living being takes its place according to its abilities and biology. In my view, this principle can also be applied to our society. People who live a happy life in harmony with their biology and their abilities make an important contribution to the overall positive balance in society. I therefore consider it important for each and every individual to ask themselves what a fulfilled and happy life would look like for them personally.
37
ROLAND URBAN Geschäftsführer FSS Europe l Director FSS Europe
Roland Urban wurde 1973 in Linz, Österreich, geboren. Das Studium der Psychologie, der Politik-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften in Wien, Dublin und Budapest sowie des Schamanismus bilden die Basis für sein berufliches Wirken. Er sieht seine Aufgabe darin, Menschen und Gemeinschaften auf ihrem Weg der Ermächtigung zu begleiten. Seit 2013 ist Roland Urban Geschäftsführer der Foundation for Shamanic Studies Europe. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte betreffen „Schamanismus im 21. Jahrhundert“ sowie „Wandel und Transformation“. Roland Urban was born in Linz, Austria, in 1973. His studies in psychology, political, social and health sciences in Vienna, Dublin and Budapest as well as in shamanism create the basis for his professional activities. He sees his task in accompanying people and communities on their ways towards empowerment. Roland Urban has been Director of the Foundation for Shamanic Studies Europe since 2013. His current research focuses on “shamanism in the 21st century” and “change and transformation”.
38
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
ROLAND URBAN
DAS ENDE DES ANTHROPOZÄNS – EINE TRILOGIE ÜBER WANDEL UND TRANSFORMATION Die folgenden drei Artikel stellen Reflexionen über das Thema Wandel und Transformation dar, die sich auf die konkreten und spezifischen Umstände der letzten Jahre beziehen. Keiner der Artikel war vorab geplant. Sie alle entstanden in der Auseinandersetzung mit den Phänomenen unserer Zeit. Retrospektiv und gemeinsam betrachtet scheinen sie einen fortlaufenden Gedankengang abzubilden, inspiriert von den Geistern. Die Artikel, die in ihrer ursprünglichen Form zwischen 2020 und 2022 im Journal der Foundation for Shamanic Studies „Shamanism” veröffentlicht wurden, sind als ein Werk zu verstehen, das in drei Phasen entstanden ist. Zunächst wurde im Jahr 2020 das „Core Shamanic Change Management Model” ausgearbeitet, das als theoretischer Hintergrund dient. Im Jahr 2021 kam die Praxis hinzu: Das Core Shamanic One-Year Online Training Programme der Foundation for Shamanic Studies Europe zielt auf den Aufbau von Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen ab, die für die Gestaltung von Transformationsprozessen erforderlich sind. Im Jahr 2022 nahm schließlich die „Kunst des Erinnerns“ ihren Platz ein. Mit diesem Papier wurde der Zyklus abgeschlossen. Nach Theorie und Praxis ging es nun um Haltungen und Qualitäten, die im Umgang mit Wandel und Transformation wichtig sind.
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SCHAMANINNEN UND SCHAMANEN – MITTLER:INNEN VON WANDEL UND TRANSFORMATION „Bei jeder Entscheidung, die wir treffen, denken wir an die siebte Generation nach uns.“ Saintsegeg, Dhuka-Schamanin, Mongolei 1
Unsere
Welt
verändert
sich.
Unsere
gefühlten
Sicherheiten,
unsere
Routinen, unsere Lebensumstände haben begonnen, sich zu verschieben. Es gibt kein Zurück zur „Normalität“, so wie wir sie kannten. Traditionelle Herangehensweisen sind nicht mehr geeignet, um die gegenwärtigen Herausforderungen wie den Klimawandel, Pandemien und soziale Spannungen etc. erfolgreich und nachhaltig zu bewältigen. Zudem ist die Zeit für theoretische Debatten vorbei. Wir müssen handeln, Wandel und Transformation vorantreiben. Dafür brauchen wir andere Perspektiven, neues Wissen und neue Kraft, um innovative Lösungen identifizieren zu können. Schamanismus, als uralte Informationstechnologie und Weg der Kraft, kann diesbezüglich einen wertvollen Beitrag leisten, weil er eine spirituelle Perspektive einbringt. Wenn wir ein Überleben nicht nur unserer Spezies, sondern – einer genuin ökologischen Logik folgend – möglichst vieler oder aller Lebensformen sicherstellen wollen, müssen wir zu einer ganzheitlichen Weltsicht, zu interdisziplinärer Zusammenarbeit und dazu übergehen, die Natur als prototypisches System der Evolution zu begreifen. Im Kontrast zu einer positivistischen Sichtweise ist „die“ Natur nicht mechanistisch, linear und materialistisch, sondern biodivers, zyklisch und lebendig. Aus schamanischer Sicht ist alles, was ist, belebt und beseelt: Das Land, der Raum, der Klang und die grundsätzlichen Strukturen, die Felsen, die Bäume, die Pflanzen und die Tiere, einschließlich der Menschen. Das ganze Universum schwingt als „ein antwortendes Gegenüber“2, bereit zur
1
Halla, Natalie (2020): Shamans. Trailer to the documentary. 00:01:59 – 00:02:05. https://www.kickstarter.com/projects/schamanen/shamans-documentary-film; 19.09.2024.
2
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. S. 281ff.; Buber, Martin (1999): Das dialogische Prinzip: Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. 13. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.
40
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Interaktion – wenn wir bereit sind, uns vom natürlichen Kosmos berühren zu lassen.3 Die Natur ist charakterisiert durch Wachstum und Zerfall, durch zirkuläre Prozesse und experimentelles Lernen – oder, anders ausgedrückt: durch Evolution. Natur ist Wandel und Transformation. Schamanismus orientiert sich nicht nur an der Natur, sondern basiert auf ihr, ist von ihr durchdrungen. Schamanismus stellt kein intellektuelles „Konzept“ darüber dar, wie Naturphänomene verstanden werden könnten. Er ist ein geradliniges, einfaches und elegantes Narrativ der Natur selbst, eine Art und Weise, wie man das natürliche Wechselspiel der Kräfte wahrnehmen und begreifen, wie man daran teilhaben und es ausbalancieren kann. Schamaninnen und Schamanen ihrerseits sind spirituelle Expertinnen und Experten. Sie dienen ihren Gemeinschaften und verbinden alles, was ist. Sie sind „Suchende der Balance“4 und „Mittler:innen der Transformation“5. Ihre Verantwortung besteht nicht darin, die natürlichen Gegebenheiten zu manipulieren; vielmehr „arbeiten sie daran, den Fluss der kosmischen Prozesse für die Lebenden aufrechtzuerhalten“.6 Sie tun dies, indem sie mittels
Divination
notwendiges
Wissen
generieren;
durch
Heilarbeit
potenziell zerstörerische Kraft entfernen bzw. verloren gegangene Kraft restituieren; und indem sie durch Rituale und Zeremonien spirituelle Kraft in der alltäglichen Wirklichkeit manifestieren, damit Übergangsphasen begleiten und ein Gleichgewicht in der Gemeinschaft wieder herstellen oder aufrechterhalten. Derart betrachtet, sind Schamaninnen und Schamanen prototypische Gestalter:innen des Wandels und der Transformation.
3
Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen allen Lebensformen ist der eigentliche Kern des Konzepts der „Indigenialität“ (Weber, Andreas (2019): Indigenialität. 3. Aufl. Berlin: Nicolai Publishing and Intelligence).
4
Gonçalves Louro, Luís (2020): Seekers of Balance. In: Urban, Roland (Hrsg.) (2020): Shamanism and Digitalisation. Wartberg ob der Aist: FSSE. S. 49-52.
5
Stephen, Michele (1995): A’aisa’s Gifts: A Study of Magic and the Self. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. S. 306.
6
ebd. [Übers. RU]
41
EINE ARCHITEKTUR DER TRANSFORMATION – CORE SHAMANIC CHANGE MANAGEMENT7 „Transformieren: Veränderung der Zusammensetzung oder Struktur, der äußeren Form oder Erscheinung, die Veränderung des Zustandes.“8 Transformation resultiert in substanziellen Veränderungen, die mehrere Dimensionen oder Ebenen des jeweiligen Organismus betreffen. Sie repräsentiert nicht nur einen quantitativen, sondern auch einen qualitativen Wandel – einen Wandel zweiter Ordnung9, der zu kontinuierlicher Erneuerung oder radikaler Dekonstruktion und Rekonstruktion führt.10 Veränderungen werden subjektiv häufig als schwierig empfunden, mit Entbehrung und Aufopferung in Verbindung gebracht. Im Gegensatz dazu könnte man darauf fokussieren, was bereits gut funktioniert, auf Erfolge und Modelle guter Praxis11. Dies würde eine gänzlich andere Dynamik kreieren – und könnte einen echten Drang zu Veränderung entfachen. Der Core-Schamanismus, so wie ihn Michael Harner ursprünglich herausgearbeitet hat, ist prädestiniert dafür, als theoretische wie praktische Grundlage eines ganzheitlichen Veränderungsmanagements (Change Managements) zu dienen. Er integriert die universellen Prinzipien des Schamanismus, westliche Wissenschaft und eine Ethik, die auf den Menschenrechten und einer spirituellen Ökologie basiert. Bezieht man in diesen paradigmatischen Rahmen relevantes Wissen aus bestehenden Change Management Ansätzen12 sowie Erkenntnisse aus Forschungsarbeiten der Foundation for Shamanic Studies Europe mit ein, ergibt sich folgendes Modell des Core Shamanic Change Managements: 7
Die hier vorgestellten Überlegungen wurden mittels einer praxisorientierten Forschungsstrategie erarbeitet und in verschiedenen Gruppen umgesetzt, unter anderem im Core-Schamanischen Forschungslabor der FSSE. Der Ansatz ist von experimentellen Forschungsmodellen (siehe Kolb, David (1984): Experiential Learning: Experience as the Source of Learning and Development. New Jersey: Prentice Hall) sowie aktuellen Ansätzen des Projekt- und Veränderungsmanagements inspiriert. Ebenfalls sei in diesem Zusammenhang erwähnt: Mokelke, Susan (2017): Shamanic Divination as Spiritual Problem Solving. Shamanism Annual. Vol. 30, S. 27-31. Letztere Publikation fokussiert auf die Mikro-Ebene, während im Core Shamanic Change Management der Schwerpunkt auf der Meso-Ebene liegt.
8
Merriam-Webster (2021): 19.09.2024. [Übers. RU]
9
Siehe Watzlawick, Paul, Weakland, John H., Fisch, Richard (2001): Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. 6. Aufl. Bern: Hans Huber.
Transform.
https://www.merriam-webster.com/dictionary/transform;
10 Siehe Gergs, Hans-Joachim (2016): Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung: Acht Prinzipien für ein neues Change Management. Weinheim und Basel: Beltz. S. 32-36. 11
Siehe auch lösungsfokussierte Beratung und Therapie – z. B. de Shazer, Steve, Dolan, Yvonne, Korman, Harry (Hrsg.) (2007): More than Miracles: The State of the Art of Solution-focused Brief Therapy. New York: The Harworth Press; de Jong, Peter, Berg, Insoo Kim (2013): Interviewing for Solutions. 4. Aufl. Belmont: Brooks/Cole. Die gleichen Prinzipien sind auch in klassisch schamanischen Ansätzen zu finden.
12 Siehe etwa Heitger, Barbara, Doujak, Alexander (2013): Managing Cuts and New Growth: An Innovative Approach to Change Management. 2. Aufl. Wien: Goldegg; Cameron, Esther, Green, Mike (2020): Making Sense of Change Management: A Complete Guide to the Models, Tools, and Techniques of Organizational Change. 5. Aufl. London, New York, New Delhi: Kogan Page.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
CORE SHAMANIC CHANGE MANAGEMENT
DEFINIEREN & ENTWERFEN Analyse und Definition der Bedarfe
VORBEREITEN Definition von Kernprojekten Etablierung von Arbeitsgruppe
Entwicklung einer Vision Konzeption des Prozesses
Kompetenzentwicklung
VERÄNDERUNGSPLAN
Etablierung einer Steuerungsgruppe
Initiierung von Forschung
Definieren & Entwerfen Kompetenzentwicklung Gemeinschaftsbildung
KOMMUNIZIEREN & INVOLVIEREN
IMPLEMENTIERUNG & EINBETTUNG IN DIE KULTUR
Verantwortungsvolle Handlungen Prozessevaluierung
Erklärung des „Warum?“
Einbettung in Kultur
Kommunikation & Feedback
Evaluation & Verfeinerung
Gemeinschafts- und Netzwerkarbeit Sichtbarkeit erzeugen
Pilotieren & Experimentieren
Gestaltung von Übergängen Integration in die Kultur
Abb 1: Kompass des Wandels, der das Core Shamanic Change Management Modell darstellt13
Sämtliche Aspekte dieses Kompasses des Wandels spiegeln die allgemeine Logik schamanischer Arbeit wider: Sie sind nicht linear, sondern zyklisch konstituiert. Alle Elemente und Phasen bedingen einander und sind miteinander verflochten. Die damit assoziierten Strategien sind nicht auf Probleme ausgerichtet, sondern auf Lösungen. Sie zielen nicht darauf ab, bereits bestehende Annahmen und Hypothesen zu beweisen, sondern neues Wissen zu generieren und Wege zur Umsetzung von Wandel und Transformation zu identifizieren. Core Shamanic Change Management fußt auf einer „Haltung der Nichteinmischung“ (attitude of non-interference)14, ist strikt prozessorientiert und ist sowohl in der alltäglichen als auch in der nicht-alltäglichen Wirklichkeit verankert15, mit schamanisch Praktizierenden als zentralen Nahtstellen. Als Feld menschlicher Interaktion ist es eingebettet in die Bereiche der Ausverhandlung, der Konfliktlösung, der Kooperation und Kollaboration. Es ist in den Räumen zwischen Personen und ihren Umwelten
13 Basierend auf University of Virginia (2020): Change Management. https://organizationalexcellence. virginia.edu/resources; 19.09.2024 14 Harner, Michael (1988): Shamanic Counseling. Newsletter of the Foundation for Shamanic Studies. Vol. 1, No. 1. S. 4. 15 Äquivalent zu „einem Tanz zwischen den beiden Realitäten“, der zu konkreten Handlungen in der gewöhnlichen Realität führt (Mokelke 2017:29).
43
verortet und stellt einen ganzheitlichen Prozess der Anpassung an die natürliche Welt auf Grundlage evolutionärer Zyklen dar.16 Die eigentliche Architektur des Core Shamanic Change Managements wird durch den „Change Plan“ ausgedrückt: In einem ersten Schritt ist eine eingehende Analyse des relevanten Systems erforderlich. Diese umfasst sowohl alltägliche als auch nicht-alltägliche Recherche
und
soll
der
Herausarbeitung
von
Veränderungsbedarfen,
Visionen sowie Zielen dienen. Es wird eine Steuerungsgruppe etabliert und das Gesamtdesign des Prozesses definiert, einschließlich Meilensteinen, begleitender
Forschung
Veränderungskonzept
ist
und das
Kommunikationsstrukturen. wesentliche
Rückgrat
des
Dieses gesamten
Unterfangens. Im Zuge eines zyklisch-iterativen Prozesses der Planung, Umsetzung und Evaluierung werden Schlüsselbereiche und Aktivitäten festgelegt. Dabei
kommen
der
Initiierung
von
Arbeitsgruppen,
fortlaufender
Kompetenzentwicklung und Gemeinschaftsbildung sowie einer sukzessiven Einbeziehung verschiedener Personengruppen bzw. Netzwerke zentrale Bedeutung zu. Ein spezifischer Fokus auf Information und FeedbackMechanismen gewährleistet eine lebendige und effiziente Kommunikation über die vollzogenen Veränderungen bzw. den stattfindenden Wandel. Die Implementierung konkreter Aktionen soll dadurch gekennzeichnet sein, dass auf bewährte Praktiken und einen Geist des Experimentierens aufgebaut wird. Wirkungsmessung und Evaluierung erlauben qualifizierte Schlussfolgerungen.
Die
vielversprechendsten
Ansätze
werden
in
die
bestehende Systemkultur übernommen. Die Verbreitung der Ergebnisse fördert schließlich Sichtbarkeit. Das Feiern von Erfolgen und Fortschritten schafft Momente der Klarheit und Orientierung, der Gemeinschaft und der Kraft. Der Kompass des Wandels soll nicht rigide, sondern dynamisch angewandt werden. Das heißt, es geht nicht darum, einen Bereich nach dem anderen „abzuhaken“, sondern darum, den Kompass zum Navigieren durch konkrete Veränderungsprojekte zu verwenden, um Orientierung und Effizienz zu ermöglichen. Anders ausgedrückt: Es geht nicht um die Methode, sondern um die Erzeugung von transformativer Praxis.
16 Siehe auch die Prinzipien des Erfahrungslernens (Kolb 1984).
44
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
VERANTWORTLICHES HANDELN Lassen Sie mich dies ganz klar sagen: Wenn ich von Core Shamanic Change Management spreche, dann spreche ich nicht von Überzeugungsstrategien, die auf ideologisch motivierter Argumentation beruhen. Dies würde nur der Logik von Debatten der alltäglichen Wirklichkeit folgen. Was stattdessen erforderlich ist, ist eine transzendentale Perspektive: Es ist die Aufgabe core-schamanisch Praktizierender, das Wissen transzendierter mitfühlender Geister in der alltäglichen Wirklichkeit zu manifestieren und all jenen zugänglich zu machen, die offen sind, es zu empfangen. Der erste Ansatzpunkt ist dabei stets das Individuum: „Transformation bedeutet immer, die eigene Identität zu ändern – sich selbst zu verändern“.17 Gleichzeitig
müssen
wir
aufgrund
der
existenten
und
künftigen
Herausforderungen unser Verständnis des Wandels weiten und die kollektive, systemische Ebene von Transformation bewusst miteinbeziehen. Wir
müssen
Resilienz,
also
Widerstandsfähigkeit,
entwickeln
–
auf
individueller Ebene, wie uns die Psychologie des 20. Jahrhunderts gelehrt hat, genauso wie auf gesellschaftlicher und ökologischer Ebene, wie es uns die Ökologie des 21. Jahrhunderts zeigt.18 Wir müssen realisieren, dass das Paradigma des Individualismus und der Profitorientierung eine Sackgasse darstellt. Wir müssen uns an die Kernbotschaften jener spirituellen Ökologie erinnern, die der Schamanismus ist19, nämlich dass wir selbst Natur sind und unsere Beziehungen auf Wechselseitigkeit beruhen. Wir sind in Gemeinschaften und Netzwerke eingebettet, die alle miteinander verflochten, letztlich eins sind. Mit anderen Worten: Das Anthropozän20 neigt sich dem Ende zu; wir brauchen eine neue Ära der Gemeinschaft.21 Diese Vision ist unmittelbar mit Ethik und verantwortungsbewusstem Handeln (responsible action) verbunden. Andernfalls würde das, was auf den ersten Blick wie Fortschritt aussieht, in einer Katastrophe münden. Die ethischen Prinzipien, um die es dabei geht, basieren auf dem 17 Heitger, Doujak (2013:100). [Übers. RU] 18 Siehe Braden, Gregg (2014): The Turning Point: Creating Resilience in a Time of Extremes. Kapitel 5. Carlsbad, CA, New York, London, Sydney, New Delhi: Hay House. S. 137-174. 19 Harner, Michael (1990): The Way of the Shaman. Preface to the Third Edition. 3. Aufl. New York: Harper One. S. xiii. 20 Siehe Dahm, Daniel J. (2019): Sustainability Zeroline: Das Maß für eine zukunftsfähige Ökonomie. Bielefeld: transcript. S. 63-75. 21 Mit „Gemeinschaft“ definiere ich hier den gemeinschaftlichen Raum, dem wir uns zugehörig fühlen, als idealerweise ermächtigte Individuen mit einer eigenständigen Identität und Spiritualität, die dem größeren Ganzen der Gemeinschaft – von Menschen, Geistern und allen beteiligten Lebensformen – dienen, indem sie ihr individuelles Wissen, ihre Fähigkeiten und ihre Kraft einbringen, um die ihnen anvertrauten Aufgaben und Pflichten zu erfüllen. Für einen schamanischen Zugang zu Gemeinschaft, sowohl in Theorie als auch in der Praxis, siehe das Präsenz-Seminar der FSSE „Die Kraft der Gemeinschaft“.
45
Humanismus, den Menschenrechten und core-schamanischer Praxis.22 Unter „verantwortungsbewusstem Handeln“ verstehe ich Handlungen, die in einer derartigen ethischen Grundhaltung verwurzelt sind, deren Ausgestaltung auf Konsultationen von helfenden Geistern beruht und die in der alltäglichen Wirklichkeit in die Tat umgesetzt werden, wodurch die damit verbundene Kraft und das Wissen wirksam werden.
DIE ZUKUNFT VOR AUGEN Unsere heutige Lebensweise sollte uns nicht als selbstverständlich gelten. Wir können uns glücklich schätzen, dass die Natur uns nährt oder wir in Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und Frieden leben. Es ist tragisch genug, dass dies an vielen Orten der Erde nicht der Fall ist. Daher reicht es auch nicht aus, bloß über Veränderung zu sprechen. Wir alle können – und sollen – Beiträge dazu leisten, unsere Landschaften zu schützen und unseren Lebensraum für alle Lebensformen zu sichern. Wir können uns um unsere Gemeinschaften kümmern und danach trachten, dass alle, die daran beteiligt sind, wachsen – und nicht nur einige. Wir können uns dafür einsetzen, Demokratie aufrechtzuerhalten und Frieden zu stiften – nicht morgen, sondern jetzt. Was ich hier vorschlage, ist ganzheitliche transformative Forschung23 und Praxis. Sie zielt darauf ab, ein Bild einer nachhaltigen Zukunft zu entwickeln und umzusetzen. Das konkrete Bild einer solchen Zukunft ist schwer zu fassen, weil es komplex ist und interindividueller, gesellschaftlicher sowie spiritueller Aushandlungsprozesse bedarf. In der alltäglichen Wirklichkeit existieren bereits einige Modelle, die diesbezüglich Orientierung bieten, wie zum Beispiel die 17 Sustainable Development Goals der United Nations24 oder das Planetary Boundaries Framework 25. Was die nicht-alltägliche Wirklichkeit betrifft, so liegt es in erster Linie an den Schamaninnen und Schamanen, die Verantwortung zu übernehmen und – gemeinsam mit den Geistern – Bilder einer gelingenden Zukunft zu entwerfen bzw. verfügbar zu machen. Die Stimmen der Schamaninnen und Schamanen sind lange genug ungehört geblieben. Es ist an der Zeit, diese Stimmen wieder laut werden zu lassen.
22 Siehe Mokelke, Susan (2008): Ethical Considerations in Shamanic Healing. Shamanism Annual. Vol. 21. S. 34-36. 23 Siehe Mertens, Donna M. (2017): Transformative Research: Personal and Societal. International Journal for Transformative Research. Vol. 4, Issue 1. S. 18-24; NASEM – The National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (2019). What is Transformative Research? Washington, DC: The National Academies Press. https://www.nap.edu/read/21881/chapter/3; 19.09.2024. 24 UN – United Nations (2020): The 17 Goals. https://sdgs.un.org/goals; 19.09.2024. 25 SRC – Stockholm Resilience Centre (2020): Planetary boundaries research. https://www. stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries.html; 19.09.2024.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Es ist an der Zeit, zu handeln. Das ist nicht nur empfehlenswert, sondern – angesichts der Verantwortung für künftige Generationen – eine Verpflichtung.
Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete Version eines im Journal der Foundation for Shamanic Studies „Shamanism Annual“, Ausgabe 33, Dezember 2020, S. 25-29 veröffentlichten Artikels dar.
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„LASS DAS RAD DER VERÄNDERUNG SICH DREHEN“ – DAS CORE-SCHAMANISCHE EINJAHRESPROGRAMM „Auf den klassischen Prinzipien schamanischer Ausbildung aufbauend, bietet die Foundation for Shamanic Studies Europe mit diesem Programm eine moderne, auf aktuelles Vokabular heruntergebrochene und digital „remasterte” Plattform der spirituellen Lehre an, die den immer komplexeren Bedürfnissen und Anforderungen unserer Welt gerecht wird. Ich hoffe, dass dadurch die schamanische Kosmologie einem noch breiteren Publikum zugänglich gemacht wird.“26 Teilnehmerin des core-schamanischen Einjahresprogramms „Change and Transformation“
DER HINTERGRUND: DIE NOTWENDIGKEIT ZUR VERÄNDERUNG Wir erleben einen epochalen Wandel. Die Veränderungsnotwendigkeiten sind offensichtlich. Diese lassen sich in drei Zahlen ausdrücken, die für drei Abgründe unserer Zeit stehen27: •
Der ökologische Abgrund: 1,7 Unsere Volkswirtschaften verbrauchen die Ressourcen von 1,7 Erden (die USA von 5).
•
Der soziale Abgrund: 26 26 Milliardäre besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der gesamten Menschheit, insgesamt 3,8 Milliarden Menschen.
•
Der spirituelle Abgrund: 800.000 Selbstmorde pro Jahr weltweit – mehr als die Summe aller durch Krieg, Mord und Naturkatastrophen getöteten Menschen.
Der Weg, den wir, die „westlichen“ Menschen, gehen, bringt uns nicht mehr weiter. Wir müssen uns von einem „EGO-System-Bewusstsein“ zu einem „ÖKO-System-Bewusstsein“ entwickeln. Dieser Wandel ist nicht partiell oder vorübergehend, sondern fundamental. Er beeinflusst unsere Vorstellungen von Demokratie, Bildung, Wirtschaft, Ökologie und dem Selbst.28
26 Kursiv gedruckte Zitate sind Originalaussagen von Teilnehmer:innen des ersten Core Shamanic OneYear Online Training Programme, November 2020 bis November 2021. 27 Scharmer, Otto C. (2019): Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendungen. Heidelberg: Carl Auer. S. 21f. Stand der Daten: 2019. 28 Ebda., S. 19f.
48
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Wir stehen vor dem massivsten singulären Ereignis29 der modernen Geschichte – dem Klimawandel, mit dramatischen Umwälzungen in unseren Ökosystemen. Darüber hinaus zeigt der Pandemiebericht der IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services 2020) eindrucksvoll, dass es nicht ausreicht, sich mit Einzelphänomenen
(Klimawandel,
Pandemien
usw.)
zu
beschäftigen,
sondern es einer Gesamtsicht bedarf: Dramatisch abnehmende Biodiversität und immer kleiner werdende Lebensräume für Wildtiere führen z.B. dazu, dass die Korridore für Wildtiere von einem (Schutz-)Gebiet zum anderen zusehends enger werden. Die Folge ist, dass Wildtiere und Menschen sich physisch zusehends näherkommen und so die Wahrscheinlichkeit von Virusübertragungen steigt. Weitere Pandemien sind die zu erwartende und fast logische Folge. Nach Ansicht der Autor:innen des IPBES-Berichts könnten wir in eine „Ära der Pandemien“ eintreten.30 Auch
das
Stockholmer
Resilienzzentrum
sendet
mit
seinem
Modell
des Planetary Boundaries Framework (SRC 2024; siehe Abbildung 1)31 einen dringenden Appell aus: Wir haben bereits einige der roten Linien überschritten. Insbesondere die Dynamiken im Bereich der biologischen Vielfalt, des Einsatzes neuartiger Substanzen (z.B. Plastik und synthetische Chemikalien), der biogeochemischen Flüsse (im Wesentlichen die Verwendung von Stickstoff und Schwefel in der Agrarindustrie) und des Klimawandels haben einen Zustand erreicht, der teilweise nicht mehr kontrollierbar und damit nicht mehr steuerbar ist. Die Ironie dabei ist: Wir wissen das alles. Belege sind umfänglich und allgemein verfügbar. Aber wir handeln immer noch nicht wirksam genug. Wir führen die notwendigen Veränderungen und Umstellungen nicht in hinreichendem Ausmaß durch.
29 Im Sinne von Žižek, Slavoj (2014): Event. London: Penguin. 30 IPBES (2020): Pandemics Report: Escaping the „Era of Pandemics“. https://ipbes.net/pandemics; 19.09.2024. 31 SRC – Stockholm Resilience Centre (2024): Planetary boundaries. https://www.stockholmresilience. org/research/planetary-boundaries.html; 19.09.2024.
