Zoon Politikon - "Utopie"

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Utopie zeitschrift von studierenden der politikwissenschaft der universit채t z체rich I februar 2010 I nr. 8


Was ist unser Geld wert? CH & EU:

Die Harmonisierung kommt Medien:

Hilfe, die Skeptiker! Literatur:

Die letztesten Dinge SCHWEIZER MONATSHEFTE Zeitschrift für Politik Wirtschaft

SCHWEIZER MONATSHEFTE 971

SCHWEIZER MONATSHEFTE 973

SCHWEIZER MONATSHEFTE 974

Hingehen? Die Festivalisierung der Kultur

SCHWEIZER MONATSHEFTE 972

Kultur / seit 1921

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Inflation:

Gutes & schlechtes Geld

Sind Sie urban? Stadtleben heute

Eigenwillig! Die Stärken der Schweiz

Auf ins Ausland ! Exportförderung & Commercial Diplomacy

Und der Ernstfall? Die Schweiz & die Sicherheit

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Editorial «A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the one country at which Humanity is always landing. And when Humanity lands there, it looks out, and, seeing a better country, sets sail.» Oscar Wilde. Der Mensch ist ein erstaunliches Wesen. Wer einen Moment innehält und zurückblickt auf die kurze Zeitspanne, während der unsere Spezies die Erde bisher bevölkerte, kommt unumgänglich zum Schluss, dass sich hier Ausserordentliches abspielte. Die Entwicklung vom Jäger und Sammler zum Bauern, zum Städter und Industriellen, zum denkenden, sprechenden, schreibenden Wesen, das die Welt formt und neu zeichnet, und das schliesslich fliegt, taucht, Autos, Schnellbahnen, Supercomputer und riesige Wolkenkratzer baut – diese Geschichte liest sich wie ein Märchen, wie eine Abfolge fortwährend verwirklichter Utopien. In der Fähigkeit sich vorzustellen, was sein könnte und über das heute Machbare hinaus zu denken, hat es der Mensch zu grosser Meisterschaft gebracht. Und der Blick in die Zeitungen lässt gar vermuten, dass sich unsere Generation besonders geschickt dabei anstellt, Dinge wirklich zu machen, die noch vor einigen Jahren unmöglich schienen. Die Türme werden höher, die Züge schneller, Flugzeuge, Kaufhäuser und Städte grösser – ein Superlativ jagt den anderen. Doch der Schein trügt. Denn während technische Utopien eine beispiellose Hochkonjunktur durchlaufen, ist es um soziale Utopien ruhig geworden. Philosophen, politische Visionäre, gesellschaftliche Querdenker und jene schrägen Typen, die dem Zeitgeist immer um ein, zwei Schritte voraus sind, haben einen schweren Stand, ihre Stimme ist kaum noch zu hören. Dabei ist es heute nötiger denn je, über das Unmittelbare hinaus zu denken und die komplexen, zunehmend zusammenhängenden Realitäten der Welt kritisch zu reflektieren. Immer öfter scheint es, als wären unsere technischen Kapazitäten unseren geistigen Fertigkeiten um Jahrzehnte voraus, als erschufen wir uns eine trügerisch glänzende Welt, die wir im Kern und in ihrer Konsequenz noch gar nicht zu verstehen imstande sind. Deshalb haben wir uns in der vorliegenden Ausgabe des Zoon Politikon auf die Suche gemacht nach Vertretern einer beinahe vergessenen Spezies – nach den neuen Gesellschaftsutopisten, nach ihren

Visionen, ihren Geschichten und Meinungen, ihrer Einschätzung unserer Welt. Dabei ist eine facettenreiche Sammlung unterschiedlicher Berichte, Meinungen und Visionen entstanden. Ein Blick auf eine Welt, wie sie sein könnte, wie sie nicht sein sollte, wie sie werden müsste. – Und ein Beweis dafür, dass es sie noch immer gibt, die schrägen Vögel, die aus der Reihe tanzen.

Redaktor Fabian Urech

Illustration Klaus Zumbühl

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Utopisten werden häufig missverstanden. Doch oft sind sie es, die die Welt verändern. Seite 10

Anarchie, Kapitalismus, Weltstaat? Zwei utopische Ideen zur Systemreform. Seite 13

Zwischen visionärer Brillianz und rassischer Diskriminierung: Was war Atlantropa? Seite 30

Utopie Utopien – eine kurze Geschichte in vier Etappen Urs Marti Erinnerungen an die Zukunft Christian Urech Zwischen Weltstaat und Anarchie Bruno S. Frey «Kapitalismus ist beschissen» Urs Güney Gerechtigkeit in der freien Marktwirtschaft Ali Asker Gündüz Mit Bibel und Pragmatismus Franz-Xaver Hiestand Unort Facebook Stefanie Heine Atlantropa – Ein neuer Kontinent Urs Güney «These crimes can no longer be denied» Ali Asker Gündüz Frieden muss eine Utopie bleiben Laurent Goetschel Bildung für alle – eine Utopie? Michael Schmitz Effektiv statt effizient Michèle With Die Utopie als Gegenstück zur Realität Paul Hasler

Kultur

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Gefangen in der Freiheit Johannes Riquet Niemals loslassen Stefanie Heine We want to bury the jumbo! Christian Wimplinger Einmal gut bestückt, bitte! Stefan Klauser

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inhalt Frieden ist in aller Munde. Doch zwischen Praxis und theoretischer Reflexion klafft eine Lücke. Seite 38

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2009 war das Jahr der besetzten Hörsäle. Was steht hinter der Forderung nach freier Bildung? Seite 72

Was läuft schief am IPZ? Zoon Politikon hat Institutsdirektor Dieter Ruloff auf den Zahn gefühlt. Seite 76

«Die Welt wird dunkler» Marco Büsch Die Anziehungskraft des utopischen Versprechens Daniel Jung

Meinung

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New Perspectives on a shattered past Jesuthasan Peduru One solution – revolution! Sarah Schlüter Wissen, was Wert ist Christian Wimplinger

Polyrik

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Ich habe keine Zeit für solche Ideen Stefan Kovac

Institut

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«Ja, das ist unbefriedigend» Petra Vogel und Marco Büsch Ein Ausweg aus dem Massenstudium Petra Vogel Fachverein Jan Raudszus Befreit die Bildung! Christian Seidel und Stefanie Heine

Agenda

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ROT ANSTREICHEN!

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Verordnete Grenzen – verschobene Ordnungen Maritza Le Breton

Replik

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Utopien – eine kurze Geschichte in vier Etappen Ob bei Platon, Morus oder Marx: Utopien sind immer auch eine Auseinandersetzung mit tatsächlichen Verhältnissen. Zuweilen üben sie sogar besonders bissige Kritik.

Etappe I: Athen als das reale Atlantis

Literatur HAYEK Friedrich A. von (2001). Gesammelte Schriften in deutscher Sprache. Tübingen: Mohr Siebeck GmbH & Co. MARX Karl und ENGELS Friedrich (1980). Werke. Berlin: Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED. MORUS Thomas (1516). Utopia. Stuttgart. PLATON (1970). Werke in acht Bänden. RÖPKE Wilhelm (1948). Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart. Erlenbach-Zürich: Rentsch. WILLKE Helmut (2001). Atopia. Studien zur atopischen Gesellschaft. Frankfurt/M: Suhrkamp.

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Die Insel Atlantis, von der Platon berichtet, ist in jeder Hinsicht ein Land der Superlative. Alles, was die Menschen für ein angenehmes Leben benötigen, schenkt ihnen die Natur in Überfülle. Die Landschaft wird mittels gigantischer Eingriffe den Sicherheitsund Wohlstandsbedürfnissen der Bewohner angepasst. Die Könige von Atlantis sind unermesslich reich. Ihr Imperium ist eine See- und Handelsmacht, die – laut Platons Datierung neuntausend Jahre vor seiner Zeit – die halbe Welt beherrscht und den Rest unterwerfen will. Eine Naturkatastrophe vernichtet diese Welt, wobei offen bleibt, ob es sich um Gottes Strafe handelt. Weil nämlich die Atlantiden sich vom Göttlichen abgewandt, die Tugenden der Grossherzigkeit und des Gemeinsinns verloren haben, weil sie habgierig und ungerecht geworden sind, beschliesst Zeus, sie dafür zu bestrafen. An dieser Stelle bricht die Erzählung im Kritias ab, doch das Wesentliche ist gesagt: Die von einem wohlwollenden Geschick verwöhnte Zivilisation wird geschwächt durch Korruption und Dekadenz. Die von keinem Gegner bedrohte Grossmacht büsst für ihren unersättlichen Expansionsdrang und unterliegt einem scheinbar schwächeren, moralisch aber stärkeren Gegner. Atlantis ist mithin als Utopie für Platon uninteressant, steht es doch für die Realität einer Grossmacht, welche trotz des politischen und technischen Genies, über das sie verfügt, die Voraussetzungen ihrer Stärke verkennt. Platons Kritik zielt auf das Athen seiner Zeit, auf die demokratische und imperialistische Polis, die Handel treibt und Kriege führt; der von ihm imaginierte Idealstaat ist in jeder Hinsicht ein Gegenbild dazu. Der Atlantis-Mythos handelt vom Krieg zwischen zwei politischen Systemen: dem machthungrigen Atlantis und dem «utopischen» Athen einer längst vergangenen Zeit, welches den Widerstand gegen das atlantische Grossreich anführt. Das Gemeinwe-

sen Athens setzt sich zusammen aus einer Klasse der Handwerker und Bauern sowie einer Klasse der Krieger, die sich als «göttliche Männer» von den anderen unterscheiden. Sie verfügen über kein privates Eigentum, lassen sich von ihren Mitbürgern versorgen und sind dank ihrer Schönheit und Tugendhaftigkeit berühmt in Europa und Asien. Der Zweck der utopischen Erzählung ist klar: Nachdem Sokrates im Timaios die Grundzüge des in der Politeia entworfenen Idealstaats rekapituliert hat, äussert er den Wunsch, ihn nun auch im Wettstreit und Kampf mit anderen Staaten zu sehen. Um dem Wunsch zu entsprechen und zu beweisen, dass Platons Staat nicht ein Produkt seiner Phantasie ist, sondern getreues Abbild einer vergessenen Realität, erzählt Kritias den Mythos von Ur-Athen und Atlantis. Während das urzeitliche Athen die schönsten Taten vollbracht, die schönste Verfassung besessen und den frevelhaften Angriff der atlantischen Übermacht abgewehrt hat, ist das Athen seiner Gegenwart eine «atlantische» Grossmacht, welcher der Untergang droht. Dass Platons Politeia als Utopie auf die Kritik des real existierenden demokratischen Athens zielt, räumt Sokrates freimütig ein: Die Ansicht, erst wenn die Politik philosophisch werde, gäbe es wieder Hoffnung für das menschliche Geschlecht, widerspricht aller Menschen Meinung. Die Utopie dient denn auch als moralische Ermahnung. Wenn, wie in den Lehrbüchern zu lesen steht, Platon das politische Denken begründet, muss man dann nicht sagen, dass politisches und utopisches Denken unauflöslich miteinander verbunden sind?

Etappe II: Überwachung statt Schafswolle Auch Utopia kennen wir, den Nicht-Ort, der auf keinem Globus zu finden ist. Unauffindbare Länder zu «entdecken» ist reizvoll, der exploratorische Trieb geht in der Regel jedoch nicht auf reine Fabulierlust zurück. Der Anlass, der Thomas Morus zur Niederschrift seiner 1516 erschienenen Schrift Utopia bewegt, ist der besorgniserregende Zustand der englischen Gesellschaft. Im Buch überlässt er das Wort einem gewissen Raphael Hythlodeus, unzweifelhaft handelt es sich um einen Jünger Platons, dessen Namen so viel bedeutet wie Schwätzer. Von Englands sozialen Verhältnissen zeichnet Hythlodeus ein düsteres Bild. Die verbreitete Ansicht, Diebstahl sei ein Übel, das mittels brutaler

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Von Urs Marti Atlantis – das Wort ruft manche Assoziation wach. Man denkt an die sagenhafte Insel, die mitsamt ihrer hoch entwickelten Zivilisation in längst vergangenen Zeiten versunken ist, an Platons Erzählung, die wie kaum eine andere das utopische Denken inspiriert hat, an mehr oder weniger seriöse Kontroversen über den historischen Wahrheitsgehalt des Mythos sowie an dessen politischen Missbrauch.


utopie

Repression aus der Welt geschafft werden könne, hält er für unsinnig. Die Todesstrafe ist für ein solches Vergehen weder angemessen, noch wirkt sie abschreckend auf Leute, die stehlen, um nicht zu verhungern. Massenhafter Diebstahl ist das Symptom einer Krise, deren Ursache hauptsächlich in der steigenden Nachfrage nach Wolle zu suchen ist. Adlige Grundbesitzer eignen sich Gemeindeland – das bislang den Pachtbauern die Selbstversorgung ermöglicht hat – an, um es für die Schafzucht zu nutzen. So rauben denn die Schafe den Armen die Lebensgrundlage und bescheren den Reichen ein parasitäres Leben. Wenn – wie Hythlodeus meint – Privateigentum mit gerechter Politik unvereinbar ist, gilt es zu beweisen, dass die gesellschaftliche Ordnung darauf nicht angewiesen ist. Dieser Absicht dient der Bericht von Utopiens Sitten und Institutionen. Utopia ist eine künstlich vom Festland getrennte Insel. Vom Städtebau und der Aufteilung des Ackerlandes über die Organisation der Wirtschaft und des Familienlebens bis hin zu Sitten und Gesetzen entspricht alles wohl durchdachter Planung. Männer und Frauen sind zur Arbeit verpflichtet. Das Arbeitsleben wird peinlich genau kontrolliert. Niemand darf müßig sein, niemand zu lange arbeiten, auch die Freizeit ist geregelt. Die Hälfte der in der Landwirtschaft Beschäftigten wird jährlich durch Städter abgelöst, so dass

alle Männer und Frauen mindestens zwei Jahre im Ackerbau, die übrige Zeit in einem anderen Beruf tätig sind. Die Arbeitsprodukte werden auf «Warenmärkten» gelagert und können von den Familienvätern nach Bedarf unentgeltlich abgeholt werden. Da alles im Überfluss vorhanden ist und niemand damit rechnen muss, Mangel zu leiden, wird niemand mehr verlangen, als er braucht. Die soziale Ordnung Utopias beruht auf der patriarchalischen Grossfamilie, die Frau ist dem Manne untertan. Reisen zwischen den Städten sind erlaubt, doch ist hierzu eine Bewilligung nötig. Wer ohne diese unterwegs ist, wird bestraft, im Wiederholungsfall mit Verstossung in die Sklaverei. Gesetze braucht es in Utopia nur wenige, doch jeder Bereich ist streng reguliert. Es gibt in Utopia keine Möglichkeit zum Müssiggang, keinen Vorwand zum Faulenzen, keinen verborgenen Raum. Jeder Mensch wird von der Öffentlichkeit permanent überwacht und zu richtigem Verhalten gezwungen. Hythlodeus preist Utopia als den besten Staat; in den bestehenden Staaten vermag er bloss eine Verschwörung der Reichen zu sehen. Diese missbrauchen den Rechtstitel des Staats, um ihren mit verwerflichen Mitteln zusammengerafften Besitz zu bewahren und sich die Arbeit der Armen so billig als möglich zu erkaufen. Tatsächlich ist in Utopia jede Privilegierung aufgrund von Reichtum oder vorneh-

Athen – heute selbst eine versunkene Welt, zu Platons Zeit reales Gegenstück zu Atlantis.

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Etappe III: «Morgens wird gejagt und nachmittags gefischt» Dreieinhalb Jahrhunderte nach der Publikation von Utopia und auf der Grundlage umfangreicher historischer Recherchen über die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise wird Karl Marx erneut die Hypokrisie anprangern. Diese besteht darin, Menschen, die ihrer Subsistenz- und Produktionsmittel beraubt worden sind, moralisch zu diskreditieren und für ihre Armut verantwortlich zu machen. Marx wollte keine Utopien entwerfen, und gemessen an Platon und Morus ist er tatsächlich kein Utopist. Er studiert den Kapitalismus, zeigt seine Krisenanfälligkeit, seine inneren Widersprüche, andeutungsweise auch die Möglichkeit einer nachkapitalistischen Ordnung. Aber er hebt zugleich, im Gegensatz zur Mehrheit seiner Zeitgenossen, die Verdienste des Kapitalismus hervor. Dieser hat die feudalen, patriarchalischen Verhältnisse zerstört, die «naturwüchsigen» Autoritäts- und Gemeinschafts-

beziehungen zwischen den Menschen aufgelöst, jede Art von «Borniertheit» aufgesprengt. Er hat das Individuum wenn nicht befreit, so doch «freigesetzt» und zumindest formalrechtlich emanzipiert. Faktisch bleibt allerdings individuelle Autonomie für viele Menschen solange blosse Hoffnung, wie sie keine Möglichkeit haben, an der Kontrolle ökonomischer Macht zu partizipieren. Die nachkapitalistische Ordnung wäre mithin eine Gesellschaft, worin jede Form von Gemeinschaft auf der freien Entscheidung der Individuen beruht und die Herrschaft des Zufalls über die Individuen durch jene der Individuen über den Zufall ersetzt wird. Gewiss mutet auch diese Vision utopisch an, doch es handelt sich um eine neue Utopie. Es geht nicht mehr darum, zwecks Verhinderung normwidrigen Verhaltens individuelle Freiheit dem Gemeinschaftssinn zu opfern. Über Utopien der Bevormundung hat sich Marx mokiert, etwa über den autoritären, Aufopferung fordernden Kasernenkommunismus, der die Gemeinschaft zum Zweck erklärt und das arbeitende Individuum zum Mittel degradiert. Die Kritik der Religion zielt auch auf den Kommunitarismus, den Glauben an den «heiligen Geist der Gemeinschaft». Sozialistische Doktrinen, die Asketismus und Gleichmacherei predigen, sind in Marx’ Urteil reaktionär und utopisch zugleich. Insbesondere weist er einen Sozialismus zurück, der Liberalismus, Konkurrenz und Pressefreiheit, bürgerliches Recht und bürgerliche Freiheit verdammt. Die mo-

Für einige ist und bleibt Karl Marx ein Utopist, anderen geben seine Arbeiten Handlungsanleitungen.

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mer Herkunft verpönt. Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, Freien und Sklaven, Einheimischen und Fremden wird hingegen nicht in Frage gestellt. Damit die Utopier so leben, wie das Ideal es von ihnen verlangt, ist ein System der minutiösen Regelung und Kontrolle aller Lebens- und Arbeitsbereiche nötig. Ähnlich wie in Platons Staat kommt in Utopia der Freiheit keine besondere Wertschätzung zu.


Etappe IV: Fortschritt durch Regeln Wir leben in einer Zeit, in welcher der Glaube an die unbegrenzte Problemlösungsfähigkeit von Märkten der politischen Auseinandersetzung ihren Stempel aufdrückt und jede Diskussion wirtschaftspolitischer Alternativen müssig erscheinen lässt. Aber ist nicht die Idee des reinen Marktes selbst eine Utopie, «hintergründiger und moderner, amoralischer und grenzenloser als jede bisherige Utopie», wie Helmut Willke schreibt? Wie ältere Utopien zeichnet sich übrigens auch diese durch die Geringschätzung der Individualität aus. Der Markt braucht, so Willke, Individuen wie das Haus Backsteine. Er schliesst sie ein in eine Form, der sie so wenig entrinnen können wie der Backstein der Mauer. Dass die Moderne im Sinne der kapitalistischen Globalisierung den Individualismus fördere, ist in Willkes Urteil lediglich ein Wunschdenken der Apologeten der Postmoderne. Könnte es sein, dass das Credo der kapitalistischen Gegenwart – nenne man es nun Ordo- oder Neoliberalismus – ebenfalls auf eine Utopie verweist? Die in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von einigen Theoretikern ausgestellten Rezepte zur Überwindung der von ihnen diagnostizierten Ge-

utopie

derne bürgerliche Gesellschaft mit ihren materiellen Lebensbedingungen und ihrer politischen Verfassung bildet für Marx die Voraussetzung, auf deren Basis erst eine nach-kapitalistische freiheitliche Ordnung entstehen kann. Was Marx’ eigene utopische Phantasien betrifft, so ist folgende wohl am ehesten bekannt: In der künftigen kommunistischen Gesellschaft hat jedes Individuum die Möglichkeit, «heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren». Jeder tut das, wozu er gerade Lust hat, ohne Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. Die «Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht», zeichnet dagegen die bisherige Geschichte aus. Diese Utopie ist sicher auch, aber nicht nur ironisch gemeint. Das Dogma von der Notwendigkeit einer starren Arbeitsteilung und Spezialisierung auf genau umschriebene Tätigkeiten hat Platon mit den unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen zu begründen versucht. Heute wird von den Menschen Flexibilität im Sinne der permanenten Bereitschaft zur Anpassung an die Erfordernisse des Marktes gefordert. Das Recht, autonom bestimmte Tätigkeiten zu wählen und durch andere zu ersetzen, wird – wenn auch mit anderer Begründung – erneut negiert. Marx hingegen versteht den Menschen als ein Wesen, das als Anlage ganz verschiedene Fähigkeiten in sich trägt und Anspruch auf eine soziale Ordnung hat, die der Entwicklung dieser Fähigkeiten keine Hindernisse in den Weg legt.

sellschaftskrise legen den Verdacht nahe. Nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung des Proletariats, dieser laut Wilhelm Röpke schlimmsten Krankheit moderner Gesellschaften, stand damals auf dem Programm. Eine nicht ökonomische, sondern moralische Revolution gegen den modernen Kapitalismus galt als Erreger dieser Krankheit. Röpke träumte von der Wiederbelebung der bäuerlichen Gemeinschaftskultur. Tatsächlich erblickten die Begründer des Neoliberalismus – ähnlich wie Platon und Morus oder wie die konservativen und sozialistischen Romantiker des neunzehnten Jahrhunderts – das Heil in Moral und Gemeinschaft. Die Klasse der Lohnabhängigen sollte beseitigt, ihre Angehörigen in Natur und Gemeinschaft «eingebettet» werden. Noch in dieser Utopie artikuliert sich die Sehnsucht nach der heilen Welt der Vormoderne. Übrigens hat selbst Friedrich von Hayek gelegentlich sein Unbehagen am modernen Kapitalismus bekundet, hat dieser doch in seiner Sicht einen Prozess initiiert, in dem der Marktakteur als Rechtssubjekt vom Angestellten, vom Lohnabhängigen verdrängt wird. Genau besehen erweist sich somit die Idee eines politisch nicht regulierten Marktes gerade in neoliberaler Sichtweise als Utopie, als ein Ideal, das an der unzureichenden moralischen Qualifikation der Menschen scheitern muss. Nur wenn der moderne Kapitalismus tief greifend verändert wird, wenn die Menschen sich wieder strengen moralischen Normen unterwerfen und Gemeinschaften gestärkt werden, kann ein solcher Markt funktionieren. So lautet, mehr oder weniger explizit, die Botschaft. Der Fortschritt der Zivilisation verdankt sich laut Hayek der Bereitschaft der Menschen, ihre Wünsche hinsichtlich besonderer Dinge allgemeinen Regeln zu unterwerfen. Die Mehrheiten, die in Demokratien die Macht ausüben, sind jedoch leider noch nicht zivilisiert, sie haben es nicht gelernt, ihre Wünsche durch moralische Regeln zu disziplinieren. Platon hätte diesem Befund gewiss nicht widersprochen.

Utopien im Namen der Freiheit Mit der Behauptung, es gäbe zur bestehenden Ordnung keine Alternative, wird Politik gemacht, und das Wissen darum, dass es auch anders sein könnte, kann zu einem starken Motiv politischen Handelns werden. Ich habe hier bewusst die andere Seite utopischen Denkens in den Vordergrund gestellt, die Imagination von Welten, deren wichtigstes Merkmal das Fehlen korrumpierender, die Menschen zu «falschem» Handeln verführender Kräfte ist. Solche Utopien sind notwendig rückwärtsgewandt. Selbstverständlich können Utopien im Namen der Freiheit entworfen werden. Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass es Marx gewesen ist, der mit seiner radikalen Konzeption individueller Freiheit einem solchen Denken den Weg gewiesen hat.

Autor Prof. Dr. Urs Marti ist Titularprofessor für Politikwissenschaft, Teilgebiet politische Philosophie an der Universität Zürich.

Bilder www.flickr.com

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Erinnerungen an die Zukunft Sie sind der Zeit immer um eine oder zwei Nasenlängen voraus und werden darum von ihren Zeitgenossinnen und -genossen oft nicht verstanden. Oft verändern genau solche Vordenker, Pionierinnen, Visonäre und Utopisten die Welt. Von Christian Urech Viele Vordenker werden manchmal gar als Spinner, Fantasten und weltfremde Utopisten verspottet. Wertschätzung, Anerkennung und Verständnis finden sie oft erst bei späteren Generationen. Das bedeutet nicht selten eine gewisse Tragik in den Biografien dieser «verkannten Genies». Utopisten brauchen viel Kraft, um gegen die Übermacht der herrschenden Mehrheitsmeinungen auf ihrem Standpunkt zu beharren. Ist die Zeit dann allerdings reif für einen Aufbruch zu neuen Ufern, erleben diese Menschen den Durchbruch ihrer Ideen oder Schöpfungen und werden berühmt (zum Beispiel Albert Einstein oder Joseph Beuys). Andere, die stärker quer zu ihrer eigenen Epoche liegen, bezahlen dies mit Gefängnis oder gar mit ihrem Leben wie Galileo Galilei oder Giordano Bruno.

Giordano Bruno, 1548 – 1600, Dominikaner und Philo-

Literatur WILSON Robert Anton (1987). Der neue Prometheus. Die Evolution unserer Intelligenz. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch. ASIMOV Isaac (1993). Das Wissen unserer

soph, wurde 1576 der Häresie angeklagt. Er musste seinen Orden verlassen und ins Ausland fliehen. Einige Jahre später liess er sich in Venedig nieder, doch man lieferte ihn der römischen Inquisition aus, die ihn nach jahrelangem Prozess 1600 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilte. In seinen Büchern kritisierte Bruno Aristoteles und verteidigte das System des Kopernikus, nach dem die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt. Er ging sogar noch weiter und entwickelte die Vorstellung eines unendlichen Universums. Er erwog bereits die Möglichkeit, dass die Sterne andere Sonnen seien, um die möglicherweise andere bewohnte Planeten kreisten. Für die Kirche seiner Zeit waren solche Gedanken nicht tolerierbar.

sind sie ganz offensichtlich nicht. Der US-amerikanische Kultautor und Direktor des «Institute for the Human Future» Robert Anton Wilson (1932 – 2007), hat in seinem Buch «Prometheus Rising» die «Evolution der menschlichen Intelligenz» untersucht. Er beschreibt darin unter anderem die Zeit bindende und überbrückende Funktion von Sprache. Diese ermögliche es jeder Generation, ihrer «geistigen Bibliothek neue Kategorien einzuverleiben, neue Verbindungen herzustellen, neue Trennungen zu vollziehen, neue Klassifizierungen zu finden und diese endlos hin- und her zu schieben. In dieser Zeit bindenden Dimension hat Einstein Newton abgelöst, ehe der grösste Teil der Menschheit, der bis zum letzten Jahrhundert noch ungebildet war, überhaupt zum ersten Mal von Newton gehört hatte.» Wilson vergleicht das, was in den so genannten offenen Gesellschaften «Fortschritt» genannt wurde – ehe dieser Begriff einen schalen Beigeschmack bekam – mit einer aufwärts gerichteten Spirale. «Offene Gesellschaften» sind in diesem Zusammenhang Kulturen, die relativ frei von Tabus und Dogmatismus sind, also verhältnismässig weltoffen und humanistisch; Gegenbeispiele wären dann etwa Diktaturen wie diejenigen in Nordkorea oder Burma. «Doch muss man solche Freiheiten», schreibt Wilson weiter, «einschliesslich unserer heutigen, relativieren, weil viele Tabus unbewusst übernommen werden und als gesunder Menschenverstand oder auch als Sitte und Anstand usw. durchgehen. Wer immer sie in Frage stellt, ist automatisch und per definitionem ein Ketzer, ein Verräter, gelegentlich auch ein unverantwortlicher Schwachkopf.»

Welt. Erfindungen und Entdeckungen Neuzeit. München: Goldmann Verlag. ANDERLA Georges (2007). The Age of Asymmetry & Paradox. Twickenham: Athena Press. URECH Christian (1999). Schräge Typen? Biografien jenseits der Norm. Zürich: Verlag pro juventute.

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In allen Lebensbereichen sind die Vordenkerinnen und -denker die Zugpferde, die Motoren der Entwicklung. Sie nehmen die Zukunft voraus. Auch heute noch akzeptieren etablierte Wissenschaftler nur äusserst ungern eine neue Theorie, egal wie einleuchtend sie ist. Und eine Revolution ist immer erst dann abgeschlossen, wenn eine zweite Generation, die frei ist von den alten Prägungen, die neue Realität mitgestaltet. Ob sich die Veränderungen, die eine solche Revolution in Gang gesetzt haben, als eher segensreich oder eher problematisch erweisen, stellt sich allerdings oft erst sehr viel später heraus. Wie immer man die Entwicklungen des so genannten Fortschritts bewerten mag – aufzuhalten

Als Marie (1867 – 1934) und Pierre Curie (1859 – 1906) zwei neue strahlende Elemente (Polonium und Radium) entdeckten, ahnten sie noch nicht, welche weit reichenden und zum Teil verheerenden Folgen diese Entdeckung haben würde. Denken wir nur an den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkrieges oder an die «Störfälle» von Harrisburg und vor allem Tschernobyl in den 1980er Jahren. Die Curies wären sonst wohl achtsamer mit diesen neuen Elementen umgegangen. Beide starben übrigens an den Folgen der radioaktiven Strahlung, der sie sich unwissentlich ausgesetzt hatten.

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vom Ursprung bis zur


utopie In seinem Buch «Genetic Code» beobachtet Dr. Isaac Asimov, Naturwissenschaftler und ScienceFiction-Autor, einen Sechzig-Jahre-Zyklus zwischen dem ersten Verständnis eines neuen wissenschaftlichen Prinzips und der endgültigen Veränderung der Welt durch dieses Prinzip.

Camille Claudel wurde 1846 geboren. Sie war achtzehn, als sie dem bereits 42-jährigen Bildhauer Auguste Rodin begegnete, der ihr weiteres Leben als Frau und als Künstlerin prägen sollte. Während sie ihm als Schülerin schon bald entwuchs, blieb sie als Frau ein Leben lang an ihn gebunden. Nach Jahren grosser Leidenschaft und enger Zusammenarbeit trennte sie sich von dem ebenso begnadeten wie egozentrischen Rodin, zog sich von der Umwelt zurück und verfiel immer stärkeren Verfolgungsängsten. Nach der Trennung wurde Camille Claudel von ihrer Familie in eine Irrenanstalt gebracht, aus der sie bis zu ihrem Tod 1943 erschütternde Briefe an ihren Bruder Paul, einen bekannten Schriftsteller, schrieb. Zeit ihres Lebens stand ihr künstlerisches Schaffen im Schatten Rodins. Weil sie eine Frau war, versagte ihr das Publikum die verdiente Anerkennung als Künstlerin. Heute wird allgemein anerkannt, dass ihr umfangreiches, Porträtbüsten, Figuren und Kleingruppen umfassendes Werk zu den bedeutendsten ihrer Zeit gehört.

Beispielsweise entdeckte der dänische Chemiker Hans Christian Ørsted 1820 die elektromagnetische Äquivalenz, also die Tatsache, dass Elektrizität in Magnetismus und Magnetismus in Elektrizität umgewandelt werden kann. Erst sechzig Jahre später, 1880, waren die elektrischen Generatoren in Gebrauch und die industrielle Revolution auf dem Hö-

hepunkt. Fernschreiber und Telefon waren schon erfunden und das Zeitalter der Massenkommunikation dämmerte herauf. 1903 hoben die Gebrüder Wright mit ihrer Entdeckung zum ersten Mal für ein paar Minuten vom Boden ab. Sechzig Jahre später, 1963, waren Jets, die über hundert Passagiere gleichzeitig befördern konnten, eine Alltäglichkeit. Ein neuerer Versuch, das Ausmass der Informationsbeschleunigung einzuschätzen, stammt von dem französischen Wirtschaftsexperten Georges Anderla (1921 – 2005), der ihn 1973 für die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unternahm. Anderla ging willkürlich davon aus, dass die Menschheit zu Beginn der christlichen Zeitrechnung die Information besass, die man als Messeinheit für weitere Entwicklungen zugrunde legen könnte. Er erklärte diesen Informationspool zu einer Einheit im Fundus des gesamten Wissens der Menschheit. Aufgrund gewisser Beobachtungen ging er davon aus, dass es bis zum Jahr 1500 dauerte, ehe sich genug neues Wissen angesammelt hatte, um diesen «Fundus» zu verdoppeln. Anschliessend dauerte es nur 250 Jahre (also bis 1750), bis die nächste Verdoppelung stattgefunden hatte und der Fundus auf vier Einheiten angewachsen war. Die nächste Verdoppelung brauchte nur noch 150 Jahre (1900: 8 Einheiten), dann noch 50 und anschliessend noch 10 Jahre, so dass der Fundus 1960 schon bei 32 Einheiten angelangt war. Zwischen 1967 und 1973 wuchs unser Guthaben auf nunmehr 128 Einheiten an. Hier beendete Anderla seine Studien. Man kann aber davon ausgehen, dass die Veränderungsgeschwindigkeit inzwischen weiterhin zugenommen hat. Selbstverständlich ist aber auch klar, dass diese Beschleunigungskurve Schwankungen unterworfen sein kann und irgendwann an eine natürliche Grenze stossen muss.

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über. Während seiner Forschungen über Migräne stiess er 1966 auf einige Patienten, die schon seit etwa 40 Jahren wie «eingefroren» waren: Überlebende der europäischen Schlafkrankheit, einer weltweiten Epidemie von 1916 bis 1927. Die Einzelfall-Studien wurden Gegenstand seines Buches «Zeit des Erwachens». Im Verlauf der Experimente mit L-Dopa, einer Vorstufe des Neurotransmitters Dopamin, kam es zu aussergewöhnlichen Reaktionen der Patienten: Sie «wachten» kurzfristig auf, zeigten teilweise gar eine übermotivierte Lebensfreude, bis sie schliesslich in ihre Starre zurückfielen. Der Film zu dieser Geschichte machte Oliver Sacks 1990 weltweit populär, viele seiner seither veröffentlichten Bücher wurden zu Bestsellern: «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte» berichtet darüber, wie sich die unterschiedlichen Störungen und Erkrankungen des Hirns auf den Alltag der Patienten und betroffenen Angehörigen auswirken. Er erzählt auf spannende, leicht verständliche Weise Geschichten von Menschen, die aus der «Normalität» gefallen sind. Das Buch macht klar, wie Wahrnehmung vom Gehirn abhängt – Realität spielt sich im Kopf ab.

Autor Christian Urech (54) aus Zürich ist Sachbuchlektor und Autor.