49
Abb. 2: SRC – Stockholm Resilience Centre (2024): Planetary boundaries
CHANGE BY DESIGN – ODER CHANGE BY DISASTER? Veränderung und Wandel sind, für sich genommen, leere Container. Um Wandel kontrolliert herbeizuführen, bedarf es einer Absicht, die auf konkreten Bedarfen basiert (die also die Frage beantwortet: Warum sollten wir uns verändern?) und die eine Veränderungsrichtung vorgibt (Wie sollten wir uns verändern?). Zudem sind ethische Komponenten zu berücksichtigen: Im Core-Schamanismus wenden wir keine anthropozentrische, sondern eine transzendentale Perspektive an. Das bedeutet, wir wollen nicht nur menschliche Interessen verfolgen, sondern an einer nachhaltigen Zukunft für möglichst alle Lebensformen arbeiten. Dies entspricht der Logik des Schamanismus als spiritueller Ökologie.32
32 Vgl. Harner, Michael (1990): Der Weg des Schamanen. Vorwort zur dritten Auflage. New York: Harper & Row. S. xiii.
50
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Veränderung findet in jedem Fall statt – schlicht, weil Leben Veränderung ist. Unser Leben ist durch eine fortlaufende Kette von Veränderungsereignissen gekennzeichnet, die zu persönlicher Transformation führen und die Evolution des eigenen Seins forcieren. Das irdische Leben selbst könnte als ein einziger Transformationsprozess verstanden werden, mit Geburt und Tod als den beiden wichtigsten Übergängen.33 Die Frage ist also nicht, ob Veränderung stattfindet, sondern wie. Wir können Veränderungen bewusst gestalten (change by design) oder von drastischen Ereignissen dazu gezwungen werden (change by disaster). Change by disaster entfaltet sich, wenn neuartige Phänomene auftreten, auf die wir nicht vorbereitet sind; wenn wir vehement einwirkenden Außeneinflüssen unterworfen sind, die das oder die betroffenen Systeme massiv destabilisieren; oder wenn ein Ungleichgewicht zu lange unbeachtet und unbehandelt bleibt. Letzteres kennen wir alle: Wenn wir von einer (schweren) Krankheit heimgesucht werden, weil wir die Vorzeichen nicht sehen wollten; wenn wir Beziehungskonflikte ignorieren, sei es in der eigenen Familie oder in der lokalen Gemeinschaft; oder wenn Spannungen auf internationaler Ebene nicht gelöst werden. Change by disaster hat in der Regel eine Vorgeschichte, wird aber erst durch Krisen sichtbar. An diesem Punkt kann nicht mehr vorgebeugt, sondern muss interveniert werden, weil die Folgen und Auswirkungen auf das bestehende System zu stark sind. In einem ersten Schritt muss vor allem stabilisiert werden, um einen Kollaps zu vermeiden. Auf globaler Ebene erleben wir seit den 1950er Jahren eine anhaltende Veränderungskrise, die das Ende des Anthropozäns markiert.34 Darüber hinaus – bzw. teils auch als Folge davon – erleben wir große gesellschaftliche Umwälzungen
bedingt
durch
die
Digitalisierung,
neue
pandemische
Phänomene und den Klimawandel. Ob sich die Gesamtentwicklungen langfristig zum Guten oder zum Schlechten wenden werden, ist ungewiss. Das Möglichkeitsfenster schließt sich aber schnell. Aktuell scheint es, als würde der von uns gewählte Weg in die Katastrophe führen.35
33 Auch die 4,5 Milliarden Jahre alte Erde selbst unterliegt einem Alterungsprozess, der durch große Veränderungen gekennzeichnet ist. Vgl. Lovelock, James (2020): The Novacene. London: Penguin Books. 34 Steffen, Will, Broadgate, Wendy, Deutsch, Lisa, Gaffney, Owen, Ludwig, Cornelia (2015): The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review. Volume 2, Issue 1. S. 81-98. 35 So haben etwa die im Zuge der Covid-19-Pandemie festgestellten signifikanten Reduktionen der weltweiten CO2-Emissionen (ca. 6 % im Jahr 2020) nicht lange gehalten. Bereits 2021 war das historische Allzeithoch von 2019 nahezu wieder erreicht. Fazit: Das Jahr 2020 hat eindrucksvoll gezeigt, dass eine deutliche Verringerung der CO2-Emissionen – einer der Hauptfaktoren des Klimawandels – grundsätzlich möglich ist; das Jahr 2021 hat bewiesen, dass wir offenbar noch nicht dazu bereit sind. Vgl. Davis, Steven J. et al. (2022): Emissions rebound from the Covid-19 pandemic. Nature Climate Change. Vol. 12. S. 412-414.
51
Im Gegensatz dazu bedeutet „change by design“, eine Vision herauszuarbeiten, Rahmenbedingungen für Wandel bewusst zu schaffen und veränderungsbereit zu werden.36 Die Auswirkungen mögen immer noch gravierend sein, aber wir würden auf dem Weg dorthin widerstandsfähiger werden.37 Wir würden lernen, mit der assoziierten Kraft zu arbeiten und Veränderungsmaßnahmen (actions of change) – kleine Schritte in Richtung der angestrebten Zukunft – durchzuführen.
Mit
anderen
Worten:
change
by
design
bedeutet,
Wandlungsprozesse aktiv zu managen, anstatt von Überforderung gelähmt zu werden; zu agieren, anstatt nur zu reagieren; zum Gelingen beizutragen und Teil der Lösung zu sein. Schamanen und Schamaninnen sind in diesem Sinne als klassische „Change Manager“ zu verstehen. Denn eine ihrer Kernkompetenzen betrifft die Gestaltung von Wandlungs- und Transformationsprozessen. Dabei schließen sie spirituelle Aspekte auf selbstverständliche Weise ein und schaffen Voraussetzungen für ganzheitliche progressive Entwicklung.38
WANDEL & TRANSFORMATION – DAS CORE-SCHAMANISCHE EIN-JAHRES PROGRAMM „Lass das Rad des Wandels sich drehen und unterstütze diesen Prozess durch Handeln.“ Obige Gedanken dienen als Hintergrund für „Change and Transformation – The
Core
Shamanic
One-Year
Online
Training
Programme“:
Das
Einjahresprogramm soll Teilnehmer:innen dazu befähigen, proaktiv mit der Kraft von Wandel und Transformation zu arbeiten. Der Aufbau des Programms ist erfahrungs- und praxisorientiert. Es zielt darauf ab, persönliche Transformation zu fördern und die Teilnehmer:innen dazu zu ermutigen bzw. darauf vorzubereiten, Veränderungsprozesse auch auf Gemeinschaftsebene oder in komplexeren Systemen zu initiieren und zu gestalten.39 Bei der Konzeption des Programmes wurde darauf geachtet, spezifische Methodologien anzubieten, die dafür geeignet sind, um zur 36 Vgl. auch WHO – Weltgesundheitsorganisation (2020a): International Day of Epidemic Preparedness. Botschaft von WHO-Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus. https://www.who.int/newsroom/events/detail/2020/12/27/default-calendar/international-day-of-epidemic-preparedness; 19.09.2024. 37 Siehe etwa Braden, Gregg (2014): The Turning Point: Creating Resilience in a Time of Extremes. Carlsbad/CA, New York, London, Sydney, New Delhi: Hay House. S. 137-174. 38 Vgl. dazu das Konzept der „Plus-Heilung“ (Kraft, Hartmut (1995): Über innere Grenzen. Initiation in Schamanismus, Kunst, Religion und Psychoanalyse. München: Diederichs. S. 253). 39 Für Rational, Architektur und theoretischen Hintergrund des Programms siehe Urban, Roland (2020): Schamanen – Agenten des Wandels und der Transformation. Shamanism Annual. Issue 33. S. 25-29 – bzw. den entsprechenden Beitrag in diesem Buch.
52
GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Bewältigung der (überindividuellen) Herausforderungen und Probleme unserer Zeit konstruktiv und produktiv beizutragen. „Diese Ausbildung hat mir geholfen, mein Bewusstsein für die Bedürfnisse unserer künftigen Gemeinschaften zu erweitern. Wie, wann und wo können wir als schamanisch Praktizierende dem großen Ganzen dienen? Wie können wir das Wissen CHANGE & TRANSFORMATION - sich in bedrohlicher und und die Weisheit der Geister in einer Welt integrieren, die CORE SHAMANIC ONE YEAR ONLINE TRAINING PROGRAMME beschleunigter Weise verändert?“
REVIEW SESSIONS
CHANGE GROUPS
Rekapitulation
Implementierung
Austausch Vertiefung
Evaluierung Best Practices
WORKSHOPS Wissen Methoden
WRITTEN PAPER
PEER SUPPORT
Erfahrungen
Lernerfahrungen
Intervision
Fokusthemen
Prozessunterstützung
Schlussfolgerungen
Schamanische Unterstützung
Abb. 3: Architektur des Einjahresprogramms
In einer Reihe von acht eintägigen Seminaren und vier Reflexionseinheiten baut eine geschlossene Gruppe von Teilnehmer:innen über den Zeitraum von einem Jahr kontinuierlich Wissen und praktische Erfahrung in den Bereichen Schamanismus, Wandel und Transformation auf. Die Teilnehmer:innen lernen – sowohl individuell als auch in der Gruppe – durch den unmittelbaren und fortlaufenden Kontakt zu ihren persönlichen Hilfsgeistern sowie durch iterative Zyklen von Recherche, Aktion und Reflexion. Unterstützt wird dies zum einen durch Peers und zum anderen durch die
schriftliche Auseinandersetzung
mit einem Schwerpunktthema. Von den Teilnehmer:innen wird zudem erwartet, dass sie ein persönliches „Veränderungsprojekt“ entwerfen, dessen Meilensteine sie in so genannten Change Groups vorbereiten bzw. evaluieren, um relevante „verantwortungsvolle Handlungen“ (responsible action) in der alltäglichen Wirklichkeit davon abzuleiten und umzusetzen. Mit anderen
53
Worten: Die Teilnehmer:innen entwickeln grundlegende schamanische Kenntnisse und Fähigkeiten in Bezug zu Wandel und Transformation und implementieren diese in Form von verantwortungsvollen Handlungen in der alltäglichen Wirklichkeit. Auf diese Weise regen sie zu Veränderung und Transformation im Alltag an, bei sich selbst und bei anderen.40 „Das Programm entfaltete sich wie ein Puzzle, wobei jede Sitzung einen oder mehrere Teile dieses Puzzles darstellte. Die Dinge wurden nach und nach klarer, bis sich die Sitzungen zu einer kohärenten Einheit zusammenfügten und ich verstand, wie die Praxis des Schamanismus eine Veränderung und Transformation meiner selbst sowie der Beziehungen zu meiner Umwelt, der natürlichen Welt, meiner Familie, meinen Gemeinschaften, der Gesellschaft und sogar dem Universum bewirken kann. Ich mochte diese schrittweise Enthüllung, weil sie wie ein Initiationsprozess erscheint. Man „ent-deckt” – durch sich selbst, in einer Gruppe und mit Hilfe der Geister, in horizontaler und vertikaler Richtung.“
NEUE WEGE IM CORE-SCHAMANISMUS Das Einjahresprogramm wurde bis dato, zwischen 2020 und 2024, dreimal durchgeführt, mit Teilnehmer:innen aus der ganzen Welt. Das Spektrum an
Erfahrungen,
Erkenntnissen,
Impulsen
und
Wirkungen,
die
sich
daraus ergeben haben, ist immens breit. Eine beträchtliche Anzahl von Teilnehmer:innen berichtet von bedeutsamen, oft lebensverändernden Entwicklungen, einschließlich herausfordernder Phasen, inneren Kämpfen, Schmerzen und markanten Übergängen. Alle, die derartige initiatorische Prozesse41 durchlaufen hatten, gaben an, dass sie sich am Ende transformiert fühlten und ihr Leben jetzt ausgeglichener wirke. „Ich habe gelernt, dass, wenn man sich verändern will – man manchmal die Angst davor überwinden muss, die falsche Entscheidung zu treffen, und das Risiko ertragen muss, anders zu sein oder nicht gemocht zu werden.“ Zusätzlich zu den persönlichen Veränderungen konnten erfolgreich Projekte gestartet werden, wodurch Modelle guter Praxis in Bezug zu Wandel und Transformation erarbeitet wurden. Sie betreffen private genauso wie berufliche Aspekte, familiäre genauso wie gemeinschaftliche und organisationale Kontexte. Jedes dieser Projekte wurde von den Teilnehmer:innen gemeinsam mit ihren spirituellen Verbündeten erarbeitet. Dies unterstreicht nicht nur die Ausrichtung des Programms – nämlich, im Sinne des Empowerment-
40 Für weitere Details training; 19.09.2024.
siehe
https://www.shamanism.eu/de/seminare/seminar/online-one-year-
41 Vgl. dazu auch van Gennep, Arnold (2019): The rites of passage. 2nd edition. With a new introduction by David I. Kertzer. Chicago, London: The University of Chicago Press.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
Gedankens, Bildung in konkrete Aktion überzuführen und damit Veränderung zu bewirken. Die praktischen Umsetzungen stellen auch Ausgangspunkte für eine fortlaufende Entwicklung von Expertise im Bereich des spirituellen Veränderungsmanagements dar. Ein paar Beispiele sollen dies veranschaulichen: „Wesentliche Lehren für mich: Das Programm hat mir praktische Wege aufgezeigt, mein Leben zu verändern. Das gibt mir Kraft für mich selbst, aber auch für mein Umfeld. Ich werde ermutigt, Veränderungen dort zu beginnen, wo es Sinn macht, anstatt mich in dem großen Wunsch zu verlieren, die ganze Welt auf einmal zu verändern. Ich sehe mit großer Klarheit, dass es wichtig – und auch ausreichend – ist, mit kleinen Veränderungen und Projekten zu beginnen. Ich habe den Mut entwickelt, irgendwo anzufangen.“ „Mein persönliches Veränderungsprojekt ist die Reduktion der Plastikverschmutzung in meiner Gegend. Eines der Ergebnisse: Es kommen viele verschiedene Vögel in meinen und rund um meinen Garten.“ „Ich habe ein Baumprojekt in meiner Umgebung gestartet, um einen Beitrag zum Umgang mit dem Klimawandel zu leisten. Ich habe den Projektplan, den ich in einem der Seminare der Ausbildung ausgearbeitet hatte, mit meiner Trommelgruppe überprüft und weiterentwickelt. Das war nicht nur hilfreich für mich, um die Erfahrung zu vertiefen, sondern führte auch zu drei weiteren lokalen Umweltprojekten, die in der Folge begonnen wurden und nun laufen.“ „Ich versuche, für die Errichtung einer netten Bäckerei und eines Cafés in meinem Viertel die Unterstützung meiner Nachbar:innen zu gewinnen. Ich habe einen guten Platz gefunden und bin mit den Verantwortlichen in Kontakt, um ihn anzumieten. Meine Vision ist mehr Verbindung, Kommunikation und Spaß in diesem Teil meiner Heimatstadt.“ „Als professionelle Organisationsentwicklerin, die mit Firmen arbeitet, möchte ich Menschen in der Wirtschaft dazu ermutigen, über die Natur nachzudenken und sich mit ihr zu verbinden. Ich habe den Ansatz bereits mit einigen Kund:innen getestet. Gemeinsam mit einem Kollegen aus Luxemburg haben wir begonnen, ein Programm zu entwickeln.“ „Ich habe ein Inklusionsprojekt für Jugendliche mit mehrfachen Beeinträchtigungen initiiert. Es beinhaltet die Wiederaufforstung von kleinen Flächen. Dafür bin ich eine Partnerschaft mit einer anderen lokalen Organisation eingegangen. Dieses Projekt nährt meine Hoffnung, dass Veränderungen möglich sind und selbst kleine Veränderungen dazu beitragen können, etwas in einem größeren Rahmen zu bewirken.“
55
DER STEIN DER VERÄNDERUNG In einer der letzten Sitzungen des ersten Core Shamanic One-Year Online Training Programme teilte eine Teilnehmerin mit der Gruppe, was ihre spirituellen Verbündeten ihr zum Thema „Veränderung“ gesagt hatten: „‚Grundlegender Wandel gleicht einem anstrengenden Weg bergauf. Man weiß nicht, was kommen wird. Deshalb sollte man sich nicht auf das Ergebnis konzentrieren, sondern auf die kleinen Schritte dorthin.’ Ich sehe jetzt mehr Sinn in Handlungen, die sich anfangs wie die Aufgabe des Sisyphos anfühlten, einen Stein den Berg hinaufzurollen. Ich weiß jetzt, dass jede Bewegung einen Unterschied macht: Der Berg wird dadurch verändert, so wie der Stein, und so wie ich, während ich ihn hinaufrolle. Es geht nicht so sehr darum, den Gipfel zu erreichen. Es ist wichtig, den Stein zu rollen und ihn wieder zu rollen, solange wir uns mit unserer Körperlichkeit in dieser mittleren Welt befinden, mit allen Grenzen und Arten der typisch menschlichen Kämpfe. Wir müssen es versuchen, mutig versuchen – und wieder versuchen.“ Wir, die Foundation for Shamanic Studies Europe, werden den Stein konsequent weiter rollen.
Dieser Beitrag stellt eine gekürzte und überarbeitete Version eines im Journal der Foundation for Shamanic Studies „Shamanism Annual“, Ausgabe 34, Dezember 2021, S. 21-27, veröffentlichten Artikels dar.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
DIE KUNST DES ERINNERNS Wir, in der so genannten „westlichen“ Welt, sind in den letzten 250 Jahren weit gegangen und sind weit gekommen. Wir haben in bestimmten Bereichen – vor allem in Bezug zu Wissenschaft und Technologie, aber auch in Hinsicht auf
sozialen
Zusammenhalt,
Demokratie
und
Wohlstand
–
enorme
Fortschritte gemacht. Das Zeitalter der Industrialisierung hat aber auch seinen Tribut gefordert. Die Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaften führte unter anderem zur Aufgabe eines Teils unserer eigenen spirituellen Traditionen und damit zu einem erheblichen Verlust an spirituellem Wissen und spiritueller Kraft. Einige Praktiken sind zwar nach wie vor vorhanden; sie wurden aber teils umbenannt, als „Bräuche“ bezeichnet und werden hauptsächlich in folkloristischen oder touristischen Kontexten angewandt. Zum großen Teil wissen wir nicht mehr, welche Geister mit den jeweiligen Arbeiten in Verbindung stehen. Was bleibt, sind bloße Abläufe, ohne Essenz, ohne Seele. Die beteiligten Geister, oft jene der Mittleren Welt, haben sich zurückgezogen. Der Grund dafür ist einfach: Wenn sie nicht gerufen werden, bleibt auch ihre Antwort aus. Damit geht Kraft verloren – Kraft, die wir als Menschen gut brauchen könnten. Wir müssen mit dem weitermachen, was wir zur Hand haben. Wir mögen ein gutes Leben führen – unser volles Potenzial können wir aber nicht ausschöpfen. Erst wenn wir die verlorene Kraft zurückgewinnen und wieder ganz werden, können wir (im ganzheitlichen Sinne des Wortes) gesunden. Heutzutage, so scheint es, haben wir sogar vergessen, was wir verloren haben. Deshalb ist es an der Zeit, uns zu erinnern.
WECKRUFE Beginnend mit seinen Forschungen in den späten 1950er Jahren arbeitete Michael Harner transkulturell und universell beobachtbare Prinzipien des Schamanismus heraus, die unabhängig vom jeweiligen kulturellen Umfeld gültig sind. Er erforschte diese Prinzipien, experimentierte und formulierte eine sichere und effiziente Methodologie, die heute als Core-Schamanismus (Kernschamanismus) bekannt ist. Harner führte damit einen Zugang ein, der es „westlichen“ Menschen auf sehr geradlinige Weise ermöglicht, durch direkte Erfahrungen mit ihren persönlichen spirituellen Verbündeten in Kontakt zu treten. Dies war nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht ein bemerkenswerter – kontroversiell diskutierter – Schritt (weil Harner damit ein kohärentes und konsistentes Modell eines transkulturellen Schamanismus vorlegte),
57
sondern auch aus spiritueller Sicht kraftvoll und weitreichend wirksam: Michael Harner und die Fakultäten der Foundation for Shamanic Studies haben weltweit einen wertvollen und wesentlichen Beitrag zur Reintegration schamanischer Praxis in das moderne westliche Leben geleistet.42 Als in den 1980er Jahren die ersten indigenen Schaman:innen nach Europa kamen, taten viele von ihnen dies mit der Absicht, den „Westler:innen“ durch das Erleben traditioneller Praktiken wieder einen Zugang zu den eigenen spirituellen Wurzeln zu ermöglichen. Sie zeigten eindrucksvoll, dass Spiritualität niemandem gehört und nicht exklusiv zu behandeln ist, sondern dass es darum geht, die damit verbundene Kraft zu teilen und in Umlauf zu bringen.43 Sie haben mit ihrer Arbeit deutlich gemacht, dass es eine gemeinsame Quelle gibt. Sie haben aber auch deutlich gemacht, dass die spezifischen kulturellen Erscheinungsformen – die konkreten Modalitäten der Arbeit mit Wissen und Kraft – mit bestimmten Landschaften, Kulturen und Sprachen korrespondieren. Entsprechend sollten diese nicht einfach nachgeahmt, sondern in ihrer Eigenständigkeit respektiert und gewürdigt werden. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wandte sich das Volk der Kogi im Norden Kolumbiens, das sich selbst als die „Älteren Brüder“ und Hüter:innen des Lebens auf der Erde versteht, an ihre sogenannten Jüngeren Brüder, also an uns im „Westen“. Sie taten dies in der Hoffnung, dass wir das Wissen und die Weisheit von aluna, einer spirituellen Parallelrealität, erkennen und uns ihrer bewusst werden würden.44 Ihr Weckruf sollte uns dazu motivieren, die Zerstörung unser aller Lebensquelle zu stoppen und stattdessen zu beginnen, diese zu schützen. In ähnlicher Manier mahnen dies indigene Völker auf der ganzen Welt seit Jahrzehnten ein.
42 Das „spirituelle Wiedererwachen“ im Westen war natürlich nicht nur auf die Forschung und Praxis von Michael Harner beschränkt. Angetrieben von der Dynamik nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg entstanden in den 1960er Jahren zahlreiche populäre und einflussreiche Bewegungen, die bis heute nachwirken. Unterschiedliche Gruppen von Menschen fühlten sich dazu inspiriert, nicht nur Freiheit und Frieden, sondern auch Spiritualität und ganzheitliche Heilkünste zurückzufordern. Entsprechend sind die 1960er Jahre mit einem bedeutenden Aufschwung zeitgenössischer Formen von Heilung, Therapie und auch Spiritualität in den „westlichen“ Gesellschaften assoziiert. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Arbeit des Esalen-Instituts in Big Sur, Kalifornien, das als Schlüsselinstitution fungierte und viele Pionier:innen – einflussreiche Forscher:innern und Praktiker:innen auf den Gebieten der Wissenschaft, Therapie und Spiritualität – beherbergte. Dazu gehörten etwa Abraham Maslow, Fritz Perls, Fritjof Capra, Charlotte Selver, Ida Rolf – sowie Carlos Castaneda und Sandra und Michael Harner. Siehe https://www.esalen.org/ctr/past-initiatives; 19.09.2024. 43 Dies bedeutet nicht, dass die auf kolonialen, imperialistischen und eurozentrischen Motiven beruhende Unterdrückung und Tötung sogenannter indigener Völker sowie der Diebstahl ihres spirituellen Erbes in der Vergangenheit und Gegenwart verharmlost werden sollten. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sollten einen offenen und transparenten Dialog über diese Traumata führen und auf Versöhnung hinarbeiten. Dazu bedürfte es auch seriöse Diskurse und Ausverhandlungen über den Umgang mit materiellen und geistigen Ressourcen der Menschheit. 44 Siehe Ereira, Alan (1990): The Heart of the World. London: Jonathan Cape.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
All die beschriebenen Entwicklungen verliefen parallel zu einer sich ständig verstärkenden Dynamik des Wandels, die in unserer heutigen Situation – dem Ende des Anthropozäns45 – gipfelt und uns vor dramatische Herausforderungen stellt. Wie Albert Einstein bemerkte: „[...] eine neue Art des Denkens ist unabdingbar, wenn die Menschheit überleben und sich zu höheren Ebenen bewegen soll.“46 Wir müssen also ein neues Narrativ schaffen. Die „Kunst des Erinnerns“, so meine Hypothese, könnte dies wesentlich unterstützen.
FORMEN DES ERINNERNS Die
schamanische
Praxis
bietet
vielfältige
Möglichkeiten
der
Erinnerungsarbeit. Diese dienen nicht nur dem Erhalt von Wissen und Kraft, sondern sie stellen auch den Transfer in das moderne Leben sicher und ermöglichen es uns, neue Kraft zu generieren. Einige Beispiele sollen dies veranschaulichen:
Schöpfungsmythen „Sie glauben, dass vor langer, langer Zeit Äłquntäm, die oberste Gottheit, ihre ersten Vorfahren in deren Haus im oberen Land, Nusmät-a, erschaffen und sie hinuntergeschickt hat, um das Bella-Coola-Tal zu besiedeln. Diese ersten Menschen kamen in Zweier- oder Dreiergruppen, als Brüder und Schwestern, gelegentlich auch als Mann und Frau. Jede Gruppe stieg, in vielen Fällen in Tiergestalt, zu einem bestimmten Berg hinab und ließ sich an dessen Fuß nieder. Sie brachten mit sich Tiere und Fische, Werkzeuge und Häuser sowie das Wissen um die zeremoniellen Tänze.“47 Schöpfungsmythen beschreiben singuläre Ereignisse48 mit nachhaltiger Wirkung. Sie erzählen von Entstehungsgeschichten und verweisen auf die Existenz der Geister. 49 Schöpfungsmythen bilden die Grundlage für gemeinschaftliche
Identifikation
und
Tradition;
sie
sind
wesentliche
Bezugspunkte der sozialen Ordnung.50 Und doch sind sie keineswegs singulär. 45 Siehe z.B. Laux, Henning, Henkel, Anne (Hrsg.) (2018): Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän. Bielefeld: transcript; Urban, Roland (2020): Schamanismus und Digitalisierung. Wartberg ob der Aist: FSSE. S. 18f 46 Einstein, Albert (1946): Atomic Education urged by Einstein. Scientist in Plea for $200,000 to Promote a New Type of Essential Thinking. New York Times. 25. Mai 1946. S. 11. 47 McIlwraith, Thomas F. (1948; neu aufgelegt 1992): The Bella Coola Indians. Vol. 1. Toronto, Buffalo, London: Toronto University Press. [Übers. RU] 48 See Žižek, Slavoj (2016): Was ist ein Ereignis? Frankfurt am Main: S. Fischer. S. 52f. 49 Für einen Überblick zu Schöpfungsmythen aus verschiedenen Kulturen siehe z.B. Tworuschka, Monika und Udo (2011): Schöpfungsmythen. Darmstadt: Primus. 50 Vgl. Urban, Roland, Huguelit, Laurent (Hrsg.): Schamanismus und Ökologie. Chamanisme et Écologie. Wartberg ob der Aist: FSSE. S. 27.
59
Die Schöpfung ist kein historisches, einmaliges Phänomen, sondern ein fortlaufendes: Indem man sich an die ursprünglichen Quellen rückverbindet, kann man Kraft und Wissen für aktuelle Fragen beziehen.
Heilige Lieder und Geschichten In Tuva sagt man, dass „... die Lieder zu einer Zeit geschrieben wurden, als es noch keine Schrift gab.“51 Lieder, ebenso wie Geschichten und zeremonielle Tänze, übertragen Kraft und Wissen der Ahnenlinien in die heutige Zeit. Sie sind Teil der mündlichen Kultur, traditionelle Formen des kollektiven Erinnerns. „Geschichten und Lieder sind keine Gegenstände oder Artefakte, sondern lebendige Wesen“.52 Sie verbinden Vergangenheit und Gegenwart und stellen so sicher, dass wesentliche Werte und Prinzipien sowie die damit assoziierte Kraft nicht verloren gehen. Wenn die nachfolgenden Generationen die Geschichten weiter erzählen, die Lieder weiter singen und die Tänze tanzen, dann bleibt die Tradition bestehen; wenn die Geschichten, Lieder und Tänze verblassen, ist sie verloren.
Wege der Balance Die
grundsätzliche
Absicht
schamanischer
Heilarbeit
besteht
darin,
Gleichgewicht herzustellen oder aufrechtzuerhalten. Ziel ist es, Kraft zu gewinnen bzw. in der Kraft zu sein. Ist man im Vollbesitz seiner Kräfte, sind Belastbarkeit, Flexibilität und Handlungssicherheit sowie Lösungskompetenz gegeben. Dann herrscht Harmonie – im Sinne von ausgewogenen Beziehungen zwischen den beteiligten Wesen. Im Vollbesitz der geistig-seelischen Kraft ist der Mensch wirklich und wahrhaftig zur Liebe fähig.53 Wenn Kraft verloren geht, kann sie zurückgeh0lt werden, zusammen mit der Erinnerung an den Zustand des Vollkommenseins. Dies gilt sowohl für Einzelpersonen und Gemeinschaften als auch für Ökosysteme und die Natur als Ganzes. Das Volk der Karuk in Kalifornien, zum Beispiel, führt die „World Renewal“Zeremonie durch, um die Menschen an ihre Verpflichtungen anderen Wesen gegenüber zu erinnern. Sie tun dies nicht nur aus spirituellen Gründen, sondern auch, um die Aufgaben der alltäglichen Wirklichkeit ausgewogen
51 Kenin-Lopsan, Mongush B. (2013): Schamanengesänge aus Tuwa. Herausgegeben von Paul Uccusic. Göttingen: Lamuv. S. 15. 52 Van Deusen, Kira (2001): The Flying Tiger. Women Shamans and Storytellers of the Amur. Montreal & Kingston, London, Ithaca: McGill-Queen’s University Press. S. xii. [Übers. RU] 53 Urban, Roland (2014): Über Kraft. In: Picard, Winfried, Wohlfarter, Sylvia (Hrsg.): Schamanismus heute. Aktuelle Berichte aus Forschung und Praxis. Ahlerstedt: Param. 193-220. S. 214.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
managen zu können. Anders ausgedrückt: Indem sie traditionelle Prinzipien wieder aufleben lassen, evaluieren und erneuern sie geltende Normen.54
Der Rhythmus der Natur Das Standardnarrativ des Anthropozäns besagt unter anderem, dass wir Stabilität schaffen können, indem wir die natürlichen Kräfte und Rhythmen kontrollieren. Angesichts einiger unmittelbarer Folgen dieser Logik, in erster Linie seien hier Umweltverschmutzung und Klimawandel genannt, scheint dieser Mythos in sich zusammenzubrechen. Es scheint unvermeidlich, sich von einem Lebensstil zu lösen, der durch die 24/7-Verfügbarkeit aller gewünschten Güter und Dienstleistungen gekennzeichnet ist, und stattdessen zu einem Lebenskonzept zurückzukehren, das auf den Rhythmen der Natur basiert und nur jene Ressourcen nutzt, die unverzichtbar sind. Vor einiger Zeit habe ich dieses Thema mit einem Netzanalytiker aus dem Bereich der Stromversorgung diskutiert. Er erzählte mir, dass er im Laufe der Jahre eine Veränderung in der Art und Weise beobachtet hat, wie sich „das Netz“ entwickelt und wie es reagiert: Durch die massive Nutzung fossiler Ressourcen zur Stromerzeugung konnten wir stabile Netzbedingungen schaffen, die für die Industrie und die Endverbraucher:innen Versorgungssicherheit gewährleisten. Heutzutage, inmitten eines beginnenden Systemwandels, gekennzeichnet von einem Rückgang fossiler und der Zunahme erneuerbarer Energieformen, ist das Netz viel dynamischer und weniger kontrollierbar geworden. Die Schlussfolgerung lautet: Entweder wir folgen weiterhin dem existenten Narrativ und kehren zu (künstlich geschaffener) Stabilität durch die Verbrennung fossiler Energiequellen zurück, oder wir akzeptieren und anerkennen die natürliche Volatilität des Lebendigen und entwickeln neue Modelle und Algorithmen, die auf die veränderten Netzeigenschaften reagieren. „Wir sind noch nicht am Ziel“, schloss der Netzanalytiker, „aber dies ist definitiv die Richtung, in die es geht.“
Frieden und Versöhnung „Die auf die Erde stampfenden Füße der Tänzer waren symptomatisch für das Donnern der Erde, das den Wandel ankündigte. Auch im Jenseits, so die Botschaft, wurde getanzt. Hier auf die gleiche Weise zu tanzen, kam einer Vorahnung der kommenden Wiedervereinigung gleich“.55
54 Mann, Charles C. (2022): We are here. National Geographic. July 2022. S. 57-60. 55 Lesser, Alexander (1933): The Pawnee Ghost Dance Hand Game. A Study of Cultural Change. New York: Columbia University Press. S. 105. [Übers. RU]
61
Die Geistertanzbewegung (Ghost Dance Movement) im Nordamerika des 19. Jahrhunderts hatte zum Ziel, die Ahn:innen zur Rückkehr zu bewegen. Die Tänzer:innen baten auf diese Weise um Frieden, Versöhnung und Harmonie – und zwar sowohl für die Native Americans als auch für die so genannten „Weißen“.56 Die amerikanischen Ureinwohner:innen wussten, dass es keinen anderen Weg gibt als den des Friedens zwischen allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft. Durch die Reaktivierung der Kraft der Vorfahren wollten sie Wiedervereinigung bewirken und an die gemeinsame Basis der Menschheit erinnern. Zerstückelung Während
der
Zerstückelung,
einer
schamanischen
Erfahrung
von
initiatorischer Bedeutung, kann man den Urzustand erfahren, einen Moment der Vollkommenheit, einen Moment des Erinnerns, der uns an die Quelle des Seins rückverbindet. „Was ist dieses Remembering eigentlich? Es ist eine Erinnerung und doch viele. Es ist die Traumzeit. Die mythische Wirklichkeit. Es ist die Realität, in der es keine Zeit gibt. Die Erinnerung an die Einheit mit dem Universum, die bestand, bevor wir durch Empfängnis und Geburt in diese alltägliche Wirklichkeit geworfen wurden. Es ist die Erinnerung an das kosmische Bewusstsein, aus dem wir kamen und in das wir zurückkehren werden. Neben der neuen Kraft, die daraus resultiert, besteht ein wichtiges, unerwartetes
Geschenk
des
Zerstückelt-und-wieder-zusammengesetzt-
Werdens in der wenn auch nur kurzen Erfahrung der Zerschlagung oder eben Zerstückelung unseres Alltagsbewusstseins und der Neuzusammensetzung nicht nur des Körpers, sondern auch des Geistes, der Rückbesinnung auf unsere Verbundenheit mit dem Unendlichen, dem Unbeschreiblichen, dem gesamten Universum.“57 Die Zerstückelung, in diesem Sinne verstanden, ist der ultimative Akt des Erinnerns der Schamanen und Schamaninnen. METAMORPHOSE Wir sind weit gegangen. Es scheint, dass nun die Zeit gekommen ist, das Pendel zurückschwingen zu lassen, auf der Suche nach der „goldenen Mitte“, einem Zustand des dynamischen Gleichgewichts. Es geht um Rückkehr –
56 See Mooney, James (1896; 1965): The Ghost-Dance Religion and the Sioux Outbreak of 1890. Chicago, London: The University of Chicago Press. S. 19. 57 Harner, Michael (2016): Die Wirklichkeit des Schamanen. Ein Wegweiser in verborgene Welten und Bewusstseinsräume. 2. Aufl. München: Wilhelm Heyne. S. 291.
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GRUNDLAGEN DER TRANSFORMATION
nicht zum chronologischen oder entwicklungsbedingten Ursprung, sondern zur Quelle. Es geht um ein Zurückholen und Erinnern, bevor man weitergeht. Wir befinden uns inmitten eines epochalen Wandels. Noch existiert ein Zwischenraum zwischen change by design und change by disaster. Wir verfügen über alle Möglichkeiten, die notwendigen Übergänge und Veränderungsprozesse zu gestalten. Die theoretischen und technologischen Voraussetzungen scheinen gegeben zu sein, die Ressourcen vorhanden. Was wir brauchen, sind ein allgemeines Bewusstsein für die Notwendigkeit des Systemwandels und politischen Willen, diesen in der Praxis zu vollziehen. Wenn wir das zur Verfügung stehende Zeitfenster nicht klug nutzen, wird es sich schließen, mit dramatischen und erheblichen Folgen.58 Wir wären gut beraten, uns auf ein notwendiges und sinnvolles Maß zu beschränken. Der Schamanismus, zusammen mit Wissenschaft, Technologie, Sozialpolitik und den Künsten, kann dabei helfen. Schaffen wir es, in der Reduktion eine neue Qualität zu entdecken, dann können wir ein alternatives Narrativ verfassen und gestärkt aus diesem Prozess hervortreten. Es ist wie beim Schmetterling während der Metamorphose, dieser höchst faszinierenden Verwandlung im Laufe seiner natürlichen Entwicklung: Die Raupe, die ihr Leben als Ei begonnen hatte und aus der eine Larve geschlüpft war, wächst und häutet sich. Sie durchläuft eine Phase der ungehemmten Nahrungsaufnahme, bis sie eine Puppe bildet und sich in diese zurückzieht. „Während der Metamorphose werden die Schmetterlingsraupen von ihren eigenen Verdauungssäften zersetzt. Nur ein paar Zellen werden von diesem Prozess verschont und bilden den Keim für den neuen Körper der Imagines.“59 Die Raupe wird auf ihre Essenz reduziert, um aus dem letzten Stadium ihrer Metamorphose als Imago, als erwachsenes Insekt wiederzukehren. In Anlehnung an diese Metapher befinden wir uns als Menschheit an der Schwelle zur Puppe: Wir können uns im übertragenen Sinne zu Tode essen (was als Fehlentwicklung zu verstehen wäre) oder uns auf das Wesentliche besinnen und damit unsere Zukunft sichern. Dazu bedarf es auch der Kunst des Erinnerns und die Erkenntnis, dass sich aus der Essenz eine neue Gestalt entfalten kann. Dieser Beitrag stellt eine überarbeitete Version eines im Journal der Foundation for Shamanic Studies „Shamanism Annual“, Ausgabe 35, Dezember 2022, S. 18-23, veröffentlichten Artikels dar.
58 Urban, Roland (2021): “Let the Wheel of Change Turn”: The Core Shamanic One-Year Online Training Program. Shamanism Annual. Issue 34, 21-27. S. 21f. 59 Langley, Liz (2020): Von der Raupe zum Schmetterling: Metamorphose erklärt. https://www. nationalgeographic.de/wissenschaft/2020/08/von-der-raupe-zum-schmetterling-metamorphoseerklaert; 19.09.2024.
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FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
ROLAND URBAN
THE END OF THE ANTHROPOCENE – A TRILOGY OF CHANGE AND TRANSFORMATION The following three articles represent reflections on the topic of change and transformation, related to the concrete and specific circumstances of the past years. None of the articles had been planned in advance; rather, they emerged whilst dealing with the phenomena of the time. In retrospective and seen together, they seem to form an ongoing line of thought, inspired by spirits. The articles – originally published from 2020 to 2022 in “Shamanism”, the annual journal of the Foundation for Shamanic Studies – are to be understood as one piece of work, generated in three stages. First the “Core Shamanic Change Management Model”, which serves as the theoretical background, was carved out in 2020. Next came practice in 2021: The Core Shamanic OneYear Online Training Programme of the Foundation for Shamanic Studies Europe aims at capacity building in order to develop knowledge, skills and competences required for managing transformational processes. Lastly the “Art of Remembering” took its place in 2022. This third paper completed the cycle. After theory and practice, it refers back to attitudes and qualities that are important when dealing with change and transformation.
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SHAMANS – AGENTS OF CHANGE AND TRANSFORMATION “In every decision we make, we think of the seventh generation after us.”1 Saintsegseg, shaman of the Dhuka, Mongolia
Our world is changing. Our felt securities, our routines, our whole lives have begun to shift. There is no way back to “normal” as we used to know it. Traditional ways are no longer sufficient for successfully and sustainably managing the challenges that lie ahead, such as climate change, pandemics, social tensions, etc. Hence, the time for theoretical debates is over. We need to act and proactively facilitate change and transformation. For this, we should develop different perspectives, gain new knowledge and power, in order to identify innovative solutions. Shamanism, an ancient information technology and way of power, contributes a valuable spiritual perspective. If we want to create a vital survival, not only of our species but following a truly ecological rationale of all lifeforms involved, we need to advance to a holistic worldview, to interdisciplinary collaboration and to recognizing nature as the prototypical system of evolution. In contrast to a positivistic perspective, nature is not mechanistic, linear and materialistic, but biodiverse, cyclical and animated. From a shamanic point of view, everything that is is alive and ensouled: The land is alive; space, sound and the general structures of life, the rocks, the trees, the plants, the animals, including the humans, are alive. The whole universe is resonating as “a responding other”,2 ready to interact – if we are willing to be touched by the natural cosmos.3 Nature is characterized by growth and decay, circular processes and experiential learning, in other words: by evolution. Nature is change and transformation. Shamanism is not only oriented toward nature, but also based on – and permeated with – it. Shamanism does not represent an intellectual “concept” on how natural phenomena can be understood. It is a straightforward, simple
1
Halla, Natalie (2020): Shamans. Trailer to the documentary. 00:01:59 – 00:02:05. https://www. kickstarter.com/projects/schamanen/shamans-documentary-film; 19.09.2024.
2
See Rosa, Hartmut (2016): Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. pp. 281ff.; Buber, Martin (1999): Das dialogische Prinzip: Ich und Du. Zwiesprache. Die Frage an den Einzelnen. Elemente des Zwischenmenschlichen. Zur Geschichte des dialogischen Prinzips. 13th ed. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus
3
This principle of reciprocity between all lifeforms is at the very core of the concept of “indigenousness” (Weber, Andreas (2019): Indigenialität. 3rd ed. Berlin: Nicolai Publishing and Intelligence).
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FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
and elegant narrative of nature itself, a way of how to perceive, comprehend, participate in and balance the natural interplay of power. Shamans are spiritual experts. They serve their community and connect everything that is. They are “seekers of balance”4 and “agents of transformation”.5 Their responsibility is not to manipulate the natural ways. Rather, “[…], they function to maintain the flow of cosmic processes in the interests of the living.”6 They do this by generating essential knowledge through divinatory work as well as by removing potentially destructive spiritual power or retrieving lost power. They manifest spiritual power in ordinary reality, through rituals and ceremonies, in order to manage periods of transition and to secure a balanced way of life in the community. Shamans, in this sense, are prototypical facilitators of change and transformation.
AN ARCHITECTURE OF TRANSFORMATION – CORE SHAMANIC CHANGE MANAGEMENT7 “Transform: To change in composition or structure, to change the outward form or appearance of, to change in character or condition.”8 Transformation results in a paradigm shift that affects several dimensions or levels of the organism involved. It represents qualitative, rather than merely quantitative change – second-order change9 leading to continuous renewal or radical deconstruction and reconstruction.10 Change is often regarded as being difficult, related to hardship and sacrifice. In contrast, we could instead focus on what is already working well, on successes
4
Gonçalves Louro, Luís (2020): Seekers of Balance. In: Urban, Roland (ed.) (2020): Shamanism and Digitalisation. Wartberg ob der Aist: FSSE. pp. 49-52
5
Stephen, Michele (1995): A’aisa’s Gifts: A Study of Magic and the Self. Berkeley, Los Angeles, London: University of California Press. p. 306.
6
Ibid.
7
The rationale presented here has been carved out through a practice-oriented research strategy, implemented in various groups such as the Core Shamanic Research Laboratory. The very approach is inspired by the Experiential Learning model (see Kolb, David (1984): Experiential Learning: Experience as the Source of Learning and Development. New Jersey: Prentice Hall), recent project and change management approaches as well as Mokelke, Susan (2017): Shamanic Divination as Spiritual Problem Solving. Shamanism Annual. Issue 30. pp. 27-31. The latter can be understood as a corresponding vessel, representing a microcosmic view of the same process perspective as Core Shamanic Change Management does on a rather mesocosmic level.
8
Merriam-Webster (2024): Transform. https://www.merriam-webster.com/dictionary/transform; 19.09.2024.
9
See Watzlawick, Paul, Weakland, John H., Fisch, Richard (2001): Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. 6th ed. Bern: Hans Huber.
10 See Gergs, Hans-Joachim (2016): Die Kunst der kontinuierlichen Selbsterneuerung: Acht Prinzipien für ein neues Change Management. Weinheim und Basel: Beltz. pp. 32-36.
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and good practices.11 This creates a totally different dynamic and encourages a real drive towards change. In the legacy of Michael Harner, Core Shamanism is destined to serve as a theory and practice of holistic change management – integrating the universal principles of shamanism, Western science and an ethics based on human rights and spiritual ecology. Integrating knowledge from existing change management approaches12 and insights from research of the Foundation for Shamanic Studies Europe, the following model of Core Shamanic Change Management is proposed:
Fig. 1: Compass of Change, representing the Core Shamanic Change Management Model13
11
See also solution-focused counselling and therapy – e.g. de Shazer, Steve, Dolan, Yvonne, Korman, Harry (ed.) (2007): More than Miracles: The State of the Art of Solution-focused Brief Therapy. New York: The Harworth Press; de Jong, Peter, Berg, Insoo Kim (2013): Interviewing for Solutions. 4th ed. Belmont: Brooks/Cole. By the way, the same principles are represented in classical shamanic approaches.
12 E.g. Heitger, Barbara, Doujak, Alexander (2013): Managing Cuts and New Growth: An Innovative Approach to Change Management. 2nd ed. Vienna: Goldegg; Cameron, Esther, Green, Mike (2020): Making Sense of Change Management: A Complete Guide to the Models, Tools, and Techniques of Organizational Change. 5th ed. London, New York, New Delhi: Kogan Page). 13 The graphic is inspired by University of Virginia (2020): Change Management. https:// organizationalexcellence.virginia.edu/resources; 19.09.2024.
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FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
All aspects of this compass of change mirror the general rationale of shamanic activity: They do not follow a linear design, but are cyclical in nature. All elements and phases are intertwined and interdependent. The strategies involved do not focus on problems but on solutions and they aim at generating new knowledge and ways of implementing change rather than proving preexisting assumptions and hypotheses. Core Shamanic Change Management is based on an “attitude of non-interference”,14 is strictly process-oriented, grounded in ordinary as well as non-ordinary reality,15 with shamanic practitioners acting as interfaces. As part of the human sphere it is embedded in the field of negotiation, conflict resolution, cooperation and collaboration. It is located at the intersections between people and their environments, and it represents a holistic process of adaption to the natural world based on evolutionary cycles.16 The very architecture of Core Shamanic Change Management is expressed through the Change Plan: First, an in-depth analysis of the system in question is required, including ordinary as well as non-ordinary research, thereby identifying needs for change as well as visions and aims. A steering group is established, and the overall design of the process defined, including milestones, accompanying research and structures for communication. This change design is the essential backbone of the whole endeavour. Key areas and activities are carved out in a cyclic and iterative process of planning, implementation and evaluation. In this regard, the initiation of workgroups, ongoing capacity and community building, as well as the successive involvement of diverse groups of people and networks are of essential relevance. A specific focus on information and feedback mechanisms ensures lively as well as efficient change communication. The implementation of concrete actions is characterized by building on best practices and a spirit of experimentation. Measuring impact and evaluation allows qualified conclusions to be drawn. The most promising approaches are integrated into the existing systemic culture. Finally, dissemination of outcomes fosters visibility. Celebrating successes and progress creates moments of clarity and orientation, community and power. The compass of change should be applied dynamically rather than rigidly. In other words, it is not about ‘ticking off’ one area after another, but about using
14 Harner, Michael (1988): Shamanic Counseling. Newsletter of the Foundation for Shamanic Studies. Vol. 1, No. 1. p. 4. 15 Equivalent to “a dance between the two realities” leading to concrete actions to be carried out in ordinary reality (Mokelke, 2017:29). 16 See also the principles of experiential learning (Kolb, 1984).
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the compass to navigate through specific change projects in order to enable orientation and efficiency. In other words, it is not about the method, but about creating transformative practice.
RESPONSIBLE ACTION Let me say this very clearly: When talking about Core Shamanic Change Management, I am not talking about strategies of conviction, based on ideological reasoning. This would just follow the logic of debates in ordinary reality. What is required instead is a transcendent perspective. It is the task of shamanic practitioners to bring the knowledge of transcended compassionate spirits into ordinary reality, thereby making it accessible to all those who are open to receive it. The starting point is the individual: “Transformation always means changing one’s own identity – changing oneself.”17 At the same time, due to the existing as well as future challenges, we must overcome the exclusive focus on individual transformation and include collective, systemic transformation into our rationale of change. We have to develop resilience – on an individual level, as 20th-century psychology has taught us, and on a societal and ecological level, as 21stcentury ecology has been teaching us.18 We have to realize that the paradigm of individualism and profit-orientation (focusing on the surplus) is a dead end. We need to recall the primary messages of the spiritual ecology that shamanism is:19 namely, that we ourselves are nature and our relationships are built on reciprocity. We are embedded in communities and networks that are all intertwined – and one. In other words: The Anthropocene is coming to an end20 and we are in need of a new era of community.21 Such a vision is dependent on sound ethics and responsible action. Otherwise what looks like progress at first sight will end in disaster. The ethical principles
17 Heitger, Doujak (2013:100). 18 See Braden, Gregg (2014): The Turning Point: Creating Resilience in a Time of Extremes. Carlsbad, CA, New York, London, Sydney, New Delhi: Hay House. pp. 137-174. 19 Harner, Michael (1990): The Way of the Shaman. Preface to the Third Edition. 3rd ed. New York: Harper One. p. xiii. 20 See also Dahm, Daniel J. (2019): Sustainability Zeroline: Das Maß für eine zukunftsfähige Ökonomie. Bielefeld: transcript. pp. 63-75. 21 With “community” I define here the communal space that we feel we belong to, as ideally empowered individuals with an independent identity and spirituality, serving the greater whole of the community – of humans, spirits, and all lifeforms involved – by contributing individual knowledge, skills and power to fulfil the tasks and duties we have been entrusted with. For in-depth work on community, in theory as well as practice, see the in-person workshop of the Foundation for Shamanic Studies Europe “The Power of Community”.
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involved are based on humanism, human rights and core shamanic practice.22 By responsible action, I mean action that is rooted in such an ethics, whose design is based on consultations with helping spirits and translated into action in ordinary reality, thereby making the power and knowledge involved effective (in the best sense of the word).
ENVISIONING THE FUTURE The foundations of our current way of life are not to be taken for granted. We are fortunate that nature nurtures us and that we live in safety, wellbeing, freedom and peace. Tragically, in many places on planet Earth, this is not the case. Hence, talking about change is not enough. We all can – and should – pro-actively contribute to protect our lands and secure habitat for all lifeforms involved. We can take care of our communities ongoingly and empower everyone involved, and not just a few. We can build democracy and peace, not tomorrow, but starting now. What I am proposing here is Holistic Transformative Research23 and Practice. It aims at developing and implementing an image of a sustainable future. The concrete image of this kind of future is complex and difficult to grasp because interpersonal, societal and spiritual processes of negotiation are required to bring it to life. However, in ordinary reality we might find some models for orientation already, such as the 17 Sustainable Development Goals of the United Nations24 or the Planetary Boundaries Framework.25 As for non-ordinary reality, it is primarily up to shamanic practitioners to take responsibility, commune with the spirits, identify the hallmarks of a beneficial future and put them into action. The voices of the shamans have gone unheard long enough. It is time to raise those voices again. It is time to act. This is not only a recommendation given our responsibility to upcoming generations, it is a mandate for our future. This is a revised version of an article originally published in the Journal of the Foundation for Shamanic Studies “Shamanism Annual”, Issue 33, December 2020, pp. 25-29.
22 Cf. Mokelke, Susan (2008): Ethical Considerations in Shamanic Healing. Shamanism Annual. Issue 21. pp. 34-36. 23 See Mertens, Donna M. (2017): Transformative Research: Personal and Societal. International Journal for Transformative Research. Vol. 4, Issue 1. pp. 18-24; NASEM – The National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (2019): What is Transformative Research? Washington, DC: The National Academies Press. https://www.nap.edu/read/21881/chapter/3; 19.09.2024. 24 UN – United Nations (2020): The 17 Goals. https://sdgs.un.org/goals; 19.09.2024. 25 SRC – Stockholm Resilience Centre (2024): Planetary boundaries. https://www.stockholmresilience. org/research/planetary-boundaries.html; 19.09.2024.
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“LET THE WHEEL OF CHANGE TURN” THE CORE SHAMANIC ONE-YEAR ONLINE TRAINING PROGRAMME “With this programme, the Foundation for Shamanic Studies Europe builds upon the classical setting of shamanic training, offering a modern, digitally ‘remastered’ platform of spiritual teachings. It is my hope that this will make the shamanic cosmology accessible to an even broader public, by breaking it down into a modernday vocabulary, and using digital and online assets to address the world’s ever more complex needs and requirements.”26 Participant of the Core Shamanic One-Year Online Training Programme “Change and Transformation” THE BACKGROUND: NEED FOR CHANGE We are experiencing an epochal transition. The need for change is apparent. This can be expressed in just three numbers, representing three abysses of our times:27 •
The ecological abyss: 1.7 Our economies currently consume the resources of 1.7 Earths (the USA, of 5).
•
The social abyss: 26 26 billionaires own as much as the poorer half of the entire human race, a total of 3.8 billion people.
•
The spiritual abyss: 800,000 The number of annual suicides worldwide – more than the sum of all people killed by war, murder and natural disasters.
The path that we, the “Westerners”, are following no longer gets us anywhere. We need to evolve from an “EGO-system consciousness” to an “ECO-system consciousness”. This shift is not partial or temporary, but substantial. It influences our notions of democracy, education, economy, ecology and the self.28
26 Quotes in italics are original statements by participants of the 1st Core Shamanic One-Year Online Training Programme, November 2020 to November 2021. 27 Scharmer, Otto C. (2019): Essentials der Theorie U. Grundprinzipien und Anwendungen. Heidelberg: Carl Auer. p. 21f. Status of data: 2019. 28 Ibid., pp. 19f.
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FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
We are facing the most massive event29 in modern history – climate change, including dramatic alterations in our ecosystems. Furthermore, the pandemic report of the IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services 2020) impressively shows that addressing a singular phenomenon (climate change, pandemics, etc.) is not expedient or sufficient and an overall view is required: Dramatically decreasing biodiversity and ever more reduced habitats for wild animals, for example, lead to visibly narrower corridors for wild animals to pass from one (protected) area to another. In consequence, the proximity of wild animals and humans is increasing, and so is the probability of viral transmissions. Further pandemics would be an expected and almost logical effect. According to the authors of the IPBES report, we could enter an “era of pandemics”.30 The Stockholm Resilience Centre, with its model of the Planetary Boundaries Framework31 (see Figure 1), also sends out an urgent call: We have crossed some of the red lines already. Specifically, the developments involving biodiversity (biosphere integrity), novel entities (plastic and synthetic chemicals), biogeochemical flows (in essence, the use of nitrogen and sulphur in agroindustry) and climate change have reached a state that is not controllable and is thus no longer manageable. The ironic side of this: We all know it. Evidence is widely available. But we still do not act effectively. We are not implementing the changes and transformations needed.
29 In the sense of Žižek, Slavoj (2014): Event. London: Penguin. 30 IPBES (2020): Pandemics Report: Escaping the “Era of Pandemics.” https://ipbes.net/pandemics; 19.09.2024. 31 SRC – Stockholm Resilience Centre (2024): Planetary boundaries. https://www.stockholmresilience. org/research/planetary-boundaries.html; 19.09.2024.
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Fig. 2: SRC – Stockholm Resilience Centre (2024): Planetary boundaries
CHANGE BY DESIGN – OR CHANGE BY DISASTER? Change and transformation, taken by themselves, are empty containers. To change for the better, intention is required – based on the needs (Why should we change?) and creating a direction (How should we change?). Here, ethics come into play. In Core Shamanism, we do not apply an anthropocentric perspective but a transcendent one. Consequently, the intention is not to pursue human interest but to work on a sustainable future for all lifeforms. This corresponds with the rationale of shamanism as a spiritual ecology.32 Change takes place in any event, as life is change. Our lives are characterized by an ongoing chain of change events that lead to personal transformation and force the evolution of being. Earthly life itself could be seen as one transformative process, with birth and death as major transitions.33
32 Cf. Harner, Michael (1990): The Way of the Shaman. Preface to the Third Edition. New York: Harper & Row. p. xiii. 33 Even 4.5-billion-year-old Earth herself undergoes an aging process that is characterized by major transformations. Cf. Lovelock, James (2020): The Novacene. London: Penguin Books.
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FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
So, the question is not whether change takes place, but how. We can change by design or by disaster. Change by disaster emerges when new phenomena occur that we are not prepared for, when we are affected by major external events that massively destabilize the system(s) involved, or when an imbalance is unaddressed for too long. We all know the latter: When we are struck by (severe) sickness because we did not want to see the signs; when we ignore conflicts in relations, whether in our own family or in the local community; or when tensions on the international level are not resolved. Change by disaster, usually, has a history, but only becomes apparent and visible through crisis. At this point, it is no longer possible to take preventive action, and intervention is required because the consequences and effects on the existing system are too severe. In this case, the first step is stabilisation in order to avoid a collapse. On a global level, we have been experiencing an ongoing crisis of change since the 1950s, marking the end of the Anthropocene.34 On top of that – or as an effect of it – we are undergoing major societal transformations through digitalisation, new pandemic phenomena and climate change. Whether this whole development will be for the better or for the worse is still unknown. However, the window of opportunity is closing rapidly. Currently, it seems that our chosen path leads towards disaster.35 Change by design, on the contrary, means to develop a vision of the intended direction, create conditions for change to happen and make ourselves ready for it.36 The effects may still be severe, but we would become more resilient along the way.37 We would learn to work actively with the power involved and to implement actions of change that represent small steps towards the envisioned future. In other words: Change by design means managing change – in order to avoid becoming overwhelmed; to act instead of merely react; and – most importantly – to contribute and be part of the solution.
34 Steffen, Will, Broadgate, Wendy, Deutsch, Lisa, Gaffney, Owen, Ludwig, Cornelia (2015): The trajectory of the Anthropocene: The Great Acceleration. The Anthropocene Review. Volume 2, Issue 1. pp. 81-98. 35 For example, the significant reductions in global CO2 emissions observed in the wake of the Covid-19 pandemic (approx. 6% in 2020) did not last long. The historic all-time high of 2019 was almost reached again in 2021. Conclusion: 2020 impressively demonstrated that a significant reduction in CO2 emissions – one of the main drivers of climate change – is fundamentally possible; 2021 proved that we are apparently not yet ready for this. See Davis, Steven J. et al. (2022): Emissions rebound from the Covid-19 pandemic. Nature Climate Change. Vol. 12. pp. 412-414. 36 See also WHO – World Health Organization (2020a): International Day of Epidemic Preparedness. Message from WHO Director-General Dr Tedros Adhanom Ghebreyesus. https://www.who.int/newsroom/events/detail/2020/12/27/default-calendar/international-day-of-epidemic-preparedness; 19.09.2024. 37 See, for example, Braden, Gregg (2014): The Turning Point: Creating Resilience in a Time of Extremes. Carlsbad/CA, New York, London, Sydney, New Delhi: Hay House. S. 137-174.
75
Seen from this perspective, shamans are classical change managers: One of their core competences concerns the facilitation of transformational processes. In doing so, they include spiritual aspects as a matter of course and create conditions for holistic, progressive development.38 CHANGE & TRANSFORMATION – THE CORE SHAMANIC ONE-YEAR ONLINE TRAINING PROGRAMME “Let the wheel of change turn and support the process by action.”
The
preceding
discussion
serves
as
background
for
“Change
and
Transformation – The Core Shamanic One-Year Online Training Programme”: The One-Year Programme is designed to enable participants to proactively manage processes of change and transformation. The design of the programme is experiential in nature. It aims to foster personal transformation as well as to encourage and prepare participants to initiate and facilitate change processes on a community level or within complex systems.39 The methodology of the programme has been specifically designed for addressing the challenges and issues of our time. “This training has helped me widen my consciousness for the needs of future communities. How, when and where can we, as shamanic practitioners, serve the bigger picture? How can we integrate the knowledge and wisdom of the spirits in a world that is changing in threatening and accelerating ways?”