Illustration Klaus Zumbühl

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Theorien wie jene von Anderla sind vielleicht blosse Spielereien, die der Wirklichkeit nicht standhalten. Futurologen haben sich schon oft verrechnet. Dass es so etwas wie eine «Informationsexplosion» aber tatsächlich gibt, wird niemand bestreiten wollen. Man mag die Entwicklungen etwa auf den Gebieten der Informatik, der medizinischen Forschung, der Gentechnologie oder der Nanotechnologie beurteilen, wie man will. jedenfalls werden sie unsere Zukunft in einem Mass prägen, wie es heute erst ansatzweise abzusehen ist. Und einen Weg zurück scheint es definitiv nicht zu geben – es sei denn, über eine globale Apokalypse. Heute sehen viele Menschen, dass die erwähnten Informationsverdoppelungen uns der Lösung der grossen Menschheitsprobleme tatsächlich um keinen Schritt näher gebracht haben. Man könnte überspitzt sagen: Die Probleme sind mit den Lösungsmöglichkeiten gewachsen. Noch immer gibt es Armut, Hunger und Kriege. Die mit dem Klimawandel verbundenen Probleme können erst in Umrissen abgeschätzt werden. Zunehmende Produktivität und der damit verbundene Wandel zu Dienstleistungsgesellschaften, in denen «Bildung» einen immer grösseren Stellenwert hat, führte statt zu sozialem Ausgleich zu immer ausgeprägteren Formen einer Zweiklassengesellschaft. Dies geschah sowohl global wie auch in den einzelnen Gesellschaften. Der schon erwähnte Robert Anton Wilson, ein Uto-

Alice Schwarzer, Jahrgang 1942, zog nach einer Lehre als Sekretärin 1963 nach Paris, wo sie ein Sprachenstudium begann. Von 1970 bis 1974 arbeitete sie als freie Korrespondentin für verschiedene Medien. 1971 erregte Schwarzer erstmals mit ihrer Aktion «Frauen gegen den § 218» Aufsehen. Insbesondere das öffentlichen Bekenntnis «Wir haben abgetrieben!» von 374 Frauen im Magazin «Stern» sorgte für geteilte Meinungen. Mit ihrem Buch «Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen» (1975) profilierte sich Schwarzer als Galionsfigur des Feminismus weit über Deutschland hinaus. Im Januar 1977 erschien die erste Ausgabe der von ihr gegründeten Zeitschrift «Emma». 1978 klagte Alice Schwarzer ohne Erfolg gegen den «Stern» wegen sexistischer Frauendarstellungen. 1987 initiierte «Emma» die PorNO-Kampagne. Seit 1993 schreibt Schwarzer wieder vermehrt Bücher, darunter Biografien von Petra Kelly und Gert Bastian oder über das Leben von Marion Dönhoff. Heute polarisiert Alice Schwarzer die Öffentlichkeit vor allem mit ihrem Engagement gegen religiösen Fanatismus und insbesondere gegen die «Gefahr der Islamisierung» von westlichen Gesellschaften.

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Oliver Sacks, Jahrgang 1933, stammt aus einer Arztfamilie. Er studierte in London Medizin. 1960 siedelte er in die USA

pist par excellence, sieht den einzigen Ausweg aus diesem Desaster in einer Steigerung der menschlichen Intelligenz, wobei er wesentlich mehr darunter versteht als intellektuelle Begabungen: zum Beispiel auch emotionale Reife und die Fähigkeit, sich von unbewussten Prägungen zu lösen. «Wenn wir unsere Intelligenz steigern könnten, würden wir offensichtlich auch schneller Lösungen für die diversen apokalyptischen Szenarien finden, die uns heute bedrohen. (…) Wenn die menschliche Dummheit im Ganzen reduziert würde, gäbe es weniger Widerstand gegen originelle Ideen und neue Wege für unsere alten Probleme, weniger Zensur und weniger Fanatismus. Wenn die Dummheit reduziert werden könnte, würden wir weniger Geld für gross angelegte Absurditäten wie das Wettrüsten zum Fenster heraus schmeissen und hätten mehr für lebenserhaltende Projekte zur Verfügung. (…) Die Arbeit, die wir darauf verschwenden, unsere Intelligenz zu steigern, kommt gleichzeitig unseren gesunden und lohnenswerten Zielen zugute.» Ein ebenso einfacher wie einleuchtender Vorschlag des Autors – aber ist er auch realistisch? Oder wird die Menschheit, wie Kulturpessimisten meinen, immer dümmer? Die Zukunft wird es zeigen. Sicher ist jedoch, dass es immer Utopisten, Visionäre und Pioniere geben wird, die auf ihrem Gebiet einen Quantensprung auf eine neue Realitätsebene einleiten werden, nachdem sie anfangs als Spinner belächelt oder diffamiert worden sind.


utopie

Zwischen Weltstaat und Anarchie Weder ein Weltstaat noch die globale Anarchie sind praktikabel und wünschenswert. Es bedarf deshalb neuer Ansätze, um die Chancen der Globalisierung besser zu nutzen. Von Bruno S. Frey Ein Weltstaat ist nicht nur eine schwer zu erreichende Utopie, sondern wegen seiner extremen Monopolmacht gegenüber den Individuen, der Ineffizienz und der Verteilungsungerechtigkeit auch unerwünscht. Ebenso ist eine Anarchie einer globalen Wirtschaft und Gesellschaft ohne Staatsinterventionen völlig unrealistisch und weist ernst zu nehmende Mängel auf. Eine zukünftige Weltordnung muss flexibel sein, damit den noch unbekannten Herausforderungen erfolgreich begegnet werden kann. Hier werden zwei Utopien vorgeschlagen, die ein hohes Mass an Flex­ ibilität sichern und damit den Anforderungen einer «Global Governance» der Zukunft entsprechen.

Bürger freier Wahl Die Menschen sollten selbst auswählen können, welchen Organisationen sie als Bürger oder Bürgerinnen angehören wollen und sie sollten die bürgerliche Zugehörigkeit nach Bedarf ändern können. Die freie Wahl der bürgerlichen Zugehörigkeit bricht radikal mit dem Monopolanspruch heutiger Staaten auf «ihre» Bürger. Den Individuen kann ermöglicht werden, sich flexibel den zukünftigen Anforderungen zu stellen, wenn sie sich vom Monopolanspruch des Nationalstaats befreien und aktiv eine Wahl treffen können, wessen Bürger sie sein möchten. Bis heute definieren die Nationen im Wesentlichen von sich aus, wer zu ihren Bürgern zählt. Die Individuen können nur sehr begrenzt über den Eintritt und Austritt selbst entscheiden. Vor allem bezieht sich die Bürgerschaft traditionell nur auf den Staat; andere Zugehörigkeiten werden von vorneherein ausgeschlossen. Der Nationalstaat als einzige Identität des Bürgers ist in der globalen Gesellschaft überholt, weil diese durch ausgeprägte Unterschiede in zweierlei Hinsicht charakterisiert ist: Erstens unterscheiden sich die Präferenzen der Individuen wesentlich voneinander; sie lassen sich nicht (mehr) allein durch die als homogen gedachte Institution der Nation erfüllen. Zweitens fühlt sich ein Individuum in einer globalen Gesellschaft in aller Regel vielen Organisationen zugehörig; die Nation allein kann auch dieser Präferenz nicht gerecht werden. Individuen können deshalb Bürger auch von Organisationen ausserhalb der Nation sein. Folgende Möglichkeiten lassen sich denken:

Individuen sind Bürger sub-nationaler Körperschaften. Dazu gehören Regionen, Provinzen und Gemeinden, oder aber supra-nationale Körperschaften wie die EU, die NATO, die Weltbank oder die UNO. Personen sind Bürger auch in halb-staatlichen Organisationen. Dafür kommen viele verschiedene Institutionen in Frage. Ein Beispiel sind Universitäten. Tatsächlich hat im deutschsprachigen Raum der Begriff des «Universitätsbürger» eine alte, aber weitgehend verloren gegangene Tradition. Sie ist hingegen in den Vereinigten Staaten sehr lebendig. Ein Universitätsbürger hat ganz bestimmte Rechte und Pflichten, und vor allem werden Loyalität, Identifikation und Engagement vorausgesetzt, die wesentlich über eine Abwägung individueller Nutzen und Kosten hinausgehen. Ähnlich können Personen mit einer besonderen Affinität zu bestimmten Museen, Opernhäusern oder Orchestern deren Bürger werden. Personen sind Bürger nicht-staatlicher Organisationen. Beispiele sind global tätige karitative Organisationen wie das Rote Kreuz, die Médecins sans Frontières, die Heilsarmee oder Kirchen und religiöse Orden wie die Kartäuser oder Jesuiten; Umweltorganisationen wie World Wildlife Fund oder Greenpeace; Organisationen mit humanitären Zielen wie Amnesty International oder Terre des Hommes; schliesslich Vereinigungen mit einer sozialen Ausrichtung wie Rotary Club, Pfadfinder, aber auch Gewerkschaften. Personen sind Bürger privater Organisationen. Dazu gehören globale funktional orientierte Vereinigungen wie zum Beispiel ICANN (die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers), sportliche (wie die FIFA), künstlerische (wie die Recording Academy, die die Grammy Awards verleiht) oder wissenschaftliche Vereinigungen (wie die International Economic Association). Auch international orientierte Clubs wie Bayern München oder Real Madrid können Personen als Bürger haben, wenn diese ihnen besonders nahe stehen und bereit sind, auch entsprechende Pflichten zu übernehmen. Viele Personen verfügen über soviel Identität und Loyalität, dass sie derartigen privaten Organisationen freiwillig erhebliche Geldbeiträge für die von ihnen angebotenen öffentlichen Leistungen zukommen lassen. Selbstverständlich sind diese auch auf andere Einnahmen angewiesen.

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Bürgerschaften können wechseln In der Zukunft sollte der Begriff des «Bürgers» flex­ ibel gehandhabt werden. Insbesondere sind fol-

Individuen als Bürger gewinnorientierter Firmen – Vor dem UBS-Sitz in Zürich.

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gende Varianten vorstellbar: Erstens die temporäre Bürgerschaft: Eine Person soll wählen können, für welche Periode sie sich in der erforderlichen engen Weise mit einer bestimmten Organisation verbinden will. Zweitens die multiple Bürgerschaft: Jedermann kann gleichzeitig Bürger verschiedener Organisationen sein. Drittens die partielle Bürgerschaft: Eine Person kann Bürger nur eines Teils einer Organisation, wie zum Beispiel der Sozialversicherung eines bestimmten Staates sein. Die Idee der Bürgerschaft wird somit wesentlich erweitert und geht weit über die alleinige Beziehung von Personen zum Nationalstaat hinaus. Daraus wird die spezielle Eigenschaft des erweiterten Bürgerkonzeptes deutlich: Es handelt sich um einen unvollständigen und freiwilligen Vertrag zwischen Individuen und von ihnen gewählten Organisationen. Der Inhalt des Vertrags lässt sich nicht a priori festschreiben. Aus diesem Grund ist neben den jeweiligen spezifischen Rechten und Pflichten die intrinsische Motivation für die Bürgerschaft von essentieller Bedeutung. Intrinsische Motivation äussert sich in Form von Loyalität, Identifikation und Engagement, die gerade dann wirksam werden, wenn der Vertrag nichts oder zu wenig aussagt. Intrinsische Motivation steht im Gegensatz zur extrinsischen Motivation, bei der Menschen auf Grund äusserer (oft monetärer) Anreize für sich selbst Nutzen und Kosten abwägen. In der politischen Philosophie ist die Bedeutung dieser nicht-kalkulatorischen Tugenden (civic virtues) im Verhältnis der Bürger zu

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Individuen sind Bürger gewinnorientierter Firmen. In der Betriebswirtschaftslehre wird von «organizational citizenship» gesprochen. Grosse Bedeutung wird insbesondere der «corporate citizenship» zugewiesen. Darunter wird das nicht durch Vorschriften erzwungene und über vertragliche Verpflichtungen hinausgehende Verhalten im Interesse der Firma verstanden. Bürgertum ist vor allem für global tätige Firmen wie Nestlé, ABB oder IBM mit einem über die gesamte Welt verstreuten Filialnetz geeignet. Diese können für ihre Bürger viele Aspekte regeln und übernehmen, die sich bisher Nationalstaaten vorbehalten haben, wie etwa eine Arbeitserlaubnis einzuholen, finanzielle Garantien zu geben und Identifikationskarten (Pässe) auszustellen. Entscheidend ist die spezielle Loyalitätsbeziehung des Bürgers zu «seiner» Firma. Diese geht wesentlich über ein Aktionärs-, Kunden- oder Beschäftigtenverhältnis hinaus. Wer nur mit Aktien spekuliert, ist kein Bürger der entsprechenden Firma. Bürger kann nur werden, wer ein Grundvertrauen zu «seiner» Firma hat. Er behält seine Aktien auch dann, wenn es der Firma schlecht geht und Spekulanten längst verkauft haben. Bürger sind auch nicht nur Stakeholder, denn diese verfügen nicht über formale demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten wie sie Bürger besitzen.


Die Tugend wird gestärkt Die durch die Bürgerschaft begründete besondere Beziehung zwischen Individuen und Organisationen übt zweierlei Wirkungen aus: Erstens wird bestehende intrinsische Motivation auf bestimmte Organisationen kanalisiert und die Identifikation damit gefestigt. Die betreffende Organisation übernimmt damit eine «expressive» Funktion und wirkt normverstärkend. Die Kategorisierung als Bürger und die damit zusammenhängende Identität begüns­tigt eine Einschränkung des Verhaltens – nämlich andere nicht als Trittbrettfahrer auszunützen –, was über eine bewusste Wahl zwischen Alternativen hinausgeht. Zweitens wird potentielle intrinsische Motivation aktiviert und Bürgertugenden werden geweckt. Damit werden auch andere Personen zu Beiträgen zu öffentlichen Gütern animiert und potentielle Trittbrettfahrer abgeschreckt. Bürgerschaft hilft das Problem des «second order public good» zu überwinden und stärkt die indirekte Reziprozität. Eine Person, die diejenigen Organisationen selbst wählen kann, deren Bürger sie sein möchte, erfährt somit einen Motivationsschub. Dieser Effekt fusst auf sozialpsychologischen Prozessen und wird durch Experimente und ökonometrische Analysen in Feldstudien gestützt. Die unmittelbare wirtschaftliche Bedeutung dieser gestärkten Bürgertugenden liegt in der Unterstützung bei der Bereitstellung öffentlicher Güter, sowie der Minderung negativer Auswirkung von Spill­overs auf das öffentliche Angebot. Damit wird von der Vorstellung abgewichen, bei Existenz öffentlicher Güter sei vollständiges Trittbrettfahren eine geeignete Erklärung des tatsächlich beobachteten Verhaltens. Ebensowenig wird aber davon ausgegangen, öffentliche Güter würden völlig freiwillig erbracht und es käme ein optimales Angebot zustande. Die Weckung der Bürgertugend bewirkt vielmehr eine Erhöhung der Zahlungsbereitschaft für öffentliche Leistungen.

Grenzen werden obsolet Die Möglichkeit der Individuen, selbst zu entscheiden, in welchen Organisationen sie als Bürger spezielle Rechte und Pflichten übernehmen wollen, steigert die intrinsische Motivation in Form der Bürgertugenden. Damit wird ein wesentlicher Beitrag zum Angebot öffentlicher Güter geleistet. In einer globalen Wirtschaft, in der in aller Regel Zwangsgewalt nicht wirksam angewandt werden kann, ist eine derartige Kooperationsbereitschaft besonders wichtig. Diese Bereitschaft auf der Nachfrageseite muss durch institutionelle Bedingungen auf der Angebotsseite ergänzt werden. Das staatliche Angebot sollte sich an der Geografie der Probleme orientieren; deshalb sind entspre-

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ihrem Staat seit längerem betont worden.

chende funktionale Einheiten zu ermöglichen, deren Grösse sich variabel an die Erfordernisse anpassen. Die Organisation von staatlichen Einheiten entsprechend den (in der Zukunft) auftretenden Problemen steht in hartem Gegensatz zur Konstruktion der heutigen Nationalstaaten. Die bestehenden nationalen Grenzen sind in einer zukünftigen, globalen Gesellschaft obsolet. Die wirtschaftlichen Beziehungen werden durch die bestehenden nationalen Regelungen gehemmt und deshalb vermehrt umgangen. Die Spannung zwischen den unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Anforderungen lässt sich lösen, wenn von den starren Grenzen öffentlicher Körperschaften abgewichen wird.

Flexible demokratische Körperschaften Jede staatliche Tätigkeit soll sich in dem Raum abwickeln, der dafür die geeignete Ausdehnung hat. Geeignet dafür sind funktionale Körperschaften, die sich gegenseitig überlappen und die für ihre Tätigkeit notwendigen Steuern in einem demokratischen Verfahren erheben dürfen. Diese als FOCJ – gemäss den Anfangsbuchstaben «Functional, Overlapping, Competing Jurisdictions» – bezeichneten Einheiten sind durch vier Eigenschaften gekennzeichnet: FOCJ sind funktional. Gebietskörperschaften erbringen ihre Leistungen umso effizienter, je vollständiger sie positive Skalenerträge ausnützen können, je gezielter sie ihre Leistungen an die Nachfrage der Bürger anzupassen vermögen, und je genauer ihre Leistungsempfänger und Kostenträger übereinstimmen. Die verschiedenen staatlichen Leistungen (zum Beispiel Schulen, Kläranlagen, Landesverteidigung, und so weiter) weisen aber ganz unterschiedliche Wirkungskreise und Skalenerträge auf. Überdies variiert die Nachfrage räumlich beträchtlich, weil sie von örtlich unterschiedlichen Faktoren abhängt (zum Beispiel dem Einkommen). Folglich ist es effizienter, wenn nicht alle Leistungen durch die gleiche Gebietskörperschaft erbracht werden, sondern von spezialisierten, auf die jeweiligen Probleme «massgeschneiderten» funktionalen Jurisdiktionen. FOCJ sind überlappend. Zum einen überlappen sich FOCJ, die unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Folglich gehören die Bürger ganz unterschiedlichen «Bündeln» von Jurisdiktionen an. FOCJ müssen aber nicht notwendigerweise Gebietskörperschaften sein, die in einem zusammenhängenden Gebiet ein Leistungsmonopol besitzen. Oft können mehrere FOCJ die gleiche oder ähnliche Funktion erfüllen, ihre Leistungen im gleichen geographischen Gebiet anbieten. Dadurch werden die Wahlmöglichkeiten der Bürger und der Wettbewerb zwischen den Anbietern staatlicher Leistungen zusätzlich gestärkt. Die beiden Arten von Überlappungen ergänzen sich gegenseitig. Da mit der zweiten, wei-

Literatur FREY Bruno S. (1997). Ein neuer Föderalismus für Europa: Die Idee der FOCJ. Tübingen: Siebeck. GOSEPATH Stefan und MERLE JeanChristophe (2002). Weltrepublik. Globalisierung und Demokratie. München: Beck. ENGEL Christoph und KELLER Kenneth H. (2000). Governance of Global Networks in the Light of Differing Local Values. Baden-Baden: Nomos.

Bilder flickr.com

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auf zwei unterschiedliche Weisen definiert sein: Mitglieder können die kleinsten politischen Einheiten, im Normalfall die Gemeinden, sein. Dann sind Gemeindeeinwohner automatisch Bürger derjenigen FOCJ, in denen ihre Gemeinde Mitglied ist, und sie können nur aus einem FOCUS austreten, indem sie umziehen. Im zweiten Fall kann ein einzelner Bürger frei entscheiden, ob er in einem bestimmten FOCUS Mitglied sein will. Diese starke Form der individuellen Wahlmöglichkeiten kann staatliche Umverteilungsmassnahmen unterhöhlen. Falls erwünscht, kann Umverteilung und auch eine gewisse Mindestversorgung mit öffentlichen Leistungen garantiert werden, indem auf einer höheren politischen Ebene die Mitgliedschaft in einem FOCUS, der die betreffende Leistung anbietet, obligatorisch erklärt und Leistungsstandards vorgeschrieben oder entsprechende Anreize gegeben werden. So könnte den Bürgern freigestellt werden, welchem SchulFOCUS sie beitreten. Damit auch Personen ohne schulpflichtige Kinder Schulsteuern bezahlen, kann die Mitgliedschaft in einem Schul-FOCUS obligatorisch erklärt werden. Damit dann keine «SchulFOCJ» entstehen, die weder Leistungen anbieten noch Steuern erheben (also ganz auf kinderlose Bürger ausgerichtet sind), können gewisse Mindeststandards vorgeschrieben werden.

Eine effiziente Aufgabenverteilung FOCJ weisen verglichen mit traditionellen staatlichen Organisationsformen wesentliche Vorteile auf. Vor allem sind FOCJ flexibel und effizient. Die Stärkung der demokratischen Instrumente und der Austrittsoption erlaubt den Bürgern, ihre Präferenzen auszudrücken und die Regierung wirkungsvoll zu kontrollieren. Die Konzentration eines FOCUS auf einzelne Leistungen hilft ihnen, die Effizienz zu beurteilen und die Leistungen mit anderen FOCJ zu vergleichen. FOCJ erleichtern den Regierungen, auf die Präferenzen der Bürger einzugehen. Dank ihrer räumlichen Flexibilität können FOCJ positive Skalenerträge ausnützen und «spillovers» minimieren und somit öffentliche Leistungen besonders kostengünstig anbieten. Ein Verteidigungs-FOCUS zum Beispiel könnte grosse Teile Europas und sogar nicht-europäische Länder umfassen. Dass endogene Grössenanpassungen tatsächlich stattfinden, wird unter anderem durch die schweizerischen Erfahrungen illustriert, wo durch Volksabstimmungen oft Gemeinden und Bezirke zusammengelegt oder aufgeteilt und auch Kantonsgrenzen verändert werden. Solche Abstimmungen zeigen immer wieder, wie vernünftig Wähler zwischen den Leistungsbündeln der verschiedenen Gebietskörperschaften abwägen. Eine Verwirklichung des FOCJ-Konzepts wird die Rolle der Gebietskörperschaften aller Ebenen – von Nationalstaaten bis zu den Kommunen – stark verändern. Sie bewirkt aber keineswegs ihre Zerschla-

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tergehenden Art unter bestimmten Bedingungen Trittbrettfahrerprobleme auftreten können, kann sie auf konstitutioneller Ebene für gewisse Funktionen eingeschränkt werden. FOCJ sind wettbewerblich. Die Regierung eines FOCUS wird durch zwei Mechanismen gezwungen, auf die Nachfrage der Mitglieder einzugehen: Die Austrittsmöglichkeiten («exit») der Bürger und Gemeinden bewirken marktähnlichen Wettbewerb, und ihr Stimm- und Wahlrecht schafft politischen Wettbewerb. In FOCJ ist Austritt nicht auf geographische Abwanderung beschränkt und deshalb besonders wirksam. Gemeinden können aus FOCJ aus- und in andere eintreten, ohne dass ihre Bürger umziehen müssen. Die Bedeutung von «exit» unterscheidet FOCJ grundlegend von den heutigen National- und Bundesstaaten, in denen Sezes­sion verboten und zumeist mit brachialer Gewalt zu verhindern versucht wird. Dabei sollte der Austritt möglichst unbehindert bleiben, weil dadurch der Wettbewerb zwischen den Regierungen gestärkt wird. Die genauen Austrittsbedingungen können jeweils in einem Vertrag zwischen den Mitgliedern eines FOCUS, einer eigentlichen Verfassung, geregelt werden. Für den Eintritt hingegen sollte sehr wohl ein Preis verlangt werden können. Wie in «clubs» können Eintrittspreise als Abgeltung für die Nutzung öffentlicher Güter und der Internalisierung externer Wanderungskosten dienen. Solche expliziten Preise stärken die Anreize der FOCJ-Regierungen, eine gute Politik zu betreiben und so neue (zahlende) Mitglieder anzuziehen. Abwanderung alleine schafft aber unter realistischen Bedingungen (Wanderungskosten, endlich vielen Jurisdiktionen) noch keine Effizienz. Solange die Individuen keine gut ausgebauten politischen Rechte besitzen, können die Regierungen weit von den Präferenzen der Bürger abweichen. In FOCJ wird deshalb der politische Wettbewerb mittels demokratischer Institutionen gestärkt. Die Bürger können die Exekutive und Legislative der jeweiligen FOCJ wählen. Zudem sollten sie über möglichst umfassende direkt-demokratische Instrumente zur Kontrolle der Regierung verfügen: Sie müssen Volksabstimmungen über eigene Vorschläge (Initiativrecht) sowie über Entscheidungen der Regierung und des Parlaments (Referendumsrecht) verlangen können. Diese Volksrechte bewirken, dass die Bürgerpräferenzen im politischen Prozess vermehrt beachtet werden. Das hohe Ausmass an demokratischen Kontrollmechanismen bildet auch einen entscheidenden Unterschied zwischen FOCJ und technokratischen Zweckverbänden, in denen die Bürger die Zweckverbandsverwaltung nur sehr indirekt und unwirksam über mehrstufige Delegationspyramiden kontrollieren können. FOCJ sind Jurisdiktionen mit Steuerhoheit. Ein FOCUS ist eine Körperschaft mit Zwangsgewalt und Steuerhoheit. Die FOCUS-Mitgliedschaft kann


utopie Die freie Wahl der bürgerlichen Zugehörigkeit bricht radikal mit dem Monopolanspruch heutiger Staaten auf «ihre» Bürger.

gung, sondern schafft neue Alternativen. FOCJ werden nur diejenigen Aufgaben erfüllen, die ihnen von den Bürgern übertragen werden, das heisst, die sie aus deren Sicht effizient lösen. Die Nationalstaaten werden weiterhin diejenigen Funktionen ausüben, die sie vergleichsweise effizient erbringen.

Globalisierter Förderalismus FOCJ stellen eine neue Form von Demokratie und Föderalismus dar. Globalisierung heisst dieser Auffassung entsprechend gerade nicht, dass vereinheitlicht werden sollte. Vielmehr können sich in FOCJ die lokalen Eigenheiten entfalten. FOCJ unterscheiden sich deshalb fundamental von einer einheitlichen Weltregierung, etwa in Form einer UNO mit erweiterten Kompetenzen. FOCJ unterscheiden sich jedoch auch vom voluntaristischen Konzept des von Kofi Annan vorgeschlagenen «Global Compact», der einen neun Punkte umfassenden Verhaltenskodex für Unternehmen festlegt. Diese sind jedoch unverbindlich und in einer kompetitiven internationalen Umgebung kaum verhaltenswirksam. Deshalb werden neue globale Institutionen wie eine «UNO-Organisation für Konzern-Verantwortung» oder eine «Global Regulatory Authority» vorgeschlagen – wobei wir wieder bei einer ineffektiven Weltbürokratie wären. Die Zukunft muss vielmehr bei einem Netz flexibler, problemorientierter und demokratischer Einheiten liegen. Die funktionalen und demokratischen Körperschaften vermögen einige drängende Probleme staatlicher Ordnung in einer globalen Wirtschaft zu lösen. Die staatlichen Strukturen passen sich den Erfordernissen der Individuen an. Einige FOCJ – man denke etwa an die militärische Verteidigung – dürften eine grosse räumliche Ausdehnung, andere FOCJ hingegen – man denke etwa an lokale Umweltprobleme – dürften eine geringe Ausdehnung haben. FOCJ sind derart konstruiert, dass die Spillovers (das sind grenzüberschreitende externe

Effekte) minimiert werden. Nutzniesser und Kostenträger öffentlicher Leistungen können auf diese Weise angenähert werden. Damit entsteht auch für die Bürger ein Anreiz zur politischen Beteiligung.

Multiple Zugehörigkeiten liegen im Trend Führt die Möglichkeit, gleichzeitig in mehreren Organisationen Bürger zu sein und mehreren gegenseitig überlappenden öffentlichen Körperschaften anzugehören, dazu, dass man sich nirgendwo mehr zugehörig fühlt? Dieses Bedenken ist berechtigt – allerdings nur wenn von einer traditionalen Gesellschaft ausgegangen wird. Die heutige Welt ist demgegenüber durch multiple Zugehörigkeiten geprägt. Mehrfache Loyalitäten sind ohne weiteres möglich: wir sind gleichzeitig der Region, die uns in der Jugend geprägt hat, dem Ort, in dem wir heute leben, der Firma, in der wir arbeiten, dem Sportclub, in dem wir einen Teil unserer Freizeit verbringen, dem Theater, durch das wir geistig angeregt werden, emotional verbunden. In einigen Ländern wie den Vereinigten Staaten müssten ausserdem die Rasse, deren Hautfarbe wir tragen, die Universität, die uns erzogen, und die Kirche, die wir am Sonntag besuchen, hinzugefügt werden. Ein Bürger kann somit problemlos mehreren Organisationen emotional verbunden sein und entsprechende intrinsische Motivation entfalten. Eine Entsolidarisierung ist gerade nicht zu erwarten. In einer globalen Welt wäre ein Zwang, nur zu einer Organisation – nämlich dem noch zu schaffenden Weltstaat – emotional verbunden zu sein, verfehlt. Die vielfachen Zugehörigkeiten entsprechen der heutigen Zeit und dürften in der Zukunft noch wichtiger werden.

Autor Bruno S. Frey (68) ist ordentlicher Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Zürich. Seit 2004 leitet er als Forschungsdirektor das CREMA (Center for Research in Economics, Management and the Arts). Er ist seit 1969 tätig als Mit-Herausgeber der internationalen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift Kyklos. Sein hauptsächliches Forschungsgebiet ist die Anwendung der Ökonomie auf nichtwirtschaftliche Bereiche wie Politik, Ökologie, Familie, Konflikt, Geschichte und Kunst.

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«Kapitalismus ist beschissen» Sie verstehen sich als antikapitalistische Revolutionäre und erörtern den Umsturz. An einem offenen Treffen der Gruppe «Eiszeit» fühlt man sich aber durchaus in guter Gesellschaft.

Keine Einladung zum Frustablassen

Autor Urs Güney (30) aus Zürich studiert Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte des Mittelalters an der Universität Zürich.

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Beni, Ottavio und Iris betreten das Lokal, etwas später stösst Nick dazu. Nicht alle Anwesenden sind Mitglieder von «Eiszeit», Gäste sind willkommen am «Jour Fixe». «Ich bin aber sicher, dass hier nicht plötzlich einer ins Schwärmen gerät über seine Aufstiegsmöglichkeiten und den tollen Chef», erklärt Markus. Ottavio erzählt von einer Diskussionsveranstaltung zur Antiminarett-Initiative. Ich vermute, dass er dem Abstimmungsresultat negativ gegenübersteht und nehme die Gelegenheit wahr, Frust abzulassen über den Volksentscheid. Ottavio blockt ab: «Vielleicht haben wir einfach ein grundsätzlich anderes Demokratieverständnis. Ich glaube nicht, dass die gegenwärtigen Herrschaftsstrukturen den Interessen der Arbeiterklasse dienen können.» Als Politikwissenschafter fühle ich mich vor den Kopf gestossen. Kategorien, denen ich einen hohen Wert beimesse, gelten hier wenig. Die meisten am Tisch erleben dieses Gefühl wohl oft in ihrem Alltag. «Eiszeit» will den Staat nicht mit demokratischen

Mitteln ändern, sondern lehnt ihn grundsätzlich ab. Der Staat sei Bestandteil und Voraussetzung kapitalistischer Produktion und Reproduktion. Er sichere einerseits für alle Bürger und Bürgerinnen das Recht, ihre verfügbaren Mittel zum Erwerb von Reichtum einzusetzen, andererseits garantiere er das Privateigentum. Diese abstrakte Rechtsgleichheit schaffe allerdings faktische Ungleichheit: «An den Aktienmärkten dürfen alle investieren und Diebstahl ist grundsätzlich verboten. Auf das Leben eines Millionärs wirken sich diese Rechte aber ganz anders aus als auf das eines armen Schluckers.» Aus der Spannung zwischen der normativen Rechtsgleichheit und der faktischen Ungleichheit entspringe ein Gerechtigkeitswunsch, von dem die bürgerliche Gesellschaft regelrecht besessen sei, erklärt Ottavio. In einer nach-kapitalistischen Gesellschaft wäre diese Obsession hinfällig.

Mehr Praxis wäre wünschenswert Nick hat niemanden gekannt. Er ist über Texte auf der Homepage von «Eiszeit» zur Gruppe gestossen. Die Bereitschaft, sich auf theoretischer Ebene mit gesellschaftlichen Prozessen auseinanderzusetzen, ist für «Eiszeit»-Mitglieder unerlässlich. Regelmässige Diskussionszyklen sind ein wichtiger Bestandteil der Aktivitäten der Gruppe. Etwas mehr Praxis wäre wünschenswert, meint Jan. Aber zu Streiks und Arbeitskämpfen kommt es in der Schweiz leider nur selten: «Man kann sich nicht als Praxisgruppe definieren und dann einfach nichts tun, wenn gerade nichts läuft.» Oben am Tisch sitzt seit einiger Zeit Klaus. An den «Jour Fixe» kommt er ab und zu als Gast. Eigentlich sei «Eiszeit» ja eine kommunistische Gruppe, er selbst ordne sich dem anarchistischen Syndikalismus zu. Zum ersten Mal wird über Kategorien geredet an diesem Abend. «Viele von uns kommen aus dem Anarchismus», erklärt Jan. «Dieser gibt für die Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse aber wenig her.» Deshalb werde häufig Marx’ «Kritik der politischen Ökonomie» beigezogen. Plötzlich ist es Mitternacht. Der Kellner räumt die letzten Tische ab. Wir treten auf die Strasse, diskutieren im Regen weiter. «Kommt ihr noch eins weiter?» fragt Franziska in die Runde. Die Nacht wird lang.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

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Von Urs Güney An einem der reservierten Tische im «Tant Pis» trinkt Franziska* ein Bier. Markus, Jan und ich schlüpfen aus den nassen Jacken und setzen uns dazu. «Eigentlich passt ‘Eiszeit’ nicht zum Thema ‘Utopie’», sagt Markus. «Das Heilsversprechen des Kapitalismus ist doch viel utopischer als die Hoffnung auf einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft.» Trotzdem bin ich eingeladen, an ihrem «Jour Fixe» teilzunehmen. Die Gruppe versteht ihr monatliches Treffen nicht als Arbeit. Es wird gelacht, gefeiert und getrunken, immer wieder auch eifrig diskutiert. Die gemeinsame Auffassung der Anwesenden wird dabei rasch klar: «Der Kapitalismus ist ganz grundlegend beschissen für die Menschen – für einige mehr, für andere weniger.» Deshalb kämpft «Eiszeit» für die staaten- und klassenlose Gesellschaft. Die Gruppe hat dabei nicht primär die Vision einer idealen Gesellschaft vor Augen, sondern die Beseitigung herrschender Missstände. Etwa die Verklärung der Arbeit zu einem Wert an sich. Für «Eiszeit» ist Arbeit eine stumpfe und demütigende Tätigkeit, die nur für den Lohn ausgeführt wird. Deshalb muss sie auf ein Minimum reduziert werden, das sich aus den Bedürfnissen der Menschen ableitet.


utopie

Ist Gerechtigkeit in der freien Marktwirtschaft eine Utopie? Eine gerechte freie Marktwirtschaft scheint für viele utopisch. Beweist Durst die Existenz von Wasser? Dann ist womöglich auch das Verlangen nach Gerechtigkeit im freien Markt ein Beleg für deren Existenz. Von Ali Asker Gündüz Was ist «Gerechtigkeit» und wie lässt sie sich in der freien Marktwirtschaft verorten? Voltaire zufolge ist das «was man Gerechtigkeit nennt, (...) ebenso willkürlich wie die Mode». Allerdings ist der Begriff komplexer. Gerechtigkeit bezieht sich im sozialen Kontext auf die Gesamtheit der moralischen Rechte und Pflichten des zwischenmenschlichen Lebens. Moralvorstellungen dienen uns als ein Massstab bei der Beurteilung individueller und kollektiver Handlungen.

Moralische Personen sind autonom und vernünftig Die Handlung einer Person ist dann moralisch, wenn diese Person nach dem kategorischen Imperativ handelt. Der kategorische Imperativ ist ein normatives Urteil, das eine Handlung für objektiv-notwendig hält. Das bedeutet, sie ist in sich selbst notwendig, ohne sich auf einen anderen Zweck zu beziehen. Moralische Personen im kantischen Sinne sind autonom und vernünftig. Autonom sind sie, da sie ihre Handlungen mit Grundsätzen der Gerechtigkeit vereinbaren wollen. Autonomie ist ohne Rationalität nicht denkbar. Sie steht dafür, dass alle Handlungen an begründbaren Überlegungen ausgerichtet sind. Nur so können Menschen als Vernunftwesen frei handeln. Vernunftwesen sind Akteure, die nach Maximen handeln, welche verallgemeinerbar sind. Die Gleichheit der Individuen liegt in der Fähigkeit, nach Gründen zu urteilen und zu handeln ohne dabei auf den individuellen sozialen Stand sowie auf die individuelle politische und ökonomische Macht zurückzugreifen. Gleich sind Menschen als Vernunftwesen. Insofern die Menschen autonom sind, kommt allen der gleiche Freiheitsanspruch zu.

ationen von Menschen aus. Es werden lediglich solche normativen Bewertungen zugelassen, die sich aus den Locke‘schen Individualrechten ableiten lassen. Dies wird in der Theorie von Hayek ersichtlich. In «Illusion der sozialen Gerechtigkeit» verteidigt er die individuelle Freiheit und die Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz und setzt sich gegen eine von oben gelenkte Gleichstellung der Bürger und gegen eine «soziale Gerechtigkeit» ein. Die gelenkte Gleichstellung bedingt gemäss Hayek eine ungleiche Behandlung der menschlichen Freiheiten. Was hier zum Ausdruck kommt, ist die spezifisch liberale Idee der Gleichheit für autonomiefähige Personen in der «spontanen Ordnung». Ungerecht sind gemäss dieser Auffassung alle absichtlichen Eingriffe der Menschen in die spontane Ordnung. Ein Eingreifen im Namen der sozialen Gerechtigkeit würde die

Die «spontane Ordnung» zeugt vom Werteverfall Die Verfechter des Liberalismus, darunter James Buchanan, Robert Nozick und Friedrich August von Hayek, geben den Locke‘schen Individualrechten einen fundamentalen Status. Freiheit ist demgemäss nicht das Ergebnis wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse oder politischer Institutionalisierungen, sondern ein dem Menschen innewohnendes fundamentales Recht. Dieser Fundamentalismus schliesst die normative Beurteilung der Lebenssitu-

Der Kapitalismus produziert wenige Gewinner und viele Verlierer.

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Von Freiheit kann keine Rede sein Auch die angebliche Freiheit eines jeden Bürgers ist in der freien Marktwirtschaft nicht zu finden. Denn von allgemeiner Freiheit ist die Rede, wenn erstens jede Person die Möglichkeit hat, eine Wahl zwischen Alternativen zu treffen. Jede Person muss in der Lage sein, immer auch anders zu handeln und sich anders zu entscheiden, um als frei gelten zu können. Eine Wahl verliert zweitens die Eigenschaft frei zu sein, wenn sie extern herbeigeführt wird. Und drittens darf die individuelle Entschei-

dung oder Handlung einer Person nur ihrer Kontrolle unterliegen. Diese letzte Bedingung impliziert, dass der Kontrollmechanismus einer in einer reinen Marktwirtschaft entscheidenden und handelnden Person nicht vorenthalten werden darf. Wenn diese genannten Rechte in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht jedem Bürger zugesprochen werden, kann von Freiheit oder Gleichheit nicht die Rede sein. Denn wird die Verhaltensweise in einer Marktsituation von der Person, die die Handlung vollzieht, nicht begründet, geht die Verantwortung und die Rationalität der Handlung und damit auch die Freiheit verloren. Der Mensch erlangt seine Freiheit nämlich allein dadurch, dass er dem Ergebnis einer Abwägung von Gründen folgt. Die Freiheit eines Menschen ist deshalb eine durch Gründe konstituierte Freiheit. Er verliert diese, wenn ihm in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die Wahl zwischen den Alternativen verwehrt wird. Eine Entscheidung oder Handlung, die nicht von einer Person selbst kontrolliert wird, kann von dieser rational nicht begründet werden. Folglich kann ihr keine Verantwortung für ihre Entscheidung und Handlung auferlegt werden: sie verbleibt in einem unfreien Zustand. Diese Unfreiheit des Menschen wird durch die kapitalistischen Marktmechanismen mit ihren Machtverhältnissen selbst herbeigeführt.

Freie Menschen hätten sich aus moralischen Gründen nicht für den Kapitalismus entschieden – Die New York Stock Exchange.

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Lage noch mehr verschlechtern. Die Hayek‘sche «spontane Ordnung» ist für die Postmoderne charakteristisch. Sie ist das Bild einer vom Werteverfall gekennzeichneten, entsolidarisierten Gesellschaft. Das Menschenbild wird aus der moralisch begründeten Gesellschaft herausgerissen und durch ein individuell-ökonomisches Subjekt ausgetauscht. Den Menschen wird die Möglichkeit entzogen, die Gesellschaftsordnung nach Gerechtigkeitsprinzipien zu hinterfragen. Die «spontane Ordnung» wird auf diese Weise aus dem Moralkontext herausgerissen und Adam Smiths’ «unsichtbarer Hand» überlassen. «Anything goes», der berühmte Slogan von Paul K. Feyerabend, setzt die Regeln für diese Ordnung fest.


Fairness wird in den Hintergrund gestellt Zwischen Markt und Gerechtigkeit sind gemäss gängigen Meinungen überhaupt nur drei Verhältnisse möglich: Erstens könnte der Markt ein Gerechtigkeitsausdruck sein, wenn sich die Menschen nach moralischen Prinzipien für ihn entschieden hätten. Zweiten könnte der Markt Gerechtigkeitsersatz sein, wenn er Funktionen übernehmen würde, die früher die Moral innehatte. Zu guter Letzt könnte der Markt auch ein Gerechtigkeitsgegenstand sein, wenn Moral- und Gerechtigkeitsprinzipien sich auf den Markt anwenden liessen. Die Vertreter der ersten These sind der Meinung, dass der Markt deshalb Ausdruck der Gerechtigkeit sei, weil die Menschen sich nach moralischen Prinzipien für ihn entschieden haben. Sie hätten sich also auch gegen ihn entscheiden können. Die Verfechter dieser Ansicht sehen den Kapitalismus in moralischer Hinsicht als Bewahrer und Förderer des Friedens. Dies stützt sich auf die Annahme, dass der Tauschakt des Marktes auf gegenseitiger Freiwilligkeit beruht und der Markt als produktives Verteilinstrument das Überleben einer grossen Anzahl von Menschen sichert. Durch ihn werden Kampfverhältnisse in Konkurrenzverhältnisse aufgelöst. Allerdings werden in dieser Auslegung des Verhältnisses zwischen Gerechtigkeit und Kapitalismus grundlegende Prinzipien in den Hintergrund gestellt: Moralische Richt-

utopie

Der Markt, wie auch die Hayek‘sche spontane Ordnung, verliert so das Charakteristikum als Standort des «frei entscheidenden und frei handelnden Menschen». Liberale wie Robert Nozick oder Friedrich August von Hayek verstehen alle grundlegenden Rechte als Freiheitsrechte und diese als Rechte auf die Abwesenheit von Zwang, insbesondere vom staatlichen Zwang. Im kapitalistischen System ist der Mensch jedoch zweifach geknechtet. Zum einen durch die Internalisierung der kapitalistischen Zwänge, die von den meisten Menschen unbemerkt bleiben. Zum anderen birgt der Kapitalismus äussere Zwänge. Diese werden durch die Ausnutzung der Konkurrenzund Konsumlust der Menschen verhüllt, wie in dem bekannten Werbeslogan einer Versicherung: «Dein Haus? Dein Auto? Dein Boot?» – «Meine Villa. Meine Limousine. Meine Yacht». In einer Gesellschaftsordnung, in der Menschen von verinnerlichten wie auch äusseren Zwängen unterjocht sind, kann nicht von Freiheit die Rede sein. Die Problematik einer sozialen Asymmetrie und somit eine einseitige Abhängigkeit vom Willen anderer verstärkt diese Unfreiheit noch. Die Freiheit im Sinne sowohl des «Frei-Seins-für» als auch des «Frei-Seins-von» ist Voraussetzung für eine gerechte Haltung des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen. Da die Gesellschaftsordnung des Kapitalismus eine solche freie und gerechte Haltung unter den Menschen untergräbt, kann sie also nicht als gerechtigkeitsfördernd gelten.

linien wie Fairness, Respekt, Rücksichtnahme und Achtung der Rechte der anderen, wie auch eine angemessene, moralisch-akzeptable Verteilung von Gütern und Chancen zwischen den Marktteilnehmern. Dies ist nicht weiter erstaunlich, da mit der Entwicklung zum Kapitalismus die wirtschaftlichen Beziehungen aus den sozialen und kulturellen Normen herausgelöst wurden. Dieser Prozess führte zu einer stärkeren Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft und einem grösseren Einfluss wirtschaftlicher Gesetzmässigkeiten auf die Güterverteilung und Sozialstruktur.

Der Kapitalismus schliesst die Moral aus Weiter ermöglichte das Aufkommen des Kapitalismus eine stärkere Ausrichtung des Statussystems am Marktergebnis. Die gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Normen mussten dieser Entwicklung weichen, da der Kapitalismus nach dem Gebot kältester Zweckmässigkeit handelt. Auch die soziale Schichtung wurde an deren Marktergebnis bewertet. Als Folge dieser Entwicklung scheinen moralisch orientiertes Handeln und ethische Reflexionen für den Einzelnen, aber auch für Gruppen, deplatziert. Die Forderung nach der Moral der kapitalistischen Wirtschaftsordnung richtet sich primär an die Legitimität der Marktprozesse und an deren Wirkungen auf das soziale Leben. Inwieweit sind marktwirtschaftliche Preismechanismen oder die Gewinn- und Nutzenmaximierung der einzelnen Marktakteure gerechtfertigt? Sind die gesellschaftlichen Verhältnisse gerecht? Hätten wir uns im kantischen Sinne frei, vernünftig und moralisch für den Markt entschieden, würde diese Entscheidung folgendes implizieren: Erstens Unfreiheit aufgrund der äusseren und verinnerlichten Zwängen des Kapitalismus. Zweitens Amoralismus, weil wir als homo oeconomicus auf die ethische Rechtfertigung unserer Handlung verzichten. Drittens Unvernunft, weil wir die Verantwortung für unser Handeln nicht tragen und deshalb im kantischen Sinne unfrei wären. Freie Menschen hätten sich aus moralischen Gründen nicht für den Kapitalismus entschieden, da diese Gesellschaftsordnung die Moral gänzlich ausschliesst. Somit schliesst der Kapitalismus auch moralische Rechte und Pflichten aus, die auf die Regelung der Güter und Lasten des sozialen Lebens zielen. Der Markt kann folglich aufgrund seiner Genese nicht Moral- und Gerechtigkeitsausdruck oder Gerechtigkeitsersatz sein.

Die Utopie eines gerechten Marktes Es bleibt die Frage, ob Gerechtigkeitsprinzipien überhaupt auf den Markt angewendet werden können. Die zeitgemässen Wirtschaftsliberalen und die anachronistischen Kommunisten würden hier ein klares «Nein» anstimmen. Wahrscheinlich wäre dies die einzige Meinung, die sie teilen. Erstere würden sich jegliche Eingriffe in den Markt

Literatur HAYEK Friedrich A. von (1981). Recht, Gesetzgebung und Freiheit: eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und der politischen Oekonomie. Landsberg am Lech: Verlag Moderne Industie. LOCKE John (1690). Zwei Abhandlungen über die Regierung Baden Baden: Nomos Verlaggesellschaft. NIDA-RÜMELIN Julian (2005). Über die menschliche Freiheit. Stuttgart: Philipp Reclam. PARET Christoph (2008). «Einblicke in eine unromantische Beziehung. Warum der freie Markt die Moral beraucht und sie gleichzeitig untergräbt» NZZ: 24./25. Mai 2008. RAWLS John (1993). Politischer Liberalismus. Frankfurt/M: Suhrkamp.

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Auch Rawls Theorie zeigt Schwächen

Autor Redaktor Ali Asker Gündüz (29) aus Appenzell Innerrhoden studiert im 10. Semester Politikwissenschaft, Völkerrecht und Staatsrecht an der Universität Zürich.

Bilder 1. flickr.com 2. Nils Hedinger

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Allerdings macht auch Rawls einen entscheidenden Fehler. Er betrachtet mit seinem liberalen Menschenbild das Individuum von seinen sozial-kulturellen Konstellationen abgekoppelt. Folglich werden die Interessen der Menschen auf politisch-rechtliche Gleichheit und sozial-wirtschaftliche Aspekte heruntergebrochen. Erstes bezieht sich auf die Maximierung der individuellen Freiheit, für letzteres setzt Rawls Chancengleichheit voraus, lässt Ungleichheit zu und betrachtet das Individuum als rational und gewinnoptimierend. An dieser verkürzten Sicht setzten die Kommunitaristen wie Michael Walzer ihre Kritik an. Darüber hinaus erweist sich «das Besserstellen des am wenigsten Begünstigten» zweifach als unzureichend. Zum einen ist es wichtig «um wie viel» der Schwächste besser gestellt wird. Der Unterschied zwischen «nicht verteilt» und «fast nichts verteilt» ist nicht zureichend, um einer fairen Verteilung zu genügen. Zum anderen ist die Anzahl der «am wenigsten Begünstigten» in der Population sehr wichtig. Gehören in einer Gesellschaft 99 von 100 zu den Schwächsten, so kann nicht von sozialer Gerechtigkeit die Rede sein, obwohl sie durch die Verteilung um «fast nichts» besser gestellt werden. Insgesamt kann die Rawls‘sche Theorie der Gerechtigkeit als Fairness als ein gelungener Versuch der Anwendung moralischer Prinzipien auf den Mark betrachtet werden. Doch gibt es einige Schwachstellen in Rawls Theorie. Der Grund für das Dilemma besteht in der Entwicklung zum Kapi-

talismus hin, die mit einer Abkoppelung wirtschaftlicher Beziehungen aus dem moralischen Kontext einherging. Die mit dieser Entwicklung zum Kapitalismus parallel verlaufende Individualisierung liess die Sphären der Moral, der Werte und der Kultur im Dunkeln. Es war der grösste Fehler der Liberalen wie Hayek, die Wirtschaft mit ihren Gesetzmässigkeiten als etwas Autonomes, als eine evolutionäre «spontane Ordnung» zu betrachten. So als gäbe es keine Dependenz zwischen Wirtschaft und Mensch, Mensch und Moral und somit auch zwischen Wirtschaft und Moral.

Ethisches Bewusstsein als Marktfaktor Das liberale Menschenbild verortet den Menschen zunächst in der Sphäre des Wirtschaftliberalismus und somit des «Kapitalismus» und erst sekundär in derjenigen der Moral. Es spricht den Menschen von Beginn an liberale Charaktereigenschaften zu, moralische erst im Nachhinein. Dieses karge Menschenbild des Liberalismus ist das Resultat einer auffälligen Übergewichtung der von der Moral abgetrennten Wirtschaftsbeziehungen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und strebt in seiner Natur nach sozialer Gerechtigkeit. Deshalb muss die Wirtschaft, wie Alfred Müller-Armack ausdrückte, als Dienerin der Menschlichkeit sich in den Dienst von überwirtschaftlichen Gütern und Werten wie dem Menschlichen und Kulturellen stellen; oder wenigstens diese nicht untergraben. In einem Zeitalter der Globalisierung gewinnt Gerechtigkeit unter anderem als soziale Gerechtigkeit, Tauschgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit oder Generationengerechtigkeit in noch nie da gewesenem Ausmass an Wichtigkeit. Folglich darf sich der Handwerker, Lehrer, Staatsmann, Professor oder Philosoph den Menschen nicht als einen reinen Wirtschaftler vorstellen. Der Markt ist nämlich nicht in der Lage, die Sinnhaftigkeit eines Handschlags oder eines Produkts einzuschätzen. Wir als rationale, vernünftige und moralische Lebewesen müssen ethische Aspekte in den Markt einbringen. Wie der Sozialethiker Hans Ruh mir in einem Gespräch sagte, ist «die Eigengesetzlichkeit des Marktes zulässig, wenn der Marktwert der Ethik stimmt». Wir müssen unsere Interessen vermehrt auf die Frage der gerechten Institutionen lenken. Die wirtschaftlichen Beziehungen mögen verflochten und die Früchte des Wirtschaftens schmeichelhaft sein. Trotzdem dürfen wir als Menschen – unabhängig davon, was uns von anderen Mitmenschen unterscheidet – eines nicht vergessen: Ethisches Bewusstsein ist ein Marktfaktor.

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verbitten, während letztere diesen am liebsten ganz abschaffen wollen. Die Frage kann aber auch mit einem unsicheren «Ja» beantwortet werden, wenn «die grundlegenden Institutionen eines liberalen demokratischen Verfassungsstaates (…), die fairen Bedingungen der Kooperation zwischen Bürgern genügen», und «wenn die Werte Freiheit und Gleichheit in den Grundrechten und Freiheiten zum Ausdruck gebracht werden, so dass sie sowohl die Forderungen der Freiheit als auch die der Gleichheit erfüllen». John Rawls entwirft in seiner Konzeption der «Gerechtigkeit als Fairness» Grundsätze, die der Idee demokratischer Bürger als freien und gleichen Personen adäquat sind. Seine Gerechtigkeitskonzeption, zumal sie real und utopisch zugleich scheint, plädiert dafür, dass die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit sich auf die Grundstruktur einer Gesellschaft beziehen müssen. Das heisst, die sozialen Institutionen müssen in der Lage sein, Grundrechte und -pflichten sowie deren Früchte und Lasten gerecht zu verteilen. In diesem Sinne ist die soziale Gerechtigkeit die «erste Tugend sozialer Institutionen». Die gesellschaftlichen Ungleichheiten werden zugelassen. Sie sind jedoch allein dann gerechtfertigt, wenn sie für den am wenigsten Begünstigten von Vorteil sind.


utopie

Mit Bibel und Pragmatismus gegen Armut und Ungleichheit Die Befreiungstheologie Lateinamerikas blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Mit ihrem Anliegen einer gerechteren Welt gewinnt sie zunehmend auch an realpolitischem Einfluss. Von Franz-Xaver Hiestand In den letzten Jahren wählte das Volk in mindestens drei lateinamerikanischen Staaten Präsidenten, die von der Befreiungstheologie stark beeinflusst sind: Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien (2002), Raffael Correa in Ecuador (2007) und Fernando Lugo in Paraguay (2008). Während die katholische Kirche bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts häufig als Bremserin gesellschaftlicher Entwicklungen galt, vertreten die drei Präsidenten einen anderen, progressiven Katholizismus. Dieser hat sich von Grossgrundbe­ sitzern und traditionellen, konservativen Eliten gelöst und spricht sich gegen die bestehenden Formen der Unterdrückung und die verbreiteten oligarchischen Machenschaften aus. Vor allem prangert er nicht mehr nur individuelle Verfehlungen, sondern auch strukturelle Ungerechtigkeiten an.

Die Befreiungstheologie hat europäische Wurzeln Basis dieses Katholizismus ist die in Lateinamerika entwickelte Theologie der Befreiung. Diese entstand in verschiedenen lokalen Basisgemeinden, die seit den 1960er Jahren vorwiegend in den ärmeren Ländern Süd- und Mittelamerikas gegründet wurden. Gründungsmitglieder der Gemeinden waren häufig in Europa ausgebildete Lateinamerikaner oder europäische Missionare, die sich mit ihrer Regierung zerstritten hatten. Ihnen schlossen sich landlose Bauern, Slumbewohnerinnen, Analphabetinnen und Landarbeiter an, die ihre Probleme mithilfe der Bibel zu bewältigen versuchten. Die Leiterinnen und Leiter solcher Basisgemeinden – zunehmend auch einfache Leute aus den jeweiligen Orten – wurden in regionalen Zentren und kirchlichen Universitäten weitergeschult. Ihre theologischen Lehrer verstanden sich als «Stimmen der Armen». Dabei bezogen sie sich auf die prophetischen Traditionen des Ersten und des Neuen Testaments; insbesondere auf das Buch Exodus, das die Befreiung des Volkes Israel von Ägyptern schildert. Entscheidende Impulse verliehen dieser Theologie zunächst der Brasilianer Leonardo Boff (*1938) und der Peruaner Gustavo Gutiérrez (*1928). Deren 1971 erschienenes Grundlagenwerk «Teología de la liberación» gab der theologischen Bewegung ihren Namen.

Jon Sobrino ist ein Exponent der Befreiungstheologie.

Später orientierten sich auch Nicht-Katholiken an der Befreiungstheologie. Zum Beispiel die der Methodistischen Kirche angehörige Elsa Tamez, die 1950 in Mexico geboren wurde und heute in Costa Rica doziert.

Handeln, nicht nur denken! Das vorrangige Ziel der Theologie der Befreiung ist nicht die Orthodoxie, sondern die Orthopraxis: Sie will die Menschen nicht lehren, das Richtige zu glauben, sondern die Fähigkeit vermitteln, richtig zu handeln. Entsprechend werden die biblischen Botschaften vom Auszug aus Ägypten (im Ersten Testament) und von der Auferstehung Jesu Christi (im Neuen Testament) als Geschichten gelesen, in welchen Gott die Menschen aus der Sklaverei und vor dem Tod befreit. Die Befreiung wird als zentrales Motiv vieler Schlüsseltexte der Bibel erkannt; und diese Botschaft Gottes richtet sich nach befreiungstheologischem Verständnis insbesondere an die Armen und Unterdrückten.

Literatur ELLACURIA Ignacio und SOBRINO Jon (1995/96). Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung. Luzern: Exodus. GREINACHER Norbert (1990). Leidenschaft für die Armen. Die Theologie der Befreiung. München: Piper Verlag. GUTIERREZ Gustavo (1992). Theologie der Befreiung. Mainz: Matthias Grünewald.

Bilder Jesuitenmission Zürich

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Franz-Xaver Hiestand SJ ist Jesuit und demnächst Leiter der katholischen Universitätsgemeinde Zürich (aki).

1989 massakrierte die Armee mehrere Befreiungstheologen in El Salvador.

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Lichte des Glaubens betrachten wir den sich immer mehr auftuenden Abgrund zwischen Reichen und Armen als ein Ärgernis und einen Widerspruch zum Christsein. Der Luxus einiger weniger wird zur Beleidigung für das grosse Elend der Massen. Die Tatsache läuft dem Plan des Schöpfers zuwider und ist gegen die Ehre gerichtet, die wir ihm schulden. In diesen Ängsten und Schmerzen sieht die Kirche eine soziale Sünde, die umso schwerer wiegt, da sie in Ländern begangen wird, die sich katholisch nennen und die Fähigkeit haben, dies abzuändern.»

Utopie des marxistischen Christentums Als schliesslich Ende 1979 in Nicaragua erstmals Christen und Marxisten gemeinsam die Regierung bildeten, richteten sich die Hoffnungen vieler lateinamerikanischer Christen auf dieses kleine Land. «Endlich würde sich das Reich Gottes konkretisieren», dachten manche von ihnen. Sie hofften, dass bald weitere Länder Nicaraguas Beispiel folgen würden. Es schien, als liesse sich die Utopie einer friedlichen politischen und gesellschaftlichen Umwälzung durch das Zusammenwirken von Christen und Marxisten endlich realisieren. Doch die Revolution stockte; einerseits, weil die USA unter Ronald Reagan der befreiungstheologischen Bewegungen fortwährend entgegenzuwirken versuchte, andererseits, weil auch der Vatikan die theologische Neuauslegung und somit Nicaraguas neue Regierung bekämpfte. Nach vielen, teils selbstverschuldeten Rückschlägen liess spätestens der Fall der Berliner Mauer 1989 den anfänglichen Enthusiasmus dieser Theologie erlahmen. Beispielhaft zeigt sich dies am Schicksal des spanischen Theologen Jon Sobrino. Als 20-jähriger in El Salvador angekommen, habe er die Salvadorianer zu Europäern machen und ihnen europäische Tugenden vermitteln wollen, erzählte der Baske einmal – «und dann haben die Armen mir geholfen». Er lernte, als Wegweiser seiner Arbeit nicht nur die Bibel zu berücksichtigen, sondern sich gleichermassen an den realen Umständen zu orientieren und kontextorientierte Lösungen zu verfolgen – ein Vorhaben, das im bürgerkriegsversehrten El Salvador der 1970er Jahre besonders dringend schien. Sobrino wollte die Mysterien des Christentums den armen und unterdrückten Menschen zugänglich machen, zudem aber auch ihre Erfahrungswelt berücksichtigen, um neue Lehren auszuarbeiten. Theologisches Denken verstand er als umsichtigen Prozess, der die Zeichen der Zeit, neue Ansätze und Ideen mitberücksichtigte. Und was er wahrnahm, musste er in neue Sprache fassen; traditionelle Begriffe verhinderten eine zeitgemässe Auseinandersetzung. So bearbeitete er klassische theologische Themen wie «Schuld», «Tod», «Auferstehung» oder «Schöpfung» neu und fasste sie in eine Sprache, die andere Bilder und Metaphern enthält als die ur-

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Autor

«Auferstehung» und «Erlösung» werden demnach nicht ausschliesslich als geistig-individuelle Prozesse verstanden, sondern als revolutionäre Veränderung, welche eine spirituelle, sozialpolitische und ökonomische Dimension besitzt. Das biblische «Heil» bezieht sich nicht nur auf das Jenseits, sondern gleichermassen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit im «Hier und Jetzt». Also beginnt auch das «Reich Gottes» (ein weiterer befreiungstheologischer Schlüsselbegriff), von dem Jesus so oft spricht, bereits im Diesseits. Auf die Realität der Armen in den Slums übertragen bedeutet dies, dass nach Gottes Wille alle Menschen unter menschenwürdigen Bedingungen leben sollen und jeder aufgerufen ist, die biblischen Erzählungen entsprechend auf seine Situation zu übertragen. Durch die zunehmenden Gegensätze zwischen Reichen und Armen und der Reformbekundungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) schlossen sich immer mehr lateinamerikanische Bischöfe dieser Theologie an. Weltbekannt wurden dabei der brasilianische Bischof von Recife, Hélder Câmara (1909-1999) und der mexikanische Bischof von Chiapas, Samuel Ruíz (*1924). In bis dahin unbekannter Schärfe verurteilte beispielsweise die dritte Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe 1979 das kapitalistische Wirtschaftssystem: «Im


Ein Grabstein erinnert an die ermordeten Jesuiten.

1989 entkam er einem Attentat auf seinen Jesuitenorden nur knapp. Sechs seiner Gefährten, darunter mit Ignacio Ellacuria der philosophische Kopf der Befreiungstheologie, wurden von einem Kommando der salvadorianischen Armee erschossen.

Motor des gesellschaftlichen Wandels Wenngleich sie an Glanz verloren hat, ist die Theologie der Befreiung heute nach wie vor einflussreich – Lula, Correa und Lugo sind Indizien dafür. Einig sind sich Politologen und Soziologen auch darin, dass die Theologie mit ihrer Kritik und ihren Vorschlägen zur Behebung sozialer Missstände wesentlich zum gesellschaftlichen Wandel in mehreren Ländern Lateinamerikas sowie zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Prozesse und Institutionen beigetragen hat. Offen bleibt aber ihre Forderung, wonach sich die Katholische Kirche weltweit primär am Schicksal und der Not der Armen orientieren soll.

utopie

sprüngliche, stark europäisch gefärbte Theologie. Es war für ihn Ausdruck intellektueller Redlichkeit, auch politische Ungerechtigkeiten beim Namen zu nennen. Dies brachte ihn in Verdacht, Marxist zu sein. Viele konservative lateinamerikanische Bischöfe kritisierten ihn scharf und erteilten ihm ein Auftrittsverbot. Als der damalige Kardinal Josef Ratzinger 1984 die Befreiungstheologie anprangerte, wurde Sobrino mehrmals als einer ihrer Exponenten genannt.

KOLUMNE

Die peruanische Realutopie Wer sich schon einmal während der Rushhour durch den Stossverkehr der 7-Millionenstadt Lima mit seinen Unmengen an Taxis, Bussen und Personenwagen bewegt hat, versteht sofort, dass sich im öffentlichen Verkehr etwas ändern muss. Das hat auch der amtierende peruanische Präsident Alan Garcia erkannt und deshalb den «tren electrico» initiiert: eine Strassenbahn. Er konnte mithilfe eines weichen Kredits der italienischen Regierung eine Finanzierung von 26 Millionen Dollar auf die Beine stellen und begann mit dem Bau. Nur: dies alles ist nicht in der aktuellen Amtszeit seit 2006 geschehen. Nein, das war in Garcias erster Amtszeit von 1985-1990. Danach kam die Ära Fujimori, welche 2001 durch die Regierung Toledo abgelöst wurde. Während all dieser Jahre wurde das Projekt aus Zweifeln an der Machbarkeit und wegen angeblicher Korruption nicht weiterverfolgt. Heute gilt es als Symbol für die Ineffizienz des Staates. Nicht, dass die Utopie nicht realisierbar gewesen wäre: Die bereits gebauten 9,8 Kilometer zwischen den dicht bevölkerten Distrikten Villa el Salvador und San Juan de Miraflores im südlichen Teil Limas bilden eine gewaltige, teilweise auf Pfeilern stehende Betonruine mitten in der Stadt, welche als Untergrund für Malereien, Graffiti, als öffentliche Toilette und zu vielem mehr dient. Dass ein öffentliches Verkehrssystem Not tut, haben in der letzten Zeit auch die Bürgermeister bedeutender Geschäftsbezirke Limas erkannt und ein Projekt zur Schaffung eines Netzes von festinstallierten Bussen – genannt «El Metropolitano» – in Angriff genommen, welches zum Beispiel im kolumbianischen Bogota bereits besteht. Auch der bereits als Machbarkeits-Utopie in die Geschichte Perus eingegangene «tren electrico» ist mit der Vergabe des Bauauftrags für weitere 21 Kilometer zu 410 Millionen Dollar wieder näher an die Realität gerückt – wohl nicht zuletzt dank dem grossen Eifer Garcias und den im Jahr 2011 anstehenden Wahlen. Ein brasilianisch-peruanisches Konsortium soll das Projekt deshalb in 18 Monaten – rechtzeitig zum Ende der Amtsperiode Garcias – fertigstellen. Man wird sehen, ob die Nahverkehrssysteme tatsächlich Realität werden. Es ist aber klar, dass ein limeñer Verkehrssystem letzten Endes doch eine realisierbare Utopie ist – insbesondere im Vergleich zur Realisierbarkeit der Utopien, welche 2009 in Kopenhagen diskutiert worden sind.

Kolumnist Redaktor Antonio Danuser (29) aus Zürich studierte Politikwissenschaft, Völkerrecht sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Zürich.

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Unort Facebook Utopien gelangen nur in der Form von Heterotopien in die Wirklichkeit. Dort tummeln sich dann Rebelinnen, Aussenseiter und Träumer – so wie in Social Networks? Von Stefanie Heine Im März 1967 hielt der französische Philosoph Michel Foucault eine Vorlesung mit dem Titel «Andere Räume». Darin bemerkt er, dass die grösste Obsession des 20. Jahrhunderts in der westlichen Welt den Raum betrifft. Wir sprechen von Lebensraum, öffentlichem Raum, kulturellem Raum und so weiter. Für Foucault ist zentral, dass all diese Räume miteinander in Verbindung stehen in der heutigen Zeit. Dabei unterscheidet er zwischen zwei räumlichen Hauptkategorien. Die erste davon ist die Utopie. Utopien sind keine echten Orte, sie stellen vielmehr eine Umkehrung der gegenwärtigen Gesellschaft oder eine perfektionierte Form derselben dar. Dagegen stellt Foucault eine zweite Raumkategorie, die er Heterotopie nennt.

Verfall assoziierten Verstorbenen sollen möglichst weit weg sein. Das dritte charakteristische Merkmal einer Heterotopie ist, dass sie Räume verbindet, die inkompatibel sind. Das Theater zum Beispiel verbindet unzusammenhängende Schauplätze, und

Räume zwischen Realität und Fiktion

FOUCAULT Michel (1967). Of Other Spaces. http://foucault.info/ documents/heteroTopia/ foucault.heteroTopia. en.html ÅSDAM Knut (1995). Heterotopia – Art, pornography and cementries. http://www. knutasdam.net/Texts/ HeterotopiaKAsdam.pdf LAMMES Sybille (2007). The Internet as Non-Place. http://www. mediaengager.com/ spacesofnewmedia.pdf HODKINSON Tom (2008). With friends like these… http://www.guardian. co.uk/technology/2008/ jan/14/facebook

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Drei Dimensionen auf der Leinwand Was sind nun aber die Merkmale der so genannten anderen Räume, und wie erkennt man eine Heterotopie? Foucault nennt sechs Kriterien, die für Heterotopien typisch sind. Das erste davon besagt, dass Heterotopien in allen Gesellschaften vorkommen. Zweitens können Heterotopien ihre Funktion im Zuge von gesellschaftlichem Wandel verändern. Hier dient der Friedhof als Illustration. Während Friedhöfe bis zum 19. Jahrhundert als heilige Orte sich mitten im Dorf oder der Stadt befanden, wurden sie später in die Aussenquartiere verlegt. Mit dem Dahinschwinden von Jenseitsvorstellungen wird der Tod zur Bedrohung, die mit Krankheit und

Motels sind heterotopische Räume.

das Kino präsentiert einen dreidimensionalen Raum auf einer zweidimensionalen Leinwand. Gärten und Teppiche stellen oft Mikrokosmen dar und geben den Anschein, alle Aspekte der Welt zu vereinen. Ähnlich wie beim räumlichen Aspekt versammeln sich in der Heterotopie auch verschiedene Zeit­ ebenen. In Museen und Bibliotheken zum Beispiel finden sich Dinge aus allen möglichen Epochen am selben Ort. Während diese beiden Orte konservierend sind und darum auf die Ewigkeit ausgerichtet, gibt es Heterotopien, die Vergänglichkeit zelebrieren. So finden gewisse Festivals nur über eine limitierte Zeitperiode statt und Feriendörfer bieten die absolute Erholung für höchstens drei Wochen an. Das fünfte Prinzip der Heterotopie besagt, dass sie sich ständig öffnet und schliesst. Diese «anderen Orte» sind weder völlig öffentlich zugänglich noch unbetretbar. Für den Einlass sind entweder gewisse Riten, Erlaubnisse oder Befehle notwendig, oder

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Literatur

Im Gegensatz zu Utopien haben diese Heterotopien einen Platz in der Realität, auch wenn sie inhaltlich ähnlich sind. Sie sind also Utopien, die in der Wirklichkeit existieren. Als erstes Beispiel zur Veranschaulichung von Heterotopien nennt Foucault den Spiegel. Spiegel sind utopisch in dem Sinne, dass sie keinen Ort haben. Mein Spiegelbild bin nicht ich, ich sehe mich dort, wo ich eigentlich nicht bin. Gleichzeitig ist der Spiegel selbst aber nicht virtuell, ich kann ihn anfassen und fühlen. Diese «anderen Orte» zwischen Realität und Virtualität teilt Foucault wiederum in zwei Gruppen auf. Es gibt einerseits Heterotopien, die Raum bieten für Menschen, die sich in einer gesellschaftlichen Krise befinden wie Jugendliche, menstruierende oder schwangere Frauen oder alte Leute. Andererseits bieten Heterotopien Zuflucht für Menschen, die von der Norm abweichen. Beispiele dafür sind Gefängnisse und psychiatrische Kliniken.