38 See the notion of “Plus-Healing” (Kraft, Hartmut (1995): Über innere Grenzen. Initiation in Schamanismus, Kunst, Religion und Psychoanalyse. Munich: Diederichs. p. 253). 39 For general rationale, architecture and theoretical background of the programme, see Urban, Roland (2020): Shamans – Agents of Change and Transformation. Shamanism Annual. Issue 33. pp. 25-29.
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FUNDAMENTALS OF TRANSFORMATION
CHANGE & TRANSFORMATION CORE SHAMANIC ONE YEAR ONLINE TRAINING PROGRAMME
REVIEW SESSIONS
CHANGE GROUPS
Recapitulation
Implementation
Sharing
Evaluation
Deepening
Best Practices
WORKSHOPS Knowledge Methods
WRITTEN PAPER
PEER SUPPORT
Experiences
Learnings
Intervision
Focus Issue
Process support
Conclusions
Shamanic support
Fig. 3: Architecture of the One-Year Online Training Programme
In a series of eight day-long workshops and four review sessions over the period of one year a fixed group of participants continuously builds knowledge of and practical expertise in shamanism, change and transformation. Participants learn – individually and as a group – through ongoing encounters with their personal helping spirits, along with iterative cycles of research, action, and reflection. This is supported by peers and by drafting a written paper on a focus issue. Participants are expected to design a personal change project, prepare and evaluate essential stages in so-called Change Groups, and implement relevant “responsible action” in ordinary reality. In other words: Participants develop fundamental shamanic knowledge and skills on change and transformation, in order to transfer these to ordinary reality through responsible action. In so doing, they stimulate change and transformation in everyday life, in themselves as well as in others.40
40 For further details, see https://www.shamanism.eu/en/workshops/workshop-details/change-andtransformation-core-shamanic-one-year-online-training-programme; 19.09.2024.
77
“The programme unfolded itself like a puzzle, with each session representing one or more pieces of that puzzle. Things became successively clearer, until the sessions combined to form a coherent unit and I understood how the practice of shamanism could facilitate change and transformation of myself, as well as of the relationships with my environment, the natural world, my family, my communities, the society, and even the universe. I liked this gradual unveiling because it seems like an initiatory process— through discovery by oneself, within a group and with the help of the spirits, in a horizontal and vertical direction.”
PILOTING NEW WAYS IN CORE SHAMANISM The One-Year Programme has been implemented three times to date, between 2020 and 2024, with participants from all over the world. The range of experiences, insights, impulses and impacts that have resulted from the programme is immensely broad. A considerable number of participants tell of significant, often life-changing developments, including a period of challenges, inner struggles, pain and distinctive transitions. All those who had gone through such initiatory processes41 stated that they felt transformed at the end and that their lives now seemed more balanced. “I learned that to change you sometimes need to overcome the fear of making the wrong decision and to endure the risk of being different or not liked.” In addition to the personal changes, projects have been successfully launched to develop models of good practice in change and transformation. They concern private as well as professional aspects, family as well as community and organisational contexts. Each of these projects was developed by the participants together with their spiritual allies. This not only underlines the basic notion of the programme – namely, in the spirit of empowerment, to translate training into concrete action and thus bring about change. The experiences and results also add to an ongoing development of expertise in the field of spiritual change management. A few examples will illustrate this: “Essential teaching and learning: The programme taught me practical ways of changing my life. This provides power to myself but also to my surroundings. I am encouraged to start changes where it makes sense, without getting lost in the huge wish to change the whole world at once. I see clearly now that it is important – and also enough – to start with small changes and projects. I developed the courage to start somewhere.”
41 Cf. also van Gennep, Arnold (2019): The rites of passage. 2nd edition. With a new introduction by David I. Kertzer. Chicago, London: The University of Chicago Press.
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“My personal change project is to reduce plastic pollution in my area. One of the outcomes: There are lots of different birds in my garden and surroundings.” “I started a tree project in my local environment in order to contribute to addressing climate change. I reviewed and further developed the project plan (that I carved out during one of the workshops) in my drum circle. This was not only helpful for me to deepen the experience, but also resulted in three further local environmental projects that have been initiated in consequence and are now in progress.” “I try to win my neighbours’ support for setting up a nice bakery and café in my neighbourhood. I found a good place and I am trying to get in touch with the building department for renting it. The vision is more connection, communication and fun in this area of my hometown.” “As a professional facilitator who works with companies, I want to encourage people in the corporate sector to reflect on and connect with nature. I have already tested the approach with some clients. Together with a colleague from Luxembourg, we started to co-design a programme.” “I initiated an inclusion project for youth with diverse disabilities. It involves the reforestation of small areas. I created a partnership with another organization for that. This project nourishes my hope that change is possible and that even small changes can contribute to making a difference on a larger scale.”
DREAMING A NEW FUTURE In one of the last sessions of the first Core Shamanic One-Year Online Training Programme, one participant shared what her spirits had told her about change: “‘Fundamental change is a strenuous, uphill path. You do not know what will come. Hence, you should not focus on the outcome but on the small steps towards it.’ I see more sense in actions now that first felt like Sisyphus’ task, rolling a rock up a mountain. I know now that every movement makes a difference: the mountain will be changed and the rock as well, and me, by rolling it. It is not so much about reaching the top; it is important to roll the rock and roll it again, as long as we are in this Middle World as bodies, with boundaries and all kinds of typical human struggling. We need to try, courageously try – and try again.” We, the Foundation for Shamanic Studies Europe, will continue to consistently roll the rock.
This is a shortened and revised version of an article originally published in the Journal of the Foundation for Shamanic Studies “Shamanism Annual”, Issue 34, December 2021, pp. 21-27.
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THE ART OF REMEMBERING We, in the so-called “Western” world, went far and have come far in the past 250 years. We made tremendous progress, at least partially, especially in terms of science and technology, as well as social cohesion, democracy and prosperity. The era of industrialization also took its toll. Our very evolution as societies led to, among other consequences, the abandonment of parts of our own spiritual traditions, resulting in a substantial loss of spiritual knowledge and power. Some practices are still available, however, often renamed, denoted as “customs” and implemented mainly in contexts of folklore or tourism. Largely, we no longer know which spirits were involved in the practices. What remains are mere procedures, without essence, without soul. The spirits involved, often Middle World spirits, for their part, have withdrawn. The reason is simple: If they are not called, they will not respond. This results in a loss of power – power that we as humans could really use. In consequence, we have to continue with what we have at hand. We might still lead a good life; however, we are not realizing our full potential. Only when lost power is retrieved and we become complete again, will we become healthy (in a holistic sense of the word). Nowadays, it seems, we have even forgotten what we lost. Hence, we need to remember.
WAKE-UP CALLS Michael Harner, beginning with his early research in the late 1950s, observed that there are transcultural and universal principles common to shamanism, regardless of the specific cultural environment. He researched those principles, experimented and carved out a safe and efficient methodology, which is now known as Core Shamanism. Harner introduced to Westerners a straightforward approach for interacting with their own helping spirits through firsthand experience. This was not only a smart, though controversial, move from a scientific point of view (as he provided a coherent and consistent model of transcultural shamanism), but also a powerful and highly influential move from a spiritual point of view: Michael Harner and the Faculties of the Foundation for Shamanic Studies worldwide have paved a good portion of the
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way for shamanic practice to become reintegrated into modern Western life.42 In the 1980s, when the first indigenous shamans began visiting Europe, many of them did so because they wanted to enable “Westerners” to re-access their own spiritual roots by allowing them to experience native traditions. They demonstrated impressively that spiritual ways are not owned by anyone, that they are not to be treated in an exclusive manner but, rather, that the power involved needs to be shared.43 They made it clear that there is a common source. They also made it clear that the specific cultural manifestations – the modalities for working with knowledge and power – correspond to specific lands, cultures and languages. Therefore they are not to be imitated, but should be acknowledged, respected and honoured in their uniqueness. In the late 1980s and early 1990s, the Kogi people of northern Colombia, who regard themselves as the “Elder Brothers” and guardians of life on Earth, addressed their so-called Younger Brothers – us Westerners – so that we might recognize and become aware of the knowledge and wisdom of aluna, a parallel spiritual dimension.44 They issued a wake-up call to stop us destroying and instead begin protecting our very life source. In a similar way, for decades, indigenous peoples all over the world have urged us to do so. All these developments happened in parallel to an ever-increasing spiral of change, culminating in our current situation, the end of the Anthropocene.45 As Albert Einstein pointed out, “[…] a new type of thinking is essential if mankind is to survive and move toward higher levels.”46 We need to create a
42 The “spiritual reawakening” in the West was not due to Harner’s research and practice only, of course. Driven by the post-World War II and Vietnam War dynamics, popular and influential movements were initiated in the 1960s that still resonate today. Significant groups of people became inspired to reclaim not only freedom and peace, but also spirituality and the healing arts. The 1960s coincided with a major onset of contemporary modes of healing, therapy and also spirituality in “Western” societies. A prominent example of this is the work of the Esalen Institute at Big Sur, California, which served as a key institution, pioneering the way by hosting many influential researchers and practitioners in the fields of science, therapy and spirituality. These included Abraham Maslow, Fritz Perls, Fritjof Capra, Charlotte Selver, Ida Rolf – as well as Carlos Castaneda and Sandra and Michael Harner. See https:// www.esalen.org/ctr/past-initiatives; 19.09.2024. 43 This does not mean that the oppression and killing of indigenous peoples, as well as the theft of their spiritual legacies, in the past and present, based on a colonial, imperialistic and Eurocentric rationale, should be minimized. The contrary is the case. We should conduct an open and transparent dialogue about those traumas and work toward reconciliation. In general and given the challenges ahead, negotiation, even on a global scale, regarding how to deal with humanity’s spiritual, intellectual and material resources seems to be greatly needed. 44 See Ereira, Alan (1990): The Heart of the World. London: Jonathan Cape. P.S.: Nothing really changed, because now, more than 30 years later, the Kogi are back in Europe, again addressing the people here, with the same message. 45 See e.g., Laux, Henning, Henkel, Anne (eds.) (2018): Die Erde, der Mensch und das Soziale. Zur Transformation gesellschaftlicher Naturverhältnisse im Anthropozän. Bielefeld: transcript; Urban, Roland (2020): Shamanism and Digitalisation. Wartberg ob der Aist: FSSE. pp. 18f. 46 Einstein, Albert (1946): “Atomic Education urged by Einstein. Scientist in Plea for $200,000 to Promote a New Type of Essential Thinking.” New York Times. May 25, 1946. p. 11.
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new narrative. The “Art of Remembering”, according to my hypothesis, could substantially promote this.
WAYS OF REMEMBERING Shamanic practice offers manifold ways of remembering, not only by preserving knowledge and power, but also by transferring them to modern life and by generating new power. The following are just a few examples.
Myths of Creation “They believe that long, long ago, Äłquntäm, the supreme god, caused their first ancestors to be created in his house, Nusmät-a, in the land above, and sent them down to populate the Bella Coola valley. These first people came in groups of two or three, brothers and sisters, or occasionally man and wife, each group descending, in many cases in animal form, to a certain mountain and then making their home at its foot. They brought with them animals and fish, tools and houses, also the knowledge of ceremonial dances.”47 Creation myths describe singular events48 with sustainable impact. They tell of stories of origin and refer to the existence of the spirits.49 Creation myths represent the basis for communal identification and tradition; they are essential reference points of the social order.50 And yet, they are not singular at all. Creation is not a historical, one-moment-in-time phenomenon, it is ongoing. By reconnecting to original sources, one can obtain power for current issues.
Sacred Songs and Stories It is said in Tuva that “… the songs were written at a time when there was no writing.”51 Songs, just like stories and ceremonial dances, are media to transfer the power and knowledge of the ancestral lines into modern days. They are part of oral culture, they are traditional ways of collective remembering, keeping sacred wisdom alive. “Stories and songs are not 47 McIlwraith, Thomas F. (1948; reissued 1992): The Bella Coola Indians. Vol. 1. Toronto, Buffalo, London: Toronto University Press. p. 4. 48 See Žižek, Slavoj (2016): Was ist ein Ereignis? Frankfurt am Main: S. Fischer. pp. 52f. 49 For an overview of various cultural myths of creation see e.g., Tworuschka, Monika und Udo (2011): Schöpfungsmythen. Darmstadt: Primus 50 See Urban, Roland, Huguelit, Laurent (eds.): Schamanismus und Ökologie. Chamanisme et Écologie. Wartberg ob der Aist: FSSE. p. 27. 51 Kenin-Lopsan, Mongush B. (2013): Schamanengesänge aus Tuwa. Edited by Paul Uccusic. Göttingen: Lamuv. p. 15.
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objects or artifacts, but living beings.”52 They connect past and present, thus assuring that essential values and principles, and with it the corresponding power, are not lost. If the younger generations tell the stories, sing the songs and dance the dances, then the tradition will persist; if the stories, songs and dances fade away, it will be lost.
Ways of Balance The principal aim of shamanic healing is to create or maintain balance. The goal is to gain power or to be in power. If one is in full possession of one’s power, resilience is guaranteed, flexibility and security of action as well as competence in finding solutions are given. Then, harmony – balanced relations among the beings involved – is given. In full possession of spiritual power, the human being is really and truly capable of love.53 If power is lost, it can be retrieved, together with the memory of a state of completeness. This applies to individuals and communities, as well as to ecosystems and nature as a whole. The Karuk people of California, for example, perform the “World Renewal” ceremony to remind humans of their obligations to other spirits. They do this not merely for spiritual reasons, but also to secure balanced management processes in ordinary reality: By resurfacing traditional principles, they are evaluating and renewing current standards.54
The Rhythm of the Natural One aspect of the Anthropocene narrative is that we can create stability by controlling natural forces and rhythms. In the face of some of the direct effects of this rationale, primarily phenomena such as pollution and climate change, this myth seems to collapse. It seems inevitable to move away from a lifestyle that is characterized by the 24/7 availability of all desired goods and services, and, instead, to return to a notion of life based on the rhythms of nature and focused on the resources that are indispensable. A while ago, I discussed this topic with a network analyst in the electricity supply sector. He told me that, over the years, he has seen a change in the way “the network” evolves and reacts: Due to the massive use of fossil resources to
52 Van Deusen, Kira (2001): The Flying Tiger. Women Shamans and Storytellers of the Amur. Montreal & Kingston, London, Ithaca: McGill-Queen’s University Press. p. xii. 53 Urban, Roland (2014): “Über Kraft”. In: Picard, Winfried, Wohlfarter, Sylvia (ed.): Schamanismus heute. Aktuelle Berichte aus Forschung und Praxis. Ahlerstedt: Param. 193-220. p. 214. 54 Mann, Charles C. (2022): “We are here.” National Geographic. July 2022. pp. 57-60.
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produce electricity, we have been able to create stable network conditions, providing security for industry and end users. Nowadays, in the midst of an incipient system change due to the decrease of fossil energy and the increase of renewable forms of energy, the network has become much more dynamic and less controllable. The conclusion is: Either we continue to follow the existing narrative and return to creating (artificial) stability by burning fossil energy sources; or we accept and acknowledge the natural volatility of life and develop new models and algorithms that respond to the changed network characteristics. “We are not there yet,” the network analyst concluded, “but that´s the direction things will develop towards.”
Peace & Reconciliation “The feet of the dancers pounding the earth was symptomatic of the rumblings of the earth which presaged the change. In the beyond, the message declared, they too were dancing, and to dance here in the same way was an augury of the coming reunion.”55 The Ghost Dance Movement in 19th-century North America aimed at calling on the ancestors to return. The dancers asked for peace, reconciliation and harmony, for Native peoples as well as for the so-called “white” people.56 Native Americans knew that there is no road ahead other than peace among all humans, no matter what their origin is. By reactivating ancestral power, they tried to reunite and recall the common ground of humanity.
Dismemberment During dismemberment, a shamanic experience of initiatory relevance, one can experience the primordial state, a moment of completeness, a moment of remembering that reconnects us to the very source of being. “What is this remembering? It is one memory and yet many. It is the Dreamtime. It is the mythic reality. It is the reality where there is no time. It is the memory of the union with the universe that existed before we were each individualized through conception and birth into this ordinary reality. It is the memory of the cosmic consciousness from which we came and to which we will return. Besides receiving new power, an important unexpected gift from dismemberment-rememberment is the gift of experiencing, however
55 Lesser, Alexander (1933): The Pawnee Ghost Dance Hand Game. A Study of Cultural Change. New York: Columbia University Press. p. 105. 56 See Mooney, James (1896; 1965): The Ghost-Dance Religion and the Sioux Outbreak of 1890. Chicago, London: The University of Chicago Press. p. 19.
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briefly, dismembering our ordinary-reality consciousness and experiencing rememberment – not just of the body, but of the mind, remembering our union with the infinite, the ineffable, the total universe.”57 Dismemberment, in this sense, is the ultimate act of remembering, performed by the shamans.
METAMORPHOSIS We went far. It seems that now the time has come to let the pendulum swing back, on the search for the “golden centre”, a state of dynamic equilibrium. It is about returning – not to the chronological or developmental origin, but to the source. It is about retrieving and remembering before moving farther out. We are in the midst of a major transformation. Still, there exists an intermediate space between change by design and change by disaster. We have capacities available to proactively facilitate the transitions and change processes involved. The theoretical and technological preconditions seem to be in place and the resources are available. What we need – but still lack – are mainstream awareness of the necessity for system change and political will to bring it on track in practical terms. If we do not use this window of opportunity wisely – and soon enough – it will close, with dramatic and substantial consequences.58 We would be well advised to limit ourselves to what is necessary and sensible. Shamanism, together with science, technology, social politics and arts, can help in this endeavour. If we succeed in finding a new quality in reduction, then we can write an alternative narrative and return empowered. It is just like the butterfly during metamorphosis, this most intriguing transformation in the course of its natural development: Having started life as an egg and hatched into a larva, the caterpillar grows and moults, goes through a stage of voracious feeding, until it forms a chrysalis and withdraws into it. “During metamorphosis, the butterfly caterpillars are decomposed by their own digestive juices. Only a few cells are spared from this process and form the seeds for the new body of the imagines.”59 The caterpillar is reduced to a minimum in order to emerge into the imago, the adult insect, in the final stage of its metamorphosis. 57 Harner, Michael (2013): Cave and Cosmos. Shamanic Encounters with Another Reality. Berkeley: North Atlantic Books. p. 186. 58 Urban, Roland (2021): “Let the Wheel of Change Turn: The Core Shamanic One-Year Online Training Program.” Shamanism Annual. Issue 34, 21-27. pp. 21f. 59 Langley, Liz (2020): How a caterpillar becomes a butterfly: Metamorphosis, explained. https:// www.nationalgeographic.com/animals/article/science-of-metamorphosis-butterflies-caterpillars; 19.09.2024.
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Using this metaphor, we, as humanity, are on the threshold of the chrysalis: We can eat ourselves to death (which would have to be designated as defective development) or we can remember the essence and thus secure our future. This also requires the Art of Remembering – and the realisation that a new form can unfold from the essence.
This is a revised version of an article originally published in the Journal of the Foundation for Shamanic Studies ‘Shamanism Annual’, Issue 35, December 2022, pp. 18-23.
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG STORIES OF CHANGE TESS JAGGY & HOWARD FINE MINKA VON KRIES
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Lausche dem Wind Brise haucht Vertrau der Bö. Betöre den Sturm. HOWARD FINE
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mind wind breeze breathes trust gust charm storm HOWARD FINE
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TESS JAGGY
HOWARD FINE
Schamanisch Praktizierende Shamanic Practitioner
Heilpraktiker Naturopath
Tess Jaggy wurde in eine Familie von Heiler:innen hineingeboren, deren Wurzeln in den spirituellen Traditionen der Appalachen und in intuitiven Fähigkeiten liegen. Nachdem sie schon in jungen Jahren von Mentor:innen in verschiedene Praktiken eingeweiht wurde, wandte sie sich dem Schamanismus zu und ist heute schamanisch Praktizierende. Ihre Arbeit erstreckt sich über drei Kontinente und umfasst unter anderem den Bereich des Gesetzesvollzugs genauso wie wohltätige Dienste in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Derzeit lebt sie in der Schweiz und in Italien.
Howard Fine studierte Philosophie am Harvard College in Cambridge, Massachusetts, und amerikanische Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er tanzte in Modern-Dance- und klassischen Ballettensembles und wirkte bei Kunstperformances als Choreograph und Darsteller. Mit den Ströer Bros. teilte er den Preis der Deutschen Schallplattenkritik für das Jazz-und-Lyrik-Projekt „Nomaden“, das von den CDs „Voodoo Travel“ und „homeward“ gefolgt wurde. Er ist Heilpraktiker für Psychotherapie, schamanischer Berater, Yogalehrer und deutsch-englischer Übersetzer.
Tess Jaggy was born into a lineage of healers with ancestral roots in Appalachian spiritual traditions and intuitive gifts. After training in various modalities with mentors from a young age, she pursued shamanism and is now a shamanic practitioner. Her practice spans three continents, including work with law enforcement in Southeast Asia and pro bono services in hospitals and residential care facilities. She currently divides her time between Switzerland and Italy.
Howard Fine studied philosophy at Harvard College in Cambridge, Massachusetts, and American literature at Ludwig Maximilian University in Munich, Germany. He danced in modern dance and ballet companies and contributed to performance art events as a choreographer and performer. He and the Ströer Bros. shared the German Record Critics’ Award for their jazz and poetry project “Nomaden”, which was followed by their CDs “Voodoo Travel” and “homeward”. Howard is a naturopath for psychotherapy, shamanic counsellor, yoga teacher, and German-English translator.
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
TESS JAGGY & HOWARD FINE
PERSÖNLICHE GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG Das Core Shamanic Research Laboratory (CSRL) wurde im April 2020 von der Foundation for Shamanic Studies Europe (FSSE) gegründet. Das CSRL besteht aus
einer
vielfältigen
Gruppe
schamanisch
Praktizierender,
deren
Schwerpunkt auf der Erforschung der alltäglichen und nicht-alltäglichen Wirklichkeit im Zusammenhang mit aktuellen Herausforderungen unserer Zeit liegt, z.B. Klimawandel, Digitalisierung, Covid-19-Pandemie sowie politische Spannungen, Konflikte und Krieg.
Im Januar 2021 unternahm jede:r CSRL-Teilnehmer:in eine schamanische Reise, um für sich persönlich herauszufinden: „Was ist mein Projekt des Wandels und der Transformation?“ Zur Dokumentation der Ergebnisse des anschließenden Prozesses wurde jeder schamanisch Praktizierende einige Monate später von einem anderen Mitglied des CSRL interviewt. Die Interviewer:innen stellten folgende Fragen: •
Was hat dich in den letzten Monaten am meisten berührt?
•
Was hat dich am meisten verunsichert?
•
Wie lautet dein Ziel und wie beeinflusst dieses den Weg, den du gehst?
•
Welche Umstände in der alltäglichen Wirklichkeit haben die notwendige Veränderung am deutlichsten angezeigt bzw. sichtbar gemacht?
•
Was sagt dein Herz zu deiner Veränderung und Transformation?
•
Wie würdest du die Qualität der Veränderung beschreiben?
•
Wie bist du in den Fluss der Veränderung und Transformation gekommen?
•
Kannst du beschreiben, wo du dich in diesem Prozess der Veränderung und Transformation jetzt siehst?
Aufgrund der Internationalität der Gruppen und weil es während der Pandemie nicht möglich war, sich persönlich zu treffen, wurden die Interviews aus der Ferne geführt. In einigen Fällen hatten sich die Interviewer:innen und die Befragten noch nie außerhalb einer digitalen Umgebung getroffen. Trotz der räumlichen Distanz und der Virtualität der Gesprächsumgebung ist der zutiefst persönliche Charakter und die Intimität, die während der Interviews geteilt wurden, unverkennbar.
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Der erste Artikel befasst sich mit gemeinsamen Themen aus einem Dutzend Einzelinterviews zum Thema Persönliche Geschichten der Veränderung. Die Abschnitte sind so angeordnet, dass sie ein Stück in vier Akten bilden, welches die
Gedankengänge
zum
Thema
Veränderung
und
Transformation
zusammenfasst. Die Teilnehmer:innen sprechen für sich selbst. Um die Essenz aller Erfahrungen weiter zu akzentuieren, sind wir CoAutorinnen zu unseren spirituellen Verbündeten gereist, um zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen. Der Bericht über dieses Unterfangen folgt im zweiten Artikel.
Wir laden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ein, sich auf die persönlichen Geschichten der Veränderung einzulassen.
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
„Nicht ich bin es, der sich selbst erschafft, vielmehr werde ich geschaffen.“ C. G. Jung
ICH HABE JETZT WENIGER ANGST ALS VORHER
EIN STÜCK IN VIER AKTEN
AKT 1 ANSTRENGUNG, EINSAMKEIT UND ISOLATION Am Höhepunkt der Covid-19-Pandemie: Gefühle der Einsamkeit, Isolation und Frustration sind omnipräsent. Unsicherheit, Angst und Wut liegen in der Luft. Ständige Veränderung, Kontrollverlust, Planlosigkeit. MvK: „In den letzten Monaten war ich oft einsam, hatte viel Angst, fragte mich, was noch kommen wird und was gerade passiert. Ich war ängstlich und empfand es als sehr schmerzhaft. Ich fühlte mich bedürftig.“ CB: „Für mich war es Chaos, echtes Chaos – aus diesem hat sich ein Bewusstsein für die Essenz des Lebens herausgebildet: die Liebe.“ TJ: „Einige Monate vor der Pandemie wurde mein engerer Familienkreis getrennt, da mein Ehemann für fast zwei Jahre eine Arbeitsstelle in Europa angenommen hatte. Zuvor war unser Lebensmittelpunkt in Südostasien gewesen. Wir beschlossen, dass ich zurückbleibe, um unserem Sohn seinen Schulabschluss ohne Unterbrechung zu ermöglichen. Die Trennung belastete unsere Beziehung, der Stress der Pandemie fügte zusätzliche Probleme hinzu. Ich lebte im Lockdown, während unsere Beziehung zerbröselte. Das war sehr schwierig. Ich konnte nicht schlafen und war unglaublich traurig. Es war eine dunkle Zeit für mich.“ AH: „Wenn man das große Ganze betrachtet, auf einer kollektiven Ebene, ist es äußerst beunruhigend zu sehen, dass die verschiedenen Krisen dazu missbraucht werden, den Faschismus weiter zu verbreiten.“
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AKT 2 FAMILIE Wir alle sind Teil von etwas Größerem. Familie ist die stabile Säule, die sich dennoch ständig weiterentwickelt – durch die Stärkung von Verbindungen, durch Trennung, Verlust und Auflösung oder durch Elternschaft. TJ: „Irgendwann habe ich mir selbst eingestanden, dass ich das, was ich brauche, nicht bekomme. So habe ich mich auf die Suche begeben, um herauszufinden, wie ich mich selbst füttern kann. Es hat eine Weile gedauert, bis ich verstanden habe, dass Zeit für mich selbst zu nehmen nicht bedeutet, dass ich andere Menschen abweise. Ich tue mir selbst etwas Gutes und nähre meinen Körper.“ VO: „Mein Herz ist ein Kompass. Er zeigt mir die Liebe für meine Tochter und die Liebe für diese Welt.“ CB: „Derzeit dreht sich alles – mein gesamtes Leben – um das Baby in meinem Bauch. Ich kenne all die Formen der Liebe noch gar nicht. Ich denke, dieses Kind wird sie mir zeigen.“
AKT 3 KLARHEIT, HOFFNUNG UND VORWÄRTSDRANG Es entsteht ein stärkeres Bewusstsein für die Bedeutung von Gemeinschaft und Zusammenarbeit. Aktiv zu werden und die Gemeinschaft etwa durch Freiwilligenarbeit, gemeinschaftliches Gärtnern oder Hilfe für gefährdete Menschen zu unterstützen, scheint einen Weg nach vorne darzustellen. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und die Arbeit in ihr geben ein Gefühl von Trost, Unterstützung und Hoffnung. Man schöpft neue Kraft, überwindet Hindernisse und empfindet Ehrfurcht. Helfende Geister unterstützen mit überraschenden Antworten und der Kraft, Bewusstsein und Wissen in die Tat umzusetzen. Dies erzeugt Gefühle von Frieden, Zufriedenheit und Klarheit. TJ: „Die Antwort, die meine helfenden Geister mir gaben, war dramatisch. Sie sagten: ‚Füttere dich selbst, denn du bist am Verhungern.‘ Ich hatte es selbst nie so gesehen und musste mich für eine Weile mit der Frage beschäftigen: Bin ich am Verhungern?“ MvK: „Wir sagen oft, du musst dir die Welt erträumen, in der du leben möchtest.“ ES: „Mein Herz sagt mir, dass ich authentisch bleiben soll, dass ich so bleiben soll, wie ich bin, dass ich für mich selbst und meine Gesundheit sorgen soll,
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
um dann Brücken zu bauen und anderen zu helfen. Ich fühle mich mutiger als je zuvor. Ich musste sechs Wochen in einem Rehabilitationszentrum verbringen, nachdem bei mir eine funktionelle neurologische Störung diagnostiziert worden war. In dieser schweren Zeit habe ich meine spirituellen Verbündeten sehr nah bei mir gespürt – so stark wie noch nie zuvor. Sie waren stets an meiner Seite, um mir zu helfen.“ RU: „Zusammenarbeit ist leider ein missverständliches Wort, da es eine bestimmte Konnotation von ‚Arbeit‘ beinhaltet. Wesentlich scheint aber, gemeinsame Erfahrungen zu machen – nicht nur mit anderen Menschen, sondern letztlich mit allen Wesen, egal in welcher Wirklichkeit. Die gemeinsame Erfahrung ist das Schönste, das es gibt. Sie erfüllt multiple Zwecke, lässt Hindernisse überwinden und Konflikte lösen. Im Tun lernst du die andere Person sehr gut kennen, dies kann zu Kooperation, Empathie, Liebe und Frieden führen.“ TJ: „Es ist unglaublich, wie viele Wege die Natur hat, um uns zu zeigen, dass sie uns liebt und dass wir niemals allein sind.“
AKT 4 TRANSFORMATION Veränderung und Transformation können nicht in Zahlen ausgedrückt werden, sondern sind fortlaufend und nachhaltig. In den anfänglichen Phasen müssen oftmals Anstrengung, Verlust und Angst durchlaufen werden, bevor man in einen neuen Status übergeht, im Idealfall gekennzeichnet durch Erfahrung, Einsicht, Ermächtigung und Entwicklung. AH: „Eine Seite ist das Gefühl des Verlustes, die Trauer um das, was nicht mehr gültig zu sein scheint oder als ungültig angesehen wird, verbunden mit dem persönlichen Verständnis darüber, was losgelassen werden muss.“ RU: „Nach einem heftigen Sturm waren viele der Bäume auf unserem Grundstück stark beschädigt oder sogar entwurzelt. Zuerst war ich schockiert und empfand große Trauer ob des Verlusts der Bäume. Diese wurde aber schnell durch das Gefühl der Dankbarkeit ersetzt, dass nicht noch mehr Schaden entstanden war. Die Entscheidung war gefallen: Ich musste nun proaktiv die Veränderung unseres Grundstückes gestalten. Es war ein dynamischer Prozess: Trauernd zersägte ich die beschädigten Bäume – jenen den letzten Tribut zollend, die einst so prächtig in meinem Garten standen und jetzt in Stücke geschnitten dalagen. Ich erkannte, dass sie für immer weg sein und die Eindrücke unseres Grundstückes nie wieder die Gleichen sein würden. Ich entschied mich – wie sonst auch – bewusst dafür, nicht an alten Bildern zu hängen, sondern Veränderungen zu akzeptieren und sie zu unterstützen.“
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KG: „Du kannst die Richtung von Veränderungen nicht immer bestimmen. Du musst dich ihnen hingeben, irgendwie damit leben, die Welle reiten.“ RP: „Die Geschwindigkeit meiner Veränderung hat sich erhöht. Andere Menschen bemerken, dass ich mich verändere. Sie kommentieren es. Sie sehen, dass ich mich vorwärtsbewege.“ TJ: „Es ist eine ganz neue Welt, un territorio sconosciuto. Ich befinde mich in unbekanntem Territorium – und entwickle mich ständig weiter.“ MvK: „Ich habe jetzt weniger Angst als vorher.“
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DIE STEHEN GEBLIEBENE WEIDE: VERÄNDERUNG VERSTEHEN Es ist später Nachmittag. Ich liege bequem, setze meine Kopfhörer auf und höre die vertrauten Trommelrhythmen. Innerhalb von Sekunden verändert sich mein Bewusstsein: Ich steige zur Decke empor und weiter, durch das Dach meines Hauses. Augenblicke später komme ich an meinem Startplatz an, kurz danach in der Unteren Welt. Ich laufe durch langes, grünes Gras. Die Sonne scheint und ich sehe meine hilfreichen Geister, meine spirituellen Verbündeten, die mich auf dem Hügel erwarten.