Unendliches Meer Internet Foucaults Konzept der Heterotopie fand unmittelbar grossen Anklang. Besonders die Kultur- und Kunstwissenschaften fanden Gefallen an dem Begriff. Von zahlreichen Kritikern wird Kunst allgemein als heterotopisch charakterisiert, und Künstler selbst schaffen in ihren Werken bewusst Heterotopien. In Romanen und Filmen wird nach heterotopischen Schauplätzen Ausschau gehalten. Aufgrund ihres subversiven Potentials wird die Heterotopie zum Schlagwort der Queer-Bewegung, die darin einen Heimatort für ihre sexuelle Vielfalt und Abweichung sieht. Exil und Migration werden oft anhand des Heterotopien-Modells untersucht. Architekten sehen in der Heterotopie einen Bauplan für ihre Visionen. Auch die von Foucault selbst geforderte Heterotopologie wird bis heute rege praktiziert, und neue Heterotopien der gegenwärtigen Gesellschaft werden unter die Lupe genommen: von Flughäfen über Pornographie bis zum Parkhaus. Dabei ist es nicht erstaunlich, dass in unserer Cybergesellschaft das von Technostalgiern verschriene Internet als Heterotopie identifiziert wird. So beschreibt zum Beispiel die Medienwissenschaftlerin Sybille Lammes von der Universität Utrecht das Internet als Nicht-Ort. Das Netz ist eine virtuelle Landschaft, die selbst keine Identität hat und nur auf Verbindungen basiert. Allerdings ist es zugänglich über ein materielles Objekt, den Computer. Auch die instabile und dynamische Natur des Internets lädt zum Vergleich mit einer Heterotopie ein. Die Metapher «im Internet surfen» bildet eine Analogie zur Foucault’schen Heterotopie par excellence, dem Schiff. Denn genauso wie ein Surfer hat das treibende Stück Raum des Schiffes keinen Ort und ist doch in sich abgeschlossen. Gleichzeitig passt es sich dem unendlichen Meer an und tritt aktiv in Verbindung mit ihm. Dies macht auch für den norwegischen Künstler Knut ­Åsdam das Internet zum neuen Heterotopien-Paradigma: ein gleitender Raum, der in sich abgeschlossen und doch veränderbar in Relation zu seinem Umfeld ist. Allerdings unter Vorbehalten. Er sieht das Netz nämlich nicht als subversiven Ort sondern,

utopie

der Zutritt ist limitiert. Ins Gefängnis kommen wir nur gezwungener Weise, vor der Sauna muss man sich duschen, und in Hotelzimmern sind wir zwar Gäste, wohnen dort allerdings nicht. Das sechste Merkmal besagt, dass Heterotopien eine Funktion in Bezug auf den Rest des gesellschaftlichen Raumes haben. Entweder sie dekonstruieren sich selbst als Illusion und zeigen dadurch, dass alles ausserhalb noch unechter ist. Im Bordell wird eine Scheinwelt präsentiert, die aber gleichzeitig den Scheincharakter der echten Beziehung oder Ehe freilegt. Andererseits können Heterotopien auch als Kompensation zur wirren Wirklichkeit fungieren. Eine perfekte und geordnete Welt stellten zum Beispiel zeitweise Kolonien wie die der Puritaner in Amerika dar.

als von Ideologien durchtränkte Reproduktion des liberalen Kapitalismus.

Überwachung und Subversion Eine besondere Heterotopie innerhalb des Internets ist das umstrittene Netzwerk Facebook. Es mag auf den ersten Blick kontraintuitiv erscheinen, Facebook mit dem von Foucault stets positiv bewerteten Konzept der Heterotopie in Verbindung zu bringen. Im Fall von Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten war Foucault natürlich nicht den Institutionen, sondern den Insassen gut gesinnt. Facebook hingegen erscheint als Mikrokosmos eines Foucault‘schen Überwachungsstaates. In einem Artikel der britischen Tageszeitung «The Guardian» beschreibt der Schriftsteller und Publizist Tom Hodkinson Facebook als wahrgewordenen orwellschen Alptraum. Facebook-User vereinsamen mit ihren 200 unechten Freunden, werden permanent überwacht, infiltriert, von Werbung bombardiert, die sich in Fleisch und Blut einnistet, ertrinken in Eitelkeit und Selbstgefallen und werden zu kapitalistischen Maschinen manipuliert. Wer die weise Entscheidung trifft, sich von Facebook wieder abzumelden, muss erkennen, dass seine Daten gespeichert und für immer für die CIA sichtbar bleiben. Eine heterotopische Sicht erlaubt es Facebook allerdings, sich mit einem hübscheren Gesicht zu zeigen. Alle von Foucaults heterotopischen Prinzipien treffen

Die Parkgarage – ein Nicht-Ort.

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Foucault selbst hat mehrere Tausend Fans auf Facebook.

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allerdings gibt es eine Verschiebung im Vergleich mit Foucaults ursprünglicher Idee. Es sind nicht die Aussenseiter der Gesellschaft, die sich in der Krise befinden, sondern die Gesellschaft als Ganze. 350 Millionen Menschen nutzen Facebook – bei dieser Heterotopie kann es sich um keinen Ort für Minderheiten handeln. Vielmehr ist die Abweichung eine, die alle betrifft. In Bezug auf Altersheime erwähnt Foucault, dass alte Menschen von Normen abweichen, weil sie in einer Gesellschaft der Freizeitbeschäftigung träge und untätig sind. Auf Facebook wird Untätigkeit und Unproduktivität zelebriert – von Tausenden, stundenlang. Es mag sein, dass Foucaults subversive Faulheit zum Mainstream geworden ist. Allerdings steht sie sicher nicht mit einer kapitalistischen «fitter, happier, more productive»Mentalität in Einklang, von der Facebook, wie Hodkinson meint, scheinbar infiziert ist.

Tschau Minarett und Feminismus Dass sich Facebook in seiner gesellschaftlichen Funktion verändert hat, ist keine Frage. Was 2004 als Internetplattform für Harvard-Studenten zur Bildung und Unterhaltung sozialer Netzwerke errichtet wurde, ist heute ein weltweiter Raum zur Freizeitgestaltung geworden. Auch ist es offensichtlich, dass Facebook inkompatible Räume verbindet. Facebook bringt durch Links den zweidimensionalen Raum des Bildschirms mit der Abbildung eines dreidimensionalen Raumes eines Videos oder mit Musik zusammen. Unvereinbar scheinen auch die vielen verschiedenen Interessengruppen zu sein, die auf Facebook versammelt sind. Nebeneinander tummeln sich die Gruppen «Tschau Minarett» und «Ich schäme mich für das Resultat der Minarett-Initiative», die «Jungen Atheisten» und die «Katholische Kirche», «Militanter Feminismus» und die «Men’s Right Bewegung gegen Feminismus», «Marx­­ismus» und «Kapitalismus» und so weiter. Beinahe zu allen denkbaren Interessen, politischen Ausrichtungen, Lebenseinstellungen und Meinungen kann man Gruppen finden. Entgegen Hodkinsons Warnung, dass Facebook ausschliesslich im Dienste des Kapitalismus steht, kann man sich auf der Website für alternative Energie einsetzen oder einer der zahlreichen Anti-Kapitalismus-Gruppen beitreten. Ironischerweise hat zum Beispiel die Gruppe «Systemrelevante Absurditäten im Kapitalismus» 297 Mitglieder, während «Kapitalismus rockt» nur 116 Fans hat. Big Brother Facebook mag dich zwar beobachten, zensurieren tut er allerdings nicht. Zumindest lässt er eine Gruppe zu für Leute, die gegen Facebook sind. Facebook kann als Heterotopie im Sinn eines «ungleichen» Raums gesehen werden. Es lässt am selben Ort verschiedene Positionen koexistieren, ermöglicht den Austausch über diese und kann deshalb auf keine von ihnen festgelegt werden. Ähnlich wie in der Bibliothek kommen auf Facebook auch verschiedene Zeitdimensionen

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auf Facebook zu. Die Registrierungspflicht macht Facebook zu einem unter Einschränkungen zugänglichen Ort. Einerseits ist die Website klar ein unrealer Raum, in dem auf virtuellen Bauernhöfen zweidimensionale Kühe gezüchtet werden, Drinks spendiert werden, die weder den Durst löschen noch betrunken machen, und Mafiakriege geführt werden, bei denen kein Blut fliesst. Auch kreiert der User zu einem gewissen Grad eine fiktionale Persönlichkeit. Denn die Freigabe von Fotos, Posts und Informationen ermöglicht eine gut kontrollierbare Darstellung des Selbst. Andererseits ist wie beim Spiegelbild die Wirklichkeit nicht weit. Nicht nur der Bildschirm des virtuellen Schauplatzes ist real. Denn Ereignisse im virtuellen Raum haben durchaus handfeste Konsequenzen in der Realität: die Freundin beendet die Beziehung, wenn ein heisser Flirt dummerweise auf der für alle sichtbaren Pinnwand stattfindet. Aus dem sonst vermutlich für immer verschollenen Unbekannten aus dem Pub wird dank dem Facebook-Chat die grosse Liebe. Man verliert den Job, weil man trotz angeblicher Krankheit den ganzen Tag lang mit diversen Aktivitäten Spuren auf Facebook hinterlassen hat. Hodkinsons Guardian-Artikel zeigt, dass Facebook als Emblem einer Gesellschaft in der Krise gesehen wird. Es ist also durchaus eine Krisen-Heterotopie,


Die Illusion von Spass soll bei Facebook durch Beitritte zu allerlei lustigen Gruppen entstehen.

zusammen. Über Pages, Gruppen und Links kann man sich mit historischen Persönlichkeiten vernetzen und Bezüge zu längst vergangenen Begebenheiten herstellen. Auch die nicht-konservierende zeitliche Ebene lässt sich auf Facebook finden. Die Website verändert sich laufend, es erscheinen neue Posts, andere verschwinden, Leute melden sich an und ab, Gruppen entstehen und werden wieder aufgelöst.

Illusion «wahre» Freunde Es bleibt abzuklären, ob Facebook dem sechsten Heterotopie-Prinzip gerecht wird, also die für Heterotopien spezifische Funktion für die Gesellschaft übernimmt. Dass Facebook zumindest teilweise den Charakter einer Illusion hat, ist unbestreitbar. Die «Freunde», die man einmal im Leben für zwei Stunden gesehen hat, sind wohl tatsächlich nicht echt, und die sozialen Kontakte sind oftmals auf den Bildschirm limitiert. Aber macht diese Gegebenheit auch eine gesellschaftliche Illusion sichtbar? Selbstdarstellung und das Bedürfnis, möglichst viele soziale Kontakte zu haben, von denen oftmals nur wenige als «wahre Freunde» durchgehen, sind durchaus Phänomene der «wirklichen Welt». Kom-

pensatorisch ist Facebook auf jeden Fall: Es ist eine wohlgeordnete, übersichtliche Welt, in der man alle Freunde gleichzeitig auf zirka 40 mal 25 Zentimetern im Auge hat. Viele Kulturkritiker würden Facebook sicherlich nicht als Heterotopie bezeichnen. Sie würden das Fehlen eines subversiven Potentials bemängeln und auf die Massenkompatibilität von Facebook hinweisen. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Website auch subversive Handlungen ermöglicht. Man denke nur an Flashmobs oder die Organisation von Protesten und Demonstrationen via Facebook. Dass jedermann und -frau auf Facebook zu finden ist, nicht nur Abweichende und Andere, schliesst nicht aus, dass die Letzteren dort ihre Nischen finden. Vielleicht wird Facebook genau dadurch, dass es nicht auf den ersten Blick als Heterotopie erscheint, Foucaults Konzept gerecht. Dieses ist sehr offen definiert und wurde in der Konsequenz auf alles Mögliche angewendet. Dass Facebook allen Kriterien entspricht und gleichzeitig nicht als typische Heterotopie gehandelt wird, ist entweder eine Schwäche des Modells oder aber ein Hinweis darauf, dass Foucaults Heterotopie-Konzept mehr zu erklären vermag, als bisher angenommen.

Autorin Redaktorin Stefanie Heine (26) aus Zürich studierte Anglistik, Philosophie und Komparatistik. Sie ist nun Doktorandin in englischer Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Universität Zürich.

Bilder 1. & 2.: flickr.com 3. & 4.: Urs Güney

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Atlantropa – Ein neuer Kontinent Der Ingenieur Herman Sörgel entwickelte um 1926 den Plan, Europa und Afrika durch gigantische Staudammprojekte zu vereinen. Eine ebenso faszinierende wie erschreckende Vision.

SÖRGEL Herman (1932). Atlantropa. Zürich und München: Fretz & Wasmuth A.G. und Piloty & Loehle. GALL Alexander (1998). Das AltantropaProjekt. Die Geschichte einer gescheiterten Vision. Herman Sörgel und die Absenkung des Mittelmeers. Frankfurt/M: Campus Verlag.

Mit Wasserkraft gegen Kohlemangel

LUEF Wolfgang (2006). «Weltbauen gegen den Untergang.» In: Datum. Seiten der Zeit 04/06. Online im Internet: http:// www.datum.at/0406/ stories/1905573 VOIGT Wolfgang (1998). Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne. Hamburg: Dölling und Galitz. Atlantropa-Website der TU Darmstadt mit Visualisierungen des Projekts: http://www.cad. architektur.tu-darmstadt. de/atlantropa/startseite. html

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Am Anfang des Projekts «Atlantropa» steht die Suche nach alternativen Energien: «Durch die Strasse von Gibraltar allein fliessen in jeder Sekunde 88‘000 Kubikmeter Wasser, das sind so viel wie zwölf Niagarafälle.» Zu diesem Schluss kommt Herman Sörgel, nachdem er sich intensiv mit dem Wasserhaushalt des Mittelmeers auseinandergesetzt hat. Angeregt werden seine Überlegungen nicht zuletzt von H. G. Wells’ populärwissenschaftlicher Darstellung der Entstehung des Mittelmeers «The Outline of History», die der Münchner Ingenieur 1926 gelesen hatte. Die immense Verdunstung an der Wasseroberfläche in der warmen Klimazone könne unmöglich nur von den spärlichen Zuflüssen vom Land her und von den jährlichen Niederschlägen ausgeglichen werden. Das Mittelmeer wird also durch einen steten Einstrom aus dem Atlantik und in geringerem Ausmass von einem Wasserüberschuss des Schwarzen Meeres genährt. Die Energie dieses Wassers ungenutzt zu lassen, kommt für Sörgel einer gewaltigen Verschwendung gleich, wo doch schon abzusehen ist, dass die Kohlereserven Europas nicht unendlich sind. Aus diesen Überlegungen

entsteht die Idee des Gibraltardammes. In einem asymmetrischen, in den Atlantik vorgelagerten Bogen folgt er der seichtesten Stelle der Meerenge zwischen Afrika und Europa auf einer Länge von 35 Kilometern. Die 100 Meter breite Dammkrone ruht auf einem Fundament von mindestens 1600 Metern Breite am Meeresgrund. Das Material für die Aufschüttung des Dammes, der an den tiefsten Stellen bis 300 Meter unter die Meeresoberfläche reicht, wird der Südspitze der Iberischen Halbinsel entnommen. Dafür müsste das Gebirge bei der Strasse von Gibraltar mitsamt dem Städtchen Tarifa abgetragen werden. Der Gibraltardamm ist das technisch anspruchvollste Bauwerk des ganzen Projekts. Dennoch veranschlagt Sörgel für dessen Errichtung eine Bauzeit von nur zehn Jahren. Diese Eile liegt darin begründet, dass die Arbeiten am westlichen Ende des Kontinents das Tempo für die Umsetzung des Gesamtplans vorgeben. Denn mit dem Damm könnte der Zufluss an Wasser aus dem Ozean unterbunden werden, der zu weiten Teilen die Oberflächenverdunstung des Mittelmeers kompensiert. Der Wasserspiegel des Mittelmeers lässt sich so um bis zu 1,1 Meter pro Jahr absenken. Dadurch entsteht ein sukzessiv wachsender Niveauunterschied. Bereits kurze Zeit nach dem Dammbau will Sörgel anfangen, diesen für die Stromerzeugung zu nutzen.

250 Jahre nach dem ersten Spatenstich Ein zweiter, etwas weniger aufwändiger Damm ist an den Dardanellen nötig, denn das Schwarze Meer soll nicht abgesenkt werden. Allerdings darf das Wasser hier nicht aufgestaut werden, sonst tritt das Schwarze Meer über seine Ufer. Deshalb planen Sörgel und seine Ingenieure einen Stichkanal bei Gallipoli mit einem Kraftwerk und Schleusen für den Schiffsverkehr. Nach etwa 100 bis 120 Jahren schliesslich ist die Zeit reif für ein drittes Grossprojekt. Dann wird der Meeresspiegel rund 100 Meter unter dem heutigen Niveau liegen. Der Bau des Tunisdamms, der das Mittelmeer in ein östliches und ein westliches Becken teilt, beginnt. Während die Senkung im Westbecken bei 100 Metern beendet wird, soll in den folgenden rund 130 Jahren der Wasserspiegel im Ostbecken um weitere 100 Meter reduziert werden. Wieder entsteht ein Potential, das Grosskraftwerke auf der Dammkrone

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Literatur

Von Urs Güney In Amsterdam, Berlin oder Zürich den Zug besteigen und ohne Umsteigen bis nach Kapstadt fahren? Ein Kanal über den Splügen nach Genua als Verbindung von Rhein und Mittelmeer? Dies sind nur Randnotizen einer Vision: Das Atlantropa-Projekt sollte nicht nur einen neuen Kontinent erschaffen, sondern zugleich Frieden und Wohlstand sichern. Dafür wäre das Mittelmeer um bis zu zweihundert Meter abgesenkt und weite Teile Afrikas geflutet worden. Nach dem Tod des «Weltbaumeisters» Herman Sörgel 1952 gerieten dessen Pläne langsam in Vergessenheit. Mit atemberaubenden Animationen werden sie in den Medien nun aber zu neuem Leben erweckt. Zweifellos üben Dimensionen und Komplexität dieser Bauutopie aus den 1920er Jahren eine grosse Faszination aus. Der ungebrochene Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten der Technik und die Ausdauer eines Erfindergeistes bieten Stoff für packende Geschichten. Dabei geht allerdings manchmal vergessen, dass das Vorhaben nicht nur gigantisch, sondern eigentlich monströs war.


Europa – ein überkochender Kessel Als Utopist will sich Herman Sörgel, der die Idee entwickelt, das Mittelmeer um bis zu 200 Meter abzusenken, nicht verstanden wissen. Immer wie-

utopie

und bei Messina in Strom umwandeln. Und zugleich ist der Tunisdamm – ein Bauwerk von 66 Kilometern Länge – Hauptverkehrsader des neuen Kontinents: Vier Gleise für die Bahnlinie Berlin-Rom-Kapstadt, vier getrennte Fahrbahnen für Personen- und Lastautos in beide Fahrtrichtungen sowie ein Weg für Fussgänger sollen auf dem 50 Meter breiten Damm Platz finden. Rund 250 Jahre nach dem ersten Spatenstich bei Gibraltar ist die Mittelmeersenkung dann vollendet. Die Kraftwerke an den drei grossen Staudämmen werden ergänzt durch zahlreiche kleinere, die während der Absenkungsperiode zu errichten sind: am Suezkanal, an der Rhone und am Ebro. Nicht zu vergessen sind auch die Adriawerke. Sie alle zusammen bilden ein «Grosskraftnetz», das ganz Europa und Nordafrika überspannt und die bis anhin schier unvorstellbare Energieproduktion der Kraftwerke verfügbar macht. Sörgel erwartet, dass deren Gesamtleistung 150 Millionen PS erreichen wird. Davon würden 67,7 Millionen PS auf die Gibraltarwerke entfallen. Mit einer Leistung von umgerechnet rund 50‘000 Megawatt hätten also allein diese, wie der Historiker Alexander Gall in seiner Monografie über das AtlantropaProjekt erläutert, alle um 1930 bestehenden Elektrizitätswerke Europas ersetzen können.

der betont er die technische Realisierbarkeit des Projekts. Die Zahlen, die er präsentiert, stellt er als Extremwerte dar. Schon eine weit geringere Mittelmeersenkung würde handfeste Erträge liefern. Sollten sich gravierende Probleme ergeben, eine Häufung von Erdbeben und Vulkanausbrüchen etwa, könnte das Vorhaben ohne Verluste vorzeitig gestoppt werden. Theoretisch liesse sich der Dammbau sogar rückgängig machen. Nicht nur aus energietechnischen Gründen propagiert Sörgel aber eine grösstmögliche Mittelmeersenkung. Auch der zweite und ebenso wichtige Gewinn aus dem Projekt lässt sich so maximieren: Das «Neuland», das im Mittelmeerbecken auftauchen wird. Gebiete, die durch das Absenken des Mittelmeers von den Wassermassen befreit werden, eignen sich nicht nur für eine landwirtschaftliche Nutzung, sondern bieten auch Raum für neue Siedlungen. Die Geografie des Mittelmeerraumes würde sich durch das Atlantropa-Projekt grundlegend verändern: Sardinien und Korsika wachsen zu einer einzigen Insel zusammen. Die Adria trocknet fast vollständig aus. Zahlreiche Inseln in der Ägäis verschmelzen mit dem griechischen Festland. Und die Küstenlinie Nordafrikas nähert sich rasant Europa an. Ein Fläche von mehr als 570‘000 Quadratkilometern, soviel wie Frankreich und Belgien zusammen, erhebt sich aus den Fluten: neuer «Lebensraum» für Europa. Sörgel übernimmt dieses in der Weimarer Zeit populäre Konzept zur Begründung seines Vorhabens. Europa ist zu eng geworden, wie ein Kessel von

Der Gibraltardamm bildet das Herzstück des Atlantropa-Projekts.

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Verschmelzung von Europa und Afrika Die von Krieg und Krisen geschüttelte europäische Gesellschaft der Zwischenkriegszeit sehnt sich nach Visionen. Die Idee des neuen Kontinents «Atlantropa» findet deshalb schon kurz nach ihrer Lancierung breiten Anklang und zahlreiche Unterstützer. Der Luzerner Ingenieur Bruno Siegwart erweist sich als enorm wertvoll für das Projekt, denn er gilt als ausgewiesener Wasserbauspezialist. Er entwirft den Gibraltardamm und gibt wichtige Anregungen für die anderen Kraftwerkprojekte. Obwohl seine architekturästhetische Dissertation an der Technischen Hochschule in München abgelehnt wurde, gelingt es Herman Sörgel, namhafte Architekten für die Planung der Bauwerke zu gewinnen. Dabei kann er in erster Linie auf Kontakte zurückgreifen, die er als Herausgeber der Zeitschrift «Baukunst» geknüpft hat. So entwarf beispielsweise Fritz Höger, ein bedeutender Vertreter des norddeutschen Expressionismus, Pläne für das «Atlantropa-Haus», das in der Schweiz gebaut werden sollte. Dieses war nicht nur als sichtbares Symbol der neuen Organisation, sondern auch als Gegenpart zum Haus der Panamerika-Union in Washington gedacht. Letztere hatte Sörgels politisches Denken inspiriert und in ihm den Wunsch nach einer

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Verschmelzung von Europa mit Afrika geweckt. 1928 findet die Idee erstmals Eingang in die Berichterstattung der Deutschen und der internationalen Presse. Damals noch unter dem Namen «PanropaProjekt», wird das Vorhaben mit grosser Ernsthaftigkeit diskutiert und im Allgemeinen wohlwollend aufgenommen. Im folgenden Jahr tritt Sörgel mit einer eigenen Publikation an die Öffentlichkeit. Der Kreis seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter wächst. Ingenieure, Architekten, ein Regierungsbaumeister aus München, das Institut für Meereskunde der Universität Berlin und viele andere leisten einen Beitrag zur weiteren Planung. Im Dezember 1930 schliesslich öffnet in München eine Ausstellung ihre Türen, die das Projekt einem breiten Publikum präsentiert. Später wandert sie nach Essen, Hamburg und Berlin weiter. Die Idee ist inzwischen so populär geworden, dass die Zeit reif scheint für die Gründung einer «Atlantropa-Union», deren Zentrale sich in Zürich an der Hegibachstrasse 104 befindet. Doch viele Zeitgenossen sehen auch Probleme und schier unüberwindliche Schwierigkeiten, die Sörgels Vision im Weg stehen.

Marseille – 30 Kilometer bis zum Meer Was soll aus den Hafenstädten werden, was ist mit Marseille, Genua oder Algier zu tun, wenn sich das Mittelmeer dereinst kilometerweit von ihnen entfernt? Vor allem in Frankreich und Italien reagiert man mit Besorgnis auf Sörgels erste Veröffentlichungen. Deshalb nehmen die Verfechter des Projekts bald schon detaillierte Planungen in Angriff, die diese Bedenken zerstreuen sollen. Schwimmende Piers, die während der Senkungsperiode dem jeweiligen Wasserstand angepasst werden, würden den Personen- und Warenaustausch zwischen Land und Wasser gewährleisten. Für Genua entwerfen die Architekten eine neue, der Altstadt und einem künstlichen Seebecken vorgelagerte Hafenstadt. Das Stadtbild dieser Mittelmeermetropole würde dadurch eindeutig verbessert werden, meint Sörgel. Marseille, das nach der Absenkung zwanzig bis dreissig Kilometer von der neuen Küstenlinie entfernt liegt, würde an Bedeutung verlieren und hinter dem neu erschaffenen «Port du Rhone» zurücktreten. Über Kanäle wäre Marseille aber immerhin noch mit der neuen bedeutenden Hafenstadt verbunden. Und Venedig? «Dieses Kleinod muss in seinem Charakter als historisch museale Stadt unbedingt erhalten werden.» Deshalb beschliesst Sörgel kurzerhand, die Lagune mit Dämmen einhegen und in ein künstliches Meer zu verwandeln. Das Vertrauen des Ingenieurs in die Möglichkeiten der Technik ist grenzenlos: «Schliesslich (…) wird doch nur die Technik die Macht zur Initiative in sich tragen, die am meisten zur Vollendung einer friedlichen und aufbauenden, ökonomischen und beglückenden neuen Weltordnung beizutragen vermag.»

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gleich bleibender Grösse, der mit immer mehr Wasser gefüllt wird. Zusätzlich wird dieser «Europakessel» vom Feuer der Technik immer stärker beheizt. Bis es zur Explosion kommt, dem 1. Weltkrieg. Nur drei Grundfaktoren bestimmen die Weltgeschichte: Lebensraum, Bevölkerung und Technik. Die Anschaulichkeit dieser Argumentation ersetzt für Sörgel die historische Analyse. Auch die Probleme seiner Gegenwart – Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise – lassen sich in diesem Schema fassen. Bevölkerungswachstum und der verstärkte Einsatz von Maschinen führen vermehrt zu Arbeitslosigkeit, diese wiederum vermindert die Kaufkraft. Die Bevölkerungszahl lässt sich allerdings nicht künstlich klein halten oder gar reduzieren. Ebenso kann der Siegeszug der Technik nicht aufgehalten werden. Variabel in diesem Modell ist allein der Lebensraum. Eine Expansion, die weit über das Neuland im Mittelmeerbecken hinausgreift, bietet die Lösung für alle Verwerfungen der Zeit. Denn mit dem epochalen Bauvorhaben will Sörgel nicht nur die Völker Europas durch die Zusammenarbeit auf ein gemeinsames Ziel hin einen. Vielmehr sollen durch das Projekt selbst die Ursachen künftiger Konflikte behoben werden: «Europa vergeudet sich in Rüstungen, zersetzt sich in Parteien, läuft sich leer in Regierungs- und Verwaltungsformen, verzettelt sich in 40 Millionen nationaler Minderheiten, weil der nötige Überschuss an Raum fehlt. Der viel missbrauchte und noch mehr missverstandene Ausdruck ‘Kampf ums Dasein’ meint nichts anderes wie Kampf um Raum (…).»


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Dass Sörgel gerade in Stauwerken immer wieder dieses revolutionäre Potential erkennen kann, mag auch mit seiner familiären Prägung zu tun haben. Als Vorstand der obersten Baubehörde leitete bereits sein Vater den Bau eines grossen Wasserkraftwerks in Bayern. Einwände lässt der «Weltbaumeister» kaum gelten. In der 1932 erschienenen Publikation «Atlantropa», die den aktuellen Planungsstand zusammenfasst, entkräftet er alle Zweifel, die seinem Projekt bisher entgegengebracht wurden. Ein möglicher Einfluss auf Luftdruck und Witterung? Nur zum Vorteil für das «sehr verbesserungsbedürftige Klima Nordeuropas». Die Erhöhung der Salzkonzentration im Mittelmeer? Bis daraus spürbare Nachteile entstehen, werden längst schon leistungsfähige Entsalzungsverfahren entwickelt worden sein. Eine Verschiebung der Erdachse augrund der Gewichtsverlagerung erachtet er als unwahrscheinlich. Und die 350‘000 Kubikkilometer Wasser, die aus dem Mittelmeer entfernt werden und den Meeresspiegel der Ozeane um einen Meter steigen lassen? Auch hier sieht Sörgel kaum Probleme: «Wenn man (…) bedenkt, dass durch den Wasserkreislauf der Erde jährlich fast eine halbe Million Kubikkilometer, also mehr als bei Ausführung des Projekts in 200 Jahren, geht, so muss man zugeben, dass diese minimale Änderung durch Menschenhand in den ungeheuer vielfältigen und zum Teil imponderabilen Vorgängen der Natur aufgeht.» Sörgels ökologische Unbeflecktheit wirkt heute geradezu anrührend.

wirtschaftsfläche bewässern. Völlig verändert wird Nordafrika aus diesen Prozessen hervorgehen, und dennoch wirkt dies alles bescheiden im Vergleich zu späteren Phasen des Atlantropa-Projekts. Denn der afrikanische Kontinent rückt immer stärker ins Zentrum von Sörgels Überlegungen. Zunächst stehen dabei ökonomische Motive im Vordergrund. In Konkurrenz zu den anderen Erdteilen ist nur eine Wirtschaftseinheit aus Europa und Afrika überlebensfähig, weil allein die maximale Nord-SüdAusdehnung die Autarkie eines politischen Raumes sicherstellt. Um alle lebensnotwendigen Produkte in ausreichendem Mass herzustellen und den Wirtschaftskreislauf aufrecht zu erhalten, brauche es nämlich Gebiete in allen Klimazonen. Das Verhältnis von Afrika und Europa wird als Austauschbeziehung konzipiert. Afrika liefert die Rohstoffe für Europas Produktionsstätten und bietet diesen einen gigantischen Absatzmarkt für ihre Industriegüter. 1935 entsteht dann der Plan, Zentralafrika zu fluten und das Kongobecken in ein gewaltiges Meer zu verwandeln. Der Fehler früherer Kolonialmächte, den Kontinent nur von den Rändern her zu erschliessen, darf nämlich nicht wiederholt werden. Die Klimaveränderung, die durch die Anlage des Kongomeeres herbeigeführt wird, schafft bessere Lebensbedingungen für die an gemässigte Temperaturen gewöhnten Europäer. So können sie sich die

Ein rassistisches Weltbild Doch nicht nur Nordeuropa darf man dank dem Atlantropa-Projekt auf eine Wetterbesserung hoffen. In Afrika versucht Sörgel das Klima bewusst zu gestalten. Datteln, Öl, Wein und herrliche Früchte sollen in Zukunft dort angebaut werden, wo heute Wüste ist. Schon zu Beginn der Planung erhält das Konzept der «Saharabewässerung» einen zentralen Stellenwert. Darin widerspiegelt sich die Überzeugung, dass nichts als Energie fehlt, um Nordafrika in eine fruchtbare Landschaft zu verwandeln. Die Kraftwerke, die wo immer es möglich ist, entstehen sollen, werden diesen Mangel beheben. Sie liefern den Strom, der notwendig ist, um Wasser aus unterirdischen Seen zu fördern oder mit Pumpen und Kanälen aus dem Mittelmeer in die Sahara zu leiten. Das Projekt soll den Ehrgeiz der Völker in produktive Bahnen lenken: «Die Wiederbegrünung dieses Weltteils könnte die Kriegs- und Vernichtungslust der Europäer für Jahrhunderte in Aufbauarbeit umwandeln. Sie wartet, sie schreit förmlich nach zielbewusster Kolonisation.» Künstliche Seen werden in der Wüste angelegt und dienen wiederum der Energieerzeugung. Durch diese mit dem Mittelmeer verbundenen Gewässer lässt sich das Gebiet aber auch verkehrstechnisch einfach erschliessen. Und nicht zuletzt sorgen sie für regelmässige Niederschläge, die auf natürliche Weise die neue Land-

Afrika und Europa: eine ungleiche Beziehung.

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Als Gutmensch verehrt

Autor Urs Güney (30) aus Zürich studiert Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte des Mittelalters.

Bilder 1. TU Darmstadt, Prof. Manfred Koob. 2. aus: Sörgel, H. (1932) Atlantropa.

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Irritierender allerdings als dieser für die 1930er Jahre nicht ungewöhnliche Rassismus ist der Umgang mit diesem in einem beträchtlichen Teil der heutigen Medien. Ein für den Westdeutschen Rundfunk produzierter Dokumentarfilm führt die Technikutopie von damals dem Zuschauer unter anderem mit Computeranimationen vor Augen. Im entsprechenden Trailer wird Herman Sörgel als «ein Mensch am Puls der Zeit» beschrieben. Das Script zur Wissenssendung «Quarks & Co», die ebenfalls im WDR ausgestrahlt wird, nennt das Atlantropa-Projekt eine «Vision des Friedens in einer unruhigen Zeit». Neben dem pazifistischen wird dabei auch Sörgels paneuropäisches Ideal hervorgehoben. Dies weckt Assoziationen zur europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Bayrischen Rundfunk werden sogar Kontinuitätslinien bis zu Sarkozys 2007 lancierten Vorschlag für eine Mittelmeerunion gezogen. Sörgels menschenverachtende Einstellungen werden in diesen massenmedialen Aufbereitungen mit keinem Wort erwähnt. Auch nicht auf der Atlantropa-Website der Technischen Universität Darmstadt oder bei Wikipedia. In der gegenwärtigen Berichterstattung über das Projekt dominiert die Faszination für die technische Utopie. Dass sich nicht blankes Entsetzen breit macht angesichts der

Pläne, die die geistigen Väter Atlantropas für Afrika erarbeitet hatten, demonstriert eindrücklich, dass dieser Kontinent im Bewusstsein der Europäer noch immer ein vernachlässigbares Element darstellt. In diesem Kontext erscheint es als geradezu zynisch, dass das Desinteresse der Nationalsozialisten am Projekt Sörgel zugute gehalten wird. Das Scheitern des Ingenieurs, diese von seinem Konzept zu überzeugen, wird oft betont, um den Charakter Atlantropas als völkerverbindendes Friedensprojekt schärfer zu konturieren. Allerdings dürfte nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die Expansionspläne des Dritten Reiches nicht primär nach Süden orientierten sondern auf Osteuropa fokussierten, wesentlich dazu beigetragen haben, dass an eine Ausführung von Sörgels Vorhaben in der NS-Zeit nicht ernsthaft gedacht wurde. Die einfältige Medienberichterstattung, die den Erfindergeist Sörgel zum Visionär und Gutmenschen verklärt, ist aber mehr als nur ärgerlich. Gerade der Blick in Atlantropas düstere Abgründe lässt nämlich erschreckende Parallelen zu heutigen Grossprojekten erkennen. Viele der Ziele, die in der Türkei mit dem Bau des Ilisu-Staudamms verfolgt werden, finden sich in ähnlicher Form schon in Sörgels Argumentation zugunsten des Atlantropa-Projekts. So etwa der Wunsch nach Unabhängigkeit von ausländischen Brennstofflieferungen sowie die überrissene Hoffnung auf ein nachhaltiges Wirtschaftwachstum und eine grundlegende Modernisierung der Infrastruktur. Auch in China sollte der Bau des Drei-Schluchten-Staudamms nicht zuletzt eine einheitsstiftende Wirkung entfalten. Wie die Antagonismen der europäischen Nationen im gemeinsamen Vorhaben Atlantropa aufgehoben worden wären, ist also auch hier eine neu zu schaffende Gemeinschaft das Ziel der grossen Wasserbauprojekte. Und wie in Atlantropa werden die Interessen dieser imaginären Gemeinschaft höher gewichtet als die Lebenschancen der konkret vom Dammbau betroffenen Menschen, deren Siedlungs- und Wirtschaftsgebiet in den Wassermassen versinkt.

Das Ende einer Vision Die Hoffnung auf eine Verwirklichung seiner Vision, die Sörgel nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nochmals schöpfte, war nur von kurzer Dauer. Zwar konnte er sowohl bei den Alliierten als auch bei der UNO Interesse für das Projekt wecken. Die friedliche Nutzung der Atomkraft, die zu Beginn der 1950er Jahre einsetzte, liess seine Pläne aber schnell als überholt und unrentabel erscheinen. Doch auch diese neue Form der Stromproduktion löst das Problem einer Energiewirtschaft nicht, die nicht nur Wachstum und Wohlstand schafft, sondern zugleich von den Lebensgrundlagen der Menschen zehrt.

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Herrschaft über den Schwarzen Kontinent sichern. Auch Tschad sowie Nord- und Südrhodesien, also die heutigen Staaten Sambia und Simbabwe, würden unter Wasser gesetzt. An die dort lebende Bevölkerung verschwendet Sörgel keine Gedanken. Vielmehr äussert er seine Befürchtung, Europa könnte es verpassen, sich Afrika anzueignen, bevor die «schwarze Rasse» zu zahlreich wird. Diese zu unterwerfen und an den Segnungen der abendländischen Kultur teilhaben zu lassen, scheint Sörgel geradezu die Pflicht der technisch überlegenen Europäer zu sein. Nicht nur der Umgang mit Afrika spiegelt Sörgels abstossenden Rassismus. Den Blick auf die Landkarte setzt er mit einer Analyse der Weltpolitik gleich. Atlantropa wird aus dieser Perspektive als Gegengewicht einerseits zum kapitalstarken und nach Vereinigung strebenden Amerika notwendig. Andererseits ist der Bund mit Afrika für Europa der wirksamste Schutz vor der «gelben Gefahr». Doch die Zeit drängt, nicht zuletzt weil die eigene Pharmaindustrie so grosse Erfolge bei der Bekämpfung von Tropenkranheiten verzeichnet: «Die Gesundung der Tropenländer rückt plötzlich in greifbare Nähe. Wenn der Neger von diesen Übeln befreit wird, vermehrt sich nachweislich die schwarze Rasse drei- bis sechsmal so stark wie die weisse. Alle diese Symptome deuten darauf hin, dass die kleine Halbinsel Asiens, nämlich Europa, zwischen einem Panamerika, Panasien und einem erwachenden Afrika zermalmt wird, wenn es sich nicht rechtzeitig einigt und auf seine Kraft besinnt.»


utopie

«These crimes can no longer be denied» The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) strives for justice concerning war crimes. A utopian enterprise? Ali Asker Gündüz interviewed ICTY spokeswoman Nerma Jelacic. By Ali Asker Gündüz Dear Mrs. Jelacic, I would firstly like to thank you in the name of the Zoon Politikon for accepting this interview. As the spokeswoman of the ICTY, how would you define utopia from your point of view? N. Jelacic: From the point of view of the Tribunal, utopia would be a society where the rule of law prevails, individuals who committed crimes are brought to justice and victims are satisfied that justice has been done. Taking this picture of utopia further, war crimes justice would act as a deterrent for future conflicts and crimes – but the reality is different. The Tribunal has been working hard to turn this first part of this utopian picture into reality and has indeed been very successful at it. Since its establishment in 1993, it has indicted a total of 161 individuals of all

sides of the conflict in the former Yugoslavia thereby greatly contributing towards establishing the rule of the law in the region, ending impunity and bringing justice to thousands of victims. Through the many judgements rendered, the Tribunal was able to establish facts on a number of crimes beyond any reasonable doubt. These crimes can now no longer be denied. Considering the Tribunal was set up as a temporary institution, it has worked closely with the local jurisdictions to provide them with the necessary skills to take on war crimes cases and ensure that once the Tribunal closes down, individuals continue to be held accountable for crimes committed during the war. The work of the Tribunal has reached far beyond the region of the former Yugoslavia. The Tribunal has

«Justice is considered as being central to the consolidation of peace and bringing about reconciliation in war-torn societies.» – War cemetery in Sarajevo.

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The ICTY pronounced many criminal convictions. How far can ICTY actually reach? Are there any

ZUR PERSON

Nerma Jelacic A journalist by profession, Nerma Jelacic is the ICTY‘s Spokesperson for the Chambers and Registry since 2008. Before, she was the director of Balkan Investigative Reporting Network in Bosnia and Herzegovina.

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aspects which seem unrealistic but desirable? N. Jelacic: The Tribunal’s achievements to date are significant: out of the 161 individuals indicted by the Tribunal, proceedings to date have been concluded against 121 accused. Out of these, 61 were sentenced. Proceedings are currently ongoing for 40 accused. Due to the fact that it was established as a temporary institution, the Tribunal was only able to focus on the most senior leaders suspected of being responsible for crimes. However, to ensure that its work and achievements continue having an impact once it closes down, the Tribunal has been working closely with local jurisdictions in the region of the former Yugoslavia so that they can carry out the work of bringing alleged war criminals to justice once it closes down. Of the 121 accused mentioned above, 13 were referred to national jurisdictions. So while there is so much the Tribunal can do by itself, through strengthening local jurisdictions and ensuring they continue carrying out the work it initiated, the Tribunal strives to have a far-reaching, long-lasting impact. So far, the Tribunal’s completion strategy can be considered a real success, with local courts having not only taken over the cases transferred onto them by the Tribunal but also having initiated their own cases. The Tribunal will continue working very hard on cementing its legacy across the region until it closes down. There are of course issues which are out of our control, such as the arrest of Ratko Mladic and Goran Hadzic. We are however hoping that the cooperation we have enjoyed so far from member states will lead to their arrest and transfer. This is more than just desirable, it is absolutely crucial. Much speaks for the fact that Radovan Karadzic is responsible for the massacre of Muslims in Srebrenica and also for further war crimes. In case of a conviction of the defendant, respectively of a lifelong imprisonment, how fair is such a condemnation considering the charges? Would a completely fair condemnation border utopia? N. Jelacic: Whilst I am not in a position to discuss any ongoing cases so as to not interfere with the fairness of proceedings, I can say that the Tribunal upholds the highest standards of international justice when adjudicating cases and all accused have the inherent right to be presumed innocent until proven guilty. Fair proceedings are therefore more than just a utopia – they are reality. Judges at the ICTY are highly qualified and impartial. They render their verdicts based solely upon the evidence presented to them in court. So while Karadzic’s case is a particularly complex one, Judges sitting on his case possess the required experience and integrity to ensure the proceedings will be conducted in the fairest way and according to the highest standards.

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very much set a precedent for similar courts to be established elsewhere. In proving to be efficient and that international justice is possible, it paved the way for other similar institutions, including the permanent International Criminal Court, to be established. The ICTY has greatly contributed towards the development of international humanitarian law and sent out a strong message that an individual’s senior position can no longer protect him or her from prosecution. It therefore can safely be said that the Tribunal’s aim to turn a utopia into reality has been very successful both in the region of the former Yugoslavia and worldwide. However, the work of the Tribunal will only be fully completed when the two remaining accused, Ratko Mladic and Goran Hadzic, are arrested and transferred into its custody. Their arrest is absolutely crucial for the Tribunal to complete its mandate successfully and for peace and justice to prevail in the region.


Would ICTY want to show the judgement to the world, in whatever way it turns out? N. Jelacic: Trials at the ICTY are conducted according to highest international standards. Accused enjoy the presumption of innocence and judges base their sentences solely on the evidence presented to them during the proceedings. The burden of proof relies on the prosecution who has to convince judges beyond any reasonable doubt of the culpability of an accused. The Tribunal has already sent a very strong signal to the people in the region of the former Yugoslavia and the international community by indicting as many as 161 individuals. It has demonstrated that individuals can no longer hide behind their status to avoid criminal proceedings and that leaders such as Radovan Karadzic suspected of mass crimes will face justice. It has also sent a strong signal that efficient and transparent international justice is feasible and this signal has reached far beyond the region of the former Yugoslavia to other areas were crimes have been committed and similar institutions have been put in place to investigate these crimes. What about other, not so prominent war criminals like Goran Hadzic and Ratko Mladic. How fair can the process be, if culprits like them are not caught and condemned? N. Jelacic: All accused are of equal importance and none can be considered more prominent or «not-so-prominent». I am aware that some might enjoy a higher media profile than others, but that in no way influences the work of the Tribunal, whose mandate it is to prosecute those most responsible of crimes committed during the Balkan war. I wish however to highlight that Ratko Mladic and Goran Hadzic belong to the highest ranking accused indicted by the Tribunal, and their arrest is absolutely crucial for the Tribunal to be able to complete its mandate successfully. The President has repeatedly urged for UN member states’ cooperation in apprehending the two remaining fugitives as soon as possible and did so recently again in his address before the Security Council in December 2009.

utopie

Now this can be seen as utopian justice from legal point of view. However justice has different meaning in law and in ordinary life. This is true in any legal system and the two are impossible to bring together. If you make judgments to make everyone happy you have to compromise on following the letter of law. If you follow the letter of law you don’t always make everyone happy.

juridical questions? N. Jelacic: If it was utopian, the Tribunal would not have succeeded at securing the arrest of all but two of the 161 individuals it has indicted. The Tribunal has been highly successful at obtaining member states’ cooperation and ensuring that individuals are brought to justice and as such has been able to demonstrate that international justice is more than mere utopia. The President of the Tribunal will relentlessly keep on calling on member states to continue cooperating with the Tribunal and arrest the two remaining fugitives as it is not only in the interest of the Tribunal, but of the entire world community to demonstrate that no one can escape justice. When you look at today‘s Ex-Yugoslavian states, which aspects seem rather realistic and which rather utopian regarding a peaceful coexistence? N. Jelacic: Whilst the Tribunal has not been mandated with the specific task of bringing peace to the region, transitional justice is now recognised as forming an integral part of conflict resolution mechanisms. Justice is considered as being central to the consolidation of peace and bringing about reconciliation in war-torn societies. This is achieved through the conduct of fair proceedings against those alleged to have committed crimes on all sides of the conflict, providing victims with a safe environment in which they can testify without fear of reprisal, establishing facts beyond any reasonable doubt through the delivery of impartial judgments and consolidating the rule of law in the affected communities. All of this forms part of the Tribunal’s achievements and as such it can be safely argued that the Tribunal has greatly contributed towards the consolidation of peace throughout the region. Transitional justice is however but one part of the peace process and the ICTY is only a part of the solution. A multi-disciplinary approach is needed to establish long-term reconciliation.

Autor Redaktor Ali Asker Gündüz (29) aus Appenzell Innerrhoden studiert im 10. Semester Politikwissenschaft, Völkerrecht und Staatsrecht an der Universität Zürich.

Bild flickr.com

The political willingness of the states in the possible position of handing over war criminals, for example in the case of Mladic, seems highly absent. Is it a utopian wish to expect political action in such

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Frieden muss eine Utopie bleiben Jeder will den Weltfrieden. Solange das Ziel aber verschwommen und unreflektiert bleibt, führen die vielen kleinen Schritte unzähliger Akteure ins Nirgendwo.

Der Fall der Berliner Mauer veränderte die öffentliche Wahrnehmung des Friedens.

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Friedensförderungsprogramme und zahllose NGOs sind entstanden, die sich ebenfalls der Friedensförderung widmen. Sind mit dieser Entwicklung hin zu einer Praxis des Friedens die Friedensutopien überflüssig geworden? Befinden wir uns in einem derart weit fortgeschrittenen Stadium der Umsetzung von Frieden, dass nun die Praxis und deren Pflege im Vordergrund stehen? Muss man sich folglich nicht mehr mit idealistischen, abstrakten und manchmal auch etwas romantischen Vorstellungen von Frieden auseinander setzen? Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, ist es nötig, sich zunächst über die Inhalte des Friedensbegriffs klar zu werden.

Abwesenheit von Gewalt reicht nicht «Negativer» Frieden kennzeichnet die Abwesenheit direkter, personeller Gewalt. Ein solcher Zustand des «Nicht-Kriegs» entspricht einem blossen «Patt» im gegenseitigen Machtstreben. Ein erweiterter Friedensbegriff im Sinne eines «positiven»

zoon politikon | februar 2010 | nr. 8

Von Laurent Goetschel Wenn nach Friedensutopien gefragt oder über sie geforscht wird, dann schweift der Blick meist weit zurück in die Geschichte. Alt- und neutestamentarisches Denken wird bemüht und es werden Juristen zitiert, welche die Entwicklung des Völkerrechts massgeblich geprägt haben. Hinzu kommt eine schwankende Anzahl von Persönlichkeiten, die in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren Visionen für eine friedliche Umgestaltung des europäischen Kontinents entwickelt haben. In der Zeit des Kalten Krieges, als die Abschreckungsstrategie zwischen Ost und West hauptsächlich auf dem möglichen Einsatz von Nuklearwaffen beruhte, wurden kaum neue Friedensutopien entwickelt. Dennoch reflektierte man damals viel über Friedensutopien. Seit dem Fall der Berliner Mauer ist es in der Diskussion um Friedensutopien sehr still geworden. Dies obwohl von «Frieden» mehr denn je die Rede ist: Staaten betreiben militärische und zivile


Die Praxis nimmt Überhand Vor dem Hintergrund dieses erweiterten Friedensbegriffs gilt es zwischen dem Frieden als Ziel und dem Frieden als Prozess zu unterscheiden: «Positiver» Frieden in seiner umfassenden Ausgestaltung, das heisst als idealer Frieden, scheint bei einer pragmatischen Beurteilung der heutigen Staatenwelt und der Natur der Menschen wenig wahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Trotzdem war bisher niemand bereit, die Idee des Friedens gänzlich zu verwerfen. Denn diese bildet eine unverzichtbare, antreibende Kraft. Für den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson war dies «the common purpose of enlightened mankind». Wenn aber der umfassende Frieden zugleich unmöglich und unverzichtbar ist, muss unaufhörlich auf begrenzte Formen des Friedens hingearbeitet werden. Weil diese zwangsläufig immer nur Annäherungen, das heisst unvollkommene Formen des Friedens darstellen, bleibt für den Menschen immer etwas zu wünschen und zu tun. Es war diese Auffassung von Frieden als «regulativer Idee», welche die meisten Friedensforscher zur Zeit des Kalten Krieges ihrer Arbeit zugrunde legten. Im Zentrum stand aus naheliegenden Gründen ein ethisch begründeter Gewaltverzicht. Nach 1989 hat sich vieles verändert. «Frieden» war plötzlich kein politisches Streitwort mehr, dafür allgegenwärtig in der politischen Praxis: Von einem Tag auf den anderen bekannten sich alle zum Frieden. In den Aussenministerien und in den Entwicklungs-

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Friedens orientiert sich an einem erweiterten Begriff von Gewalt. Ein solcher schliesst auch die so genannte «strukturelle Gewalt» ein. Dieses von dem norwegischen Friedensforscher Johan Galtung eingeführte Konzept bezieht sich auf die negativen Folgen gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Bedingungen und Verhältnisse. Als strukturelle Gewalt wird jegliche Behinderung der Entwick­lung von Menschen bezeichnet, die­​ eigen­tlich vermeidbar wäre. Diese Entwicklungs­ behinderung ist die «Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist». «Positiver» Frieden setzt somit nicht bloss das Verhindern des Ausbruchs unmittelbarer Feindseligkeiten voraus, sondern die Beseitigung der Ursachen dieses potentiellen Gewaltausbruchs. Hierzu gehört die inhaltlich gerechte Ausgestaltung und Regelung der zwischen- und innerstaatlichen Beziehungen. Eine an friedenspolitischen Gesichtspunkten orientierte Politik versucht nicht generell das Aufkommen von Konflikten zu vermeiden, strebt aber deren friedliche Transformation an. Ziel ist es, den Krieg als Austragungsmodus inner- und zwischengesellschaftlicher Konflikte zu eliminieren.

agenturen wurden Abteilungen für Friedensförderung eingerichtet. Auch die privaten Hilfswerke entdeckten friedenspolitische Seiten ihres Wirkens und waren interessiert, entsprechende Bezüge zu ihrer Arbeit herzustellen.

Simples Verständnis sozialer Prozesse Unzählige Friedensprojekte entstanden, und es waren plötzlich Tausende von Menschen in der Friedensarbeit tätig. War während des Kalten Krieges vor allem über Frieden gesprochen worden, wurde nun gehandelt: Der Frieden wurde vom Kopf auf die Füsse gestellt. Diskussionen über die Friedensarbeit waren nun von pragmatischen Überlegungen geprägt. Es ging darum, die Allgegenwart einer Reihe von Anliegen wie etwa Prävention, Konfliktsensitivität, Do-no-harm, et cetera durch «mainstreaming» sicherzustellen. Nachhaltigkeit und Gender befinden sich im selben Sog, obwohl sie öfters im Zusammenhang mit Entwicklungs- als mit Friedensfragen thematisiert werden. «Entwicklung» wurde aber in diesen praxisorientierten Kreisen genauso wenig wie «Frieden» inhaltlich weiter diskutiert. In beiden Bereichen wurden Fixgrössen festgelegt: im Bereich der Entwicklung im Zusammenhang mit den Millenium Development Goals (MDG), im Bereich der Friedensförderung anhand von Richtlinien der OECD/DAC. Um diese zu erreichen, wurden Rezepte aufgezeigt, die auf einem relativ simplen mechanistischen Verständnis sozialer Prozesse gründeten. So verschwamm mit Blick auf die Dritte Welt auch der Unterschied zwischen Frieden und Entwicklung: Beide waren gleichermassen unterdefiniert. Somit lag es nahe, die beträchtlichen Ressourcen, die in Entwicklungsprojekte investiert werden, auch «friedenskompatibel» zu machen. Ein «monitoring» und «mainstreaming» der oben erwähnten Konzepte wurde dafür in den meisten Fällen als hinreichend angesehen. Anstatt über die Bedingungen des Friedens zu diskutieren, der ja in der Dritten Welt nicht unbedingt einfacher sicherzustellen ist, als er es während des Kalten Krieges in Europa war, haben heutzutage staatliche und private Stellen die Tendenz, endlos wiederholte Konzepte umzusetzen. Diese mögen auf der Projektebene von Bedeutung sein, tragen jedoch wenig zur Klärung der Frage bei, ob der Frieden als Ziel mit den entsprechenden Vorhaben tatsächlich erreicht werden kann.

Nachwuchs für Friedensarbeit ausbilden Daraus ergibt sich eine leicht zynische Schlussfolgerung: Obwohl wahrscheinlich noch nie so viel über Frieden gesprochen wurde wie heute, wissen wir weniger denn je, ob wir uns mit unserem Handeln, das vielfach explizit unter dem Label «Friedensförderung» oder «Entwicklung» oder «Internationale Zusammenarbeit» daherkommt, einem Frieden tatsächlich auch nähern. Die meisten Dis-

Literatur BROCK Lothar (1990). Frieden. Überlegungen zur Theoriebildung, in: Volker Rittberger (Hrsg.). Theorien der Internationalen Beziehungen. Bestandesaufnahme und Forschungsperspektiven. Sonderheft 21, PVS, Opladen, Westdeutscher Verlag, S. 71-89. DEUTSCH Karl W. (1972). Friedensforschung Grundsätze und Perspektiven. Schweizer Monatshefte, September, S. 392-402. GOETSCHEL Laurent und HAGMANN Tobias (2009). Civilian Peacebuilding: Peace by Bureaucratic Means? Conflict, Security and Development, 9 (1), S. 55-73. SAPOLSKY Robert M. (2006). A Natural History of Peace. Foreign Affairs, 85 (1), S. 104-120.

Bilder flickr.com

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Laurent Goetschel (54) aus Bern studierte Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Universität Genf. Er ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung (swisspeace).

im ersten Fall zu quantitativ und im zweiten Fall abstrakt verallgemeinernd ausgerichtet. Am ehesten sind zurzeit «developement studies» geeignet, einen entsprechenden kritischen Diskurs zu führen, der sowohl empirische als auch theoretische und ethische Überlegungen miteinbezieht. Aber es geht, wie der Name sagt, hierbei um «development» und nicht um «Frieden». Und das ist – wenigstens vorderhand – noch nicht dasselbe.

«Do-No-Harm»-Trainings Die Frage ist natürlich, ob überhaupt jemand die fehlende Debatte zum Frieden vermisst. Wir sind doch alle für den Weltfrieden und arbeiten praktisch und sachdienlich daran. Warum also Zeit mit Diskussionen über Grundsätzliches verlieren, anstatt konkret und projektbezogen weiterzukommen oder sich für entsprechende zusätzliche Ressourcen einzusetzen? Die Militärs betreiben «Friedens-Unterstützungs-Operationen», die Aussenministerien «Peacebuilding» und die Entwicklungsagenturen «Konfliktsensitivitäts- und Do-No-Harm»-Trainings. Aber wie ist es eigentlich um die Kohärenz der Zielsetzungen dieser Aktivitäten bestellt? Haben diese überhaupt etwas miteinander zu tun? Oder sind die­se Fragen vielleicht gänzlich überflüssig, weil sich niemand an den allfälligen Widersprüchen und Inkohärenzen solcher Verhaltensweisen stört? Soll nicht besser jedem und jeder «sein» beziehungsweise «ihr» Frieden gelassen werden? Vielleicht war es ja auch nur ein «unglücklicher Zufall», dass für die Ausrichtung nationaler und multilateraler Bestrebungen nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Verschwinden der übergeordneten weltpolitischen Ziele ausgerechnet «Friedensförderung» und «Entwicklung» als Ersatz herhalten mussten. Das ist die positive Interpretation. Die negative sieht Friedensförderung als integralen Bestandteil einer neo-liberalen und ethnozentrischen «End-ofhistory-Auffassung» an, welche die Zivilisierung der an der Peripherie lebenden Menschen zum Ziel hat. Und vielleicht war der Kalte Krieg ja auch nur ein «glücklicher Zufall»: eine Zeit, in der die Kombination aus der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und der Bedrohung durch die gegenseitigen nuklearen Abschreckungsstrategien dafür sorgte, dass sich substanzielle Bevölkerungsteile, und nicht nur die «Unverbesserlichen», mit Fragen von Krieg und Frieden auseinandersetzten.

Gutgemeinte Ratschläge

Der Friede wurde vom Kopf auf die Füsse gestellt: Peacebuilding-Mission im Kongo.

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Doch es geht nicht nur um uns als Erbringer von Friedensförderungsleistungen, sondern vielmehr auch um deren Empfängerinnen und Empfänger. Sie haben ein Interesse daran, dass wir uns klar darüber werden, was wir eigentlich unter Frieden beziehungsweise den Zielsetzungen unserer Politiken verstehen. Vielleicht möchten sie sogar mitdiskutieren und mitbestimmen, was unter Frieden zu ver-

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Autor

kussionen laufen auf rein operativen Ebenen ab, die mehr mit aussen- und entwicklungspolitischen Handlungsanleitungen zu tun haben, als mit friedenspolitischer Reflexion. Im Zuge dieser Entwicklung sind viele Friedensforscherinnen und Friedensforscher sowie zahlreiche «Friedensbewegte» in die Praxis der Friedensarbeit entschwunden. Sie sind in staatlichen Stellen, in Hilfswerken oder friedenspolitischen NGOs tätig. Sie lassen sich in Mediationskursen weiterbilden, sind selbst in diesem Bereich aktiv, oder beraten die eine oder andere der erwähnten Stellen als Konsulenten oder Konsulentinnen. Der Wunsch dieser Akteure, Praxisluft zu schnuppern, ist zwar sehr verständlich. Aus Sicht der Friedensforschung stellt sich aber die Frage nach dem Nachwuchs. Die akademischen Bereiche der Konfliktforschung und der «Internationalen Beziehungen» sind wenig geeignet, die entsprechende Lücke zu füllen. Sie sind


Utopie als Wegweiser Doch dafür sollten wir uns zunächst selbst dieser Utopien erneut und vermehrt bewusst werden. Zurzeit besteht ein krasses Ungleichgewicht zwischen der Menge an dem, was wir in der Friedenspolitik konkret leisten, und den Ressourcen und der Zeit, die wir für entsprechende grundsätzliche Überlegungen aufwenden. Möglicherweise bildet das Überwinden dieses Spannungsfeldes zwischen «Realität» und «Utopie» eine der grössten Herausforderungen sowohl der Friedenspolitik als auch der Friedensforschung. Letztere hat gegenüber der Friedenspolitik eine kritische Rolle wahrzunehmen, muss diese stets von neuem hinterfragen. Dies ist kein leichtes Unterfangen, vor allem dann nicht, wenn daraus für beide Seiten Nutzen generiert werden soll. Frieden im umfassenden Sinne bleibt eine Utopie, ja muss sogar eine bleiben. Als solche liefert sie unterschiedlichsten Menschen und Gesellschaften eine Orientierung für diverse Formen menschlichen Handelns, Denkens und Glaubens. Vielleicht sind Friedensutopien heutzutage sogar umso wichtiger geworden, weil wir ansonsten vergessen, um was es beim Frieden wirklich geht.

KOLUMNE

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stehen ist. Vielleicht wollen sie nicht nur von uns darüber belehrt werden, was «good governance» ist, welche Rolle die «Zivilgesellschaft» zu spielen hat, und welche lokale Wirtschaftsordnung aufzubauen ist, damit dem Frieden am besten gedient sei. Wir müssen uns bewusst werden, dass Frieden zwar allerlei an «Wissen» und «Technischem» beinhaltet, dass jedoch darüber hinaus einiges dazukommt, was nicht das alleinige Ergebnis einer wie auch immer gearteten rationalen Politik sein kann. Und hier wären wir wieder beim Utopischen am Frieden angelangt: Utopien können niemals aufgezwungen werden. Sie können jedoch, sofern sie geteilt werden, auch stark leidgeprüfte Bevölkerungen dazu bringen, Schritte in eine Richtung zu unternehmen, die dem, was sie unter Frieden verstehen, entspricht. Vielleicht sollten wir uns etwas mehr Zeit nehmen, zu überlegen, wie wir zur Entstehung solcher Utopien beitragen können.

Ruloff, Kästner und das Klima So ein Mist aber auch! Da waren wir doch alle so froh, dass endlich mal wieder positive Neuigkeiten über den Bildschirm flimmerten, statt dieser immerwährenden Miesmacherei in Sachen Finanzkrise. Aber nein – die gute Stimmung war schneller wieder vorbei als sie gekommen war. Alle hatten sie teilgenommen, Regierungschefs, Wissenschaftler, NGOs und zum Glück erlaubte die grosse Journalistendichte auch dem letzten Umweltaktivisten noch eine ermahnende Stellungnahme vor laufender Kamera. Seit «Atomstrom? Nein danke!» haben uns die Medien wohl nicht mehr mit so vielen Gutmenschen versorgt. Was waren die alle motiviert und engagiert! Täglich habe ich auf Bilder von einigen barfüssigen Greenpeace-Mitgliedern gewartet, die sich am Nordpol anketten. Aber trotz schmelzender Polkappen ist es dafür wohl noch zu kalt. Und dann, nach gefühlten 78 Tagen winkender Politiker und tanzender Umweltaktivisten auf meiner Mattscheibe: die Enttäuschung! «Minimalkompromiss», «Klimakonferenz gescheitert», «Absichtserklärung lediglich zur Kenntnis genommen». Und da fiel es mir plötzlich wieder ein: Die UNO als Plattform eignet sich ja gar nicht für effiziente Verhandlungen. Da fehlt nämlich die supranationale Autorität. Ausserdem haben die verschiedenen Staaten ihre nationalen Interessen zu verfolgen, weshalb es paktisch nie zu einer global zufriedenstellenden Einigung kommt. Vor allem nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums. Und dann ist da noch das Machtungleichgewicht zwischen Industriestaaten und den anderen da, denen, die eh bald ersaufen. Aber was ist mit den vielen Umweltaktivisten, die da demonstriert haben? Na, die müssen eben erstmal genug Lobbying betreiben, bevor sie wirklich was zu melden haben. Apropos Lobbying, da gibt es auch noch andere Akteure, die ganz schön wichtig sind. Multis und Grosskonzerne, denen eine günstige Produktion dann irgendwie doch wichtiger ist, als die Rettung der Eisbären. «Ha!», dachte ich mir dann, «ist also doch noch was hängen geblieben beim Dr. Ruloff in der Vorlesung». Aber es geht noch weiter, mir ist da noch was in den Sinn gekommen: Als ich vier war hat mir mal jemand «Die Konferenz der Tiere» von Erich Kästner vorgelesen. Weil die vielen Konferenzen der Politiker so reichlich wenig bringen, nehmen in dieser Geschichte die Tiere das Ruder in die Hand und halten kurzerhand ihren eigenen Gipfel ab. Schlusserklärung: Beseitigung aller Grenzen, Abschaffung von Militär, Schuss- und Sprengwaffen, Lehrer werden die bestbezahlten Beamten, die Bürokratie auf ein Mindestmass beschränkt und die Wissenschaft im Dienste des Friedens regiert. Eh voilà.

Kolumnistin Redaktorin Sarah Schlüter (22) aus Zürich studiert im 6. Semester Politikwissenschaft und Literaturwissenschaften an der Universität Zürich. Momentan lebt sie in Paris.

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Bildung für alle – eine Utopie? Die Schweizer Migrationspolitik lässt das Recht auf Bildung mehr und mehr zur Illusion werden. Dagegen wehrt sich der Verein «Bildung für Alle» und lässt sich durch die polizeiliche Räumung seines Schulhauses nicht entmutigen. Von Michael Schmitz Wer als Flüchtling in die Schweiz kommt, hat kaum Zugang zu Bildung. Seit der Bund Integrationspauschalen nur noch an anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge zahlt, stehen unzählige Asylsuchende mit laufendem Verfahren ohne Deutschkurs da – dies, obwohl alle von Integration sprechen und bis zu einem Asylentscheid oft zwei und mehr Jahre vergehen. Zwei Jahre in einem fremden Land, ohne die Möglichkeit, die Sprache zu lernen? Für Schweizer kaum vorstellbar, für viele Flüchtlinge jedoch bittere Realität. Zu dieser Schwierigkeit und der allgemeinen Unsicherheit über die Zukunft gesellt sich seit Frühjahr 2009 auch wieder das Arbeitsverbot für Asylsuchende.

Lernen unter widrigen Umständen

Autor Michael Schmitz (29) aus Zürich ist Historiker und Erwachsenenbildner.

Bild ASZ

Homepage alles-fuer-alle.jimdo.com

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Illegalisierte Flüchtlinge – so genannte «SansPapiers» – haben es noch schwerer, vor allem, wenn sie abgewiesene Asylsuchende sind. Diese müssen in Nothilfeunterkünften von sechsmal 8.50 Franken Migros-Gutscheinen pro Woche leben. Viele von ihnen sind schon mehr als fünf Jahre in der Schweiz und haben keine Möglichkeit, in ihr Heimatland zurückzukehren. Bei ihnen soll auf Integrationsmassnahmen «konsequent verzichtet» werden, so die Nothilfeverordnung des Kantons Zürich. Das allgemeine Recht auf Bildung wird damit «utopisiert». Um dem entgegenzuwirken, gibt es unsere Schule. Viele der Teilnehmenden besuchen bei uns zum ersten Mal einen Deutschkurs. Entstanden ist die Schule im Anschluss an die Besetzung der Predigerkirche durch das Bleiberecht-Kollektiv über den Jahreswechsel 2007/08. Vor gut einem Jahr fanden die Deutschkurse für Sans-Papiers in einem besetzten Haus an der Manessestrasse zum ersten Mal statt. Die Initiative dazu kam von Flüchtlingen selbst. Im Sommer fanden wir dann eine Bleibe im besetzten Schulhauspavillon der Autonomen Schule Zürich (ASZ) im Allenmoos-Quartier. Bis zu hundertzwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer besuchten dort unsere Kurse, immer mehr auch Asylsuchende, die von ihren Gemeinden keinen Deutschkurs finanziert bekamen. Sie liessen sich auch von der Kälte im kaum geheizten Schulhaus nicht vom Lerneifer abbringen. Dann kam der 7. Januar: Unangekündigt räumte ein Grossaufgebot der Stadtpolizei Zürich die Autonome Schule; dies eine halbe Woche vor dem Start unserer neuen Kurse. Als Vorwand dienten

Sicherheitsbedenken wegen eines unsorgfältig verlegten Stromkabels. Doch schon am nächsten Tag war klar, dass die Deutschkurse für einige Zeit im Theaterhaus Gessnerallee stattfinden können. Bis wir wieder einen Ort gefunden haben, wo wir uns für längere Zeit einrichten können, werden wir wie in der Anfangszeit auf Wanderschaft sein.

Schüler bieten selbst Kurse an Vorne steht eine Lehrerin oder ein Lehrer, in den Bänken sitzen die Teilnehmenden und lernen Deutsch. Auf den ersten Blick ist der Schulalltag bei uns wie gewohnt. Dennoch ist einiges anders. Lehpersonen – oder «ModeratorInnen», wie wir sie nennen – und interessierte Schüler verwalten die Schule gemeinsam, ohne «Schulleitung». Formalitäten gibt es nur dann, wenn eine Gemeinde für die Rückerstattung des ZVV-Tickets eine Präsenzkontrolle verlangt. Die Kurse sind kostenlos, alle Moderatoren arbeiten ehrenamtlich. Dafür erwarten wir von den Teilnehmenden, dass sie nicht mit einer reinen Konsumhaltung zu uns kommen, sondern einen Beitrag zum Funktionieren der Schule leisten. Unsere Schule ist nicht ein rein humanitäres, sondern auch ein politisches Projekt. Sie soll ein Ort der Selbstorganisation für die Flüchtlinge sein, ein Ort, der ihnen durch das Lernen der Sprache und die Erfahrung beim Aufbau von etwas Eigenem Emanzipation ermöglicht. Dieser Ort soll auch


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Gelegenheit bieten, sich zu überlegen, was die Flüchtlinge und wir zur Änderung der unwürdigen Lebensumstände tun können. Diese Ziele passen sehr gut zur Idee der ASZ, die ein Raum des freien Austauschs von Wissen sein will. Jeder, der anderen etwas vermitteln möchte, kann hier einen Kurs anbieten. Diplome spielen keine Rolle. Das Lernen soll selbstbestimmt sein. Neben unserem Deutschunterricht finden Kurse zu anderen Sprachen, Informatik, Philosophie oder Kunst statt. Einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Deutschkursen bieten selbst Kurse an, für Arabisch oder Kurdisch, Theater, Tanz oder Musik. Die Idee des Wissens- und damit auch des Rollentauschs ist somit von den Flüchtlingen aufgenommen worden und wird in Zukunft hoffentlich noch stärker zum prägenden Merkmal unseres Projekts.

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Auf Unterstützung angewiesen Trotz ehrenamtlicher Tätigkeit und obwohl keine Mietkosten anfallen, kennt «Bildung für Alle» ein ständiges Problem: die Finanzen. Ins Gewicht fallen vor allem die Kosten für die ZVV-Tickets der Teilnehmenden. Abgewiesene Asylsuchende erhalten diese von den Behörden prinzipiell nicht bezahlt. Einige Gemeinden sind bereit, diesen kleinen Beitrag zu leisten, aber längst nicht alle. Die profitorientierte Firma ORS Service AG, an die immer mehr Gemeinden die Asylbetreuung outsourcen, zeigt sich generell unkooperativ. Unser Ziel ist es, zumindest den Nothilfeabhängigen ein Ticket bezahlen zu können. Denn für diese gibt es ausser der ASZ kaum eine Bildungsmöglichkeit. Damit unser Projekt die Menschen erreicht, die es am meisten nötig haben, damit Bildung für alle keine Utopie bleibt, sind wir auf Spenden angewiesen. Auch auf die von Studierenden, ihren Freunden und Eltern.

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Effektiv statt effizient Menschen im Kaufrausch: Nur das Neuste und Beste ist gut genug. Gekauft wird, obwohl man viele der Gegenstände bereits besitzt. Doch was passiert mit den alten Sachen? Sie landen auf der Müllhalde ohne Rücksicht auf die Natur und die verheerenden Folgen.

Vom Recycling zum Downcycling

Autorin Redaktorin Michèle With (24) aus Baden studiert im 6. Semester Publizistik und Kommunikation, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich.

Zum Buch McDONOUGH William und BRAUNGART Michael (2003). Einfach Intelligent Produzieren. Cradle to Cradle: Die Natur zeigt, wie wir die Dinge besser machen können. London: Random House.

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Ist ein Produkt mit dem bekannten RecyclingSiegel gekennzeichnet, fällt es uns wesentlich leichter, dieses Produkt – sagen wir einen Teppich aus recycelten PET-Flaschen – ohne schlechtes Gewissen zu kaufen. Kaum jemand macht sich weiter Gedanken dazu. Ist recycelt nicht in jedem Fall gleichbedeutend mit unbedenklich? Gemäss den beiden Autoren ist nicht davon auszugehen, dass man der Natur mit einem solchen Kauf Gutes tut und sie von einem kleinen Teil der überquellenden Müllhalden befreit. Die Herstellung eines solchen Teppichs verschlingt Unmengen von Energie, denn die Plastikflaschen sind nicht als Material für einen Teppich geeignet. «Auch der Teppich ist irgendwann auf dem Weg zu einer Mülldeponie und macht in Ihrem Haus nur Zwischenstation.» «Downcycling» wird ein solcher Pseudo-Recycling-Prozess von den Fachleuten genannt. Dies ist immer dann der Fall, wenn es zu viel Energie braucht, um das neue Produkt aus den recycelten Materialien herzustellen, oder wenn das neue Produkt mehr aus neuen als aus recycelten Materialien besteht. Die unzähligen Plastikflaschen, die wir einmal in der Woche in die Migros oder den Coop bringen und in das kleine, grün gekennzeichnete Loch werfen, werden gesammelt und wiederverwertet. Dies glauben wir sicher zu wissen. Unsere Plastikflaschen gibt es in allen möglichen Farben, Formen und Festigkeiten. Die Welt der Plastikflaschen ist jedoch komplex. Sie besteht aus vielen verschiedenen chemischen Verbindungen. Der Deckel wird aus einem anderen Material gefertigt als die Flasche, was einen Recycling-Prozess praktisch verunmöglicht.