Wir begrüßen uns und ich bin von ihrer Liebe überwältigt. Wir sitzen und ich frage: „Was könnt ihr uns zu dieser kollektiven Stimmung der Frustration, des Kampfes, der Einsamkeit und Isolation sagen?“ Spirit antwortet: „Es gibt kein Individuum. Was eine:r fühlt, wird von allen gefühlt. Was eine:r bedauert, bedauern alle. Was von einem oder einer geliebt wird, wird von allen geliebt. Was von einem oder einer geteilt wird, wird an alle weitergegeben. Es gibt nur Liebe. Selbst Hass ist Liebe. Zorn ist Liebe. Einsamkeit ist das Bedürfnis nach Liebe. Kampf ist ein Mangel an Liebe. Frustration ist, wenn man nicht bekommt, was man braucht, und das ist letztlich Liebe. Liebe verwandelt alles. Liebe verändert alles. Liebe ist ALLES. Niemand ist jemals allein, denn ihr seid alle EINS.“ Mir wird eine Szene gezeigt, in der ich mich mutwillig gegen einen unsichtbaren Widerstand stemme, dann wird mir ein Weidenbaum gezeigt, der von stürmischen Winden gebeutelt wird. Spirit sagt: „Du kämpfst dagegen, obwohl du dich fallen lassen solltest. Vertraue und – wie die Weide – wirst du stehen bleiben.“ Ich bitte Spirit nach mehr und befinde mich unerwartet unter rauschendem Wasser, höre wunderschöne Musik und sehe ein Spektrum edelsteinartiger Farben, die kaskadenartig herabfallen. Spirit sagt: „In allen Gefühlen steckt Schönheit, und jeder Mensch hat eine Melodie, sogar sein Schmerz. Das Lied ist manchmal disharmonisch, aber es ist immer noch Musik. Die Farben vermischen sich zu einem Ausdruck des Lichts. Schmerz ist eine Lektion. Wenn wir aus unseren Lektionen lernen, können wir den Schmerz nutzen, um vorwärtszukommen. Ein Schritt, selbst ein einziger Schritt vorwärts, ist bedeutsam. Geh immer weiter vorwärts.
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Es gibt Hoffnung. So zu bleiben wie bisher, ist eine Art Tod. Veränderung ist Leben. Geh weiter vorwärts.“
Ich frage: „Bitte sprecht mit mir über unsere Nöte.“ Andere helfende Geister treffen ein. Einer von ihnen hockt auf meiner Schulter, aber keiner scheint es eilig zu haben, zu antworten, bis der Geist auf meiner Schulter spricht. Spirit sagt: „Berühre mein Gesicht.“ [Ich tue es.] „Siehst du, wie fest es ist? Unzerbrechlich.“ [Ich nicke.] „Es ist wie meine Liebe zu dir und der Menschheit. Sie ist unzerbrechlich – und du bist unzerbrechlich. In all deinen Nöten bist du unzerbrechlich. Ihr werdet siegen.“ Während ich darüber nachdenke, beobachte ich einen anderen Geist, der sich pflegt. Sie hält an und dreht sich um, um mich zu lecken. Ihre Zunge ist hart und kratzig. Spirit sagt: „Manchmal sind Strapazen gut für dich. Strapazen formen dich, verändern dich, formen dich zu dem, was du werden sollst. Sie reinigen dich, erschaffen dich, machen dich MEHR. Sie bauen dich auf. Wenn du glaubst, dass du zerbrochen bist, erkennst du, dass du nicht zerbrochen bist: du brichst auf. Lass diese Öffnung mit Liebe, Dankbarkeit und schließlich mit Verständnis erfüllt sein.“ Ein Kreis aus großen, runden Steinen umgibt den Hügel. Ich frage einen Geist nach ihrer Bedeutung. Spirit sagt: „Die Steine sind Wegweiser. Jeder steht für etwas, das du überwunden hast. Man nimmt eine Last auf, überwindet sie und lässt sie zurück: Das ist das Leben. Sie stehen auch für ein Fundament, auf dem man aufbauen kann. Härte formt und erweicht dich. Es lehrt dich Mitgefühl. Wenn du keine Schwierigkeiten erlebst, wirst du es nicht zu schätzen wissen, sie zu überwinden. Wenn man sie überwindet, kann man sie erkennen und anderen helfen, sich in den Dienst der anderen stellen. Das ist Liebe. Liebe ist Dienst und Dienst ist Liebe.“
„Was ist mit Gemeinschaft und Hoffnung?“, frage ich. Ein helfender Geist gleitet durch das Gras und rollt sich in meinem Schoß zusammen. Sie beginnt zu sprechen. Spirit sagt: „Das Wort ‚willkommen‘ lädt zu einem Gefühl der Gemeinschaft ein. Wenn ihr jemanden willkommen heißt, schafft ihr eine Gemeinschaft. In dem Moment, in dem du deine Arme, dein Herz oder deinen Herd für einen anderen öffnest, besonders für einen Fremden oder jemanden in Not, hast du
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
ihn in deine Gemeinschaft aufgenommen. Jemandem in Not zu helfen, schafft Hoffnung. Freundlichkeit ist niemals eine Schwäche. Selbst wenn du mit Bosheit konfrontiert wirst, bleibe freundlich. Wenn jemand schwächer ist als du, biete ihm Schutz. Du kannst Menschen mit deinen Worten, deinen Händen, deinem Körper, deinem Zuhause und deinem Herzen Schutz bieten. Nimm Schutz und gib Schutz. Sei Schutz.“ Ein anderer Geist fährt fort. Spirit: „Hoffnung ist das, was die Uhr in unserem Universum am Ticken hält. Die Hoffnung ist das Herz des Planeten.“ Mir werden Bilder gezeigt: Der Erdkern, Kreise, die Sonne, Menschen, die um ein Feuer tanzen, Essen teilen und alle zusammen unter einem Dach leben; ein Schutzraum, eine Menschheit, ein Volk; unter Sternen, unter vielen Sternen, vielen Monden, vielen Planeten, Schutzräumen. Spirit fährt fort: „Die Menschheit muss Hoffnung haben. Hoffnung ist nicht nur ein Gefühl oder ein Wunsch, dass etwas kommen möge. Sie ist eine greifbare Kraft, ein Wesen. Die Hoffnung ist ein Geist. Sie kann beschworen, nutzbar gemacht, gerufen, gegeben und gefühlt werden. Ruft die Hoffnung an!“
„Was könnt ihr über eure Familie erzählen?“, frage ich. Ich schaue nach oben und sehe eine scheinbar unendliche Spirale von Seelen weit über mir. Spirit sagt: „Das sind Seelen, und die Existenz einer Seele ist unendlich. Seelen inkarnieren immer wieder, um zu erfahren, zu fühlen, zu lernen und zu sein. Unsere Kraft bleibt an den Orten, an denen wir gelebt haben. Dieser Kraft wieder zu begegnen, ist das, was dir an einem Ort oder einer Person vertraut vorkommt. Familien kommen aus einem bestimmten Grund zusammen. Dein Freund ist eine Familie. Niemand ist dem anderen ein Fremder. Wir sind Teile eines Ganzen. Wenn wir in eine Welt hineingeboren werden, erleben wir uns alle gegenseitig. Es ist unmöglich, unverbunden zu sein: sich so zu fühlen, ist eine innere Wunde, die geheilt werden muss. Diejenigen, die sich allein fühlen, sind in ihrer Seele von dem Lied in ihrem Inneren getrennt worden. Unsere Seelen singen und wir alle haben die Fähigkeit, unsere Seelen singen zu lassen, Teil eines Orchesters zu sein, in Harmonie miteinander zu sein und ein Lied zu schaffen. Einheit ist Harmonie, ein gemeinsames Lied; die Familie ist der ultimative Ausdruck der Einheit. Man kann Familien gründen; sie müssen nicht aus Blutsverwandten bestehen. Familien sind Felsen, auf denen man sitzt, Bäume, die man berührt, und Pflanzen, die man pflegt. Die Nahrung, die du isst, ist auch deine Familie. Wenn du deine Hände in die Erde steckst,
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berührst du eine Familie, die vor dir gelebt hat und dich jetzt unterstützt, indem sie etwas von sich selbst zurücklässt, damit du darauf gehen kannst. Geister sind auch Familie. Wir haben mit dir eine Familie gegründet.“ Der Geist bringt mich in einen anderen Raum. Eine unendliche Anzahl von schimmernden
Blättern
aus
Gold
sind
hier
aufgehängt
und
klingen
wunderschön. Die Blätter bewegen sich zusammen und bilden ein Gewand. Der Mantel singt. Er ist schwer, aber sein Gewicht fühlt sich angenehm und beruhigend an. Spirit sagt: „Dies sind die Lieder der Seelen, die darauf warten, ein Orchester zu bilden. Eine Verbindung zwischen Seelen schafft etwas Kostbares, ein Lied. Die Liebe hat Gewicht: manchmal ist sie schwer und manchmal leicht, aber wir sollten nie vergessen zu lieben.“
Ich frage meine helfenden Geister nach Klarheit, Wertschätzung und Vorwärtskommen. Die Spirits antworten: „Wir schätzen euch alle sehr. Wunder geschehen, wenn Mitgefühl, Liebe und Empathie vorhanden sind. Vergesst das nie, wenn ihr durchs Leben geht. Es ist nicht alles verloren. Es gibt immer Licht in der Dunkelheit und Freude im Schmerz. Verliert niemals die Hoffnung. Wir sind hier, um euch zu helfen, sinnvolle Veränderungen herbeizuführen. Zweifelt nie an eurer Existenz oder eurem Sinn. Wir verstehen oder erkennen die Bedeutung von etwas nicht immer, bis wir es selbst erlebt haben. Manchmal fühlt es sich ungerecht an, aber alles, was euch widerfährt, ist notwendig. Jeder Gedanke, den du denkst, jede Handlung, die du tust, schafft unzählige Möglichkeiten. Einsicht ist Klarheit. Man kann ein Jahr auf die eine Weise beginnen und auf eine andere beenden. Atme weiter und gehe vorwärts. Wisse, dass du geliebt wirst, dass du Teil einer Familie bist, Teil eines Kreises. Du bist unendlich.“
Ich blicke über meinen Kreis der helfenden Geister hinaus und bemerke verschiedene Aspekte von mir selbst, die Szenen aus meinem Leben nachspielen. An einige Momente kann ich mich erinnern, andere könnten die Geschichte eines Fremden sein. Ich erkenne jetzt, dass ich in jedem Moment geistige Unterstützung hatte. Ich blicke zurück zu meinem Geisterkreis und sehe, wie die Geister eine Kette aus Gänseblümchen weben. Sie bitten mich um Hilfe. Ich binde einen Stängel zusammen, aber er reißt. Spirit sagt: „Das Leben ist eine Kette von Erfahrungen. Manchmal brechen Dinge. Veränderung ist Evolution. Veränderung räumt die Trümmer beiseite, um neues Wachstum zu ermöglichen. Versuche, in Momenten des Chaos zur
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
Ruhe zu kommen, um deinen Kurs zu ändern wie ein Segler, der sich dem Wind zuwendet. Wachstum erfordert auch ein starkes Fundament. Niemandem wird mehr gegeben, als er tragen kann. Sich zu entwickeln, bedeutet zu verstehen, dass wir alle Dinge, die unser Leben berühren, zu schätzen wissen sollten. Jede Erfahrung, selbst die unerträglichste, kann die Menschheit zum Besseren beeinflussen. Heilung ist wichtig für die Entwicklung. Wenn sie Ihre Wunden geheilt haben, können Sie ähnliche Wunden bei anderen heilen. Bleibt eng mit uns und all euren geistigen Helfern verbunden. Vertraue darauf, dass wir immer hier sind, um dir zu helfen.“ Wieder sehe ich das Bild der Weide, die vom Wind wild hin- und hergeworfen wird, aber immer noch steht.
Ich danke meinen helfenden Geistern für ihre Liebe, ihren Schutz und ihre Lehren. Mein Bewusstsein kehrt in meinen Körper in der Mittleren Welt zurück und ich bin wieder in der gewöhnlichen Wirklichkeit.
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STORIES OF CHANGE
TESS JAGGY & HOWARD FINE
PERSONAL STORIES OF CHANGE The Core Shamanic Research Laboratory (CSRL) was established by The Foundation for Shamanic Studies Europe (FSSE) in April 2020. The CSRL is a diverse group of shamanic practitioners whose focus is to conduct research in ordinary reality (OR) and non-ordinary reality (NOR) pertinent to current world challenges, e.g., climate change, digitalisation, the Covid-19 pandemic as well as political tensions and conflicts. In January 2021, each CSRL participant undertook a shamanic journey to inquire personally: “What is my change and transformation project?” To document the results of this process, each shamanic practitioner was interviewed several months afterwards by a fellow member of the CSRL. The interviewers asked the following questions: •
What touched you the most?
•
What unsettled you the most?
•
What is your aim and how does it influence your path?
•
Which circumstance(s) in ordinary reality (OR) pinpointed the needed change most clearly?
•
What does your heart have to say about your change and transformation?
•
How would you describe the quality of change?
•
How did you get into the flow of change and transformation?
•
Could you describe where you see yourself in this process of Change and Transformation?
Due to the impossibility of meeting in person during the pandemic and the international quality of the group, the interviews were conducted remotely. In some cases, the interviewer and interviewee had never met outside of a digital setting. Notwithstanding the distance and virtuality, the deeply personal nature and intimacy shared during the interviews is unmistakable. The first article explores common themes from a dozen individual interviews on the topic of Personal Stories of Change. The paragraphs are arranged to form a play in four acts, summarising lines of thought on the topic of change and transformation. The participants speak for themselves. To underline the essence of all the experiences, we co-authors journeyed to our helping spirits for additional understanding. The record of this undertaking follows in the second article. We invite you, dear reader, to come along on the Personal Stories of Change.
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“It is not I who creates myself, rather I happen to myself.” C. G. Jung
I FIND MYSELF LESS FEARFUL THAN BEFORE A PLAY IN FOUR ACTS
ACT 1 STRUGGLE, LONELINESS AND ISOLATION The peak of the Covid-19 pandemic: feelings of loneliness, isolation and frustration are omnipresent. Insecurity, fear and anger are in the air. Constant change, lack of control, inability to plan ahead. Or no plan at all. MvK: “The last months were a time when I was lonely a lot, with much fear, what is coming, what is happening? I found it pretty painful and fearful. I was in need very often.” CB: “For me it’s been chaos, real chaos – from which emerged the consciousness of the essence of life: love.” TJ: “A few months before the pandemic, my immediate family had been separated for nearly two years due to my husband accepting a position in Europe. Previously, we had been living in South-East Asia, so we decided I would stay behind to enable our son to complete his studies without disruption. The separation damaged our relationship, and the stress of the pandemic only added to the difficulties. I was living in lockdown with someone while our relationship was crumbling. That was quite difficult. I wasn’t sleeping and I was incredibly sad. It was a very dark time for me.” AH: “Viewing the bigger picture, on a collective level, it was very unsettling to see how the rise of fascism has been accelerated by the exploitation of different crises.”
ACT 2 FAMILY We are all a part of something beyond ourselves. Family is the stable pillar, still it evolves – through a strengthening of ties, separation, loss and dissolution, or becoming parents.
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STORIES OF CHANGE
TJ: “Eventually I admitted that I could see where I wasn’t receiving what I needed, so I spent time discovering how I could feed myself. It took me a while to understand that taking time for myself wasn’t denying others. I was nourishing myself.” VO: “My heart is a compass. It shows me the love for my daughter and my love for this world.” CB: “For now everything – this life – is focused on this baby in my womb. I don’t know all the forms love can take yet. I think this child will teach me about that.”
ACT 3 CLARITY, HOPE AND FORWARD MOMENTUM An enhanced awareness of the importance of community and collaboration emerges. Becoming active and positively impacting communities through volunteering, cooperative gardening, assisting at-risk people and in many other ways seems to be a path ahead. There is a sense of comfort, support and hope in belonging to and working within a community. Strength renews, obstacles are overcome, awe sets in. Helping spirits support us with surprising responses and the power to put awareness and knowledge into action, bringing feelings of peace, satisfaction and clarity. TJ: “The answer my helping spirits gave me was very dramatic. They said, ‘Feed yourself because you’re starving!’ I had never thought of it like this and I sat with the question for a while: Am I starving?” MvK: “We often say, you have to dream the world you want to live in.” ES: “My heart tells me to stay authentic, to stay the one I am, to care about myself and my health, and then to be a bridge builder to help others. I feel braver than ever before. I spent six weeks in a rehab centre after having been diagnosed with Functional Neurological Disorder. During the difficult times, I also always felt my compassionate spirits close to me – almost as strong as never before. They were by my side helping me.” RU: “Collaboration is sadly a misleading word as it has a connotation of ‘work’. In essence, it means to shape common experience. It is not restricted to humans alone, but includes all other beings, no matter in which reality. The shaping of shared experiences is the most beautiful thing there is. It serves so many purposes, overcomes barriers, resolves conflicts. You get to know the other person very well, which leads to cooperation, empathy, love and, finally, peace.”
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TJ: “It’s amazing how many ways nature shows us that she loves us and that we are never alone.”
ACT 4 TRANSFORMATION Change and transformation cannot be quantified. They are continuous and ongoing. Moving along initial stages of loss, struggle and fear, transitioning to a new status, they ideally lead to experience, insight, empowerment and evolution. AH: “One side is the feeling of loss, the sorrow for what seems or is considered to be no longer valid, combined within the personal understanding of what needs to be let go.” RU: “After a violent storm, many trees in my yard were badly damaged or uprooted. At first, I was shocked and felt a great sense of sadness for the loss of the trees, but this was soon replaced by a feeling of thankfulness that no further damage to the surroundings had occurred. Now I had to proactively facilitate change in my yard. It was an active process: sadness for the loss and having to cut up the damaged trees, paying tribute to the trees that once stood tall in the garden and now were sawn into pieces, knowing that these loved ones are gone and the image of my home as it was cannot ever be again. I’ve always chosen not to cling to old images, but to tackle change and contribute to it.” KG: “You cannot fully control the direction change takes and the speed transformation takes. You have to give in, somehow to cope with it, surfing the wave.” RP: “The speed of my changing has accelerated. And other people notice me changing. They comment on it. They can see that I’m moving.” TJ: “It’s a whole new world, un territorio sconosciuto, or I’m in unknown territory, and I’m continuously evolving.” MvK: “I find myself less fearful than before.”
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THE WILLOW LEFT STANDING: UNDERSTANDING CHANGE It’s late afternoon. I’m lying comfortably as I slip on my headphones and hear the familiar recorded drumming playing. In a matter of seconds, my consciousness shifts: I rise toward the ceiling and through the roof of my home. Moments later I arrive at my departure place and, after a short descent, enter my Lower World. I walk through long green grass. The sun is shining and I see my helping spirits awaiting me atop the hill.
We greet each other and I am overwhelmed by their love. We sit and I ask, “What can you add to this collective voice about frustration, struggle, loneliness and isolation?” Spirit replies: “There is no individual. What is felt by one is felt by all. What is grieved by one is grieved by all. What is loved by one is loved by all. What is shared by one is given to all. There is only love. Even hate is love. Anger is love. Loneliness is the need for love. Struggle is a lack of love. Frustration is not receiving what is needed, which – ultimately – is love. Love transforms all. Love changes all. Love is ALL. No one is ever alone because you are all ONE.” I am shown a scene of me pushing wilfully against some unseen resistance, then I am shown a willow tree buffeted by stormy winds. Spirit says: “You push when you should embrace. Trust and – like the willow – you will remain standing.” I ask Spirit for more and I am unexpectedly under rushing water, hearing beautiful music and seeing a spectrum of gemlike colours cascading down. Spirit says: “There is beauty in all emotion and there is a melody to everyone’s being, even to their pain. The song is discordant sometimes, but it is still music. Colours blend in an expression of divine light. Pain is a lesson. When we learn from our lessons, we can use pain to move forward. One step, even a single step forward, is significant. Keep walking forward. There is hope. To stay the same is a kind of death. Change is life. Keep moving forward.” I ask, “Please speak to me of our hardships.” Other helping spirits arrive. One of them perches on my shoulder, but none seems to be in a hurry to answer until the one on my shoulder speaks.
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Spirit says: “Touch my face.” [I do.] “See how solid it is? Unbreakable.” [I nod.] “It is like my love for you and humankind. It is unbreakable – and you are unbreakable. Through all your hardships you are unbreakable. You will prevail.” As I consider this, I watch another spirit grooming herself. She stops and turns to lick me. Her tongue is hard and scratchy. Spirit says: “Sometimes hardships are good for you. Hardships carve you, sculpt you, form you into who you are to become. They clean you, create you, make you MORE. They build you up. Just when you believe you have cracked and are broken, realise that you are not broken: you are breaking OPEN. Let this opening be filled with love, gratitude, and eventually with understanding.” A circle of large rounded stones surrounds the hill. I ask a spirit their meaning. Spirit says: “The stones are markers. Each represents something you have overcome. You pick up a burden, overcome it and leave it behind: this is life. They also represent a foundation to build upon. Hardship shapes and softens you. It teaches you compassion. If you don’t experience hardships, you won’t appreciate overcoming them. Overcoming them allows you to recognise them and to help others, to be of service to others. This is love. Love is service and service is love.”
“What about community and hope?” I ask. A helping spirit glides through the grass and curls up in my lap. She begins to speak. Spirit says: “The word ‘welcome’ invites a sense of community. When you welcome someone, you create a community. The moment you open your arms, heart or hearth to another, especially to a stranger or someone in need, you have accepted them into your community. Helping someone in need creates hope. Kindness is never a weakness. Even when confronted with spite, remain kind. When someone is weaker than you, provide shelter. You can shelter people with your words, your hands, your body, your home and your heart. Take shelter and give shelter. Be shelter.” Another spirit continues. Spirit: “Hope is what keeps the clock ticking in our universe. Hope is the heart of the planet.” I am shown images: Earth’s core, circles, the sun, people dancing around a fire, sharing food and all living together under one roof; one shelter, one humanity, one people; under stars, under many stars, many moons, many planets, shelters.
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STORIES OF CHANGE
Spirit continues: “Humanity needs to have hope. Hope is not just a feeling or a desire for something to come. It is a tangible power, a being. Hope is a spirit. It can be invoked, harnessed, called, given and felt. Call upon hope!”
“What can you share about family?” I ask. I look up and see a seemingly never-ending spiral of souls far above me. Spirit says: “Those are souls, and a soul’s existence is infinite. Souls repeatedly incarnate to experience, feel, learn and be. Our power remains in places where we have lived. Encountering this power again is what feels familiar to you in a place or a person. Families come together for a reason. Your friend is family. No one is a stranger to another. We are pieces of a whole. When we are born into a world, we all experience each other. It is impossible to be disconnected: feeling so is an inner wound in need of healing. Those who feel alone have been disconnected in the soul, from the song inside them. Our souls sing and we all have the capability to sing our souls, to be part of an orchestra, to be in harmony with one another and to create a song. Unity is harmony, a song we share; family is the ultimate expression of unity. You can create families; they needn’t be of blood relatives. Families are rocks you sit on, trees you touch and plants you tend. The food you eat is also your family. When you put your hands into the soil, you touch family that lived before you and sustains you now, leaving something of themselves behind for you to walk upon. Spirit is also family. We have created a family with you.” Spirit brings me to another space. An infinite number of shimmering leaves of gold are suspended and beautifully chiming here. The leaves move together to form a garment. The cloak is singing. It is heavy, but its weight feels comfortable and soothing. Spirit says: “These are the songs of souls waiting to form an orchestra. A connection between souls creates something precious, a song. Love has weight: sometimes it is heavy and sometimes light, but we should never forget to love.”
I ask my helping spirits about clarity, appreciation and moving forward. Spirits reply: “We greatly appreciate all of you. Miracles occur when compassion, love and empathy are present. Never forget this as you move through life. All is not lost. There is always light in the darkness and joy within pain. Never lose hope. We are here to help you bring about meaningful change. Never doubt your existence or meaning. We don’t always understand or know the meaning of something until we have lived through it. Sometimes
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it feels unjust, but everything that happens to you is necessary. Every thought you think, every action you take creates countless possibilities. Hindsight is clarity. You can begin a year one way and end it another. Keep breathing and walking forward. Know that you are loved, that you are part of a family, of a circle. You are never-ending.”
I look beyond my circle of helping spirits and notice different aspects of myself playing out scenes from my life. I can remember some moments; others could be the story of a stranger. I realise now that I always had spiritual support during each moment. I look back to my circle of spirits and see them weaving a chain of daisies. They ask me to help. I tie a stem together, but it breaks. Spirit says: “Life is a chain of experiences. Sometimes things break. Change is evolution. Change clears away the debris to allow fresh growth. Try finding stillness in moments of chaos to alter your course, like a sailor tacking to catch the wind. Growth also requires a strong foundation. No one is given more than they can bear. Evolving means understanding that there should be an appreciation for all things that touch our lives. Every experience, even the most unbearable ones, can impact humanity for the better. Healing is important to evolution. When you have healed your wounds, you can heal similar wounds in others. Stay closely connected with us and all your spirit helpers. Trust that we are always here to help you.” Again, I see an image of the willow, blown and buffeted by the wind, but still standing.
I thank my helping spirits for their love, protection and teachings. My consciousness returns to my body in the Middle World and I am back in ordinary reality.
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STORIES OF CHANGE
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MINKA VON KRIES Reitlehrerin l Riding instructor
Minka von Kries wurde 1974 in Siegburg, Deutschland, geboren. Ursprünglich zur Erzieherin, Zirkus- und Tanzpädagogin ausgebildet, folgte sie dem Ruf der Pferde. Sie absolvierte eine Zusatzausbildung in Heilpädagogischem Reiten und zur Reitlehrerin. Seither arbeitet sie mit Pferden und den dazugehörigen Menschen. Ihre Leidenschaft gilt der Natur, die sie als Fotografin unter anderem auf Wander- und Pilgerwegen erkundet. Minka von Kries was born in Siegburg, Germany, in 1974. Originally trained as an educator, circus and dance pedagogue, Minka followed the call of the horses. She completed additional training in therapeutic riding and became a riding instructor. Since then, she has been working with horses and their associated humans. She is passionate about nature, which she explores as a photographer on hiking and pilgrimage trails and elsewhere.