Lediglich Coca-Cola hat die Flaschen so konzipiert, dass sie bis zwanzig Mal wieder gefüllt und verkauft werden können. Der Rest der Flaschen landet auf der Mülldeponie oder wird downgecycelt, wie obiges Beispiel zeigt.

Das komplett biologisch abbaubare Produkt Um die Mülldeponien loszuwerden und dem Prozess des Downcyclings zu entkommen, müssen alle Materialien als biologische Nährstoffe konstruiert sein. Solche Materialien können nach dem Gebrauch auf den Boden oder einen Komposthaufen geworfen werden, wo sie ohne weiteres biologisch abgebaut werden. «Umweltfreundliches Verpackungsmaterial könnte gefahrlos zerfallen oder gesammelt und als Dünger verwendet werden, um dem Boden auf diese Weise die Nährstoffe wieder zuzuführen.» Solche Produkte würden der Natur nicht mehr schaden und sogar das Gleichgewicht des Ökosystems unterstützen. Die beiden Autoren erhielten von der Firma DesignTex und der Schweizer Textilfabrik Rohner den Auftrag, ein kompostierbares Polstermaterial zu konzipieren und zu entwickeln. Sie schlugen den beiden Firmen vor, ein Produkt zu entwickeln, welches in den bio­ logischen Metabolismus passt. Also ein Produkt, welches man gefahrlos «essen» könnte, und das bei seiner Entsorgung auch der Natur als Nahrung dient. Das Polster soll aus Pflanzen- und Tierfasern produziert werden: Wolle, die im Winter wie auch im Sommer für Isolierung sorgt, und Ramie (Bastfaser), welche die Feuchtigkeit absorbiert. Zusammen würden diese Fasern einen strapazierfähigen und angenehmen Bezugsstoff abgeben. Auch die Entwicklung von geeigneten Färbemitteln und anderen Chemikalien gehörte schon zu den Aufträgen der beiden Erfinder. «Statt Mutagene, Karzinogene, das Hormongleichgewicht störende Substanzen, Toxine und sich in der Natur anreichernde Substanzen am Ende des Herstellungsprozesses herauszufiltern, würden wir diese gleich zu Beginn ausschliessen.» Das Schweizer Chemie-Unternehmen Ciba-Geigy stimmte einer Zusammenarbeit zu. Gemeinsam wählten sie lediglich 38 Substanzen aus, normalerweise werden bis zu 8000 Chemikalien verwendet, mit denen die gesamte Textilproduktlinie entwickelt werden konnte. Endlich ging der Stoff in die Produktion. Als die

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Von Michèle With Der Architekt William McDonough und der Chemiker Michael Braungart haben ganz konkrete Vorstellungen von einer umweltbewussten und fair handelnden Gesellschaft. In ihrem Buch «Einfach intelligent produzieren» fragen sie sich unter anderem: Wieso produzieren alle Tiere dieser Welt keinen Abfall, die Menschen aber in dieser kurzen Zeit, die sie die Erde besiedeln, Tausende von Tonnen? Die Prozesse der Natur sind so optimiert, dass sie sich nicht selbst zerstören kann. Der Mensch als Antagonist in diesem Spiel von Nutzung und Verbrauch passt sich diesen Prozessen immer weniger an.


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Kontrollbeamten wie immer die Abwässer aus der Fabrik prüften, schienen ihre Messgeräte nicht zu funktionieren. Denn diese konnten keine Schadstoffe identifizieren, nicht einmal die Bestandteile, die, wie sie wussten, im Wasser waren, das in die Fabrik hineinfloss. Zur Überprüfung der Messgeräte untersuchten sie das Wasser, das aus den städtischen Zuflüssen in die Fabrik kam. Die Instrumente waren in Ordnung. Wenn das abfliessende Wasser also sauberer ist als das hineinfliessende, könnte die Fabrik gar Ersteres verwenden. «Unser neuartiges Produktdesign hat nicht nur die traditionellen Verantwortlichkeiten für Umweltprobleme umgangen, sondern machte auch Vorschriften entbehrlich – was jede Firmenleitung ausserordentlich zu schätzen weiss.» Dies war aber nicht der einzige positive Nebeneffekt: Nun können die Angestellten die Räume, in denen noch bis vor kurzem gefährliche Chemikalien gelagert wurden, als Erholungsstätte benutzen. Wenn der Stoff abgenutzt ist, können ihn die Kunden einfach vom Stuhl abziehen und dem Boden zuführen oder kompostieren. «Geben wir es doch zu: Es macht Spass, etwas wegzuwerfen. Und der Natur ohne Schuldgefühle ein Geschenk zu machen, ist ein unvergleichliches Vergnügen.»

nimiert. In dieser von Licht durchfluteten Fabrik ist die Fluktuation sehr gering, was einen Beweis für die Liebe der Menschen zum Aufenthalt im Freien ist.

Es gibt noch vieles zu realisieren Dieses öko-effektive Gebäude ist erst der Anfang, die beiden Autoren haben zahlreiche Ideen deren gemeinsamer Nenner die Öko-Effektivität darstellt. Aber was ist darunter eigentlich zu verstehen? «(…) Sie können sich vielleicht den Unterschied zwischen Öko-Effizienz und Öko-Effektivität vorstellen als Unterschied zwischen einem mit künstlichem Licht erhellten Klotz ohne Frischluft und einem sonnendurchfluteten Raum voller frischer Luft, natürlicher Ausblicke und angenehmer Orte, an denen man arbeitet, isst und miteinander redet.» McDonoughs und Braungarts Buch enthält viele weitere spannende Ideen zum Umgang mit Abfällen und einem Sich-Annähern an die natürliche Lebensweise. Wenn diese Ideen umgesetzt werden, liegt es alleine in unserer Macht und an unserem Willen, uns nicht selbst zu zerstören.

Öko-effektive Bauten sind bezahlbar Nicht nur in der Herstellung von Produkten ist die Öko-Effektivität ein wichtiges Stichwort. Als Architekt hat sich William McDonough zum Bau von effektiven Gebäuden Gedanken gemacht. Er möchte den Beschäftigten das Gefühl geben, dass sie sich bei der Arbeit im Freien aufhalten. Dies steht im Kontrast zur konventionellen Fabrik der industriellen Revolution, in welcher Arbeitern nur am Wochenende ein bisschen Tageslicht zu sehen bekamen. Durch den Auftrag von Herman Miller, einem Hersteller für Büromöbel, konnte McDonough seine Ideen umsetzen. Die häufig gehörte Ausrede, effektive Bauten seien zu teuer in der Umsetzung, konnte er verwerfen. Der Bau kostete lediglich zehn Prozent mehr als ein standardisiertes und vorgefertigtes Fabrikgebäude aus Metall. «Wir planten die Fabrik rund um eine von Bäumen gesäumte Fläche, die als von hellem Tageslicht durchströmte ‘Strasse’ durch die ganze Länge des Gebäudes wahrgenommen wurde.» Über den Arbeitsplätzen befinden sich grosse Fenster im Dach. Die Arbeiter können während der Produktion auf die Strasse im Innern wie auch auf die Umgebung draussen blicken und verpassen somit weder den Ablauf des Tages noch die Jahreszeiten. Die Fabrik soll sich auch der Natur anpassen und heimische Tier- und Pflanzenarten anlocken und nicht vertreiben. Das Regenwasser wie auch das Abwasser werden zur Reinigung durch eine Reihe von miteinander verbundenen Wurzelklärbecken geleitet, was die Belastung des in der Nähe fliessenden Flusses mi-

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Die Utopie als Gegenstück zur Realität Der wahre Utopist ist ein Philosoph, der die Realität um Aspekte des bisher noch nicht Bedachten erweitert. Das «Büro für Utopien» ist bestrebt, es hierbei nicht bei der Theorie bewenden zu lassen, sondern visionäre Ideen in die Praxis umzusetzen. Von Paul Hasler Teilt man die Welt in Dinge ein, die es gibt, und solche, die es nicht gibt, wird das Leben zur Grenzbegehung. In Tat und Wahrheit sind aber schon die Dinge, die es gibt, nur zu einem gewissen Grad real, was unser Leben zu einem Grenzgebiet an sich macht. Immer wieder verorten wir den Zustand dessen, was sich uns als real anbietet und versuchen uns darin selber zu entdecken. Dieses Wechselspiel ist essentiell und macht eine Realität in unserem menschlichen Sinn erst möglich. Wenn wir daher von Utopien reden, bezeichnen sie lediglich andere Formen der Grenzbegehung. Sie schlagen uns Blickwinkel vor, die der tägliche Lebensablauf vielleicht nicht hergeben würde. Utopien werden so zum Kontrastprogramm oder Weckmittel. Das ist immer dann von Vorteil, wenn Gefahr droht, dass das Bekannte allzu einseitig ausgefallen sein könnte. Und das ist bekanntlich oft der Fall, schliesslich richten wir uns unsere Realität primär nach praktischen Gesichtspunkten ein, was eine gewisse Rekursivität mit sich bringt. Anders ist es nicht zu erklären, warum man heute Dinge denken kann, die man früher nicht denken konnte oder wollte.

sucht, trägt ein Bild in sich, das ihn davon abhalten wird, das Unbekannte, Unsuchbare zu finden. Utopien sind also nicht nur eine Herausforderung an den Intellekt, sondern auch ans Herz. Es geht nicht darum, sich etwas auszudenken, was sich noch niemand ausgedacht hat. Die Kombinatorik der Zu-

Eine Arbeit mit Herz und Verstand

Das «Büro für Utopien» ist ein Think-Tank für gesellschaftliche Entwicklungen mit den Schwerpunkten Stadtentwicklung und Verkehr. Es wird seit 1991 von Paul Hasler betrieben. Auftraggeber ist meist die Öffentliche Hand im Zuge von Langfristplanungen, Visionssuchen oder Veränderungsprozessen. Daneben entwickelt das Büro für Utopien eigene Projekte.

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«Carlos»: eine konkrete Utopie des «Büro für Utopien».

fälligkeiten ist ein Gebiet, das wir den Computern überlassen können. Sie sind eher bereit, sich durch die Unmenge des Unsinns einen Weg zu bahnen, um gemäss Algorithmen, die wir ihnen vorgegeben haben, eine Spur dessen zu finden, was wir im Heuhaufen vermutet haben. Der Mensch ist glücklicherweise mit einem erheblich effizienteren Suchsinn ausgestattet worden, der ihm ein unappetitliches Mass an Kombinatorik und Selektion erspart. Wie dieser Sinn funktioniert, wissen wir nicht wirklich. Sein Prinzip setzt bei der Überwindung von Gegensätzen an, ist insofern aber bahnbrechend, als der Suchalgorithmus selber im Verlauf der Suche sich wandelt. Der Beobachter oder Suchende wird also selber Teil des Gefundenen. Diesen Suchsinn nennt man Liebe. Unmöglich, die Welt zu erobern, ohne damit ausgestattet zu sein.

zoon politikon | februar 2010 | nr. 8

Büro für Utopien

Es wäre nun falsch zu glauben, dass wir es mit rein virtuellen Dingen zu tun hätten. Gedanken, Realitäten oder Utopien können sich als mindestens so hartnäckig erweisen, wie ein Gebirgszug in den Alpen. Jede Art der Grenzbegehung ist daher Arbeit, nicht unähnlich dem Wandern, indem jede Anhöhe, jeder Fernblick eine gewisse Anstrengung erfordert. Richtig mühelos sieht man nur seine eigenen Schnürsenkel. Die Arbeit an der Realität ist zudem eine noble Aufgabe, denn sie kann nur aus einer demütigen Lebenshaltung heraus wirklich vorgenommen werden. Das erklärt sich aus dem Umstand, dass all das, was noch nicht erkannt, begriffen und verstanden wurde, erst über das Staunen sichtbar wird. Jemand, der nicht staunt, hat nicht begriffen, oder hält das Gesehene für eine simple Variation des Bekannten. Doch jeder routinierte Grenzgänger weiss: Es braucht eine gewisse Lust und Hingabe, um das zu entdecken, was man nicht kennt. Im Grunde kann man das Neue nicht einmal suchen. Denn wer


Utopien haben eine praktische Relevanz Was im ersten Moment nach einer eher kontemplativen statt produktiven Tätigkeit tönt, muss insofern relativiert werden, dass niemand Utopien in Reinkultur konsumiert, wie auch niemand Gewürze als Hauptspeise anrichtet. Es reicht, wenn die Utopie der Realität dann und dort einen weiteren Raum weist, sie erweitert um den Aspekt des bisher noch nicht Bedachten, oder besser gesagt: um den Aspekt des bisher noch nicht Gelebten. In diesem etwas praktischeren Sinn können Utopien eine wirtschaftliche Bedeutung haben. Sie werden als Spurenelemente einer guten Planung benötigt, ebenso als Fällmittel in einer sich eher trüb darstellenden Ortsbestimmung. Richtig angewendet bringen sie die Kompasse der inneren Ausrichtung zum Ausschlagen, was nichts anderes heisst, als dass sie die Menschen zurück zu ihren Visionen führen können. Utopien sind Kontrastmittel in jeder profunden Ortsbestimmung. Das Büro für Utopien arbeitet vor allem im Bereich der Stadtentwicklung und Verkehrsplanung. Das sind Gebiete, wo viele Menschen aufeinander treffen und Utopien in homöopathischen Dosen gebraucht werden. Hier sind Utopien am ehesten salonfähig, weil Zeiträume von grosser Dimension betrachtet werden müssen. Schon eine kleine Ungenauigkeit bei der Zielfindung wird im Umgang mit langen Planungshorizonten zu erheblichen Fehlinvestitionen führen. Es zahlt sich also aus, schon heute abzuspüren, was uns dereinst bewegen wird. Wenn Menschen plötzlich fähig werden, vor Eisenbahnschranken geduldig zu warten, kann man sich die eine oder andere Unterführung sparen. Und wenn wir fähig werden, unsere Haltung im Auto dem Wesen des sanften Verkehrs besser anzupassen, wird das einige Leben retten.

Geschichten erzählen und verführen Der Utopist als Aktivist sucht daher Wege, den heutigen Zustand etwas zu destabilisieren, um Entwicklungen möglich zu machen. Er stellt Fragen, und noch besser: er erzählt Geschichten. Nichts destabilisiert eine Wirklichkeit mehr, als die Geschichte einer anderen Wirklichkeit. Das tut er natürlich mit schelmischer Ahnungslosigkeit. Er bietet

utopie

Der wahre Utopist ist also ein Philosoph («WeisheitsLiebender»), der sich aber nicht auf die Betrachtung des Bekannten konzentriert, sondern auf die Betrachtung des Unbekannten, was nichts anderes ist als eine dauernde Übung in Verzauberung. Denn erst der Zustand, der sich nicht mehr aus dem Bestehenden alleine begründen lässt, sondern in sich etwas trägt, das neu ist, entzückt sein Herz wirklich. Dabei ist er sich bewusst, dass es selten Mondraketen und Energiestrudel sind, die unser Leben verändern, sondern meist einfache Haltungen und Möglichkeiten der Realität gegenüber.

den Menschen Ausblicke auf Dinge an, die dereinst ein Stück Leben bedeuten könnten. Das macht er mit Dosiertheit und Geschick, indem er Stellen ortet, wo die Geschichte am Jetzt anknüpfen kann. Domestizierte Utopien kommen daher in Form von Freiräumen und Einladungen an ein gehaltvolleres Leben daher. Der Utopist ist ein Verführer, weshalb er früher des Öfteren als solcher geköpft wurde. Heute ist das weniger einschneidend. Man wird höchstens als . Scharlatan bezeichnet oder in die gleiche Schublade wie Werber, Politiker, Volksverhetzer, Pfarrer und andere Realitätsanbieter geworfen. Dieser Umstand Autor muss mit Fassung und Würde getragen werden. Es Paul Dominik Hasler (46) ist leider so, dass es keine Qualitätslabels für taugist Ingenieur ETH NDS, liche Zukünfte gibt; wir haben sie nicht einmal für und Gründer des «Büro die Gegenwart. Der Prozess der Erneuerung ist also für Utopien» in Burgdorf eine Sache der immerwährenden Beurteilung und BE. Kontemplation, und es ist letztlich eine Frage der Kultur, an welchen Massstäben wir unsere Ist- und Bild Soll-Zustände des Lebens messen. Paul Dominik Hasler

KONKRETE UTOPIEN

Das «Büro für Utopien» war unter anderem an der Entwicklung und Umsetzung folgender Projekte beteiligt:

CARLOS Das innovative spontane Mitfahrsystem mit dem einprägsamen Namen wurde 2002 bis 2005 in Burgdorf und Umgebung getestet. Mittels Leuchtanzeigen konnten Passagiere ihren Fahrwunsch an die Automobilisten übermitteln. Ticketausgabe, Überwachungssystem und Taxiruf machten das System sehr ÖV-nah. Der Pilotbetrieb dauerte 3 Jahre und bietet heute die Basis für weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet. www.carlos.ch

HERZROUTE Die etwas andere Velowanderroute durch die Schweizer Voralpen (Willisau – Thun – Laupen) verzaubert durch ihren intimen Blick auf eine unbekannt bekannte Landschaft. FLYER E-Bikes verhelfen den Gästen zum nötigen Rückenwind in den zahlreichen Hügeln. Die Herzroute gilt als Pionierroute im E-Bike-Tourismus. www.herzroute.ch

VELO-HAUSLIEFERDIENST Das Bindeglied zwischen lokaler Ökonomie und Verkehrsberuhigung ist der Velo-Hauslieferdienst. Er stützt das lokale Gewerbe und bietet den Kunden einen Mehrwert ohne Auto. Das Modell wurde in Burgdorf entwickelt und wird inzwischen schweizweit umgesetzt, so auch in der Sihlcity. www.wir-bringens.ch

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Es lohnt sich, die Wochenzeitung WOZ zu lesen, … weil sie ein erstklassiges Statussymbol ist. … weil zwanzig Minuten Desinformation pro Tag Ihre geistige Gesundheit gefährden können. … weil sie wie eine süsse Erdbeere im bitter-faden medialen Einheitsbrei ist. … weil man damit politisch korrekt das Cheminéefeuer anzünden kann. … weil sie ein Stachel im Fleisch des Law-and-Order-Flügels der SP ist. … weil sie schon 1994 vor den Risiken des Derivatehandels gewarnt hat (und die aktuelle Krise erstaunlich genau vorausgesagt hat). … weil die WOZ sich zu 80 % aus LeserInneneinnahmen finanziert – das garantiert ihre redaktionelle Unabhängigkeit. … weil diese Zeitung keinem Medienkonzern, keiner Partei und keinem dubiosen Investor gehört – sondern den MitarbeiterInnen. … wil d WOZ e gueti Ziitig isch! … weil bei der WOZ zudem jede Zeile ihren Preis wert ist. … weil sich die WOZ jede Woche für eine bessere Welt engagiert. … weil die WOZ die Schreibwerkstatt der Schweiz ist. … weil keine andere Zeitung mit so wenig Mitteln so differenzierte Berichte liefert. … weil die WOZ mit etwas mehr Mitteln noch besseren Journalismus machen könnte. … weil die WOZ überhaupt zu wenig wahrgenommen und zitiert wird. … weil es gut für den Humor ist. … weil es die grauen Zellen anregt … weil der WOZ das Weltblatt «Le Monde diplomatique» gratis beigelegt wird … weil WOZ-Lesen Begeisterung für Subkultur weckt … weil das politische Bewusstsein dann endgültig wach wird. … weil man endlich lesen darf! … weil es LeserInnen frecher macht. … weil die WOZ das Binnen-I erfunden hat. … weil die WOZ sich in Hintergründen auskennt. … weil die WOZ den schönsten Redaktionshund hat. … weil sie den Dingen dort auf den Grund geht, wo andere nur dranbleiben. … weil Dinge neu zu denken sexy ist. … weil die Woche erst losgeht, wenn die WOZ im Briefkasten ist. … weil la crise existe. … weil la crise existe immer noch. … weil sie im Zug nicht auf den Sitzen herumliegt. … weil die WOZ Seiten sinnvoll füllt und so Papier, Wasser und Farbe spart. … weil die WOZ für die LeserInnen schreibt und nicht für die Werbewirtschaft. … weil nicht alles in der Schweiz feige ist. … weil kritisch sein keine Haltung, sondern eine Wochenzeitung ist. … weil Sie in der WOZ lesen können, was die anderen Zeitungen vergessen haben. … damit Sie die «Weltwoche» nicht mehr lesen müssen. … weil sie die besten AuslandskorrespondentInnen hat. … weil sie die schönsten Aufschlagsseitenkarikaturen hat. … weil die Palme Olaf Wasser braucht. … weil es Mut braucht, WOZ-Thesen zu vertreten. … weil ich doch nicht blöd bin. … weil die WOZ die Zukunft mitdenkt. … weil die WOZ die UBS noch nicht übernommen hat. … weil die WOZ nur in Zürich sitzt, aber über den Rest der Welt schreibt. … weil die WOZ Aale liebt und auch Wahlen. … weil die WOZ eine Sportseite hat, die auch Nicht-SportInteressierte interessiert. … weil ich die Welt Woche für Woche besser verstehen lerne. … weil die WOZ die schönste Werbung macht. … weil Sie bei uns finden, was Sie schon immer über die Welt wissen wollten. … weil die WOZ die Wahrnehmung schärft. … weil bei uns noch recherchiert wird. … weil die WOZ Doping für Ihren Geist ist. … weil sie das Gelbe vom Ei ist. … weil es nur 265 Franken kostet, sich für ein ganzes Jahr eine eigene Meinung zu leisten.


kultur

Gefangen in der Freiheit: Die Falle der utopischen Insel Verführerisch lockt sie, die Insel der perfekten Gesellschaft, scheinbar vom Rest der Welt abgeschnitten und aus dem Strom der Zeit herausgerissen. Doch genau das, wovon sich die Vision abkehren wollte, schlägt mit umso stärkerer Gewalt zurück. Von Johannes Riquet «Think about a lagoon, hidden from the sea and passing boats by a high, curving wall of rock. Then imagine white sands and coral gardens never damaged by dynamite fishing or trawling nets. Canopies three levels deep, plants untouched for a thousand years, strangely coloured birds and monkeys in the trees. On the white sands, fishing in the coral gardens, a select community of travellers pass the months. They leave if they want to, they return, the beach never changes.» (Alex Garland, «The Beach») Bereits bevor der Protagonist und Erzähler Richard und seine Begleiter in Alex Garlands Roman «The Beach» am Ziel ihrer Reise ankommen, verfolgt sie diese Beschreibung der perfekten Insel als Mythos, als Legende. Eine Insel, die sich selber verdoppelt und perfektioniert: Innerhalb der Insel quasi eine zweite Insel, eine Ebene samt Strand und Lagune, umgeben von hohen Kliffen. Die einzige Verbindung zum offenen Meer und zur Aussenwelt sind ein paar versteckte und mit Wasser gefüllte Höhlen in den hoch aufragenden Felsen. In der Nähe des Strandes befindet sich das Lager der Inselbewohner unter einer künstlich geschaffenen Decke von zusammengewachsenen Baumästen, die verhindern soll, dass die thailändischen Behörden von der verbotenen Besiedlung Wind bekommen. Doch der eigentliche Grund ist ein anderer: Die Pflanzendecke schafft eine dritte Insel innerhalb der Insel-Ebene, und worum es bei dieser komplizierten räumlichen Verschachtelung wirklich geht, ist die komplette Abschottung von der Aussenwelt, die vollständige Isolierung. Die Bewohner der Insel kommen aus Europa, Amerika und Australien und haben genug von der Gesellschaft, in der sie leben. Ihr Ziel ist die Gründung einer eigenen, egalitären Gemeinschaft, die Realisierung einer politischen Utopie, welche die Welt hinter sich lässt und eine neue, perfekte Miniaturwelt entstehen lässt.

Die Zeitrechnung beginnt neu Nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich wird die Insel aus dem Strom der normalen Zeit herausgerissen: Vier Nullen ritzen die Gründer der Inselgemeinschaft bei ihrer Ankunft in die Rinde eines alten Baumes, «year zero» nennen sie das erste Jahr: Ein

symbolischer Neustart, ein weiterer Versuch, die Aussenwelt zu distanzieren und auszublenden. Die Geste markiert gleichzeitig das Ende der tradierten Zeit und den Neubeginn aller Zeit: «If I could stop the world and restart life, put the clock back, I think I’d restart it like this. For everyone», erklärt Richard. Ende und Anfang der Zeit treffen sich, die Zeit und Zeitlichkeit an sich scheinen stehenzubleiben. Bezeichnenderweise stehen die vier Nullen auch Jahre nach der Gründung der Gemeinschaft unverändert da: «The beach never changes.» Eng verbunden mit der räumlichen Abschottung und der Auflösung der Zeit ist eine dritte Vorstellung: die der perfekten, egalitären und homogenen Gemeinschaft, des konfliktfreien Zusammenlebens und der Auflösung hierarchischer und einschränkender Strukturen. Sogar das Denken der Gemeinschaft soll homogen sein: «You know what I mean», sagt Richard zu seinem Freund Etienne, nachdem er seine Vision vom Neubeginn der Zeit formuliert hat, woraufhin Etienne antwortet: «All these thoughts are the same as mine», und dann, «the same as everybody’s». Auch die scheinbare Homogenität des Insellebens trägt, wie die räumliche Abschottung und das Austreten aus der Zeit, zur Distanzierung und zum Vergessen der Aussenwelt bei: «In an all-blue world, colour doesn’t exist. It makes a lot of sense to me. If something seems strange, you question it; but if the outside world is too distant to use as a comparison, then nothing seems strange.» Eine gleichförmige, einheitliche Welt also, in der die Gegensätze hier/dort, jetzt/dann und du/ich verschwinden, in der es keine ideologischen, zeitlichen und räumlichen Differenzen mehr gibt?

Literatur DERRIDA Jacques (2003). Voyous: deux essays sur la raison. Paris: Galilée. GARLAND Alex (1997). The Beach. London: Penguin. JAMESON Fredric (2005). Archaeologies of the Future. London, New York: Verso. MORE Thomas (2003).

Die Aussenwelt bricht ein

Utopia. London:

Doch genau hier liegt die Gefahr des Projekts. Das Vergessen der Aussenwelt, des «dort», «vorher» respektive «nachher» und des «anderen» kommt einer Verdrängung gleich: Einer Negierung des illusionären Charakters der scheinbaren Abschottung, Zeitlosigkeit und Homogenität des Inselparadieses. Und was verdrängt wurde, kehrt in «The Beach» mit umso stärkerer Kraft zurück und verschlingt die utopische Gemeinschaft – scheinbar von aussen. Doch die äussere Bedrohung ist nur eine Manifestation einer Kraft, die aus dem Innersten der Inselgemeinschaft kommt und als notwendige Voraussetzung

Penguin. SHAKESPEARE William (1997). The Tempest. The Norton Shakespeare. New York, London: W.W. Norton & Co.

Bilder 1. flickr.com 2. Anna Chudozilov

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In Alex Garlands Roman «The Beach» verwandelt sich die traumhafte Insel in ein Gefängnis.

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Insulaner an der Grenze zwischen Lagune und offenem Meer von einem Hai angefallen. Einer von ihnen stirbt noch am selben Tag. Beide Zwischenfälle repräsentieren insofern die Aussenwelt, als sie Bedrohungen darstellen, die aus dem offenen Meer in die eben doch nur scheinbar geschützte und fast, aber eben nur fast, abgetrennte Lagune eindringen. Und sie antizipieren die bevorstehende Ankunft von weiteren Besuchern, zwei Amerikanern, denen Richard vor seiner Ankunft auf der Insel eine Kopie der Karte mit dem Weg zur Insel gab. Diese Karte hatte er selbst in Bangkok von einem der drei ursprünglichen Gründer der Gemeinschaft erhalten. Daffy Duck, der Besitzer der Karte, beging später in Richards Nachbarzimmer in einer Herberge Selbstmord. Da die anderen Inselbewohner nichts von der kopierten Karte wissen, versetzt die bevorstehende Ankunft Richard in Angst und Schrecken. Die Amerikaner, ursprünglich eine lockere Ferienbekannt-

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und Bedingung von Anfang an zu ihr gehört. Dass die räumliche Autonomie eine Illusion ist, wird schon früh klar. Als die Reisvorräte auf der Insel schimmeln, muss Richard zusammen mit einem anderen Insulaner mit dem Motorboot der Gemeinschaft zur bewohnten Nachbarinsel fahren, um neue Vorräte zu besorgen. Schon Robinson Crusoes Neuerfindung der Errungenschaften der westlichen Zivilisation ist nur dank des schier unerschöpflichen Lagers des Wracks möglich. Ähnlich stützen die Inselbewohner in «The Beach» ihre Existenz wesentlich auf Elemente der Gesellschaft, von der sie sich losgesagt haben. Doch auch auf einer anderen – gleichzeitig konkret räumlichen und stark symbolischen – Ebene bricht die Aussenwelt nach und nach in die Insel ein. Eine Reihe von Unglücken beginnt damit, dass ein Inselbewohner irrtümlicherweise einen toten Fisch fängt, der bei zahlreichen Bewohnern ernste Lebensmittelvergiftungen hervorruft. Kurz darauf werden zwei


Stetiger Strom neuer Eindringlinge Richard, der sich über Alpträume und Halluzinationen immer stärker mit Daffy Duck, einem der Gründer der Inselgemeinschaft, identifiziert, vergisst dabei völlig, dass auch er selbst einmal ein Eindringling war, der die Integrität und Abgeschlossenheit der Insel und ihrer Gemeinschaft bedrohte. Und dass die Amerikaner nur das letzte Glied in einer Kette von Eindringlingen darstellen, deren erstes Glied die Gründer selbst waren, dass es ein reines «innen» auf der Insel nie gab. Jeder neue Eindringling geriet gewissermassen durch eine Wiederholung der ursprünglichen Ankunft auf der Insel, durch eine zwingend ins System eingebaute Sicherheitslücke – manifestiert durch die Weitergabe einer Karte – auf die Insel. Richard wird somit zum Doppelgänger seines toten Vorgängers Daffy Duck, der ihm die Karte in Bangkok gab, und der Richard in einer seiner Halluzinationen selbst erklärt, dass die scheinbare Abdichtung der Insel nur eine Illusion war: «You have to see, with these places, with all these places, you can’t protect them. We thought we could, but we were wrong. . . Cancer back, no cure, malignant as fuck.» Als Krebs, als schleichende Krankheit dringt die Aussenwelt in den Körper der Insel ein.

Der Versuch, den Tod selbst zu töten Mit der räumlichen wird somit auch die zeitliche Autonomie als Illusion sichtbar. Was die scheinbare Zeitlosigkeit und Ewigkeit auf der Insel unterwandert, ist der Tod selbst. Diesen hatten die Inselbewohner und Richard in ihrer Ablehnung von Zeitlichkeit und Veränderung letztendlich zu verdrängen versucht. Doch er schlägt jetzt – als zentrale Verkörperung von Vergänglichkeit – umso brutaler zurück. Die Halluzination von Daffy Duck selbst erklärt Richard, wovor die Gemeinschaft ursprünglich fliehen wollte: «Sure, cancer. Or AIDS. What do you want to call it? … Living with death. Time-limits on everything you enjoy. … Then to have that cancer lifted. To think you’ve found a cure.» Doch schleichend nagt die Krankheit am Körper der Insel, fordert ihren Preis ein. Sie kehrt in Form des toten Fisches, der Haifischattacke und schliesslich der Karte, deren Existenz Richard während seines ganzen Aufenthalts auf der Insel zu verdrängen versucht, brutal zurück. Mit der Karte werfen die Drogenwächter der Gemeinschaft die toten Körper der Amerikaner und ihrer Begleiter vor die Füsse. In einem letzten ver-

kultur

schaft, werden zu einer unbestimmten Bedrohung, deren Ankunft es um jeden Preis zu verhindern gilt. Der Preis, den sie schliesslich bezahlen müssen, ist hoch: Richard, der sie bei ihrer Ankunft auf der Insel beobachtet und verfolgt, unternimmt nichts, um sie vor den Wächtern einer illegalen MarihuanaPlantage auf jener Seite der Insel zu warnen und zu schützen. Er lässt sie in ihr Verderben, in den Tod, rennen.

zweifelten Versuch, den Tod selbst zu überwinden, beginnen die Inselbewohner, auf die bereits toten Eindringlinge einzustechen. Sie töten diejenigen, die bereits tot sind, noch einmal, und versuchen in ihrem hoffnunglslosen Unterfangen gewissermassen, den Tod selbst zu töten. Wenden wir uns nun der dritten Illusion zu, derjenigen der homogenen, egalitären und konfliktfreien politischen Gemeinschaft. Es wird klar, dass der Einbruch der Zeit, respektive des Todes die zunehmend schwelenden Konflikte und Zwietracht in der Gemeinschaft selbst spiegeln und metaphorisch mit ihnen verschränkt sind. Man kann die Insel oder den Strand als Symbol für den kollektiven politischen Körper ihrer Bewohner, den Hobbesschen Leviathan betrachten. Diese Interpretation wird durch die häufige Personifizierung des Strandes nahegelegt. So verkörpert das katastrophale Ende auch die latente Gewalt innerhalb der Gemeinschaft, die im Laufe des Romans immer spürbarer wird. Die Gewalt äussert sich gegen Ende nicht nur in der Zweiteilung des Lagers, sondern auch in konkreten körperlichen Attacken. Sie gipfelt im abschliessenden Angriff auf Richard kurz vor seiner Flucht. Richard wird zum rituellen Opfer und Sündenbock.

Der Widerspruch der Inselutopien In seiner Offenlegung der räumlichen, zeitlichen und ideologischen Illusion der utopischen Insel kann Garlands Text auf zahlreiche Vorgänger zurückblicken. U-topia bedeutet Nicht-Ort: Die klassischen Inselutopien kreisen alle um einen unauflösbaren Widerspruch, oder anders gesagt, sie demonstrieren die Nicht-Existenz oder den illusionären Charakter ihrer Visionen durch ihre eigene narrative Struktur. Bereits in Platons mythischer Schilderung des Inselstaates Atlantis ist die utopische Gesellschaft eine, die nicht oder nicht mehr existiert. Jegliche Evidenz einer einstigen Existenz ist durch das Versinken des Inselreiches ins Meer verschwunden. Die einst perfekte Gesellschaft, so Platons Schilderung, stürzte sich durch die Aufgabe ihrer in des Autors Augen idealen Strukur selbst ins Verderben. Auch in Thomas Mores «Utopia», der Text, der allen modernen Utopien zugrunde liegt, löst sich die eponyme Insel aus der Geschichte in einen Mythos, ein nicht greifbares Fantasma auf: Der Erzähler im Zentrum der Geschichte, der Utopia selbst bereiste, ist gemäss den Berichten des Rahmenerzählers unauffindbar, und das gleiche gilt für die genaue geographische Lage der Insel: «I don’t know whose fault it was, mine, yours, or Raphael’s, but we never thought of asking, and he never thought of telling us whereabouts in the New World Utopia is.» Bei Platon und bei More ist die utopische Insel nur noch in Form der Erzählung selbst erhalten. Der Text selbst wird der Ort der Utopie. Auch bei More ist die utopische Inselgesellschaft zeitlos und statisch. So geschieht in dem Teil des Buches, der die Insel beschreibt,

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wirft, «Yet he would be king on’t», ergänzt vom Fürsten Antonio: «The latter end of this commonwealth forgets the beginning.»

Die Illusion einer perfekten Welt.

gewissermassen nichts. Es gibt keine narrative Entwicklung, keine Veränderung, der Text beschränkt sich auf die Schilderung der scheinbar idealen und ewig so fortbestehenden Gesellschaft.

Am Anfang steht ein Gewaltakt

Autor Johannes Riquet (26) aus Winterthur studierte Englisch, Filmwissenschaft und Geographie an der Universität Zürich. Er arbeitet als Englischlehrer am Gymnasium und schreibt eine Dissertation über Inseln in Literatur und Film. Ab dem Herbstsemester ist er Lehrbeauftragter am Englischen Seminar.

Doch auch hier besteht das Problem des Anfangs, welches das ganze Projekt untergräbt und in Frage stellt. Am Ursprung dieser präkommunistischen, zeitlosen, konfliktfreien und immer gleich bleibenden Gesellschaft ohne Privateigentum steht ein Akt der Gewalt: König Utopos’ Abschneiden der Insel vom Festland, verbunden mit Eroberung, Zwangsarbeit und Umerziehung. Genau in diesem Widerspruch zwischen dem ursprünglichen, dynamischen Gründungsakt und der statischen, ausserhalb normaler Zeitlichkeit liegenden politischen Gesellschaft sieht denn auch Fredric Jameson ein Grundproblem aller Utopien: «This is an opposition between temporalities which (. . .) seems to characterize Utopias (. . .) Utopos’ inaugural gesture as opposed to that daily Utopoian life beyond the end of history.» Die gleiche Problematik kennzeichnet Gonzalos utopische Vision der Insel, auf der er mit König Alonso und seiner Gefolgschaft in Shakespeares «The Tempest» gestrandet ist:

Dank Der Autor bedankt sich bei der Klasse 2fW der Kantonsschule Büelrain (Winterthur) für eine Reihe von anregenden Diskussionen über «The Beach», die ihm einige

Had I plantation of this isle, my lord – . . . And were the king on’t what would I do? No occupation, all men idle, all; And women too – but innocent and pure; No sovereignty . . . I would with such perfection govern, sir, T’excel the Golden Age.

Denkanstösse und Ideen für diesen Artikel gegeben haben.

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Ohne Souveränität soll Gonzalos Reich auskommen, und doch, wie des Königs Bruder zynisch ein-

Das Vergessen – oder Verdrängen – des Anfangs, und damit all dessen, was ausserhalb der homogenen Raum-, Zeit- und Ideologiestruktur der utopischen Insel liegt, ist damit auch das, was ihre Existenz bedroht und schliesslich auflöst: Die Insel kann nie «rein» sein. Wie wir in der Analyse von «The Beach» gesehen haben, bricht die scheinbare Dichotomie zwischen Innen/Zeitlosigkeit/ideo­ logischer Homogenität und Aussen/Zeitlichkeit/ Konflikt unaufhaltbar zusammen. Das scheinbare «Innen» trägt das «Aussen» immer schon zwingend in sich. Das, was mit der Gewalt der Rückkehr des Verdrängten in die Inselwelt einbricht, ist genau das, wovor man sich krampfhaft schützen wollte: Das, was mit der Aussenwelt assoziiert und was die drei eingangs diskutierten Illusionen der Inselutopie – der räumlichen Isolation, der Zeitlosigkeit und der ideologischen Homogenität – zerstört: der äussere Raum, der Tod (Zeitlichkeit) und exzessive Gewalt (der politische Konflikt). Dieser Einbruch ist in «The Beach» von ganz besonderer Brisanz, denn worum es hier letztlich geht, ist Vietnam. Vietnam, gleichzeitig das erste Wort des Romans, wird jedoch in der Folge über weite Strecken genauso verdrängt wie der Rest der Aussenwelt, um gegen Ende wieder immer häufiger aufzutauchen. Doch Richard ist kein Vietnam-Veteran, der auf der Insel alptraumhaft von traumatischen Kriegserlebnissen heimgesucht wird. Richards Geburtsjahr ist 1974, kurz vor dem Ende des Vietnamkriegs. Und dennoch ist Vietnam etwas, was ihn gleichzeitig heimsucht und fasziniert. Doch das Vietnam, das Richard auf der Insel erlebt, ist ein medial vermitteltes: «Vietnam, me love you long time» beginnt der Prolog des Romans, mit Ausnahme des ersten Wortes ein direktes Zitat aus der Anfangsszene von Stanley Kubricks Vietnamfilm «Full Metal Jacket». Dort spricht eine junge vietnamesische Prostitutierte zwei amerikanische GIs an. Überhaupt ist der ganze, halbseitige Prolog ein Konglomerat von Zitaten und Anspielungen: Neben Psalm 23 («though I walk through the valley of death I will fear no evil») wird auch der zweite grosse Vietnam-Film, Francis Ford Coppolas «Apocalypse Now» zitiert («the smell of napalm in the morning»). Ebenso wird ein Videospiel namens «Vietnam SOG ‘69» thematisiert. In diesem leitet der Spieler ein Team von Söldnern in einer Vietnam-Mission. Richards Vietnam, dessen Hang zu Videospielen uns durch den ganzen Roman hindurch immer wieder verdeutlicht wird, ist das Vietnam des Kinos und der Videospiele. Seine Vietnam-Obsession beruht nicht auf eigener Primärerfahrung, sondern aus Zitaten. Dies wiederum legt zwei Interpretationen nahe, die sich gegensei-

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Im Herzen der Insel lauert der Krieg


Die Falle der Utopie umgehen Im Zentrum beider Lesarten stehen jedoch die traumatischen Bilder von und Erinnerungen an einen Krieg, der an Schrecken kaum zu übertreffen war. Je weiter der Roman fortschreitet, desto klarer wird, dass eine Verbindung zwischen der Utopie der Insel und der Utopie des Kriegs besteht: Die politische Verblendung der Figuren in «The Beach» wird mit der Verblendung eines Kriegs, der keine Resultate, sondern nur Gewalt und Tod brachte, assoziiert. Somit wird das blinde Festhalten an einer starren und allumfassenden ideologischen Vision (der Inselbewohner, der USA) als gefährliche, todbringende Falle figuriert. Die Insel und die ihr anhaftende Verblendung ist letztlich Vietnam. Dies macht Daffy Duck in einem seiner letzten halluzinatorischen Auftritte explizit: «I never offered you anything but Vietnam, and only because you asked for it. It so happens you wanted the beach too. But if you could have had Vietnam and kept the beach, it wouldn’t have been Vietnam.» Kurz darauf erklärt er dem entrüsteten Richard, dass genau dieses Nicht-Wissen der entscheidende Punkt sei: «You not knowing was Vietnam too. Not knowing what was going on, not knowing when to give up, stuck in a struggle that was lost before it started.» Das Nicht-Wissen, die Verdrängung des Aussen, der Zeitlichkeit und des Konflikts, ist das, was Gewalt, Schrecken und Tod umso stärker ausbrechen

lässt. Es lauert im Herzen der utopischen Vision. Doch die utopische Vision im Text ist nicht dieselbe wie die Vision des Textes: Garlands Roman, wie so viele andere utopische Texte, macht die Utopie als Machtsichtbar. mal! Dabei wird die Utopie – kaum ist sie solche formuliert – auch gleich wieder aufgelöst. So wird Von Verflüchtigung Stefan Kovacin die eigene Struktur eingebaut ihre Grosse Halle, viele Menschen, lautes Dröhnen und der Text dynamisch offen. Genau daMan kann sein wird eigenes Wort kaumund hören. rin liegt das utopische Denken von Gekommen sind alle bei Sonnenaufgang, «The Beach». gegangen, neun Stunden die Schicht Dieses besteht geradenachdem nicht darin, einebegann. zeitlose, scheinbar perfekte Vision heraufzubeschwören und Fleissiges Werkeln, heiteres Lachen, manchmal Tränen, herbeizuwünschen. Vielmehr geht es darum, solche vom Schweiss, der Hitze oder anderen Gebären. Visionen immer wieder neu zu denken, um sie soZum Beispiel wenn man untereinander diskutiert, und dann aus Versehen folgendeszupassiert: gleich wieder entschwinden lassen. Ein solches Denken steht im Einklang mit Derridas Gedanken „Der Kurt der hat mir eine Schraube geklaut!“ einer «démocratie à venir». Diese ist nicht innerhalb Doch bevor er ihm eine reinhaut, einer in teleologischer Zeitlichkeit greifbaren Demovergewissert er sich auf unauffällige weise, ob ihm verortet, alle zuschauen, wenn sich beweise. kratie die wir für er unsere Zwecke, vielleicht gegen Derridas Willen, Utopie nennen wollen. VielDer Kurt der wollte eigentlich schnell reagieren, mehr wird in nun Garlands die gerade doch zu spät, muss erBuch seineeine NaseUtopie, rehabilitieren. nicht greifbar ist, sondern immer erst noch Und kaum ist diese wieder gerade und er steht auf,kommt nimmtsich er den Besen zur Hand und holt mächtig aus. Diese und permanent entzieht, beschworen. muss immer wieder neu gedacht und verworfen Der Hans, das war der mit der Faust, werden eine Offenheit für das, ahnt nicht,und wasschafft da an ihndamit heranbraust. was kommen möge, ohne dass Man rief ihm zu, er solle sich bücken, diese jemals fixiert doch der Besen wäre. war bereits seinem oder fixierbar Für indas, wasRücken. kommen möge, ohne jemals dasein zu können. Es geht um eine Wie es sich beim Keilen so verhält, utopische Offenheit, welche die Falle der Utopie wenn der Chef sich woanders gesellt, umgeht: Die Falle, die den Verblendeteten dazu versozusagen: „Ist die Katze ausser Hause, machennach die drinnen was siegreifen wollen, zu die wollen. Mäuse.“ Wer dies führt, der Utopie tut, um den schlingt sie sich mit ihren Krallen, greift Kommt die Katze dann unverhofft vorbei, zu und nicht mehraus los. ist es wielässt immer, plötzlich das Geschrei. Alle drehen sich wieder nach ihrer Arbeit,

kultur

tig nicht ausschliessen: Einerseits steht Richard für eine Generation, welche die Schrecken des Vietnamkriegs (und vielleicht der grossen Kriege des 20. Jahrhunderts allgemein) nicht selbst mitbekommen hat. Die Folgen spürt diese Generation dennoch. Sie suchen die Menschen als «transgenerational haunting» heim. Die medial vermittelten Bilder stehen dafür als kulturelles Gedächtnis sinnbildlich ein. Es ist nicht klar – aber durchaus möglich –, ob Richards Double und Vorgänger Daffy selbst in Vietnam war. Andererseits könnte man behaupten, dass Richard eine Generation des zunehmenden Realitätsverlusts repräsentiert. Diese hat durch die Fülle und markante Präsenz von Simulacra und einen zumindest potentiell damit einhergehenden Verlust an Primärerfahrungen ein verändertes Verhältnis zu den täglich medial auf sie einstürzenden Ereignissen der Weltgeschichte. Man denke nur an die medial geschaffene, verstörende Gleichzeitigkeit zwischen Krieg und Bild im Wohnzimmer im Golfkrieg. Richard verkörpert diese zwar immer bestehende, aber in unserer Zeit wohl besonders akute Schwierigkeit, die Wirklichkeit von ihren Bildern zu trennen. Bezeichnenderweise verwandelt sich die Insel für ihn immer mehr in ein Videospiel. Dieser Prozess geht in Danny Boyles Verfilmung des Romans so weit, dass der Film für kurze Zeit eine künstliche Videospiel-Ästhetik samt Cartoon-Tiger und leuchtendem Punktestand annimmt.

auf dass die Katze nichts vom gesch Und als dann der Chef sich wieder ab wird die Zeit erneut zum Prügeln verw Ursache und Wirkung ist auch so ein nur irgendwie verhält es sich eben an

Den ganzen Tag nun, hat der Hans d Hans, gerupft gerupft, wie es der Metzger m und das schon den ganzen Tag vom Nacht, wäre nicht irgendwann ein kleines Pä

Da ertönt sie, die lang ersehnte und e abendglocke Und die die zusahen, fragen nach de Locke?“ „Oder glaubst du der Hans hat gewo Scheitel?“ „Würde mich nicht wundern, wäre mi eitel!“

Alle verlassen die Halle und drinnen w nichts mehr zu hören von all diesem g Und so steht die Fabrik über die Nac bevor es wieder kommt, das arbeiten

Wenn man sich nun fragt, was man d ich kann nicht weiterhelfen, ich war z vom schweisstreibenden Kampf und dass ich vergass, den einzelnen über schauen.

Doch irgendwas wird immer irgendwo auch wenn es nur ein Besenstiel ist, d oder sei es ein Veilchen frisch vom Kö am Kopf des Hans, als er am nächste

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Niemals loslassen Der Wahrheit ins Gesicht sehen oder an einer Illusion festhalten? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten in einer dystopischen Welt, in der Glück und Zufriedenheit Fremdworte sind. Von Stefanie Heine Kathy H. ist Fürsorgerin. Sie begleitet Menschen, die ihre Organe spenden, bis zum Tod. Nur noch wenige Monate wird die 31-jährige Erzählerin ihren Job machen, danach erwartet sie dasselbe Schicksal wie ihre Patienten. So viel erfahren wir schon auf den ersten Seiten von Kazuo Ishiguros 2005 erschienenem Roman «Never Let Me Go». Allerdings müssen die Leser bis zum Ende des Buches ausharren, bis sich alle Hintergründe entfalten. Erst spät im Roman wird klar, dass Kathy geklont ist und wie viele andere Menschen in einem fiktionalen England der 1990er Jahre dazu gezüchtet wurde, anderen ihre Organe zu spenden. Die Originale der Klonkinder sind allerdings nicht die Personen, für welche die Organe bestimmt sind. Es handelt sich dabei vielmehr um Prostituierte, Alkoholiker oder Obdachlose – Leute, die nichts mehr zu verlieren

haben und für einige Pfund ihr Genmaterial zur Verfügung stellen.

Der Traum der Unsterblichkeit In diesem Szenario scheinen die Warnrufe von düster-hoffnungslosen Dystopien wie George Orwells «1984» oder Aldous Huxleys «Brave New World» nachzuhallen. Ein zerstörerischer Krieg wird erwähnt, nach dem die Wissenschaft eine bessere Gesellschaft verspricht: Effizienter soll diese sein und weniger angreifbar. Der rapide Fortschritt in der Medizin ermöglicht die Heilung von beinahe allen Krankheiten. Gegen das Altersversagen gibt es die Organe der Klone. Ohne Frage ist es aber eine raue, grausame Welt, welche nicht nur über die Leichen der Klonkinder geht, um einen Traum von Sicherheit und Unsterblichkeit zu garantieren. Allerdings wird die dystopische Gesellschaft in «Never Let Me Go» nur fragmentarisch umrissen. Der Fokus des Romans liegt auf der Geschichte von drei Klonen, der Erzählerin Kathy, ihrer Freundin Ruth und Tommy. Im Gegensatz zu vielen ähnlichen negativen Zukunftsvisionen, wie zum Beispiel dem Film «The Island», der auch das Thema von zu Organtransplantationen gezüchteten Klonen anspricht, stehen in «Never Let me Go» nicht die Aussteiger aus dem System im Zentrum, sondern die Angepassten.

Die drei Protagonisten wuchsen in einem von der Aussenwelt abgeschotteten Internat, genannt «Hailsham» auf. Schon der Name ist bezeichnend für die Ambivalenz, die diesem Ort innewohnt. «Hail» meint sowohl Hagel als auch Jubel. Die beiden Bedeutungen lösen klar gegensätzliche Konnotationen aus: Hagel eine negative, Jubel eine positive. Etymologisch geht «hail» auf das altnordische Wort «heill» zurück, also Heil, Gesundheit und Glück – wieder positive Begriffe. Dies steht im Gegensatz zu «sham», was soviel bedeutet wie Heuchelei. An der so genannten Eliteschule verbringen die Kinder ihre Zeit mit Malen, Basteln, Gedichte schreiben und dem Lesen von literarischen Klassikern. Umgeben von Wiesen, Teichen und Wäldern bietet Hailsham den Schülern eine geschützte Umgebung, wo sie ihren Talenten nachgehen können. Dennoch fliessen immer wieder dunkle Details in die Erzählung ein, welche die Idylle trüben: Die Kinder haben keine Privatsphäre und praktisch keinen Privatbesitz. Alles, was ihnen gehört, erwerben sie in dreimonatlich stattfindenden Märkten, wo die Schüler die

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Eine brüchige Idylle


Zermürbendes Halbwissen Die Stimmung in der friedvollen Schule ist durchtränkt von Unsicherheit, Unbehagen und offenen Fragen, über die nur zögerlich nachgedacht wird. Die Schüler schweben in einem permanenten Halbwissen über ihre Herkunft, aktuelle Lage und Bestimmung. Anders als bei vielen klassischen Dystopien sind die Klonkinder keine willenlosen, gehirngewaschenen Maschinen, die von einem totalitären Staatsapparat kontrolliert und hinters Licht geführt werden. Die Hailsham-Studenten werden humanistisch erzogen und wissen, was sie erwartet. Was dies wirklich bedeutet, ist ihnen allerdings weitgehend unklar. Dabei befinden sie sich in derselben angespannten Situation wie die Leser, die sich von Kathy durch ein Netz von Erinnerungen leiten lassen, deren Zusammenhänge und Relevanz lange im Dunklen bleiben. Kathy ist eine Meisterin des Aufschubs. Ihre Erzählungen über die Jugend in Hailsham sind geprägt von narrativen Lücken, Umwegen und vielen Versprechen, bald einen springenden Punkt preiszugeben. Allerdings zeigt sich dieser dann meistens wortwörtlich als springend, nämlich zum nächsten scheinbar enthüllenden Ereignis, dessen man sich aber wieder nur über Ausschweifungen annähern kann. Zudem sickert immer wieder durch, dass Kathys Erinnerungen nicht vollkommen zuverlässig sind. Oft bemerkt sie, dass andere Beteiligte eine Szene anders im Gedächtnis haben oder gibt zu, dass ihr eigenes eingedämmt ist. So können die Leser nicht einmal sicher sein, ob die oft nicht sehr aufklärenden Erinnerungsfetzen überhaupt so in der fiktionalen Welt stattgefunden haben. Offensichtlich wird vor allem eins: Dass die Leser mit den Klonkindern gleichgestellt werden und sich sozusagen in einer ähnlichen Position befinden. Am stärksten kommt dies zum Ausdruck in den Passagen, wo Kathy den Leser direkt anspricht. Dort redet sie klar jemanden an, der mit den Konventionen der fiktionalen Welt vertraut und Teil davon ist. Zum Beispiel erwähnt Kathy

kultur

Resultate ihrer Basteleien austauschen. Die besten Kunstwerke werden von einer mysteriösen Frau in einem grauen Mantel, der die Anwesenheit der Kinder offensichtlich unangenehm ist, in eine Galerie gebracht. Darüber, was diese Galerie wirklich ist und was mit ihren mühevoll angefertigten Werken passiert, spekulieren die Schüler ständig. Die Wälder um Hailsham lösen eine diffuse Angst bei den Kindern aus, die sie nachts kaum schlafen lässt. Die als Wächter bezeichneten Aufsichtspersonen verstricken sich nicht selten in unverständliche Aussagen, welche den Jungen und Mädchen Rätsel aufgeben. Es scheint klar zu sein, dass die Wächter anders sind als die Schüler und diese Distanz auch wahren wollen. Dies bewirkt bei den Studenten ein konstantes Schamgefühl gegenüber ihrer eigenen Existenz.

einmal ihre Privilegien als Fürsorgerin und bemerkt, dass einige, die ihren Job besser machen, nicht dieselben Vorteile geniessen wie sie. «Wenn Sie einer davon sind, kann ich verstehen, dass Sie verärgert sind.» Auf diese Weise mit den Organspendern auf die gleiche Ebene gesetzt zu werden, macht die Lesesituation angespannt.

Wahrheit oder Lüge? Die Frage, die sich nun stellt, ist, wie die Kinder mit ihrem lückenhaften Wissen umgehen. Die Internatswelt ist überfüllt von kursierenden Gerüchten, Spekulationen und Hobbydetektivspielen. Während die Schüler sich diesen leidenschaftlich hingeben, stehen sie wirklichen Informationen über ihr Dasein ambivalent gegenüber. Das Interesse an Antworten ist durchaus gegeben. Trotzdem werden Jungen und Mädchen, die den Wächtern heikle Fragen stellen, wie zum Beispiel, was mit den Kunstwerken in der Galerie geschieht, zeitweise aus dem Freundeskreis ausgeschlossen. Es besteht ein grosses Bedürfnis, eine Illusion von Normalität aufrechtzuerhalten. Die Träume der Hailsham-Jugend sind bescheiden: Ein Leben als Büroangestellte oder als Handwerker sowie einige Jahre mit der Person verbringen, die man liebt, sind die grössten Wünsche. Um an diesen jedoch festhalten zu können, bedarf es einer grossen Fähigkeit, Fantasiewelten aufzubauen. Eine Meisterin hierin ist Kathys Freundin Ruth, die mehrere imaginäre Pferde besitzt, eine Schutzgarde für die angeblich bedrohte Lieblingsaufseherin rekrutiert und ihre Beziehung mit Tommy nach Hollywood-Konventionen ausrichtet. Wie wir in einer Schlüsselszene am Ende des Buches erfahren, ist ganz Hailsham einer solchen Fantasiewelt ähnlich. Die Idee hinter dem Internat ist idealistisch: Den Klonkindern eine Kindheit geben und ein Gesicht, das sie der Öffentlichkeit als Menschen offenbart. Die Galerie ist dazu da, der Gesellschaft zu zeigen, dass die Klone keine Schattengestalten, sondern Wesen mit einer Seele sind. Das Opfer dieser Utopie ist die Wahrheit. Um die Kinder vor der feindlich gesinnten Aussenwelt zu schützen, sind das Zurückhalten von Information und manchmal sogar Lügen notwendig. Die Rechtfertigung dafür ist, dass die Schüler zumindest in Hailsham ein schönes Leben hatten. Die Erinnerung an diese Zeit ist etwas, an dem sich die Klone später während der Spenden festhalten können. Die Frage, ob Lüge oder Wahrheit besser ist, wird vom Buch offen gelassen. Tommy spricht sich klar für die Wahrheit aus und betont, dass ihm Ehrlichkeit ein erträglicheres Leben ermöglicht hätte. Dagegen ist für Ruth und Kathy die verblassende Erinnerung an Hailsham der einzige Hoffnungsschimmer in einem trostlosen Dasein, wo alles andere gegeben werden muss. Nicht umsonst lautet der deutsche Titel des Romans «Alles, was wir geben mussten». Ob Illusionen notwendig sind für ein mehr oder weniger

Zum Buch ISHIGURO Kazuo (2005). Never Let Me Go. London: Faber and Faber. «Never Let Me Go» wurde von Mark Romanek mit Keira Knightley (Ruth), Carey Mulligan (Kathy) und Andrew Farfield (Tommy) in den Hauptrollen verfilmt und erscheint 2010 in den Kinos.

Bilder 1. Blessing Verlag 2. Anna Chudozilov

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gutes Leben in einer Welt, die nicht viel zu versprechen hat, scheint nur individuell entscheidbar zu sein. An diesem Punkt wird klar, dass «Never Let Me Go» seinen fiktionalen Schauplatz sprengt. Es geht nicht ausschliesslich um die Darstellung eines Horrorsszenarios und die Warnung vor medizinischer Hybris.

Die Vergänglichkeit des Körpers Darüber hinaus unterstreicht der Roman etwas, was alle Menschen betrifft: die Fragilität des Lebens, die unausweichliche Tatsache, dass unser Körper seine Funktion einmal aufgeben wird und die Konfrontation mit Verlust. Der Umgang mit Vergänglichkeit wird am Beispiel von Kathy, die ihre Freunde bis zu deren Tod pflegt und sich bewusst ist, dass auch sie bald dasselbe erleben wird, sehr explizit thematisiert. Es wird schleichend merklich, dass die Analogie

zwischen Leser und fiktionalen Charakteren nicht zufällig aufgebaut wird. Die Klonkinder werden zu Emblemen der conditia humana. Wie lebt man im Angesicht der Sterblichkeit? Macht die Aussicht auf einen unvermeidbaren Tod das Leben sinnlos? Sind Fantasien und Illusionen nichts als Lügen? Ishiguro plädiert für keine der beiden Positionen. Für ihn werden Erinnerungen zu Vermittlern zwischen Utopie und Realismus. In der Fantasie der HailshamSchüler gibt es einen Ort, an dem alle verlorenen Dinge aufbewahrt sind. Im Roman nimmt dieser Ort in Form der Erinnerung Gestalt an. Dabei ist das Gedächtnis aber kein stabiler Behälter für Idealisierungen. Vielmehr ist es fragil und wandelbar wie die im Wind flatternden Plastiksäcke, in denen Kathy am Ende des Buches alles, was sie jemals verloren hat, wieder zu finden scheint.

Redaktorin Stefanie Heine (26) aus Zürich studierte Englisch, Philosophie und Komparatistik. Sie ist nun Doktorandin in englischer Literaturwissenschaft und Komparistik an der Universität Zürich.

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Das Leben in einer Illusion steht im Zentrum von Kazuo Ishiguros Roman «Never Let Me Go».

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Autorin


kultur

We want to bury the jumbo! Zurzeit touren zwei ebenso merkwürdige wie witzige Gestalten durch die Städte Europas: «The Captain» und «Bury», die Initiatoren des Projektes «Bury the Jumbo». Von Christian Wimplinger Wo auch immer die beiden in ihren Piloten- und Bauarbeiterkostümen auftauchen, sorgen sie für Unterhaltung und kontroverse Meinungen. Denn Bury und the Captain verfolgen mit ihren Auftritten ein einfach kompliziertes Ziel: Sie wollen einen Jumbojet begraben. Was für einen Jet, wo und wie, bleibt Verhandlungssache der sogenannten Vereinsmitglieder. Mitglied dieses Vereins kann jeder werden, der dieses lustige Begräbnis mit einer Spende unterstützt.

Kreativität rechnet sich

das Ganze? Könnte man das Geld denn nicht auch sinnvoller verwenden?» Die beiden Visionäre wissen sich nur dadurch zu helfen, dem Projekt doch noch einen zugrunde liegenden Zweck unterzuschieben. Der begrabene Jet soll nach seiner Beerdigung Raum bieten für künstlerisches, kreatives und philanthropisches Handeln. Notgedrungen müssen die beiden wohl ihrer ursprünglich so schönen Idee abtrünnig werden und sie mit dem banalen Vorhaben der Errichtung eines Kulturzentrums gleichsetzen. Man darf nur hoffen, dass diese Rhetorik eine Finte in der Hitze des Gefechts bleibt, dass sie den Jet begraben und es dabei belassen.

Autor Christian Wimplinger (23) aus Wien studiert Germanistik und Philosophei und verbringt ein ERASMUSJahr in Zürich.

Bild flickr.com

Aber nicht nur mit Geld kann man das einzigartige Unterfangen wahr werden lassen: Es reicht auch aus, wenn man ein Stück Land zur Verfügung stellt, auf dem der Jumbo begraben werden kann. Selbst wer ein passendes Arbeitsgerät beisteuern will, sei es auch nur einen Spaten, ist herzlich dazu eingeladen. Geld ist nicht das einzige Mittel, das zum Begraben eines Jumbos taugt, Kreativität wird als stärkere Währung gehandelt. Gute Ideen versetzen bekanntlich Berge, beziehungsweise den Jumbo aus der Luft unter die Erde. Zahlreiche Künstler bemühen sich darum, dieses Projekt mit ihrer kreativen Arbeit zu verwirklichen. Dennoch bleibt Geld der entscheidende Faktor. Die geschätzten Kosten für einen Jumbojet schwanken zwischen 500 000 und einem siebenstelligen Dollarbetrag, je nachdem, ob der Stahladler noch flugtauglich oder bereits zu einem Dauerparker am Jumbofriedhof verkommen ist. Von den Kosten für den Transport ganz zu schweigen. Schlimmstenfalls muss der Jumbo um die halbe Welt transportiert werden, was die schmale «Jumbo-Geldbörse» mit weiteren Millionen belasten würde. Nicht nur finanzielle Bürden stellen sich dem Projekt in den Weg. Ein Umwelttechniker wird engagiert, der dafür Sorge trägt, dass die letzte Ruhe des dicken Jumbos keine Verschmutzung des Grundwassers zur Folge haben wird. Auch die örtlichen Behörden – welche auch immer das sein mögen – werden sich in ihre Richtlinien einlesen müssen, um dem Kuriosum weitere Prügel zwischen die Beine werfen zu können.

Bitte lieber sinnfrei! In den eisigen Höhen ihrer utopischen Ideen verweilend werden die beiden Verfechter der Kreativität gerne wieder dahin zurückgeholt, wo sie ihren Flieger vorzugsweise begraben hätten: Auf den harten Boden der Realität. Oft werden Bury und the Captain mit folgender Frage konfrontiert: «Wozu denn

Unter die Erde mit ihm!

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Einmal gut bestückt, bitte! Bedeutet die Manipulation von Genen Gott zu spielen oder spielt Gott uns mit der Veränderung des Erbguts eine neue Karte zu? Der Film «Gattaca» setzt sich mit dieser und weiteren Fragen auseinander. Von Stefan Klauser «Gattaca» ist kein filmisches Meisterwerk, soviel vorweg. Doch der Streifen nimmt sich einem schwierigen Thema an, ohne klar Stellung zu beziehen. Damit beschreibt er eine Utopie ohne zu werten, was den Film für eigene Gedanken fruchtbar macht. «Gattaca» verstört oder gibt Hoffnung, je nachdem wie man ihn sehen möchte. Der Film ist kaum bekannt – zu Unrecht. Denn «Gattaca» ist ein Zeugnis der westlichen Ambivalenz im Umgang mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts: Ein Thema mit Zukunft.

land Gavlin, der sagte: «I not only think that we will tamper with Mother Nature, I think Mother wants us to.» Es geht also um das Spiel mit den Fähigkeiten, die man gemeinhin dem Göttlichen zuschreibt. Oder anders gefragt: Gibt es so etwas wie Hybris? Und

Zum Film «Gattaca», USA 1997 Director: Andrew Niccol

Bereits seit 2003 gilt das menschliche Erbgut als vollständig entschlüsselt. Noch in den 1990er Jahren hätten darin wohl einige das Ende der Menschheit gesehen. Doch alles blieb ruhig. Trotzdem ist das Thema von höchster Brisanz. Es ist heute möglich, rund 1 500 Krankheitsgene zu identifizieren. Ein isländisch-amerikanisches Unternehmen mit dem Namen «deCODE genetics» bietet Tests an, anhand deren man die persönliche genetische Neigung zu Krankheiten wie Diabetes, Herzinfarkte, grünem Star, Prostata- und Brustkrebs messen lassen kann. Das Brisante daran: Die isländische Regierung hat im Jahre 1998 beschlossen, dass die genetischen Daten der isländischen Bevölkerung zum Aufbau einer Gendatenbank genutzt werden dürfen. Die Auswertungsrechte sollen «deCODE genetics» gehören. Die von «deCODE genetics» ausgewerteten Daten sollen dann wiederum an das Schweizer Unternehmen «Hoffmann-La Roche» verkauft werden, damit dieses das isländische Genmaterial für die Entwicklung von Medikamenten oder Diagnostika nutzen kann. Doch die Pharmaindustrie hat die Rechnung ohne die isländische Bevölkerung gemacht. Datenschutzprobleme und ethische Bedenken bezüglich der Nutzung und den Auswirkungen der Forschung haben dazu geführt, dass die Gendatenbank 2003 vom höchsten Gericht Islands verboten wurde. Seit diesem Urteil forscht «deCODE genetics» ohne diese Datenbank weiter.

(«The Truman Show»,

Gottes Plan und des Menschen Beitrag

«The Terminal», «Lord

«Gattaca» beginnt mit zwei Zitaten, die dann auch den Rahmen der Diskussion vorgeben. Zuerst liest man: «Consider god’s handiwork; who can straighten what He hath made crooked?» Diese biblische Aussage steht in einem scharfen Kontrast zum folgenden Zitat des amerikanischen Bioethikers Vil-

of War») Dauer: 106 min.

Bild flickr.com

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Das Marin County Civic Center diente als Schauplatz.

wenn ja, wo beginnt sie? Der Film wurde bereits 1997 gedreht, also ein Jahr vor dem Entscheid der isländischen Regierung, den Genpool ihrer Bevölkerung an die Privatwirtschaft zu verkaufen. Der Autor und Regisseur Andrew Niccol hat also früh ein Thema erkannt, das es in sich haben sollte. Dennoch war der Film nicht pro-

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Decodieren und dann verkaufen


Geboren zum Toilettenreiniger Vincent bekam den Namen seines Vaters. Eigentlich sollte er Anton heissen wie der Sohn von Herkules. Doch als der Vater hört, wie es um die Gesundheit des Kindes steht, nennt er ihn hastig in Vincent um. Allerdings wurde auch dieser Name nicht ganz zufällig gewählt, aber mehr dazu später. Als die Mutter erneut schwanger wird, haben sich die Zeiten rasant geändert. Nun ist es bereits normal, dass Eltern sich die Eigenschaften ihres Kindes wie Haarfarbe, Augenfarbe, Statur, Gemüt, Intelligenz aus dem Katalog auswählen. Bei Vincents Bruder wird dies auch durchgeführt. Der Vater befindet, dass für diesen Jungen der Name Anton angemessen ist. Wie man sich denken kann, hätten die Jungen unterschiedlicher nicht sein können. Der eine ein untersetzter Träumer, der andere ein kräftiges Genie. Vincent steht für die Gruppe der so genannten Gotteskinder oder Invaliden, während Anton zu den Validen zählt. So bestimmen in dieser Welt die Gene das Leben der Menschen. Oder wie es Vincent ausdrückt: «I belonged to a new underclass, no longer determined by social status or the color of your skin. No, we now have discrimination down to a science.» Diese Ansicht stellt die bedrohliche Komponente von «Gattaca» dar. Skizziert wird ein Wettlauf der Menschen in einer neuen Dimension.

kultur

phetisch. Das so genannte Humangenomprojekt, dessen Ziel es war, das menschliche Erbgut vollständig zu entschlüsseln, wurde bereits 1990 in den USA gestartet. Niccol erkannte die Explosivität dieses Vorhabens und schuf eine utopische Zukunftswelt, die uns manchmal amüsiert, gelegentlich Hoffnung macht, aber auch immer wieder einen kalten Schauer den Rücken hinunter jagt. Die Geschichte beginnt mit der natürlichen Zeugung eines Jungen irgendwann in einer «nicht allzu entfernten Zukunft». Dann folgen Bilder aus einem Spital. Das Blut des neugeborenen Kindes wird abgenommen und in Sekundenbruchteilen analysiert. Die Miene der Krankenschwester verfinstert sich, als sie die Ergebnisse vorliest: 60 Prozent Wahrscheinlichkeit auf neurologische Erkrankungen, 42 Prozent auf manische Depression, Konzentrationsstörungen 89 Prozent, Herzstörungen 99 Prozent, ein früher Tod ist wahrscheinlich, die Lebenserwartung beträgt 30.2 Jahre. Dass diese genetischen Veranlagungen sein Leben bestimmen werden, weiss der kleine Junge noch nicht. Erst später wird er sagen, dass er es wohl nie verstehen wird, weshalb seine Mutter sein Schicksal lieber in Gottes Hände legte als in die des Hausgenetikers. Dabei gibt der Film gleich selber die Antwort auf diese Frage. Vincent – so heisst der Kleine – wurde in einer Übergangszeit geboren, in einer Zeit, in der «man sagte, dass ein Kind, das mit Liebe gezeugt wurde, eine grössere Chance hat glücklich zu werden». Später wird man dies nicht mehr sagen.

Bis anhin war es so, dass die Menschen mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen auf die Welt kamen. Obwohl einige davon von Vorteil waren und andere nicht, konnte man nicht auf die jeweilige Ausstattung Einfluss nehmen. Nun ist es allerdings so, dass sich die Reichen ein Designerkind kaufen, die Armen aber aus Kostengründen mit einem «Invaliden» auskommen müssen. Die dabei entstehende gesellschaftliche Kluft könnte grösser nicht sein. Fleiss, Aufstieg und Klassenmobilität sind vollends ausgeschaltet. Nie ist der Spruch «geboren als Toilettenreiniger» passender als in der Zeit der unkontrollierten, pränatalen, menschlichen Genmanipulation. Bei Bewerbungsgesprächen in «Gattaca» ist die einzige interessante Komponente die genetische Voraussetzung der Bewerber. Dies ist zwar laut Datenschutz verboten, doch lässt sich das Verbot mit standardisierten Drogentests leicht umgehen.