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
MINKA VON KRIES
LOGBUCH DER VERÄNDERUNG Diese Geschichten der Veränderung – gesammelt zwischen Juni 2021 und Juni 2022 – erzählen von praktischen, lebensnah stattfindenden Transformationen, von Entwicklungen, die auf den ersten Blick unspektakulär anmuten und dennoch nachhaltige, substanzielle Veränderung nach sich ziehen. Vor allem aber handeln die Geschichten von Begegnungen mit Menschen, die aktiv zum Wandel in ihrem Lebensumfeld beitragen wollen – und dabei nicht in erster Linie an sich, sondern an andere denken. Die Erzählungen sind im Präsens verfasst, weil ihre Essenz zeitlose Gültigkeit besitzen.
FLUT Die Flut im Ahrtal, Deutschland, im Juni 2021 hat nicht nur unglaubliches Leid gebracht, sondern auch enorme Solidarität. Unzählige Aktionen wurden gestartet, um direkt vor Ort zu unterstützen. Stellvertretend für sie alle möchte ich von Olli erzählen. Vom ersten Tag an hat er, gemeinsam mit seinem Mitbewohner, seine Feldküche nach Ahrweiler gebracht und für hunderte von Menschen gekocht, für Betroffene und die zahlreichen Helfer:innen, bis zu 800 Mahlzeiten am Tag. Aus dieser Initiative ist eine fixe Zeltstation zur Essensausgabe geworden, die über Freiwillige und Spenden funktioniert. „Ich kenne jeden hier mit Namen, ich weiß, wer was verloren hat. Wir gehen einen Weg zusammen, seit fast einem ganzen Jahr.“ Es ist nicht nur ein Ort zum Essen, sondern auch ein sicherer Ort, ein Ort zum Ausruhen, zum Reden, Weinen, Lachen und zum Knüpfen von Kontakten. Es ist ein Netzwerk von großer Bedeutung. Aus allen Teilen des Landes kommen Menschen, mit Spenden verschiedenster Art, um zu helfen und anzupacken. Jeder und jede trägt das bei, was er oder sie kann. Jeder und jede ist wichtig. „Ich begrüße jeden mit den Worten: ‚Schön das du da bist!‘“, meint Olli, „und verabschiede jeden mit den Worten: ‚Danke für deine Hilfe‘.“ „Manchmal steht jemand mit Unmengen an Lebensmitteln vor mir, manchmal drückt mir jemand 5000 Euro in die Hand, manchmal bekomme ich ein Bild
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von einem Kind gemalt und oft werde ich in den Arm genommen. Die Tränen fließen dann. Dabei dachte ich, ich sei ein harter Kerl.“ „Das Motto im Ahrtal lautet: ‚Wir finden immer eine Lösung‘. Zuhören ist dabei das Allerwichtigste. Es bedanken sich so viele Menschen bei mir. Dabei habe ich das Gefühl, dass ich mich bedanken müsste. Ich habe noch nie so viel in meinem Leben bekommen wie jetzt.“ Menschen, die vorher nicht einmal wussten, dass sie Nachbarn sind, in der gleichen Straße oder gar im gleichen Haus lebten, haben sich durch diesen Ort gefunden. Es scheint wie eine Ironie des Schicksals, dass aus einer Katastrophe eine derartig kraftvolle Gemeinschaft entsteht, über die man sich – trotz all dem Leid – jeden Tag erfreut. So wie ein T-Shirt des Ahrtals besagt: „Als Fremder gekommen, als Freund gegangen.“
KRIEG Der Krieg in der Ukraine ist bei Weitem nicht der einzige Krieg, den wir aktuell erleben. Und doch hat er uns in Europa besonders tief erschüttert und betroffen gemacht. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern hat meine Freundin Eva beschlossen, vertriebene Menschen aus der Ukraine bei sich aufzunehmen. Sie haben eine Mutter und ihren kleinen Sohn bei sich willkommen geheißen. „Wir haben Glück gehabt im Leben. Wir alle können jedoch in eine Situation kommen, wo man auf Hilfe angewiesen ist. Wir brauchen eine verlässliche Gemeinschaft.“ Diese zwei Menschen aufzunehmen, hilft Eva auch, mit der eigenen Angst und Ohnmacht zurechtzukommen. Aktiv zu werden, im Tun zu sein, ist entscheidend. „Es fühlt sich ein wenig wie Eigennutz an“. Wenn ich ihr zuhöre, verstehe ich, was sie meint. Es erinnert mich an die schamanische Arbeit: Wenn man für jemand anderen arbeitet, hat man hinterher das Gefühl, sich bedanken zu wollen, weil man selbst so viel bekommt. Und doch berührt es mich sehr, was Eva mitteilt. Es gilt, Zeit mit den beiden zu verbringen, ein stabiles Umfeld zu bieten, finanziell sowie im Alltag zu unterstützen, bei zahllosen organisatorischen Dingen zur Seite zu stehen. Es ist wichtig, gemeinsam Schönes zu unternehmen, aber auch die Ängste mitzutragen. „Wenn das Handy klingelt, bangen wir alle. Gab es Bombenalarm? Sind die Familienangehörigen in der Ukraine in
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
Sicherheit?“ Jede:r in Evas Familie geht mit diesen Situationen auf seine/ihre Art um. Der eine spielt und unternimmt viel. „Ich bin eher so die Umarmerin“, meint sie. Über die Initiative „Willkommen in Falkensee“ engagiert sich Eva zusätzlich. Vertriebene Menschen willkommen heißen, Netzwerke knüpfen, Treffen von Landsleuten untereinander organisieren, Schulplätze für die Kinder finden. „Jede Art von Hilfe ist wertvoll und wichtig. Jede und jeder gibt das, was sie oder er kann“. Und die Verständigung? „Die Mutter spricht recht gut Englisch. Ansonsten wird der Übersetzer auf dem Handy benutzt. Da gibt es manchmal lustige Verdreher, aber in der Regel funktioniert es sehr gut.“ Die wesentlichen Dinge brauchen ohnehin keine Sprache: „Wenn der Kleine draußen im Garten mit den Hunden spielt, geht mir das Herz auf.“
OLDIES FOR FUTURE UND DAS SOLARWEDER Seit über zwei Jahren, jeden Freitag von 11 bis 12 Uhr, treffen sich bei mir im Ort die „Oldies for Future“ zu einer Klima-Mahnwache. „Wir wollen die Jugend in ihrer ‚Fridays‘-Bewegung unterstützen. Unsere Generation hat entscheidend zum Klimawandel beigetragen. Wir haben fast alle Enkelkinder und möchten, dass sie eine Zukunft haben. Daher gehen wir nun als Großmütter and Großväter auf die Straße. Vielleicht ein wenig leiser als die Jugend, aber ausdauernd.“ Mich beeindrucken diese Beständigkeit, Beharrlichkeit und die ruhige, für mich schon weise Art zu demonstrieren und mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. An einem dieser Freitage kommt Jens mit seinem Solarfahrrad um die Ecke geradelt. Dieses Gefährt fasziniert mich ungemein und ich verabrede mich mit ihm, um mehr darüber zu erfahren. 2016 hatte er sich ein „Alleweder“ in Holland gekauft und es mit einem Dach aus Solarpanelen bestückt, Marke Eigenbau. Der Akku dieses E-Bikes wird also nicht über externen Strom geladen, sondern über Solartechnologie. „Es ist ein Rad für weite Strecken, nicht für die Stadt gedacht. Dafür ist es zu ausladend.“ Die längste Strecke, die Jens gefahren ist, betrug 500 km an 4 Tagen.
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Das Besondere an diesem Rad ist zudem, dass es die Menschen sofort neugierig macht. Auch während wir uns unterhalten, halten zahlreiche Menschen an, um Jens Fragen zu stellen. Einige Kinder klettern hinein. Das quietschgelbe Rad hat aber auch wirklich etwas Knuffiges! „Es ist eine tolle Möglichkeit, über die Themen Mobilität und Klimaschutz ins Gespräch zu kommen. Mit dem Rad unterwegs zu sein, bedeutet Zeit und Kraft zu investieren, Abhängigkeit vom Wetter und von der Unterstützung von Menschen zu erfahren. Ich erlebe den Weg viel bewusster. Ich mag es, mit vielen Menschen in Kontakt zu kommen.“
RIKSCHA-FAHRTEN Heute treffe ich mich mit Christoph, einem der Gründer des Vereins „Radeln ohne Alter“. 2019 gegründet, bietet der Verein mobilitätseingeschränkten Menschen in Hennef ehrenamtlich und kostenlos Rikscha-Ausflüge an. Ziel ist es, Mobilität naturnah zu ermöglichen und Abwechslung in das Leben zu bringen. Der Verein arbeitet vor allem mit den Altersheimen der Stadt zusammen, aber auch privat kann man an einer Haltestelle einsteigen oder nach einer Abholung von zu Hause fragen. Zwei Personen finden in den E-Bike-Rikschas Platz. Es gibt sogar eine Rikscha, die einen Rollstuhl transportieren kann. „Jedem soll der Wind durch die Haare wehen!“, betont Christoph, „Es ist eine Abwechslung zum eintönigen Alltag, man kommt ins Gespräch, hört Geschichten, hat eine Pause von Sorgen.“ Es finden auch größere Aktionen und Events statt. Auf längeren Touren, zum Beispiel, bringen ehrenamtliche Unterstützer:innen einen Picknickkorb zu einem vereinbarten Treffpunkt. Die Gesamtidee basiert auf einem weltweiten Projekt, welches in Dänemark entstanden ist. Christoph stellt mir alle seine Rikschas mit Namen vor und fährt mich eine Runde über den Hof. Es fühlt sich wunderbar an!
KRÖTENZAUN Mit dem NABU (Naturschutzbund) bauen wir seit letztem Jahr Krötenzäune entlang zweier Straßen, dort, wo besonders viele Tiere überfahren wurden. Über einen längeren Zeitraum hinweg müssen die Eimer jeden Morgen kontrolliert werden. Letztes Jahr waren wir sehr wenige Helfer:innen. Das hat das Ganze ziemlich kompliziert gemacht.
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GESCHICHTEN DER VERÄNDERUNG
Heuer gibt es viele tolle Aktionen, initiiert durch den NABU, und viele Menschen, die sich um die Kröten kümmern. Was es aber dieses Jahr für mich besonders bemerkenswert macht, ist, dass beim Aufbau des Zaunes immer wieder Menschen angehalten und gefragt haben, was wir denn hier tun würden. Durch die Gespräche hat sich bei Menschen in den Dörfern vor Ort ein Bewusstsein für die Sache entwickelt – bei jenen also, die unmittelbar dort wohnen, wo auch die Kröten sind. Einige haben sich bereit erklärt, dieses Jahr mitzumachen. Es berührt mich ungemein, wenn sich auch die Kinder in den Ortschaften verantwortlich fühlen. Mittlerweile streiten sie darum, wer mitmachen darf. Es werden wundervolle Fotos von stolzen Kindern mit Kröten in der Hand gemacht. In der Zeit, in der wenige Kröten zu finden waren, haben Bewohner:innen aus Adscheid den Kindern den „Addi“, einen aus Holz gebastelten Frosch, in den Eimern versteckt. Ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Verantwortung für die Heimat und die Tiere entsteht so auf spielerische Weise. Es ist schön zu sehen, wenn sich Menschen des gleichen Ortes, jung wie alt, über den Krötenzaun hinweg kennenlernen.
JOSEF UND SEINE KÜHE Heute bin ich mit Josef verabredet. Er ist 64 Jahre alt und besitzt zehn Kühe einer alten Rasse: Das Rote Höhenvieh. Jedes Mal, wenn ich seine Kühe im Vorbeigehen auf der Weide gesehen hatte, war ich erstaunt, wie gesund und schön sie aussehen. Das ist bei uns in der Gegend keineswegs selbstverständlich. Ich wollte Josef kennenlernen und herausfinden, wie er das macht. Stolz und zuerst ein wenig verlegen stellt er mir alle seine Kühe mit Namen vor. So lerne ich Lenny, Lina, Steffi und all die anderen kennen. Jede Kuh reagiert prompt auf ihren Namen. „Es gab eine Zeit, in der diese Rasse nützlich war, da sie auf dem Feld den Pflug zog, Milch und Fleisch gab. Das perfekte Rind für einen kleinen Betrieb. Jetzt, wo alles auf maximale Effizienz hin ausgerichtet wird, will die keiner mehr.“ Die Rasse war beinahe schon ausgestorben, als Josef und ein paar Freunde beschlossen, sie wieder zu züchten. Seine Freunde waren schnell wieder raus aus dem Projekt – zu viel Arbeit, kein Gewinn.
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Was mich berührt, ist der tiefe Respekt, mit dem Josef seine Tiere behandelt. „Es braucht Disziplin, jeden Tag zweimal nach den Tieren zu sehen. Ich will ein warmes Bett und etwas zu essen, und so soll es auch für meine Tiere sein. Wenn ich krank bin, brauche ich einen Arzt; die Tiere auch.“ Bald hatte Josef erkannt, dass es seinen Tieren unglaubliche Angst bereitet, zum Schlachthof gefahren zu werden. Zudem würden sie dort oft nicht schnell oder unter guten Umständen getötet. Somit beantragte er, sie zu Hause selbst erschießen zu dürfen. „Es macht mich fertig, Wochen vorher und danach. Aber wenn ich mich entscheide, Tiere zu haben und sie zu schlachten, dann ist es meine Verantwortung, mich auch vor diesem Schritt nicht zu drücken.“ Nicht jede Kuh wird geschlachtet. Die eine oder andere hat sich so in sein Herz geschlichen, dass sie bleibt. Die Menschen vor Ort schätzen das Fleisch und sind bereit, dafür mehr zu bezahlen. Rentiert sich das Ganze aber? „Null!“, meint Josef, „Bisher finde ich auch keinen, der das weiter macht. Die Menschen wollen Freizeit, nicht bei Wind und Wetter draußen sein und hart arbeiten. Und wenn das Ganze dann keinen Gewinn bringt, sondern man draufzahlen muss – das macht niemand. Nicht so, wie ich mir das vorstelle.“
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STORIES OF CHANGE
MINKA VON KRIES
LOGBOOK OF CHANGE These stories of change, collected between June 2021 and June 2022, tell of practical, real-life transformations, developments that seem unspectacular at first glance and yet bring about lasting, substantial change. Above all, however, these narratives are about encounters with people who want to actively contribute to change in their surroundings and who think of others before thinking of themselves. The tales are told here in the present tense because their essence is timeless.
FLOOD The flooding in Germany’s Ahr Valley in June 2021 led not only to terrible suffering, but also to enormous solidarity. Countless campaigns were launched to provide direct local support. I would like to talk about Olli on behalf of them all. From day one, he and his housemate set up their field kitchen in Ahrweiler and cooked up to 800 meals each day for hundreds of people – those directly impacted by the flood as well as their many helpers. This initiative turned into a permanent tent station for food distribution, which works thanks to volunteers and donations. “I know everyone here by name. I know who lost what. We have been walking a path together for almost an entire year.” It is not just a place to eat, but also a safe place – a refuge to rest, talk, cry, laugh and socialise. It is a network of great importance. People come from all over the country, offering donations of all kinds, to help and lend a hand. Everyone contributes what they can. Everyone is important. “I greet each person with the words: ‘Nice to have you here’”, Olli says. “And I say goodbye to everyone with the words: ‘Thank you for your help.’” “Sometimes someone stands in front of me with loads of food, sometimes someone hands me 5,000 euros in cash, sometimes I get a picture painted by a child, and often I get a big hug. Then the tears flow. And I always thought I was such a tough guy.” “The motto in the Ahr Valley is: ‘We always find a solution.’ Listening is the most important thing. So many people thank me. I have the feeling that I have never received so much in all my life and that I am the one who needs to say ‘thank you’ now.”
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People who did not even know they were neighbours before, who lived on the same street or even in the same house, have found each other through this place. It seems like an irony of fate that such a powerful community has emerged from a catastrophe, which – despite all the suffering – brings joy every day. Like a t-shirt from the Ahr Valley says: “Came as a stranger, went as a friend.”
WAR The war in Ukraine is by no means the only war we are currently experiencing. And yet it has shaken and affected us in Europe particularly deeply. Together with her husband and children, my friend Eva decided to take in displaced people from Ukraine. She and her family welcomed a mother and her young son into their home. “Our lives have been fortunate, but someday we might find ourselves in a situation where we would have to rely on help from others. We need a reliable community.” Welcoming these two people also helps Eva manage her own fear and powerlessness. Becoming active and taking action are crucial. “It feels a bit like self-interest.” Listening to her, I understand what she means. It reminds me of shamanic work: when you work for someone else, you feel like you want to thank them afterwards because you have received so much yourself. I am very touched by Eva’s story. You have to spend time with your new housemates, provide a stable environment, support them financially and in everyday life, and help them with countless organisational matters. It is important to do pleasant things together, but also to share fears. “Whenever the mobile phone rings, everyone holds their breath. Has a siren warned of an impending air raid? Are family members in Ukraine safe?” Everyone in Eva’s family deals with these situations in their own way. Her husband plays and does a lot. “Me? I’m more of a hugger,” Eva says. Eva is also involved in the “Welcome to Falkensee” initiative. Welcoming displaced people, building networks, organising meetings for compatriots, finding school places for the children. “Every kind of help is valuable and important. Each person gives what they can.”
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STORIES OF CHANGE
And the language barrier? “The mother speaks English quite well. Otherwise, we use the translator app on the mobile phone. Sometimes there are funny mix-ups, but it usually works quite well.” The important things don’t need language anyway: “When the little boy plays with our dogs in the backyard, my heart warms.”
OLDIES FOR FUTURE AND THE SOLARWEDER For more than two years, the “Oldies for Future” have been meeting in my village for a climate vigil every Friday morning from 11 a.m. to 12 noon. “We want to support young people in their ‘Fridays for Future’ movement. Our generation has greatly contributed toward changing the climate. Almost all of us have grandchildren and we want them to have a future. That’s why we are taking to the streets now as grandmothers and grandfathers – perhaps a bit more quietly than the young people, but persistently.” I am impressed by this consistency and perseverance, as well as by their calm way of demonstrating and talking to people. They seem to be wise in how they do things. On one of the Fridays, Jens comes cycling around the corner on his solarpowered bicycle. His bike fascinates me immensely, so I make an appointment with him to learn more about it. He bought an “Alleweder” in Holland in 2016 and fitted it with a roof covered with solar panels. The e-bike’s battery doesn’t rely on external power, but is recharged via solar technology. “It’s a bike for long distances, not for the city. Its solar roof is too big for cities.” The longest distance Jens has ridden was 500 kilometres over four days. Another special thing about his bike is that it immediately sparks curiosity. Even while we are talking, many people stop to ask Jens questions. A few children climb in. True – there’s something really cute about that bright yellow bike! “It’s a great way to get people talking about mobility and climate protection. Riding a bike means investing time and energy, being dependent on the weather and on people’s support. I experience my travels much more consciously. I like coming into contact with lots of people.”
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RICKSHAW RIDES Today I’m meeting Christoph, one of the founders of the “Cycling at Every Age” association. Founded in 2019, it offers rickshaw trips to people with limited mobility in Hennef, Germany, on a voluntary basis and free of charge. The aim is to enable mobility close to nature and to bring variety into life. The association works primarily with the town’s retirement homes, but people can also hop on at a stop or ask to be picked up at their home. There’s room for two people aboard each e-bike rickshaw. The association even has a rickshaw that can accommodate a wheelchair! Christoph says, “We want the breeze to blow through everyone’s hair! It’s a welcome change from the monotony of everyday life. You get a chance to talk, hear stories and take a break from worries.” Larger activities and events also take place. On longer tours, for example, volunteer supporters bring picnic baskets to prearranged meeting points. The overall idea is based on a global project that originated in Denmark. Christoph introduces me to all his rickshaws by name and drives me around the yard. It feels wonderful!
TOAD FENCE Together with the Nature and Biodiversity Conservation Union (NABU), we have been building toad fences along two roads since last year, in places where an especially large number of these amphibians have been run over. The buckets have to be checked every morning throughout several weeks. Last year there were very few helpers, which made the whole thing somewhat difficult. NABU has initiated lots of terrific campaigns this year and there are many people helping to look after the toads now. What makes it particularly remarkable for me this year is that while we were building the fence, people kept stopping to ask what we were doing. These conversations raised awareness of this issue in the nearby villages – in other words, among the people who live directly where the toads are. Some of them have agreed to participate this year. It touches me immensely when children in the villages also begin feeling responsible. They are already quarrelling over who gets to take part. There are so many wonderful photos of proud children cradling toads in their hands.
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During the time when few toads were to be found, residents from the town of Adscheid hid “Addi,” a wooden frog figurine, in the buckets for the children to find. It was a playful way to connect with each other and foster a sense of belonging and responsibility for the homeland and the toads. It is beautiful to see people from the same town, young and old, getting to know each other over the toad fence.
JOSEF AND HIS COWS Today I have an appointment with Josef. He is 64 years old and owns ten cows that belong to a vintage breed: Rote Höhenvieh (red upland cattle). Every time I saw his cattle in the pasture, I was amazed at how healthy and beautiful they looked. This is by no means a matter of course in our region. I wanted to get to know Josef and find out how he does it. Proud and a bit embarrassed at first, he introduces me to each of his cows by name. This is how I get to know Leni, Lina, Steffi and all the others. Each cow responds promptly to her name. “There was a time when this breed was useful because these cows not only provide milk and meat, but can also pull a plough across a field. It’s the perfect cow for a small farm. But now that everything is geared towards maximum efficiency, nobody wants them anymore.” The variety was nearly extinct when Josef and a few of his friends decided to breed them again. His friends quickly dropped out of the project, however – too much work, no profit. What touches me is the deep respect with which Josef treats his animals. “It takes discipline to check on the animals twice a day. I want a warm bed and enough to eat, and that’s how things should be for my cows too. When I’m sick, I need a doctor; the animals do too.” Josef soon realized that being transported to the slaughterhouse was terribly frightening for his cows. Even worse, they were often not killed quickly or in good conditions, so he asked to be allowed to shoot them himself at home. “It makes me sad, weeks before and weeks after. But if I decide to keep animals and to slaughter them, then it’s my responsibility not to shirk from this step either.” Not every cow is ultimately slaughtered. A few have found their way so deeply into his heart that they stay on.
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The local people appreciate the beef and are willing to pay more for it. But is it really financially worth all the effort? “No way!” says Josef. “So far, I haven’t found anyone who will continue to do it. People want free time; they don’t want to work hard outdoors in all kinds of weather. If the whole thing doesn’t turn a profit and you have to pay extra, then nobody will do it. At least, they won’t do it the way I imagine it should be done.”
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NETZWERKE & KUNSTWERKE NETWORKS & ARTWORKS HOWARD FINE ROLAND URBAN, MINKA VON KRIES
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An der Flussbiegung breiten Spinnen ihre Fäden aus und warten Wasserläufer tanzen HOWARD FINE
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where the river bends spiders spread their threads and wait water striders dance HOWARD FINE
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ROLAND URBAN, MINKA VON KRIES
FUNGI
Pilze haben etwas Einmaliges. Ihre Bedeutung für unsere Ökosysteme, für die Gemeinschaften und Netzwerke, in denen sie leben, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – und wird doch meist unterschätzt. Sie sind unsere stillen Begleiter, scheinen sich nicht zu bewegen. Dabei kann es sein, dass dort, wo gestern noch nichts zu sehen war, mit einem Male ein Pilz steht. Sie verleihen den Wäldern ihren Zauber und stehen uns in unterschiedlichster Form zur Verfügung – durch ihre Schönheit, ihren Nährwert oder bewusstseinsverändernde Wirkungen. Was wir oberirdisch wahrnehmen, ist nur die Spitze des Eisbergs, die Frucht. Unter der Erde eröffnet sich ein geradezu unglaubliches Reich an Netzwerkstrukturen, die gesamte Landschaften durchziehen. Sie stützen den Boden, verbinden sich mit den Pflanzen und Bäumen, gehen mit ihnen symbiotische Beziehungen ein und stellen sicher, dass Gleichgewicht herrscht. Pilze sind Pioniere. Sie waren die ersten Lebewesen, die das Wasser verlassen haben und den Weg für die Pflanzen bereitet haben. Sie können an den unwirtlichsten Orten der Erde leben und ihren Stoffwechsel vorübergehend sogar komplett einstellen, wenn die Umfeldbedingungen dies erfordern – um diesen anschließend wieder zu reaktivieren.1 Pilze sind wunderbare Beispiele dafür, dass alles, was lebt, beseelt ist; dass es letztlich keine singulären Wesen in unserer Welt gibt, sondern alles miteinander in Resonanz ist; und dass wir einander brauchen, um nebeneinander und miteinander nachhaltig existieren zu können.
Es gibt so viel Unglaubliches über Pilze zu erfahren. Das meiste davon habe ich nicht einmal geahnt. Ich habe mich auf die Suche nach ihnen begeben und war erstaunt. Einmal den Fokus auf sie gelegt, zeigt sich eine Unmenge an Pilzen im Zyklus eines Jahres. Wie viele Pilze es bei mir zu Hause gibt! Die Erdsterne in den Basaltsteinbrüchen, die Tintlinge in den Wäldern, die Porlinge und Schwämme auf den Baumstämmen, der Parasol auf den Wiesen, das Judasohr am Wegesrand – um nur ganz wenige zu nennen. 1
Siehe Sheldrake, Meralin (2020): Entangled Life. How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds, and Shape Our Future. Dublin: Vintage.
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NETZWERKE & KUNSTWERKE
Natürlich waren sie immer schon da. Ich hatte sie nur nicht in dieser Intensität wahrgenommen. Wenn ich jetzt unterwegs bin, sind sie fester Bestandteil meines Weges. Natürlich bitte ich sie um Rat und Hilfe. Oft zeigen sie sich genau dann, wenn ich sie brauche. Ich liebe ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen, ihre Kräfte, ihre Strukturen, Farben und Gerüche. Meine Freund:innen haben schon oft die Augen verdreht, wenn ich wieder voller Enthusiasmus über Pilze gesprochen, meine eigenen im Bad gezüchtet oder auf dem Markt in Hennef alle Menschen zum Lachen gebracht habe, weil ich begeistert hinausrief, wie wundervoll doch der Morchel an einem der Marktstände ist! Aber sie haben mir dann auch zunehmend Fotos von Pilzen geschickt, mich gefragt, ob ich sie kenne, und mir Wegbeschreibungen zu ihnen zukommen lassen. Die Pilze haben dazu geführt, dass die Menschen bewusster durch meine und ihre Heimat laufen. Das finde ich sehr wertvoll. Heute bin ich nach langer Zeit wieder einmal einen kleinen Weg am Rande meines Dorfes in den Wald hinuntergegangen. Am linken Wegrand stand er, so wie letztes Jahr: ich habe das Judasohr wiedergesehen. Wir begrüßten uns und ich ging weiter. Welch schöne und wohltuende Gefährten sie doch sind!
Die in diesem Buch gezeigten Fotografien beschreiben einen Teil der Reise von Minka von Kries in das Reich der Pilze. Pilze sind wahre Transformationskünstler. Wir möchten ihnen Platz in dieser Publikation einräumen, um ihre Kraft sichtbar zu machen und ihr Wesen zu würdigen.
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ROLAND URBAN, MINKA VON KRIES
FUNGI
There is something unique about fungi. Their importance for our ecosystems and for the communities and networks in which they live cannot be overestimated, yet they are usually underestimated. They are our silent companions. They do not seem to move. Yet sometimes where there was nothing to be seen yesterday, suddenly a mushroom appears. They lend their magic to the forests and are available to us in many different forms – through their beauty, their nutritional value or psychoactive effects. What we see above ground is only the tip of the iceberg, the fruit of the fungus. Underground, there’s an almost unbelievable realm of networked structures that permeate entire landscapes. Fungi benefit the soil, interconnect with plants and trees, enter into symbiotic relationships with them and ensure that balance prevails. Fungi are pioneers. They were the first living creatures to leave the water and pave the way for terrestrial plants. They can live in the most inhospitable places on Earth and even totally suspend their metabolism if environmental conditions require it, only to reactivate themselves again afterwards.1 Mushrooms are wonderful examples of the fact that everything that lives is animated; that ultimately there are no individual beings in our world because everything is in resonance with everything else; and that we need each other in order to exist sustainably alongside and with each other.
There are so many incredible things to learn about fungi. Most of it I never even suspected. I went out to look for them and was amazed by what I found. Once I began focussing attention on them, I discovered that a huge number of mushrooms appear in the cycle of a year. There are so many mushrooms near my home! Earthstars in the basalt quarries, tintlings in the woods, polypores and bracket fungi on tree trunks, parasol mushrooms in the meadows, auricularia (jelly ears) by the wayside – to name only a few. Of course, they have always been there. I just hadn’t noticed them so intensively. Now, when I’m out and about, they’re an integral part of my walk. Of course, I ask them for advice and help. They often show themselves exactly when I need them. 1
See Sheldrake, Merlin (2020): Entangled Life. How Fungi Make Our Worlds, Change Our Minds, and Shape Our Future. Dublin: Vintage.
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NETWORKS & ARTWORKS
I love their diverse shapes, powers, structures, colours and aromas. My friends often roll their eyes when I – again and full of excitement – start talking about mushrooms, when I grow my own in the bathroom or make everyone laugh at the market in Hennef as I enthusiastically shout how wonderful the morel at one of the market stalls is! But they also increasingly often send me photos of mushrooms, ask me if I know what species they are and send me directions to the place where they grow. Essentially, the mushrooms have made us more aware when walking through our homeland. I find that very valuable. Today, after a long time of not doing so, I walked down a little path on the outskirts of my village that leads into the woods. There he was again, standing on the left-hand side of the path, just like last year: the jelly ear. We greeted each other and I walked on. What beautiful and beneficial companions they are!
The photos in this book describe part of Minka von Kries’s journey into the realm of mushrooms. Mushrooms are truly artists of transformation. By giving them space in this publication, we want to make their power visible and honour their essence and their being.
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SPIRIT YURT
SONGS OF TRANSFORMATION Die Songs of Transformation sind beim Lauschen der Melodien, der Worte und des Geflüsters der Geister der Liebe und der Kraft entstanden. Sie drangen empor und entwickelten sich während divinatorischer Spaziergänge, in Träumen und während der schamanischen Arbeit in verschiedenen Seminaren der Foundation for Shamanic Studies Europe. The Songs of Transformation were born from listening to the melodies, words and whispers of the spirits of love and power. They emerged and developed during divinatory walks, dreams and shamanic work during various workshops of the Foundation for Shamanic Studies Europe.
Spirit Yurt ist eine akustische Übersetzerin spiritueller Transformationsprozesse. Sie folgt den ermächtigenden Flüssen der Liebe und schlägt Brücken des Klangs. Ihre Lieder werden gemeinsam erschaffen – von der Sängerin, Musikerin und schamanisch Praktizierenden Roberta Perzolla genauso wie von gütigen Geistern. Durch Melodien und Rhythmen sollen diese Lieder Wellen
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NETZWERKE & KUNSTWERKE I NETWORKS & ARTWORKS
EVEN Even when you don’t believe Even when you’re afraid Face war peaceful Face war peaceful Even when you don’t believe Even when you’re afraid Face fear fearless Face fear fearless Even when you don’t believe Even when you’re afraid Face war peaceful Face war peaceful
der Leichtigkeit in Bewegung setzen und eine Umgebung des Friedens schaffen. Sie sind klangliche Kommunikation für die Seele und das Herz. Spirit Yurt is a sonic translator of spiritual processes of transformation, following empowering rivers of love and building bridges of sound. Her songs are cocreated by the singer, musician and shamanic practitioner Roberta Perzolla in collaboration with benevolent spirits. Through their melodies and rhythms, these songs aim to set in motion waves of lightness in order to generate an environment of peace. They are audible communication for the soul and the heart.
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HOWARD FINE
EYE
Wie alles andere im Kosmos unterliegt auch die Dichtkunst den Naturgesetzen der Wandlung. Die Poesie jedoch vermählt sich auf besonders intime Weise mit der Transformation, denn allein die alchemistische Metamorphose kann Eindruck zum Ausdruck, Formloses zur Form und Wortloses zum Wort werden lassen. Diesem Prozess zu dienen, bildet die wesentliche Auf- und Hingabe meines Herzens. Like all else in the cosmos, the art of poetry too is subject to the natural laws of change. But poetry is wed to transformation in a particularly intimate way – because only alchemic metamorphosis can change impression to expression, formlessness to form, and wordlessness to word. To serve this process is the essential mission and passion of my heart.
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NETZWERKE & KUNSTWERKE I NETWORKS & ARTWORKS
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WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST WHY IT’S ALL WORTH IT KAI GOERLICH SCOTT CLOUTIER
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Ich bin alt geworden, wimmerte die Wunde. Nicht allein, stöhnte der Grabhügel. Ich bin der Älteste. ächzte der Erdboden Ist das so? seufzt der Schall. HOWARD FINE
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i’ve grown old whined the wound not alone moaned the mound i am eldest groaned the ground is that so? sighs the sound HOWARD FINE
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KAI GOERLICH Zukunfts- und Innovationsberater | Consultant for Foresight and Innovation
Kai Goerlich wurde in der Nähe von Hannover geboren. Er studierte Biologie und ist Zukunfts- und Innovationsberater. Schon während seines Studiums der Biologie suchte er eine umfassendere Sicht auf die Natur und das Leben. Seit seinem ersten Basisseminar bei Paul Uccusic 1997 beschäftigt er sich intensiv mit dem Schamanismus, der zum Fundament seiner Spiritualität wurde. Kai setzt sich intensiv mit Heilungs- und OrakelTechniken sowie nordeuropäischem Schamanismus auseinander. Er ist zertifizierter Shamanic Counselor nach Harner. Kai Goerlich was born near Hannover, Germany. He holds a degree in biology and works as a consultant for foresight and innovation. Even while he was still studying biology, he was already searching for a more comprehensive view on nature and life. His starting point into shamanism, which became the foundation of his personal spirituality and healing in the following years, was the basic workshop with Paul Uccusic in 1997. Kai researches healing and oracle techniques as well as Northern European shamanism. He is a Harner Certified Shamanic Counselor.
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WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST
KAI GOERLICH
LEBEN IN VERÄNDERTEN LANDSCHAFTEN – GESPRÄCHE ÜBER DIE GRENZEN VON KULTUREN HINWEG Im Jahr 2019 konnte ich im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité an der Eröffnung einer Ausstellung über die Werke zeitgenössischer indigener australischer Künstlerinnen und Künstler teilnehmen1, die in ihren Arbeiten Heilungsmethoden aus ihren Gemeinschaften und Kulturen darstellen. In den einleitenden Vorträgen wurde ausgeführt, dass die australischen Ureinwohner:innen über ein Landschaftsgedächtnis verfügen, das bis in die Anfänge der Besiedlung Australiens vor ca. 60.000 Jahren zurückreichen könnte. Dies war der Ausgangspunkt für mich zu untersuchen, ob es derartige Ansätze in unseren westlichen Kulturen gab und was wir von der schamanischen Kultur der Sámi im Norden Europas lernen können. Meine These lautete, dass schamanische oder nomadische Kulturen uns im Umgang mit ihrem Land, mit der sie umgebenden Natur, etwas voraushaben, dass sie etwas anders machen, etwas erinnern, was wir vergessen haben.
ERSTENS: DER BLICK AUF VERÄNDERUNG Das Allermeiste findet außerhalb unserer Aufmerksamkeitsspanne statt. Ein klassischer Laub-Mischwald, zum Beispiel, hat einen Zyklus von achtzig Jahren. Wenn man ihn lässt, dann brennt er während dieser Zeitspanne in der Regel einmal ab und erneuert sich wieder. Fast kein Wald hierzulande wird noch achtzig Jahre alt, weil wir Wälder vor allem wirtschaftlich nutzen und die Lebensspannen dadurch deutlich kürzen. Einzelne Bäume werden sogar deutlich älter: Buchen etwa 300 Jahre, Eichen 800 Jahre, Mammutbäume 4000 Jahre. Versteht man Bäume als lebendige Wesen mit einer ihnen eigenen Form von Bewusstsein – und das tun wir im Schamanismus –, dann wird rasch deutlich, dass diese alten Bäume und die Wälder, in denen sie stehen, viel mehr wahrnehmen und erleben, tiefere Einblicke in den Lauf der Geschichte haben als wir. Diese Erfahrung, dieses Wissen wird bei uns, im Gegensatz zu schamanischen Kulturen, negiert.
1
Charité Universitätsmedizin Berlin (2019): Intervention zur australischen indigenen Medizin. https:// www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/ausstellung_im_bmm_die_kunst_des_ heilens/; 19.09.2024.
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Die Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsspanne in der sogenannten westlichen Welt ist kurzfristig und anthropozentrisch, also auf unsere Art ausgerichtet, in der Regel auf eine menschliche Generation, die eigene Lebenszeit oder eine kürzere Lebensspanne. Wenig gut sind wir auch in der Einschätzung exponentieller Verläufe. Wer schon einmal Brot gebacken hat, weiß, dass dies mit wenigen Hefezellen anfängt. Diese verdoppeln sich und wachsen weiter, einer exponentiellen Entwicklung folgend. Die Anfangsstadien übersehen wir meistens und realisieren erst, dass sich etwas tut, wenn der Teig überquillt – also kurz vor Schluss. Anders ausgedrückt: Ein großer Teil wesentlicher Entwicklungszyklen und Veränderungen bleibt unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle. Fällt uns schließlich auf, dass sich etwas tut, dann herrscht meist Zeitdruck und es bleiben wenige Handlungsoptionen übrig. Dieses Problem findet sich in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen: Bevölkerungsdynamiken,
zunehmender
Ressourcenverbrauch,
steigender
Energiebedarf, abnehmende landwirtschaftliche Flächen, Aussterben von Tier- und Pflanzenarten oder klimarelevante Phänomene. Vieles davon können wir mathematisch berechnen und vorhersagen, aber wir tun uns sehr schwer damit, diese Verläufe mit unserem auf kurzfristige Veränderungen ausgerichteten Bewusstsein zu erfassen und dann die geeigneten, längerfristig wirksamen Maßnahmen zu ergreifen. Zudem liegen Ursache und Wirkung oft weit auseinander bzw. entziehen sich unserer Erkenntnisspanne. Aus der Chaosforschung wissen wir, dass selbst lokale Ereignisse an einem Ende des Systems große Veränderungen am anderen nach sich ziehen können. Im Jahr 1816, zum Beispiel, gab es in Westeuropa ein Jahr ohne Sommer, ausgelöst durch einen Vulkanausbruch in Indonesien.2 Damals konnten die Zusammenhänge zwischen den beiden Ereignissen noch nicht überblickt werden. Aber selbst heute reagieren wir immer noch zu wenig, selbst auf überregionale und globale Einflüsse wie die Zerstörung der Regenwälder und marinen Ökosysteme. Wir könnten auf langfristige Beobachtungen und Dokumentationen über die Natur zurückgreifen, aus wissenschaftlichen, aber auch nicht-wissenschaftlichen Quellen, wie die Bauernkalender. Nur messen wir diesem unmittelbaren Wissen über die Umwelt, in der wir leben, zu wenig Bedeutung zu. Auch deswegen wurde vieles mittlerweile vergessen und ist damit verloren gegangen.
2
Siehe u.a. Herkle, Senta, Holtz, Sabine, Kollmer-von Oheimb-Loup (Hrsg.) (2019): 1816 – Das Jahr ohne Sommer: Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung im deutschen Südwesten. Stuttgart: Kohlhammer.
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WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST
ZWEITENS: LEBEN IN SYMBIOSE Meiner ursprünglichen Theorie folgend, dass der oben erwähnte, kulturell bedingte Wahrnehmungsrahmen in schamanischen Gemeinschaften anders aufgebaut sein könnte, habe ich im Frühling 2022 ein Interview mit dem SámiKünstler Frederik Prost3 geführt. Das Gespräch hat mir einige Zusammenhänge aufgezeigt und neue Einsichten ermöglicht. Es hat mich bewegt, mit welchem Herz Fredrik für seine Kultur und sein Sein einsteht. Fredrik lebt in Kiruna, im hohen Norden Schwedens, unweit zu Finnland und Norwegen. Kiruna ist traditionelles Gebiet der Sámi – und heute eines der großen Minengebiete, mit deutlichen Spuren in der Landschaft. Die Sámi versuchen, kulturell und politisch unabhängig zu sein, sich aus der nach wie vor vorhandenen Benachteiligung zu befreien. Eine gewisse Zurückhaltung durchzieht bis heute ihr kulturelles Gedächtnis. Deshalb ist Fredrik vorsichtig, mit wem er sich austauscht. Man muss mit der Landschaft in Symbiose leben, so eine der zentralen Erfahrungen der Sámi. Dazu gehört auch, ein lebendiges Gefühl und Gedächtnis zur Landschaft zu haben. Ähnlich wie die Aborigines in Australien und zahlreiche andere indigene Gemeinschaften weltweit geben die Sámi den Bergen, den Flüssen und Gegenden Namen. Denn ihre Ahn:innen wohnen dort, genauso wie andere Geister. Die damit in Verbindung stehenden Geschichten werden von einer Generation an die nächste weitergegeben, manchmal über tausende von Jahren hinweg, so wird gesagt. Die Sámi wissen, was früher an welchen Stellen im Land getan wurde oder was dort geschehen ist, wie sich Wasserlöcher über die Zeit verändern, welche Geister wo wohnen oder gewohnt haben, welche Clans wo wohnen oder gewohnt haben. Wenn man von Gebiet zu Gebiet geht, von Clan zu Clan, dann werden entsprechend verschiedene und doch ähnliche Geschichten erzählt. So wird das Landschaftsgedächtnis fortlaufend reaktiviert und am Leben erhalten. Diese Art von Gedächtnis ist eingebettet in die Landschaft, so wie die Landschaft eingebettet ist in die Geschichten. Es verändert sich mit der Landschaft, mit der Evolution von Natur und Kultur, es verändert sich entlang des Lebens. Fredrik Prost meint, dass ein Charakteristikum des sogenannten modernen Lebens darin bestehen würde, dass wir letztlich überall leben können. Einzig, dies habe einen Preis, weil wir damit Gefahr laufen, unsere Wurzeln zu verlieren. Er selbst lebt dort, wo seine Ahninnen und Ahnen sind, die bereits dieselbe Erde unter den Füßen hatten wie er. Diese Spuren sind Teil des
3
Siehe http://www.fredrikprost.com; 19.09.2024.
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gemeinsamen Gedächtnisses, Teil der Verbindung zwischen den Generationen. Dies, so meint er, schütze davor, Missbrauch an der Landschaft und den Wesen der Natur zu betreiben. Die Gründe, warum die Erhaltung eines derartigen Landschaftsgedächtnisses wichtig ist, sind alles andere als romantisch. Sie haben mit der nomadischen Lebensweise der Sámi zu tun – unter Bedingungen, die eine Anpassung des Menschen an die Natur bedingen. Wenn Arbeit selbst bei minus 40 Grad Celsius im Freien verrichtet werden muss, weiß man um die Gefahren Bescheid – und kennt Leute, die dabei erfroren sind. Das natürliche Umfeld fordert eine erhöhte Aufmerksamkeit ein. Um zu überleben, muss man das Wechselspiel der Kräfte, die Geister und die Geschichten kennen. Man muss über ein Landschaftsgedächtnis verfügen. Andersherum formuliert: Wenn wir im Luxus leben, erlauben wir uns eine niedrigere
Aufmerksamkeit
gegenüber
Veränderungen
und
den
damit
zusammenhängenden Abläufen. Das Darunterliegende – die Essenz, die dann bedeutsam wird, wenn wir auf das Notwendigste reduziert werden – geht sukzessive verloren. Wenn wir vergessen und die Landschaft nicht mehr lesen können, sind wir nicht mehr in der Landschaft.
DRITTENS: GEMEINSAME HERAUSFORDERUNGEN Unser Gedächtnis ist verschüttet, latent aber noch vorhanden. Ein Vorteil unserer schriftlichen Kultur ist, dass vieles erhalten bleibt, selbst wenn es im Alltag keine Relevanz mehr besitzt. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen, das Wetter betreffend: Während der kleinen Eiszeit von 1550 bis 17504 traten ähnliche Phänomene in Erscheinung wie jene, mit denen wir aller Voraussicht nach auch in nächster Zukunft konfrontiert werden könnten. Das Erinnern daran und an die Wege der Bewältigung, die entwickelt wurden, könnte essenziell für die Zukunft sein. Dies gilt auch für die oftmals belächelten, aber in weiten Teilen mittlerweile statistisch belegten Bauernkalender5 oder Überlieferungen zu Hungersteinen6. Sie repräsentieren lokales, regionales und sogar überregionales Wissen zum Wetter. Ähnliche 4
Siehe Romá, Armando Alberola (2022): Klimawandel im Mittelalter: Vom Wärmeoptimum in die Kaltzeit. https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/09/klimawandel-immittelalter-vom-waermeoptimum-in-die-kaltzeit; Moreno-Chamarro, Eduardo et al. (2017): Winter amplification of the European Little Ice Age cooling by the subpolar gyre. Scientific Reports. 7: 9981. https://www.nature.com/articles/s41598-017-07969-0; 19.09.2024.
5
MDR (2022): Bauernregeln bieten wichtige Wetterinfos. https://www.mdr.de/wissen/faktencheck/ faktencheck-bauernregeln-100.html; 19.09.2024.
6
Stark, Florian (2022): In den trockenen Flussbetten erscheinen unheimliche Botschaften. https:// www.welt.de/geschichte/article240633811/Hungersteine-Unheimliche-Botschaften-aus-demFluss.html; 19.09.2024.
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WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST
Zeugnisse liegen für andere Aspekte der Landschaft – Orte und Flurnamen, Geister, Bevölkerungsentwicklung etc. – vor und können bei entsprechender Recherche zutage gelegt werden. Bei all dem können wir von indigenen Kulturen lernen, und sie von uns. Wir sitzen in einem gemeinsamen Boot. Wenden wir uns exemplarisch erneut den Sámi zu: Kiruna liegt nicht nur inmitten einer einzigartigen Landschaft, in der die Kultur der Sámi und ihrer Rentiere nach wie vor spürbar ist. Kiruna ist auch eines der vielversprechendsten Gebiete für Lithium, einen der wichtigsten Rohstoffe für moderne und nachhaltige Technologie7. Das Thema Nachhaltigkeit könnte also zu einer der großen Gefahren für die Länder der Sámi werden. Wir werden gemeinsam Wege finden müssen, um dieses Dilemma aufzulösen – mithilfe wissenschaftlich-technologischer Innovation und dem Gedächtnis über die sich wandelnden Landschaften. Möchten wir Menschen nicht als misslungenes Experiment in die Geschichte der Evolution eingehen und stattdessen für eine Zukunft arbeiten, in der wir als Spezies überleben, müssen wir in einer bewussten Symbiose leben. Das heißt, wir sollten wieder lernen, die Landschaft zu lesen, zu fühlen, in ihr und ein Teil von ihr zu sein. Wir müssen die Ahnen und Ahninnen, die Geister in der Landschaft wahrnehmen so wie in den alten Tagen.8 Wir müssen realisieren, dass wir eins sind mit dieser Landschaft.
7
Euronews (2023): Swedish mining company discovers Europe´s largest deposit of rare earth elements. https://www.euronews.com/green/2023/01/13/swedish-mining-company-discovers-europeslargest-deposit-of-rare-earth-elements; 19.09.2024.
8
Vgl. dazu etwa Bächtold-Stäubli, Hanns, Hoffmann-Krayer, Eduard (Hrsg.) (1987; 1927–1942): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 10 Bände. Berlin, New York: de Gruyter.
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WHY IT’S ALL WORTH IT
KAI GOERLICH
LIVING IN ALTERED LANDSCAPES – CONVERSATIONS ACROSS THE BOUNDARIES OF CULTURES In 2019, I was able to attend the opening of an exhibition at the Charité Medical History Museum in Berlin featuring the work of contemporary Indigenous Australian artists1 who depict healing practices from their communities and cultures. In the introductory lectures, it was explained that Indigenous Australians have a landscape memory that could date back to the beginnings of settlement in Australia some 60,000 years ago. This was the starting point for me to investigate whether similar approaches existed in our Western cultures and what we can learn from the shamanic culture of the Sámi in northern Europe. My thesis was that shamanic or nomadic cultures are ahead of us in interacting with their land and their surrounding natural environment, that they do something differently and remember something that we have forgotten.
FIRST: THE VIEW OF CHANGE The overwhelming majority of change takes place outside our attention span. A classic mixed deciduous forest, for example, has a cycle of eighty years. If it is left undisturbed by humans, it usually burns down once during that time spam and renews itself. Almost no forest in this country lives to be eighty years old because we use forests primarily for economic purposes, which significantly shortens their life spans. Individual trees can live much longer: beech trees for around 300 years, oaks for 800 years and sequoias for 4,000 years. If one understands trees as living beings with their own form of consciousness – and this is what we do in shamanism – then it quickly becomes clear that these ancient trees and the forests in which they stand perceive and experience much more and have deeper insights into the course of history than we do. Unlike people in shamanic cultures, we negate their arboreal experience and sylvan wisdom. The span of perception and attention in the so-called Western world is shortterm and anthropocentric, i.e. focused on our own species, usually on only
1
Charité Universitätsmedizin Berlin (2019): Intervention zur australischen indigenen Medizin. https:// www.charite.de/service/pressemitteilung/artikel/detail/ausstellung_im_bmm_die_kunst_des_ heilens/; 19.09.2024.
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one human generation, one’s own lifetime or an even shorter lifespan. We are also not very good at evaluating exponential processes. Anyone who has ever baked a loaf of bread knows that the leavening process begins with a few yeast cells, which double, redouble and continue to grow, following an exponential trajectory. We usually overlook the initial phases and only realise that something is happening when the dough is overflowing – i.e. shortly before the end. In other words, a large proportion of essential developmental cycles and changes occur below our perceptual threshold. When we finally realize that something is happening, there is usually time pressure and few options for action remain. This problem can be found in all socially relevant areas: population dynamics, increasing consumption of resources, rising energy requirements, decreasing agricultural land, climate-related phenomena and extinction of animal and plant species. We can calculate and predict much of this mathematically, but we find it very difficult to grasp these trends with an awareness alert only to short-term changes and then take appropriate action that will be effective in the longer term. In addition, cause and effect often lie far apart or elude our range of knowledge. We know from chaos research that even local events at one end of a system can result in major changes at the other. In 1816, for example, a volcanic eruption in Indonesia led to a year without a summer in Western Europe.2 At that time, it was not yet possible to see the connections between the two events. But even today, we still do not respond appropriately, even to supra-regional and global influences such as the destruction of rainforests and marine ecosystems. We could consult long-term observations and documentations about nature, from scientific as well as non-scientific sources such as farmers’ almanacs. But we ascribe too little importance to this direct empirical knowledge of the environment in which we live. This is another reason why much has been forgotten and therefore lost.
SECOND: LIFE IN SYMBIOSIS Pursuing my original theory that the above-mentioned culturally conditioned perceptual
framework
could
be
structured
differently
in
shamanic
communities, I interviewed the Sámi artist Fredrik Prost3 in the spring of 2022. Our conversation showed me some important connections and gave me new insights. I was moved by how much heart Fredrik brings to standing up for his culture and his way of being. 2
Also see Herkle, Senta, Holtz, Sabine, Kollmer-von Oheimb-Loup (eds.) (2019): 1816 – Das Jahr ohne Sommer: Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung im deutschen Südwesten. Stuttgart: Kohlhammer.
3
See http://www.fredrikprost.com; 19.09.2024.
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WHY IT’S ALL WORTH IT
Fredrik lives in Kiruna, in the far north of Sweden, not far from Finland and Norway. Kiruna is a traditional Sámi region – and today one of Sweden’s large mining areas, which has left obvious traces in the landscape. The Sámi are trying to be culturally and politically independent, to overcome the disadvantages they still face. A certain reticence pervades their cultural memory to this day. This is why Fredrik is cautious with whom he communicates. One of the key realisations of the Sámi is that a society must live in symbiosis with its landscape. This also includes preserving a lively sensitivity and recollection of the landscape. Like the Aborigines in Australia and many other indigenous communities around the globe, the Sámi give names to mountains, rivers and regions. They do this because their ancestors live there, as do other spirits. The associated stories are passed down from one generation to the next, sometimes over thousands of years, it is said. The Sámi know what used to be done in which places in the country or what happened there, how waterholes change over time, which spirits dwell or dwelt where, which clans live or lived where. If you travel from area to area and from clan to clan, you hear different, yet similar tales. This storytelling continuously reactivates the landscape memory and keeps it alive. This kind of remembrance is embedded in the landscape, just as the landscape is embedded in the stories. The recollection changes with the landscape, with the evolution of nature and culture: it changes along with life. Fredrik Prost says that one characteristic of so-called modern life is that we can ultimately live anywhere. But the price we pay is that we risk losing our roots. He lives where his ancestors are, who had the same soil below their feet as he has today. These traces are part of the shared memory, part of the connection between the generations. This, he believes, prevents humans from misusing the landscape and the essence of nature. The reasons why the preservation of a landscape memory is important are anything but romantic. They have to do with the nomadic way of life of the Sámi – under conditions that compel human beings to adapt to nature. When tasks must be done outdoors even at minus 40 degrees Celsius, everyone is aware of the dangers – and everyone knows some people who froze to death. The natural environment demands keen attention. To survive, one must be familiar with the interplay of forces, with the spirits and the stories. One must have a landscape memory. In other words: Living in luxury means allowing ourselves a reduced awareness towards changes and associated processes. The essence that becomes meaningful when we need to focus on the bare essentials is gradually lost. When we forget and can no longer read the landscape, we are no longer in the landscape.
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THIRD: SHARED CHALLENGES Our memory is buried, latent, but still existent. One advantage of our literate culture is that many things are preserved in writing, even if they are no longer relevant in everyday life. To cite just a few examples relating to the weather: phenomena similar to those that might well confront us in the near future occurred during the Little Ice Age from 1550 to 1750.4 Remembering this and the ways of coping that were developed could be essential for our future. This also applies to the often ridiculed but now largely statistically proven farmers’ almanacs5 or traditions about hunger stones.6 These preserve local, regional and even supra-regional knowledge about the weather. Similar evidence exists for other aspects of the landscape – place names and field names, spirits, population development, etc. – and can be brought to light by appropriate research. In all of this, we can learn from indigenous cultures and they can learn from us. We are all in the same boat. Let’s again turn to the Sámi as an example: Kiruna is not only located in the midst of a unique landscape in which the culture of the Sámi and their reindeer can still be felt. Kiruna is also one of the most promising regions for lithium, one of the most important raw materials for modern and sustainable technology.7 The issue of sustainability could therefore pose a major threat to the Sámi lands. Together we will need to find ways to resolve this dilemma – with the help of scientific and technological innovation and the memory of changing landscapes. If we humans do not want to go down in the history of evolution as a failed experiment and if we choose instead to work toward a future in which our species survives, then we must live in a conscious symbiosis. This means that we should remember and learn again how to read the landscape, to sense it and to be both in it and a part of it. We need to become aware of the ancestors, the spirits in the landscape, as we were in the old days.8 We must realise that we are one with this landscape.
4
See Romá, Armando Alberola (2022): Klimawandel im Mittelalter: Vom Wärmeoptimum in die Kaltzeit. https://www.nationalgeographic.de/geschichte-und-kultur/2022/09/klimawandel-immittelalter-vom-waermeoptimum-in-die-kaltzeit; Moreno-Chamarro, Eduardo et al. (2017): Winter amplification of the European Little Ice Age cooling by the subpolar gyre. Scientific Reports. 7: 9981. https://www.nature.com/articles/s41598-017-07969-0; 19.09.2024.
5
MDR (2022): Bauernregeln bieten wichtige Wetterinfos. https://www.mdr.de/wissen/faktencheck/ faktencheck-bauernregeln-100.html; 19.09.2024.
6
Stark, Florian (2022): In den trockenen Flussbetten erscheinen unheimliche Botschaften. https:// www.welt.de/geschichte/article240633811/Hungersteine-Unheimliche-Botschaften-aus-demFluss.html; 19.09.2024.
7
Euronews (2023): Swedish mining company discovers Europe’s largest deposit of rare earth elements. https://www.euronews.com/green/2023/01/13/swedish-mining-company-discoverseuropes-largest-deposit-of-rare-earth-elements; 19.09.2024.
8
Compare also, for example, Bächtold-Stäubli, Hanns, Hoffmann-Krayer, Eduard (eds.) (1987; 19271942): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Ten volumes. Berlin, New York: de Gruyter.
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WHY IT’S ALL WORTH IT
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SCOTT CLOUTIER Schamanisch Praktizierender | Shamanic Practitioner
Scott Cloutier ist Applied Shamanic Practitioner und Mitinhaber von Our Hearts Enter. Er praktiziert zudem Hypnotherapie, integrative Heilkunst, Permakultur und natürliches Bauen. Er ist ein leidenschaftlicher Lehrer. In seinem Coaching und seiner Beratung konzentriert er sich auf die Entwicklung einer regenerativen und glücklichen Zukunft für alle Wesen. Scott Cloutier is an Applied Shamanic Practitioner and the co-owner of Our Hearts Enter. He also has practices in hypnotherapy, the integrative healing arts, permaculture, and natural building. He is a passionate teacher. In his coaching and guidance, he focuses on moving toward a regenerative and happy future for all beings.
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WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST
SCOTT CLOUTIER
DAS GESCHENK DER TRANSFORMATION: WARUM ES ALL DIE MÜHE WERT IST Der Bereich, in dem ich wissenschaftlich tätig bin – die Nachhaltigkeit –, ist reich an Debatten, Reflexionen und auch Forderungen nach Transformation.1 Meine persönliche Praxis von angewandtem Schamanismus, intuitivem Entwicklungscoaching,
Permakultur
und
natürlichem
Bauen
beinhaltet
und erfordert ebenfalls ein erhebliches Maß an Transformation. Darüber zu sprechen, dass Transformation wichtig oder notwendig ist, und sie tatsächlich zuzulassen – nicht zu erzwingen –, sind aber zwei verschiedene Dinge. Unter Transformation versteht man ganz einfach eine tiefgreifende oder dramatische Veränderung der Erscheinung oder der Form – man denke etwa an die Verwandlung einer Raupe in einen Schmetterling. In den frühesten Phasen der Transformation investiert die Raupe enorm viel Energie in den Bau ihres Kokons und bereitet sich damit auf einen neuen Seinszustand vor. Sie sucht sich den richtigen Ort für die Transformation und erbaut ihre Behausung dafür. Dann ruht sie und gibt sich bereitwillig einer radikalen Veränderung hin. Das Schöne ist, dass es noch viele weitere Beispiele dieser Art gibt, mit denen die Natur uns lehrt, uns hinzugeben, weiterzuentwickeln und neu zu erstehen. Die Raupe lässt alte Lebensweisen hinter sich, die gewiss bequem und vertraut waren, um zu neuen, ihr noch unbekannten Lebensweisen überzugehen, die aus dem Wandel geboren werden. Der Mensch kann das Gleiche tun. Aus meiner Sicht geht es bei der Transformation weniger um die Beschaffenheit einer neuen Form. Es geht essenziell um das Werden einer neuen Form oder eines anderen Seinszustands – Transformation ist ein iterativer Prozess. Jeder neue Zustand geht naturgemäß irgendwann in etwas anderes über – das ist der Kreislauf des Lebens (und des Todes). Dieser Übergang erfordert Vertrauen in den neuen Seinszustand und den gesamten Prozess der Transformation, zumal die Erfahrungen, die man dabei macht, notwendigerweise ein gewisses Unbehagen mit sich bringen. Nehmen wir dieses Unbehagen an, dann wird es durch neue Formen des Wohlbefindens ausgeglichen.
1
Abson, David J. et al. (2017): Leverage points for sustainability transformation. Ambio. Vol. 46, Issue 1. S. 30-39; AtKisson, Alan (2012): The sustainability transformation: how to accelerate positive change in challenging times. London, Washington D.C.: Routledge; Westley, Frances et al. (2011): Tipping toward sustainability: emerging pathways of transformation. Ambio. Vol. 40, Issue 7. S. 762-780. Rees, William E. (1995): Achieving sustainability: reform or transformation? Journal of Planning Literature. Vol. 9, Issue 4. S. 343-361.
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In diesem Beitrag möchte ich einige Einsichten teilen, die ich auf verschiedenen Wegen gewonnen habe: in fünfzehn Jahren des Studiums der Zusammenhänge zwischen Glück und Nachhaltigkeit sowie in meiner Praxis des angewandten Schamanismus, der Permakultur und integrativen Heilkunst. Meine Absicht ist es, die Transformation im Zusammenhang mit Glück zu diskutieren, Einblick in ihre Geschenke zu geben und jeden dazu anzuregen, Werkzeuge zu entwickeln, die helfen können, Transformation im eigenen Leben willkommen zu heißen.
TRANSFORMATION & GLÜCK In den vielen Jahren, in denen ich die Wechselbeziehungen zwischen Nachhaltigkeit und Glück erforscht habe, ist mir klar geworden, dass die Entwicklung eines Bewusstseins dafür, wie und warum wir nach Glück streben, eine grundlegende transformative Wirkung haben kann. Es gibt zahllose Definitionen von Glück, unzählige Konzeptionen und Ersatzbegriffe. In letzter Zeit bin ich zu einem Konzept von Glück als Kontinuum gelangt, das ich den „Pfad des generativen Glücks“ nenne (Abbildung 1). Zu beachten ist dabei, dass dieses Konzept als Pfad angelegt ist, dessen Mitte regenerativ ist, während die linke und die rechte Seite degenerativ und nur beschränkt in der Lage sind, regeneratives Glück zu vermitteln. Auf der linken Seite des Pfads befinden sich niedrigere Stufen des Glücks, die als Vergnügen oder Hedonie erlebt werden.2 Auf der rechten Seite sind intensivere Glückserfahrungen verortet, die als Euphorie bekannt sind. Diese beiden Arten von Glückserfahrungen sind zwar wichtig, können aber dazu führen, dass wir endlos versuchen, dem Körper in Zeiten und Räumen Befriedigung zu verschaffen, in denen wir uns vielleicht gar nicht befinden. Ich nenne diese Seiten des Pfads die degenerativen Aspekte des Glücks: Formen von Gewöhnung und äußeren Einflüssen, wie etwa die Medien, können uns dazu bringen, Vergnügungen (Hedonie) zu suchen, während Formen von Sucht und Askese uns dazu bewegen können, Euphorie zu suchen (angedeutet durch die Pfeile, die nach links und rechts zurückführen). Langfristig führt das endlose Streben nach Vergnügen oder Euphorie, so wie dies heute oft üblich ist, jedoch zum Raubbau an uns selbst, an anderen Menschen, an nicht-menschlichen Wesen und an unserem gemeinsamen Planeten.
2
Deci, Edward L., & Ryan, Richard M. (2008): Hedonia, eudaimonia, and well-being: An introduction. Journal of Happiness Studies. Vol. 9, Issue 1. S. 1-11.
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WARUM ES ALL DEN AUFWAND WERT IST
Abb. 1: Der Pfad des generativen Glücks
In der Mitte des Pfads des generativen Glücks befinden sich die regenerativen Aspekte des Glücks, die in der Abbildung durch einen intakten Wald veranschaulicht werden. Diesen mittleren Teil nenne ich den Kreislauf des regenerativen Glücks. Er beginnt mit Eudaimonie oder einem Gefühl von Bestimmung, Sinnhaftigkeit und Erfüllung.3 Diese Art von Glück wird als eines empfunden, bei dem das menschliche Potenzial noch nicht freigelegt worden ist und erst erforscht werden muss. Eudaimonisches Glück kann mit höheren Ebenen der Naturverbundenheit in Verbindung gebracht und als wichtiges Instrument für eine nachhaltige Entwicklung angesehen werden.4 Zudem korrespondiert Eudaimonie auch mit prosozialen Verhaltensweisen, zum Beispiel mit der Ausübung von Ehrenämtern, Gartenarbeit oder Aufenthalt in der freien Natur.5 Ich würde empfehlen, die Eudaimonie zu erkunden, indem man seinen wahren Leidenschaften folgt und beginnt, sein Selbst zu entfalten und zu verwirklichen – das ist der erste Teil der regenerativen Mitte auf dem Pfad des generativen Glücks. Selbstaktualisierung ist „der Wunsch, mehr und mehr zu dem zu werden, was man ist; alles zu werden, was zu werden man imstande
3
Ryan, Richard M., Huta, Veronika, Deci, Edward L. (2008): Living well: A self-determination theory perspective on eudaimonia. Journal of Happiness Studies. Vol. 9. S. 139-170.
4
Lima, Pedro A. B., & Mariano, Enzo B. (2022): Eudaimonia in the relationship between human and nature: A systematic literature review. Cleaner Production Letters. 100007.
5
Ryan, Richard M., Huta, Veronika, Deci, Edward L. (2008); Webber, Jo, Hinds, Joe, Camic, Paul M. (2015): The well-being of allotment gardeners: A mixed methodological study. Ecopsychology. Vol. 7, Issue 1. S. 20-28.
167
ist.“6 Man strebt also danach, sich selbst vollständig auszudrücken und ein Höchstmaß an Erfüllung und Selbstentfaltung zu erreichen. Diese Art von Glück – die Verwirklichung des eigenen idealen Selbst – stand in Abraham Maslows Theorie von den menschlichen Bedürfnissen zunächst an der Spitze der Hierarchie.7 Später erweiterte er diese um die Selbsttranszendenz – die nächste Stufe in der regenerativen Mitte des Pfads – als Gipfelpunkt der menschlichen Erfahrung. Selbsttranszendenz ist gekennzeichnet durch eine „abnehmende Abhängigkeit von Äußerlichkeiten zur Definition des Selbst, eine zunehmende Innerlichkeit und Spiritualität, und ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit mit vergangenen und künftigen Generationen.“8 Genau diese Definition von Selbsttranszendenz gibt einen Hinweis auf ein fehlendes Element, das für unsere gemeinsame nachhaltige Zukunft entscheidend ist. Um die Mitte des Pfads zu beschreiten, sollten wir uns zwischen den Stufen der Eudaimonie, der Selbstaktualisierung und der Selbsttranszendenz hinund herbewegen und so versuchen, in diesem Kreislauf eines glücklichen und gleichermaßen nachhaltigen Lebens zu bleiben.
DAS GESCHENK EINER GLÜCKLICHEN TRANSFORMATION In den vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Thema habe ich gelernt, dass man nicht nur seine Vorstellung darüber ändern kann, was Glück ist, sondern auch seine Vorstellung davon, was einen glücklich macht. Letzteres ist vielleicht sogar das Wichtigste. Um einen solchen Zustand erreichen zu können, muss man sich jedoch bewusst sein, was konkret man tut, um sich glücklicher zu fühlen. Dazu braucht es Fertigkeiten und Werkzeuge, die einem dabei helfen zu erkennen, mit welchen Mitteln man versucht, Vergnügen oder gar Euphorie zu empfinden. Außerdem muss man die Gelassenheit entwickeln, sich von mehr als seinem Verstand oder von äußeren Zwängen und Normen leiten zu lassen. Das Geschenk der Transformation besteht darin, dass überall um uns herum Lehrer:innen zu finden sind, die uns dabei unterstützen können, ein tieferes Glücksgefühl zu erreichen. Ich selbst habe Lehrer:innen in meiner Praxis des angewandten Schamanismus, der intuitiven Entwicklung, der Permakultur und des natürlichen Bauens gefunden. Diese in der Natur verwurzelten
6
Krems, Jaimie A., Kenrick, Douglas T., & Neel, Rebecca (2017): Individual perceptions of selfactualization: What functional motives are linked to fulfilling one’s full potential? Personality and Social Psychology Bulletin. Vol. 43, Issue 9, 1337-1352. S. 1338.
7
Maslow, Abraham H. (1943): A theory of human motivation. Psychological review. Vol. 50, Issue 4, 370-396. S. 370.
8
Levenson, Michael R. et al. (2005). Self-transcendence: Conceptualization and measurement. The International Journal of Aging and Human Development. Vol. 60, Issue 2. S. 127-143.
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Herangehensweisen ermöglichen es mir, ein tieferes Wissen zu erschließen, das mich davon befreit, nur nach Vergnügen zu streben, um glücklich zu sein. Diese Arbeit erfordert auch (un)bequeme Transformation(en), im Zuge derer ich frühere Sicht- und Lebensweisen loslassen muss. So bin ich zum Beispiel in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der die Natur oft als Hindernis für den Fortschritt angesehen wird. Sei es, dass ein Regentag zur Absage einer Sportveranstaltung führt oder für ein Bauvorhaben ein Wald gerodet werden muss – mir wurde beigebracht, die Natur als etwas zu interpretieren, das wir aus dem Weg räumen müssen. Was ich durch meine Forschungen und meine persönliche Praxis gelernt habe, ist, dass die Natur uns allen innewohnt. Sie ist unsere unentbehrliche Lehrerin und unsere Führerin, jemand, die unsere individuellen und kollektiven Transformationen in Zustände der Harmonie unterstützen kann. Das Glück und sein Spiegelbild, das Unglück, sind als solche Anzeichen dafür, dass wir uns auf einem Weg der Transformation befinden. Wie die Gezeiten des Ozeans werden Glück und Unglück abebben und ansteigen, während wir uns von einem Zustand, der unserem Weg nicht mehr dienlich ist, in einen neuen Zustand, der diesem dient, hineinbewegen.
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WHY IT’S ALL WORTH IT
SCOTT CLOUTIER
THE GIFT OF TRANSFORMATION: WHY IT’S ALL WORTH IT The field in which my academic studies are situated, sustainability, is rife with discussion, reflection, and even demands for transformation.1 My personal practices of applied shamanism, intuitive development coaching, permaculture, and natural building also inform and call for significant transformation. Yet a divide exists between speaking of transformation’s importance/need and allowing, not forcing, it to happen. Transformation, simply, is a thorough or dramatic change in appearance or form – think caterpillar to butterfly. In its earliest stages, the caterpillar invests enormous amounts of energy building its cocoon – preparing for a new state of being. It finds the right place to do so, builds its home for transformation, rests and willingly surrenders to a drastic shift. The beauty of this lesson is that there are so many more like it, from which nature teaches us to surrender, evolve, and emerge anew. The caterpillar leaves behind old ways of being that certainly were comfortable and familiar for new and unexperienced ways of being born from change. Humans can do the very same. For me, transformation is less about the state of a new form. It is the essence of becoming a new form or a different state of being – transformation is an iterative process. Any new state inherently will transition into something else – this is the cycle of life (and death). The transition, however, requires trust in the new state of being and the entire process of transforming. The experience inherently brings some states of discomfort. Yet the discomfort, once embraced, is balanced with new forms of comfort. In this paper, I share some insights from fifteen years of studying the links between happiness and sustainability, along with aspects of my practice with applied shamanism, permaculture, and the integrative healing arts. The intention is to contextualize transformation in terms of happiness, provide insight on its gifts, and encourage you to develop some tools to welcome it into your own life.
1
Abson, David J. et al. (2017): Leverage points for sustainability transformation. Ambio. Vol. 46, Issue 1. pp. 30-39; AtKisson, Alan (2012): The sustainability transformation: how to accelerate positive change in challenging times. London, Washington D.C.: Routledge; Westley, Frances et al. (2011): Tipping toward sustainability: emerging pathways of transformation. Ambio. Vol. 40, Issue 7. pp. 762-780; Rees, William E. (1995): Achieving sustainability: reform or transformation? Journal of Planning Literature. Vol. 9, Issue 4. pp. 343-361.
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TRANSFORMATION & HAPPINESS In my many years of researching the links between sustainability and happiness, I have come to realize that developing an awareness around how and why we pursue happiness can be completely transformative. Happiness has so many definitions, conceptualizations, and terms that are used as its surrogate. Lately I conceptualize happiness as a continuum or what I have titled the Generative Happiness Path (Figure 1). Keep in mind, the concept is arranged as a Path with a middle that is regenerative and left and right sides that are degenerative and limited in their ability to provide happiness in a regenerative way. On the left of the Path, there are lower levels of happiness experienced as pleasure or hedonia.2 On the right end, there are more intense experiences of happiness known as euphoria. These two experiences of happiness are important, yet can become endless pursuits of trying to keep one’s body satisfied in times and spaces where one might not be. I call these sides of the Path the degenerative aspects of happiness: we are encouraged (indicated by the arrows hooking back toward the left and right) to consume pleasure (hedonia) via aspects of habituation and external pressures like the media, while aspects of addiction and asceticism may encourage us to seek euphoria. In the long term, endlessly pursuing pleasure or seeking euphoria in modern ways is extractive of our selves, other humans, more-than-humans, and our shared planet.
Fig 1: The Generative Happiness Path
The middle of the Generative Happiness Path is where the regenerative aspects of happiness lie, also illustrated by a healthy forest – I call it the Regenerative Happiness Loop. It begins with eudaimonia or a sense of purpose, meaning,
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Deci, Edward L., & Ryan, Richard M. (2008): Hedonia, eudaimonia, and well-being: An introduction. Journal of Happiness Studies. Vol. 9, Issue 1. pp. 1-11.
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and fulfilment.3 This type of happiness is perceived as one where human potential is yet uncovered and to be explored. Eudaimonic happiness has been associated with higher levels of nature-connectedness and seen as an important tool for sustainable development.4 Eudaimonia is also associated with prosocial behaviours, i.e., volunteering, gardening, and spending time in nature.5 I suggest that eudaimonia can be explored by pursuing one’s passions and beginning to self-actualize, which is the first part of the regenerative middle of the Generative Happiness Path. Self-actualization is “the desire to become more and more what one is, to become everything that one is capable of becoming.”6 Here, one is moving toward being fully expressed and embodying the fullest extent to which one feels fulfilled and realized. This type of happiness is what sat atop Abraham Maslow’s Theory of Human Needs, where one realizes one’s ideal self.7 What Maslow later shared is that self-transcendence, and the next stage along the regenerative middle of the Path, is the peak of the human experience. Self-transcendence is characterized by a “decreasing reliance on externals for the definition of self, increasing interiority and spirituality, and a greater sense of connectedness with past and future generations.”8 The very definition of self-transcendence hints at a missing key to our shared sustainable future. To walk the middle of the Path, one would cycle between these stages of eudaimonia, self-actualization, and self-transcendence, trying to stay in the loop to be simultaneously happy and sustainable.
THE GIFT OF A HAPPY TRANSFORMATION In so many years of studying it, I have come to learn that as much as one can shift one’s perspective on what happiness is, one can also shift one’s perspective on what makes one happy. The latter may be the most important. Reaching such a state, however, requires an awareness and consciousness of
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Ryan, Richard M., Huta, Veronika, Deci, Edward L. (2008): Living well: A self-determination theory perspective on eudaimonia. Journal of Happiness Studies. Vol. 9. pp. 139-170.
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Lima, Pedro A. B., & Mariano, Enzo B. (2022): Eudaimonia in the relationship between human and nature: A systematic literature review. Cleaner Production Letters. 100007.
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Ryan, Richard M., Huta, Veronika, Deci, Edward L. (2008); Webber, Jo, Hinds, Joe, Camic, Paul M. (2015): The well-being of allotment gardeners: A mixed methodological study. Ecopsychology. Vol. 7, Issue 1. pp. 20-28.
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Krems, Jaimie A., Kenrick, Douglas T., & Neel, Rebecca (2017): Individual perceptions of selfactualization: What functional motives are linked to fulfilling one’s full potential? Personality and Social Psychology Bulletin. Vol. 43, Issue 9, 1337-1352. p. 1338.
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Maslow, Abraham H. (1943): A theory of human motivation. Psychological review. Vol. 50, Issue 4, 370-396. p. 370.
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Levenson, Michael R. et al. (2005). Self-transcendence: Conceptualization and measurement. The International Journal of Aging and Human Development. Vol. 60, Issue 2. pp. 127-143.
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those things one pursues to feel happier. Here, one needs skills and tools to increase one’s levels of consciousness around the ways one is biased to pursue pleasure and even euphoria. More, one needs to develop the support to be guided by more than the intellect or external pressures and norms. The Gift of Transformation is that there are teachers all around us to help us find a deeper sense of happiness. I have discovered teachers in my own practices of applied shamanism, intuitive development, permaculture, and natural building. These nature-based practices allow me to tap into a deeper knowing that frees me from pursuing only pleasure to be happy. They also call for (un)comfortable transformation(s) where I need to let go of former ways of seeing and being. For instance, I was raised in a society where nature is often seen as something in the way of progress. Whether it be a rainy day that cancels a sporting event or a forest that needs to be cleared for buildings, I was taught to interpret nature as something to remove. What I have learned in my research and my own practices is that nature is something inherent to all of us. It is our essential teacher and our guide, someone/ something that can support our individual and collective transformations into states of harmony. Happiness and its mirror of unhappiness, in themselves, are indicators that we are on the path of transformation. Like the ocean tides, happiness and unhappiness will ebb and flow, just as we transform from a state that no longer serves our path to a new state that does.
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Eulen-Licht Auf Molekülen der Atmosphäre, würden nüchterne Wissenschaftler sagen, verstreuen sich einfallende Photonen der Sonne: Halbschatten säumt den Tag. Mögen alle Beweise logisch erscheinen, die Seele, sie trauert dennoch, ihre reifen Lippen hängen herab, sie wundert sich, warum die vernünftige Vernunft den Geist ausgrenzt. Wir sind weder Hund noch Wolf, sind mehr Dazwischen als Fakt; unser rosengrauer Blick durchdringt die Schlucht: Sternenschwarz, Wolkenblau, Sternenschwarz. Auf Paaren vergänglicher Scharniere Abendröte dreht, Morgendämmerungen werden wahr, unsagbar pastellige Portale, während Dschinns segnen immer dämmernd dich. HOWARD FINE
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owl-light on molecules of atmosphere sane scientists would say sun’s incoming photons scatter half-shadow fringes day though all proof appears conclusive soul sorrows ripe lips droop wond’ring why reason’s reasons leave the spook out of the loop we’re neither the dog norrr the wolf more in-between than fact our rose-gray gaze pervades the gulf starblack cloudblue starblack on pairs of ephem’ral hinges dusks swing and dawns come true portals pastelling while djinn bless ever twilightly you HOWARD FINE
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REISE ZUM ENDE DER WELT Unsere Welt wird mir aus weiter Entfernung gezeigt. Sie dreht sich, so wie wir Menschen sie kennen. Langsam, aber stetig verändert sich der Winkel der Erdachse, von 23.4 Grad gen 0. Die Geschwindigkeit der Erdrotation nimmt ab – und stoppt. Eine Seite der Erde vereist zur Gänze, die sonnenzugewandte Seite wird heiß und trocknet aus. Das uns bekannte Leben hört auf zu existieren. Samen und andere „Anlagen der Erde“ bleiben zugedeckt, tief in der Erde verborgen, erhalten. Vergangene Gebete und Bitten der Menschen sind – Spuren, Erinnerungen und Träumen gleichkommend – leise und im Hintergrund zu hören. Die Erde ist zum Stillstand gekommen, nicht an ihr Ende.
Sie ist trocken, verdorrt und vereist. Langsam, durch die Anziehungskraft der Sonne, beginnt sie sich erneut aus der Null-Achse wegzubegeben. Sie nimmt wieder Rotation auf. Eis wird zu Wasser. Die Gewichtverhältnisse ändern sich, die Achse wird stabiler, die Erdbewegung regelmäßiger. Samen beginnen zu keimen, Leben erwacht. Die Träume, Erinnerungen und Gebete sind lauter wahrnehmbar und kündigen die Rückkehr der Lebensformen an.
Ein Rat von Geistern umkreist die Erde, um den Übergang zu gestalten. Eine Schlange steigt aus der Erde empor und bewegt sich gen Himmel, dort, wo die Quelle sich befindet. Sie enthält alles Wissen und alle Erfahrung der Menschen. Schöpfungskraft umgibt sie. Ein Donnern geht durch das Universum. Eine andere Schlange, versehen mit einer anderen Schwingung, tritt aus dem Firmament hervor. Sie sinkt auf die Erde herab und erzeugt elektromagnetische Kräfte, die es den Seelen ermöglichen, zu inkarnieren.
Ich sehe einen Tunnel, gespickt mit kunstvollen Steinen. Ich werde aus der Mittleren Welt hinaus-, in die Obere und Untere Welt hineinkatapultiert. Am Ende des Tunnels umarme ich einen See. Aus der Ferne sehe ich einen Baum, die Axis Mundi. In der Mitte befindet sich die Mittlere Welt. Sie erscheint als Punkt, von dem eine große, undurchdringliche Schwärze ausgeht. Ich gehe in diese Schwärze hinein, immer weiter, bis ich realisiere, dass Obere, Mittlere und Untere Welt sich in diesem Punkt vereinen. Ich finde mich in einem endlosen, dunklen Raum
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wieder. Am Ende unserer Welt existiert ein weiterer, ein paralleler Raum. In ihm sind die Kraftabdrücke aller verstorbener Lebensformen abgespeichert. Sein Klang ist deutlich hörbar. Die Schwärze verschwindet plötzlich. Ein helles Licht umhüllt mich, ich empfinde Frieden. Dieses Licht hat kein Ende, alles, was ist, kommt aus ihm. Ich bin glücklich.
Es gibt sie noch, die Erde, allerdings ohne Kontinente. Die Menschen aller Farben und Kulturen leben zusammen. Die Stimmung ist langsam, aufmerksam. Die Schlange bewegt sich über die Erde. Auf ihr leben die Wächterinnen und Wächter des Friedens. Sie haben die Aufgabe, die Menschen zusammenzurufen und rasch gute Lösungen für Konflikte zu finden. Es soll nichts aufgestaut oder verschoben werden. Auch Kinder und Jugendliche werden beigezogen, ihre Meinung wird gehört und ernst genommen.
Es ist die Zeit, um zu bitten und zu beten.
Ein Vorhang wird kurz gelüftet. Ein Riese erscheint, der, einem Bildhauer oder Steinmetz gleich, an einem neuen Objekt mit Hammer und Meißel arbeitet. Der Vorhang fällt und ich werde an eine Botschaft erinnert: „Die Menschen sind jetzt in der wichtigen Zeit der Träume – der großen Träume, die nicht bescheiden sein dürfen!“
Dieser Text stellt eine Komposition aus verschiedenen Fragmenten dar. Diese wurden durch schamanische Reisen im Rahmen der Seminare „Die Kraft der Berge“ im August 2023 am Dachstein in Österreich und im September 2023 am Fuße des Mont Blanc Massivs in der Schweiz ermittelt. Der Anspruch dieses Beitrags ist es nicht, wissenschaftlich akkurates Wissen abzubilden. Vielmehr soll damit an die Kraft der Schöpfung, die eine der Transformation ist, rückverbunden werden – so, wie es in vielen anderen Mythen geschieht.
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JOURNEY TO THE END OF THE WORLD Our planet is shown to me from a great distance. The globe is rotating, just as usual. Then, gradually the angle of its axis changes from 23.4 degrees to 0. The speed of the Earth’s rotation decreases – and stops. One hemisphere freezes over entirely, while the side facing the sun heats up and dries out. Life as we know it ceases to exist. Seeds and other “creations of the earth” remain covered, hidden deep in the soil, preserved. People’s past prayers and pleas – like traces, memories and dreams – are quietly audible in the background. The Earth has reached a standstill, but not an end.
The planet is dry, withered and icebound. Slowly, due to the gravitational pull of the sun, it again begins to tip away from its perpendicular axis. It resumes its rotation. Ice thaws and becomes water. The weight ratios change, the axis stabilises; Earth’s movements become more regular. Seeds begin to sprout, life reawakens. Dreams, memories and prayers grow louder and herald the return of lifeforms.
A council of spirits circles the Earth to safeguard the transition. A serpent rises from the ground and ascends toward the sky, where the source is. The snake contains all human knowledge and experience. The power of creation surrounds the serpent. Thunder reverberates through the universe. Another serpent emerges from the firmament with a different vibration and descends to Earth. It generates electromagnetic forces that enable souls to incarnate.
I see a tunnel studded with ornate stones. I am catapulted out of the Middle World and into the Upper and Lower Worlds. At the end of the tunnel, I embrace a lake. From a distance, I see a tree, the axis mundi. Halfway up the tree is the Middle World. It appears as a point from which a vast and impenetrable blackness emanates. I enter this blackness, venturing further and further, until I realize that the Upper, Middle and Lower Worlds all unite at this singular point. I am in an infinite dark space. At the end of our world is another, parallel space, where the power imprints of all deceased lifeforms are stored. Its sound is clearly audible.
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The blackness suddenly disappears. A bright light envelops me and I feel at peace. The light has no end; everything that exists emanates from it. I am joyful.
The Earth still exists, but without continents. People of all colours and cultures live together. The mood is unhurried and attentive. The serpent moves across the Earth. The guardians of peace live alongside the snake. Their task is to respond promptly whenever conflicts arise, calling people together and finding good solutions. Nothing should be held back or postponed. Children and young people are consulted as well; their views are heard and taken seriously.
It is a time to plea and to pray.
A curtain is briefly lifted. A giant appears, like a sculptor or stonemason, working on a new object with hammer and chisel. The curtain falls and I am reminded of a message: “People are now in the important time of dreams – big dreams that must not be modest!”
The text is a composition of various fragments. These were identified through shamanic journeys as part of the workshops “The Power of the Mountains” on the Dachstein in Austria in August 2023 and at the foot of the Mont Blanc massif in Switzerland in September 2023. The aim of this article is not to depict scientifically accurate knowledge. Rather, it is intended to reconnect with the power of creation, which is one of transformation – just as is the case in many other myths.
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GULDAL FAL Eatnamiid muitalusaid Oainne fal Luonddu njuolggadusaid Gula fal Eatnamiid lága Čuovvul fal Máddariid bálgáid Mögest du lauschen Den Geschichten des Landes Mögest du sehen Die Regeln der Natur Mögest du hören Das Gesetz des Landes Geh weiter und folge Dem Weg deiner Vorfahren May you listen to The stories of the land May you see Nature´s rules May you hear The law of the land Go on and follow The path of your ancestors FREDRIK PROST
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IMPRESSUM | IMPRINT Herausgeber | Editor: Roland Urban Übersetzung | Translation: Howard Fine, Sabine Hübner, Gabriele Turner, Michael Walter Korrektorat | Proofreading: Howard Fine, Natascha Uccusic Graphic Design: Doris Sommavilla, die gestalter Druck | Printing: Kontext Druckerei GmbH, Linz Verlag | Publisher: The Foundation for Shamanic Studies Europe, Roland Urban, A-4224 Wartberg ob der Aist, Untere Reitling 26 © 2024 The Foundation for Shamanic Studies Europe © 2024 für Texte, Abbildungen, Porträtfotos: die Autorinnen und Autoren | for texts, images, portraits: the authors. © 2024 für die Fotos: Minka von Kries | for the images: Minka von Kries Alle Rechte vorbehalten. | All rights reserved. 1. Auflage | 1st edition
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Wir durchleben aktuell eine große Transformation. Wir sind gefordert – und werden Mut, Zuversicht und Kraft benötigen. Dazu soll dieses Buch beitragen. Die Vielfalt der darin enthaltenen Perspektiven ist als Einladung zu verstehen, den Blick zu weiten. Denn: Je flexibler unsere Sicht- und Handlungsweisen, desto höher sind die Chancen, dass wir nicht untergehen, sondern an den Aufgaben wachsen werden.
Transformations are part of our lives, part of the natural world. They mark transitions and represent important steps in our personal, communal or societal development. Transformation means change, upheaval and transition. It requires overcoming the old, familiar form and finding a new one. Doubts, insecurity and fear are frequent companions in this process, and they can also be useful ones if we learn to work with them and use their dynamics.
ROLAND URBAN
We are currently experiencing a major transformation. We are challenged. We will need courage, confidence and power. This book aims to contribute to this. The diversity of the contributions it contains should be seen as an invitation to broaden our view – because the more flexible our perspectives and ways of acting are, the greater are the chances that we will not perish but grow along with the tasks we face.
SCHAMANISMUS UND TRANSFORMATION | SHAMANISM AND TRANSFORMATION
Transformationen sind Teil unseres Lebens, Teil des Natürlichen. Sie markieren Übergänge und repräsentieren wichtige Schritte in unserer persönlichen, gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen Entwicklung. Transformation bedeutet Veränderung, Umbruch und Wandel. Sie erfordert das Überwinden der alten, gewohnten Form und das Finden einer neuen. Zweifel, Unsicherheit und Angst sind dabei häufige, auch sinnvolle Begleiter:innen – wenn wir lernen, mit ihnen zu arbeiten und ihre Dynamik zu nutzen.
SCHAMANISMUS UND TRANSFORMATION SHAMANISM AND TRANSFORMATION Herausgeber l Editor
ROLAND URBAN
T he Foundation For Sha m anic Studies Europe www.shamanicstudies.net
The Foundation For Sha m anic Studies Europe
€ 15,00 ISBN 978-3-9519917-3-3
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