Invalid sein ist erstrebenswert Es folgt der Kampf von Vincent gegen sein Schicksal als Invalider – ein Kampf für seinen Traum, den er nicht bereit ist aufzugeben. Vincent will nicht mit den Karten spielen, die er bekommen hat. Die Reise zu seinen Träumen schwankt zwischen Drama und Komik. So sagt ein Arzt einmal zu Vincent, dass er gut bestückt sei und dass er auch nicht wisse, warum ihm seine Eltern nicht auch so einen bestellt hätten. Zudem wird eine Haarprobe oft an Schnell­analyseständen vorbeigebracht, um den genetischen Quotienten des möglichen Partners zu erfahren. Der Name von Vincent, der auf lateinisch «siegen» bedeutet, wird sich als Prophezeiung herausstellen. Viel mehr über den Film sei hier nicht verraten. Es wird versöhnliche Momente geben, in denen Hoffnung aufkommt. Diese Momente sind es, in denen das Invalide als das Erstrebenswerte erscheint, als das Sympathische. Es ist also nicht so, dass «Gattaca» versucht darzulegen, welche grausamen Krankheiten mit Genmanipulationen verhindert werden können. In einer Welt, in welcher diese nicht mehr existieren, hat der Gedanke nichts Versöhnliches mehr. Vielmehr wird klar, dass Niccol die positiven und die negativen Aspekte der Gentechnik ernst nimmt und dennoch von einem überzeugt ist: Herzblut und Wille sind stärker als die Macht der Fakten. Der Film ist bis jetzt eine Utopie geblieben, wie es auch für die teilweise verwendete Kunstsprache Esperanto gilt. In dieser Utopie ist es für einmal nicht die technische oder filmische Machart, die einen begeistert, und auch nicht das Schauspiel – trotz Ethan Hawke, Uma Thurman und Jude Law – sondern die offene Herangehensweise. Ohne Verteufelung und Lobhudelei beweist Niccol den Mut, am Schluss des Filmes einige unbequeme Fragen offen zu lassen.

Autor Redaktor Stefan Klauser (26) aus Schlieren studierte Politikwissenschaft, Filmwissenschaft und Völkerrecht an der Universität Zürich.

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«Die Welt wird dunkler» Der Rapper Tommy Vercetti fällt mit politischen Texten und seiner Kritik am Kapitalismus auf. Im Interview erzählt er, weshalb es nicht einfach ist, eine neue Gesellschaftsform zu entwerfen.

Du kritisierst den Kapitalismus des Öftern. Welches System würdest du bevorzugen? Tommy Vercetti: Der Begriff Kommunismus ist durch die Geschichte schon so geprägt, dass man ihn als solches eigentlich nicht mehr gebrauchen sollte oder dürfte. Wenn man politisch etwas bewirken will, muss man das Wort Kommunismus aus seinem Vokabular streichen. Nicht weil dieses politische System schlecht wäre, sondern weil es die ganze Geschichte auf den Schultern trägt. Zu sagen, man sei für den Kommunismus, ist von diesem Standpunkt aus einfach nur dumm. Aber natürlich bin ich für ein sozialistisches System. Mein Hauptkritikpunkt am Kapitalismus liegt darin, dass er ganz offensichtlich nicht funktioniert. Er ist ein globales Wirtschaftssystem, das massenhaft Leute umbringt, mehr als die Hälfte zwingt, in unmenschlichen Verhältnissen zu leben und dies bewusst macht, weil er es schlichtweg nicht verhindert. Kann man nicht sagen, der Kapitalismus ist das System, welches dem Wesen des Menschen am meisten entspricht? Der Mensch strebt ja grundsätzlich nach Macht und versucht, seinen Nutzen zu maximieren. Oder ist das selbst nur kapitalistische Gehirnwäsche? Tommy Vercetti: Das ist eben eine Frage, die ich mir stelle oder vor allem in Frage stelle. Ich hatte früher viele Diskussionen mit meinem Vater, der auch immer sagte, der Mensch sei von Natur aus auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Ich glaube, der Mensch ist ein ziemlich unbeschriebenes Blatt, wenn er zur Welt kommt. Es kommt dann darauf an, in welcher Umgebung, in welchem System er aufwächst. Nur weil die Menschen seit

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ungefähr 300 Jahren im Kapitalismus aufwachsen, kann man nicht sagen, dass der Mensch von Natur aus so ist. Es gibt ganz offensichtliche Beweise dafür, dass es nicht so ist. Es gibt Dokumentationen über ältere Kulturen, welche ganz anders aufgebaut und strukturiert waren. Dort strebte niemand nach mehr Macht. Dort hatte jeder eine gewisse Aufgabe und es herrschte – kitschig gesagt – Harmonie und Glückseligkeit. Man kann natürlich nicht sagen, wir sollten dorthin zurück, man kann dieses System auch nicht in einer Zivilisation unserer Grösse anwenden, aber es ist auch zu simpel, zu sagen, der Mensch sei einfach von Natur aus machthungrig. Wir sind ja als Zivilisation auch gewachsen. Wir schlagen uns in gewissen Teilen der Welt nicht mehr gegenseitig die Köpfe ein. Aber die Frage ist, warum wir nicht noch weiter gehen können. Und hier kann man sagen, dass es einfach ein paar mächtige Leute gibt, deren Interesse es ist, dass man an diesem Punkt nicht weitergeht. Wir haben ja im Kapitalismus die Träume vom eigenen Auto, vom eigenen Haus. In deinen Texten kritisierst du diese Träume oft als vorgefertigt. Kann man sich dagegen wehren? Tommy Vercetti: Da kommen wir wieder auf das unbeschriebene Blatt zurück. Die ganze Kindheit ist ein gesellschaftliches Hauptproblem. Man kommt als unbeschriebenes Blatt zur Welt und deine Eltern, die Gesellschaft, die ganze Welt bekritzelt einen so fest und tief, dass im Moment, in dem man sich selbst kritisch hinterfragen könnte, schon zu viel passiert ist. Das ist ein praktisch unlösbares Problem. Ich versuche mich aber gegen gewisse Dinge zu wehren. Ich werde zum Beispiel nie jemand sein, der ein schönes Auto braucht. Man ist aber trotzdem extrem gehirngewaschen von klein auf. Über das Thema Kindheit habe ich auch einen Song auf meinem Album. In diesem Song komme ich zum Schluss, dass das einzige Hoffnungspotential eigentlich darin liegt, dass es deine Eltern mit Zuneigung und Liebe übertreiben und dort eine Art kleiner Unfall passiert. Dass also die ganze gesellschaftliche Dressur im Sinne des Kapitalismus dort nicht voll und ganz anschlägt, weil deine Mutter dir etwas zu viel Liebe gibt. Später denkt man sich dann vielleicht «Hey, ich erinnere mich an das, und dort will ich wieder hin.» Es sind diese Momente, in denen man aus dem Leistungsprinzip des Kapitalismus hinausfällt und in denen man sich auf andere Werte besinnt.

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Von Marco Büsch Du liebäugelst in deinen Texten oftmals mit dem Kommunismus und allgemein mit Marx‘ Werk. Wo würdest du dich politisch einordnen? Tommy Vercetti: Tendenziell sicher eher links aussen, aber ich würde nicht sagen, dass ich ein Marxist bin. Vor fünf Jahren hätte ich mich vielleicht als Marxist bezeichnet, aber man wird mit jedem Tag und mit jedem Buch, das man liest, etwas intelligenter und so bin ich mir dessen nicht mehr so sicher – vor allem auch nicht darüber, was solche Selbstbezeichnungen überhaupt bringen. Aber der Grundtendenz des Marxismus stimme ich sicher zu.


kultur

Du hast diesen Traum von einem anderen System. Würdest du diesen Traum als Utopie bezeichnen? Als Traum, der sich nicht verwirklichen lässt? Oder glaubst du, dass sich etwas ändern lässt? Tommy Vercetti: Hier fängt wieder die Begriffsdiskussion an. Klar würde ich zugeben, dass mir eine Utopie vorschwebt. Aber dann kommt mir schon wieder der negative Aspekt dieses Begriffs in den Sinn, als ein Traum, der sich nicht verwirklichen lässt. Aber ich sehe eine Utopie als anzustrebender Idealentwurf, wobei ich zugeben muss, dass ich nicht weiss, wie dieser aussieht. Ich habe auch keine Zeit mich hinzusetzen und mir zu überlegen, wie eine zukünftige Gesellschaft funktionieren könnte. Man sollte eben Leute bezahlen, welche sich das ausdenken. Es gibt da ein extrem gutes Buch von Tomas Maldonado, einem Designtheoretiker. Er kam aus einer Generation der Ulmer Hochschule für Gestaltung, die sehr gesellschaftskritisch war. Dieser Mann hat die ganze Entwurfspraxis, also die Designpraxis, auf die Gesellschaft angewendet. Er meint, wenn der Mensch fähig ist, Produkte und Dienstleistungen zu entwerfen, dann sollte er auch sein gesellschaftliches Leben entwerfen können. Man sollte einen Bauplan entwerfen und dann versuchen, als Gesellschaft möglichst nahe an dieses Ideal heranzukommen.

wissen Niveau? Tommy Vercetti: Ja, das kann man so sagen, es untertritt eine gewisse Schmerzgrenze nicht. Mit diesen marktwirtschaftlichen Mitteln, die jetzt erlaubt wurden, öffnet sich aber langsam wieder eine Schere zwischen Arm und Reich.

Auf einem deiner Songs rappst du «Ich bin z‘Kuba go läbe und han glernt, dass mer au z‘Jerusalem dä Nazis begägnet.» War es dennoch besser als in der kapitalistischen Welt? Tommy Vercetti: Diese Aussage zeigt ja schon meine Frustration oder Ernüchterung betreffend Kuba, wobei ich schon vorher gewusst habe, dass es so sein wird. Kuba ist aber auch nicht mehr das, was es in seinen besten Momenten vielleicht einmal war. Ich fühlte mich also nicht besser, sondern eher schlechter. Kuba hatte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine extreme Krise und liess gewisse marktwirtschaftliche Mechanismen zu, die jetzt eine ganz unangenehme, komische Mischung ergeben haben, die fast schlimmer ist als der Kapitalismus. Ich war aber auch in Mexiko, wo es von der Situation her wahrscheinlich mehr Möglichkeiten gäbe als in Kuba. In Mexiko habe ich Schlimmeres gesehen als in Kuba. In Kuba sieht man keine Kinder am Strassenrand verhungern, man sieht niemanden auf der Strasse leben oder Menschen deren Zähne herausfallen, weil sie unterernährt sind. Es sind zwar alle arm dran in Kuba, aber trotzdem haben alle ein Dach über dem Kopf, bekommen minimalste Rationen an Grundnahrungsmitteln, können gratis ins Krankenhaus gehen und es wird auch niemand auf der Strasse ausgeraubt. Die Kriminalität ist verschwindend klein. Man könnte also sagen, in Kuba geht es allen Menschen ungefähr gleich schlecht, aber auf einem ge-

Tommy Vercetti träumt von einem anderen Gesellschaftssystem.

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In einem anderen Song rappst du «Chrüüzli mache, nännet sie bim Läbe mitrede» und auch weiter, dass die Regierung euch nicht versteht. Zuerst einmal, wer seid «ihr»? Das ganze Volk? Oder muss man das eingrenzen? Tommy Vercetti: Es ist natürlich immer auch ein Spiel mit den Worten. Ich bin als Rapper eine Person, die gewisse Dinge ausdrücken will, privat bin ich aber ein bisschen differenzierter. Mit «uns» ist ein Grossteil der Bevölkerung gemeint. Im Rapjargon würde man es die «Strasse» nennen. Es geht also um den ärmeren Teil der Bevölkerung, der arbeitende Teil der Bevölkerung. Ich komme auch aus dieser Schicht und bin so aufgewachsen. Mein Vater war eine Zeit lang arbeitslos, meine Eltern sind nicht besonders wohlhabend. Und dort existieren klar Probleme, welche von der Regierung weder ernstgenommen noch repräsentiert werden. Probleme der Arbeitsbedingungen, Arbeitssicherheit, Arbeitsüberlastung, Geldprobleme – Dinge, die sich alle auf das Privatleben auswirken und dort wiederum Probleme kreieren. Die kleine Oberschicht tröstet sich damit, dass die grosse Mehrheit sich einen HD-Fernseher kaufen kann, das ist ihnen Wohlstand genug für alle. Doch auch das tiefe preisliche Niveau des Produkts schlägt am Schluss wieder auf den Arbeiter zurück, und Wohlstand garantiert es überhaupt nicht, geschweige denn so etwas wie Wohlergehen oder gar Glück.

Autor Redaktor Marco Büsch (19) aus Zürich studiert im 2. Semester Politikwissenschaft, Recht und Soziologie an der Universität Zürich.

Bilder Janosch Abel

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Rappst du nur über die politischen Geschehnisse und nimmst einen Beobachterstatus ein oder bist du auch selbst politisch aktiv? Tommy Vercetti: Ich habe es eine Zeit lang versucht und war als Gasthörer bei der PdA (Partei der Arbeit). Sie haben extrem viel Tagespolitik besprochen. Dafür, dass ich noch nicht genau weiss, wo ich stehe, möchte ich nicht so viel Zeit in «kleine» Dinge investieren. Das soll jetzt nicht abschätzig klingen, ich war einfach noch nicht bereit für diese Art von Politik. Ich habe selbst noch zu viele Fragen, als dass ich in Detailfragen aufgehen könnte. Auf der anderen Seite war die PdA auch nicht das, was ich gesucht habe. Sie würden sich jetzt sicher wehren, wenn sie das hören würden, aber für mich war die PdA zu dogmatisch. Es gab dort einige Leute, die an jeder Stelle Marx zitiert haben. Es geht mir am Ende des Tages aber nicht um «marxistisch oder

nicht». Für mich muss einfach eine Gesellschaft entstehen, in der es allen gut geht und in der die Menschen glücklich sind. Mir ist es egal, mit welchem Namen oder welcher Theorie man dorthin kommt. Um aber auf die Frage zurückzukommen, muss ich zugeben, dass ich ausser in meiner Musik politisch nicht wirklich tätig bin, aber ich versuche jetzt einen kleinen Debattierclub aufzuziehen. Mir geht es darum, herauszufinden, was es für gesellschaftliche Alternativen gäbe. Über dieses Thema bin ich auch mit dem Rapper Greis viel am Diskutieren. Wie stehst du zu den Hörsaalbesetzungen? Ist das ein legitimes Mittel oder sollte man sich anders in die universitäre Politik einbringen? Tommy Vercetti: Ich befürworte das auf jeden Fall. Dieses ganze Antiparlamentarismus-Ding, welches die Linke in sich trägt, ist auf eine Art schon dumm. Schlussendlich sollte man zusammensitzen um zu einer Lösung zu kommen. Aber auf der anderen Seite muss ich sagen, dass wir lange genug zugeschaut haben, wie die offiziellen Institutionen versagt haben und nicht vom Fleck gekommen sind. In diesen Hörsälen hat man öfters gehört, die Uni entwickle sich zu einer Brutstätte des Kapitalismus. Es werde nicht mehr Bildung angeboten, sondern nur noch Ausbildung. Teilst du diese Befürchtungen? Tommy Vercetti: Ganz klar, das ist furchtbar, das ist die letzte Zersetzung der Gesellschaft. Vorher haben wir ja über Kinder und deren «Dressur» geredet. Wenn jetzt aber sogar die Uni – als Platz für neue Ideen, kritisches Hinterfragen und freie Gedanken – auch noch ausgelöscht wird, dann ist das extrem bedenklich. Du rappst auch öfters über die Wirtschaftskrise als Kapitalismuskrise? Tommy Vercetti: Der Kapitalismus hat versagt und man hat ihn gerettet. Darüber spricht aber niemand. Man hat uns die längste Zeit Begriffe wie Deregulation, Neoliberalismus und so weiter eingetrichtert. Und man hat immer mit dem Realismus argumentiert. Die Leute, die diesem System entgegenstehen waren immer Träumer und die andern waren die Realisten. Und jetzt ist das ganze System jämmerlich auf die Fresse gefallen und sie müssen beim Staat um Hilfe betteln, dass dieser sie retten soll. Und von einem solcherart geretteten System muss mir niemand sagen, es funktioniere! Mein Kritikpunkt ist aber nicht die Unterstützung des Staates, sondern, dass keine Diskussion darüber stattgefunden hat. Wir haben diese Wirtschaftskrise geschluckt, verdaut und das Ganze wandert langsam wieder in den Hinterkopf und jetzt kommen diese Neoliberalisten schon wieder, als wäre nichts passiert. Sobald man ein System so am Leben erhalten muss, sollte doch klar werden, dass es nicht naturgege-

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Sind diese marktwirtschaftlichen Mittel, die man zuliess, vielleicht ein «Verrat an der Sache», beziehungsweise ein Schritt in die falsche Richtung? Tommy Vercetti: Ich würde es nicht so drastisch ausdrücken. Es ist natürlich ein Problem, wenn man als sozialistisches Land inmitten von kapitalistischen Staaten wirkt. Diese Öffnung war nötig nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – als eine Art Aderlass, um das System zu retten. Aber ich würde es nicht als Verrat bezeichnen.


Könnte der Kommunismus jetzt eine Chance haben? Tommy Vercetti: Nicht nach der Vorbelastung des Begriffs Kommunismus durch die Sowjetunion. Der deutsche Philosoph Sloterdijk meint, dass die Sowjetunion ein furchtbarer Fehler war und sogar Marx eigentlich eine historische Katastrophe war. Das ist natürlich provokativ formuliert, denn Sloterdijk schätzt Marx sehr. Marx hatte eigentlich recht, aber durch seine Veröffentlichungen wurden die Menschen auf diese ökonomischen und somit gesellschaftlichen Entwicklungen aufmerksam und Lenin dachte sich, wir beschleunigen die Geschichte und führen den Kommunismus von Marx im feudalen Russland ein. Marx hätte sich wahrscheinlich im Grabe umgedreht, weil er ja die ganze Entwicklung beschrieben hat, wie der Kommunismus eigentlich aus dem Kapitalismus heraus hätte wachsen müssen. Der Kapitalismus hätte dazu seine Schwächen offenbaren müssen, wie er das in den letzten Jahren getan hat und daraus hätte der Kommunismus entstehen können. Der Kommunismus war aber schon eingeführt und es kam zum Kalten Krieg. Und durch diese ideologische Blockade versperrte sich der Kapitalismus die gesunde Entwicklung in den Sozialismus, und die Sowjetunion den eigentlich anstehenden Schritt in den Kapitalismus. Du hast ja auf jedem deiner Werke immer mindestens einen politischen Song. Jetzt stehst du vor der Veröffentlichung deines ersten richtigen Albums. Wird dieses sehr politisch? Tommy Vercetti: Es wird sehr politisch, aber mehr in einem Gesamt-Lebenssinn als in einem strikt politischen Sinn. Kann man das Album überhaupt fertig stellen? Tommy Vercetti: (Lacht) Das ist bis jetzt wahrscheinlich die intelligenteste Frage zu meinem Album. Also es ist so: Man wird älter und zwangsläufig auch frustrierter. Die Welt wird nicht heller, sondern tendenziell dunkler. Man hat dann zwei Alternativen: Entweder man bleibt konsequent dran oder man gibt auf. Und je älter ich werde, desto schwerer fällt mir die Fertigstellung des Albums. Ich habe auch gelernt, dass mein Leben einer gewissen Instabilität unterliegt, weshalb ich auch keine Ahnung habe, ob ich nach diesem Album noch weiter rappen werde. Aus diesem Grund versuche ich, auf diesem Album

kultur

ben ist, nicht das beste aller möglichen Systeme, sondern dass es Leute gibt, die dieses System ganz konkret so weiter aufrechterhalten wollen, weil es einfach um ihre Interessen geht. Und in diesem Moment werden viele Leute auch – um mit dem Jean Ziegler-Extrem zu reden – zu Mördern. In diesem Moment werden bewusst Leute umgebracht. Der Kapitalismus ist also nicht in einer Krise, er ist einfach legitimationsmässig am Ende.

alles zu geben, damit ich in fünfzig Jahren, wenn ich es meinen Enkeln zeige, immer noch stolz darauf sein kann. Man muss nicht stolz auf den Inhalt sein, aber auf die Herangehensweise. Bekommst du für deine politischen Songs viel Lob oder Kritik? Tommy Vercetti: Also negative Resonanz gibt es eher selten, da meine Freunde und ein Grossteil der Rapszene meine Ansichten in etwa teilen. Für meine politischen Songs, insbesondere «Heaven» habe ich aber extrem viel positives Feedback bekommen. Mich hat vor allem überrascht, wie viele Leute meine Texte verstanden haben, denn schon beim Schreiben habe ich gedacht, dass es sehr metaphernreich und dicht sei. Man muss also seine Songs nicht extra verdummen. Ich denke, die Leute denken eigentlich noch gerne mit. Vielen Dank für das Interview, hast du vielleicht noch ein paar letzte Worte, die du an unsere Leserschaft richten willst? Tommy Vercetti: Hallo liebe Leser, hört in meine Sachen, lasst euch weder von den unpolitischen, noch von den politischen Sachen abschrecken. Auf meiner Homepage kann man viele meiner musikalischen Werke gratis herunterladen oder natürlich mein Album kaufen, das im April erscheinen soll.

ZUR PERSON

Tommy Vercetti Der Rapper Tommy Vercetti, mit bürgerlichem Namen Simon Küffer, ist 28 Jahre alt und wohnt in Bern. Er hat an der Hochschule der Künste in Bern Visuelle Kommunikation studiert und betreibt mit zwei Freunden ein kleines Grafikatelier (pixelfarm. ch). Seine musikalischen Werke kann man sich auf www.tommyvercetti.ch oder www.myspace.com/ tommyvercetti031 anhören.

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Die Anziehungskraft des utopischen Versprechens Mit «Imagine» hat John Lennon einen grossen Popsong geschrieben. Was gut tönt, muss jedoch nicht immer gut schmecken. Über Inhalt und Umsetzbarkeit der besungenen Vision einer besseren, friedvolleren Welt lässt sich durchaus streiten.

Klare Botschaft in eingängiger Melodie «Imagine» ist im Viervierteltakt und in der WeisseTasten-Tonart C-Dur gehalten und dauert im Original gut drei Minuten. Obwohl die Struktur des Liedes nicht ungewöhnlich ist, zeichnet es sich durch eine einprägsame Gesangsmelodie aus. Auf ein kurzes C-F-C-F-Klavierintro folgen die zwei ersten Strophen («Imagine there‘s no heaven» und «... no countries»). Diese halten sich anfangs auch an den C-F-Wechsel, haben jedoch am Ende eine schöne Melodiefügung, die mit den Worten «Imagine all the people» beginnt und an deren Ende Lennon eine auffallend sinnliche Vokalphrasierung gesetzt hat. Darauf folgen der erste Refrain («You may say I‘m a dreamer»), eine dritte Strophe («Imagine no possessions») und der Abschlussrefrain. Die aussergewöhnliche Nachwirkung dieses Liedes geht also nicht auf eine innovative Songstruktur zurück, sondern auf die Verbindung einer klaren Botschaft mit einer eingängigen Melodie. Der Text präsentiert eine Vorstellung einer brüderlich geteilten Welt frei von dem, was die Menschen angeblich trennt, nämlich Religion, Nationalstaaten und Privateigentum. Im Kern ist dies die elegante Kurzform einer kommunistischen Utopie.

Autor

Frieden für alle Menschen

Daniel Jung (28)

Die erste Strophe fragt, wie es wäre, wenn die Menschen ihre Vorstellungen von Himmel und Hölle ablegen und stattdessen für den heutigen Tag leben würden. In der zweiten Strophe wird postuliert, dass ohne Nationalstaaten und Religion alle Grün-

aus Winterthur studiert Anglistik und Geschichte an der Univerität Zürich.

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de für das Töten und Sterben hinfällig würden, und dass somit alle Menschen in Frieden leben könnten. Die dritte Strophe erklärt die Existenz von Privateigentum als Ursache des Auftretens von Gier und Hunger. Der Refrain ist eine höflich-hoffnungsvolle Einladung, sich Lennon auf dem Weg in eine vereinte Zukunft anzuschliessen.

Die Ziele werden nicht hinterfragt Die Problematik einer politischen Utopie, wie sie in «Imagine» kurz skizziert wird, liegt primär in den unverhandelbaren Fernzielen, die ohne Rücksicht auf unmittelbare Konsequenzen umgesetzt werden müssen. Verfolgt eine Gruppe eine utopische Zielvorstellung, muss sie die Bereitschaft zur mühsamen rationalen Diskussion über gegenwärtig einzusetzende Mittel aufgeben und kann heutiges Leid mit dem vorgestellten zukünftigen Wohlergehen eines Kollektivs rechtfertigen. Wird zum Beispiel das Privateigentum in einer unpersönlichen, offenen Gesellschaft mit dem Fernziel der Entfernung von Gier und Hunger abgeschafft, wächst erfahrungsgemäss der Einfluss des Staates auf das Individuum. Zudem werden durch Koordinationsund Anreizprobleme viel Reichtum zerstört oder gar Hungersnöte ausgelöst. Dies muss aber innerhalb des utopischen Systems für das Erreichen des hypothetischen Fernziels in Kauf genommen und rationalisiert werden.

Eine trügerische Utopie Hinter politischen Utopien steht meist ein mechanistisches Gesellschaftsverständnis, das dem Konstruktionsplan des intellektuellen Philosophenkönigs bessere Entscheidungen zumutet als den Individuen innerhalb des dezentralen Marktes und der gewachsenen Rechtsordnung, die auf Eigentumsrechten («possessions») und Rechtsstaatlichkeit (eine Funktion der «countries») basieren. John Lennon hat in «Imagine» einen problematischen Text in einen prägnanten Popsong gepackt, der die Attraktivität utopischer Versprechungen zu nutzen weiss. Uh-Uh-Uhuhu.

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Von Daniel Jung «Imagine» von John Lennon ist gemäss der Musikzeitschrift «Rolling Stone» die Nummer drei der «Greatest Songs of All Time», direkt hinter «Like a Rolling Stone» von Bob Dylan und «Satisfaction» von den Rolling Stones. «Imagine» wird immer noch oft gesungen und gespielt, sei es bei der Spendensammelaktion der reformierten Ortskirche, im Nachtprogramm von Erwachsenenradios oder als Hintergrundmusik zur nachdenklichen Bilderschau des TV-Jahresrückblicks mit Günther Jauch. Das Lied ist seit seiner Entstehung im Jahre 1971 unter dem Eindruck der Vietnamproteste eine Hymne der Friedensbewegung und heute der offizielle Song von Amnesty International.


meinung

New perspectives on a shattered past Last year’s eradication of the Tamil Tigers promised to soothe the conflicts in Sri Lanka. Nevertheless, a lot has still to be done to enable a peaceful future for the country. By Jesuthasan Peduru In May 2009, the Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) experienced their Waterloo by the Nandhikkadal lagoon at Mullaithivu, a tiny town in the Northern part of Sri Lanka. The longest armed conflict in Asia between the minority Tamils and the majority Sinhalese then came to an end after thirty years. However, the future of the war-torn South Asian Nation is still uncertain. The newly elected president faces numerous challenges to put the country back on the right track. Sri Lankan culture became a celebration of narrow-mindedness, ignorance and mediocrity. The country happily embraced xenophobia. Frustrations of going through life with meaningless acts and gestures that have long outlived their purpose create a sense of nihilism. In this context, heroism is equated with destructive conspiratorial behavior finally ending in killings. But as Sri Lanka’s recent history has shown, the country’s own culture is the

last thing to be challenged. It is preferred to look for the enemy outside. This has been done in different manners and intensity by the JVP (Janatha Vimukthi Peramuna, an armed Sinhalese rebel group), the LTTE and the elected government of Sri Lanka. However, the rub is rather within.

Hide and Seek In 1992, the UN committee for Development Planning (UNDP) made a policy statement on good governance. This includes effective government policies and administration, respect for the rule of law and the protection of human rights. The UNDP report also emphasizes transparency in policy making. Greater transparency makes it difficult for government officials and politicians to ignore the interests of the general public when undertaking their duties. However, it is difficult to evaluate government activities when a large extent of the media

Clouds are still hanging over Sri Lanka.

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Civil servants

Author

Unfortunately, in the history in Sri Lanka, politicians often forgot the promises they made, once the elections were won. In favor of achieving their ambitions, implementing policies focusing on the need of citizens has been neglected. It has been said that good governance and good public administration are essential aspects of democracy. The ability to distribute society’s resources, curb the abuse of power and corruption and guarantee equality of all people before the law is fundamental for a well-functioning society. The future politicians of Sri Lanka should reflect on this statement and realize that this is the only way in which the confidence and trust of the people can be restored. This would imply that government officials return to their original role as agents commissioned by citizens. They would literally become the «civil servants» which their job title suggests. The civil servants represent the administrative service in charge of implementing policies formulated by political leadership. Presently, the civil service encompasses both central and provincial levels of governance and extends from law enforcing officers, central and provincial state administrative officers to the whole gamut of state officers. Essentially, civil servants should deliver the best administration possible. As holders of a public office they are expected to take decisions in terms of public interest and they should not do so to gain financial or other material benefits. They should not place themselves under any obligation to outside individuals or organizations that could influence them in the performance of their duty, and should always be accountable for their decisions.

Jesuthasan Peduru (43)

A history of violence

worked as a journalist

In the early years of Sri Lankan independence, these norms governed the public service. The public expected civil servants to perform all their responsibilities with the highest sense of integrity and to resolve any conflict between their personal interests and their official duties in favor of the public interest. Society regarded them with respect and public ser-

in Sri Lanka for many years. Today he lives in Zürich.

Pictures flickr.com

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vants usually attempted to implement policies with a moral ethical code. Although there were insidious attempts to politically influence the public service, no direct interference occurred; public servants did their job with integrity. However, the civil service of the early years after independence underwent a gradual change. It received a more national flavor when the Sri Lankan administrative service was established and those who had served as DRO (Divisional Rehabilitation Officer) had the option to enter the service. When political opinions got polarized and ultra nationalism entered the political arena, there was a tendency for certain public servants to change their ideology and code of ethics. With the new trends in political ideology, there was a tendency to attempt manipulating the public administration once a political party came into power. In 1972, this new political thinking led to changes in the constitution. This was the first attempt to undermine the safeguards which existed to prevent the politicization of public administration. The constitution brought the concept of a political authority into operation for each district. This authority’s power could and often did override the one of the government agent in charge of the district. When a conflict of views occurred, the public servant was transferred out of the area. The establishment of this political authority was justified by stating that such an authority would be able to contribute to the development of the people at ground. However, with the new constitution, public officers were dependent on political dictates. The power and functions allocated Public Services Commission was transferred to the political party in power via the ministers. Although he 17th amendment to the Constitution was ostensibly to re-enforce the independence of the public service, nothing has been done to implement this amendment until now. Under the umbrella of political patronage, many public service members obtained various advantages from their political superiors. Due to this, both their integrity and impartiality were affected. Additionally, a revision of roles occurred as public servants strived to serve the political leadership rather than the people. Basic courtesies towards the public were not extended and neither were written requests replied to. Emulating political bias became the hallmark of many public servants as rampant corruption and violence was condoned. Only if public servants decide to act according to the disciplines of their service again, the country is able to achieve a government of the people’s choice, promising a more disciplined future free from corruption.

A state in distress Sri Lanka’s challenge today is to be true to its own nation. The country represents a modern state with an ancient civilization. Unfortunately, the attempt of defining Sri Lanka as a modern nation state has led

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is controlled by the government. In Sri Lanka, both Lake House, the biggest print media company, and Rupavahini, the largest electronic media organization, are run by the government. This provides room for a government to hide its failures and maintain the myth of government infallibility. When a government restricts the disclosure of information, its failures are hard to trace. When failures nevertheless come to light, the shock of the general public is huge and its response fierce. Governments fear this and consequently attempt to hide information all the more. It is thus extremely important to improve transparency in order to break the myth of government infallibility and correct wrong policies as promptly as possible.


meinung

to conflict and strife. Today, the idea of a unified Sri Lankan nation is under severe threat and the country is divided. Power is held by the largest ethnicity, others are left in the cold. If Sri Lanka wishes to resolve these divisions, the structure of the state needs to be radically transformed. So far, there is no consensus on that and political differences turned into a cruel, destructive war. This war is a consequence of political causes. The conflict cannot be resolved by military means alone and requires a settlement addressing those underlying causes. These cannot be understood without knowing the history of the country. In terms of political independence, Sri Lanka is a young nation at sixty. The idea of Ceylon was a colonial construct. The British unified the country into a single administration. Sri Lanka was not alone in this respect. Ethnic conflicts erupted in many countries after the British left. From the Indian sub-continent to the Fiji Islands and from Nigeria to Malaysia one can find many instances. Sri Lanka too can be classified as an example of postindependence conflict within pre-independence boundaries. Some ex-colonies managed to reduce ethnic tensions by evolving new forms of power sharing. They reinvented themselves as new nations on the basis of equality and forged a strong sense of common identity. Ultimately the unity and integrity of a nation does not depend on its military strength or governmental structures, but in the will of its people. The nation state is essentially a state of mind.

or religion or claim exclusive rights to their historic habitat. Power shall not be confined to Colombo, but shared with the periphery. All people regardless of race, religion, caste or beleif will have their say and a role to play. Sri Lanka will belong to its people from Point Pedru in the north, Matara in the South, Puttlam in the west and Trincomalee in the east. At present, such a vision seems topian. However, it is this vision which will ultimately save Sri Lanka. Hegemonic and secessionist dreams are turning into nightmares. The call for a third option to either a hegemonic state or two secessionist states is a voice of sanity and sensibility. It is presently inaudible amidst the raucous battle-cries. In a clash of ideas, superiority in dialogue and discussion and not bloodshed and destruction should dominate the country. The Sri Lankan state needs to be restructured and the Sri Lankan nation reinvented for its tryst with destiny. Sri Lanka at sixty faces the unfinished and challenging task of building a new nation.

Hope for a new nation The tragedy of independent Sri Lanka is hegemonic majority. Majority rule should be a democratic principle, but it has been interpreted as the majority of the largest ethnicity. It is important to note that the eradication of the LTTE will not automatically result in the problem being solved. The LTTE is only a virulent symptom of the malady. The creation of a just, egalitarian and plural society with equal power sharing and based on a federal principle is desired now. In Sri Lanka, hegemony, secessionism and pluralism are clashing. The Sinhala hardliners want a Sinhala-Buddhist domination and see the country as theirs alone. The Tamil hardliners want a separate state for the North-East known as Tamil Eelam. Just as Sinhala hawks say Sri Lanka is for the Sinhalese, Tamil hawks claim that Tamil Eelam is for the Tamils. A state only for the dominant ethnicity by definition excludes other ethnicities living within the real or imaginary borders. Therefore, the radical Tamil and Sinhalese ideas brought about disunity, violence and destruction. A far more fruitful idea for the future of Sri Lanka is establishing an egalitarian and plural society where all children of the country can live together in amity and fraternity. This incorporates a vision where no one will claim superior rights on the basis of belonging to the majority race

A demonstration against the conflicts in Sri Lanka.

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X X X T F J T N P W F S M B H D I J O G P ! T F J T N P W F S M B H D I

A. Doris Baumgartner

Die flexible Frau Frauenerwerbsarbeit im Werte- und Strukturwandel 2008, 344 Seiten, ISBN 978-3-03777-049-8, SFr. 59.—

*OUFHSBUJPO VOE "VTTDIMVTT

1VCMJLBUJPOFO EFT /BUJPOBMFO 'PSTDIVOHTQSPHSBNNT /'1

Die Beiträge sind in der Originalsprache mit einer Zusammenfassung in der jeweils anderen Sprache (D oder F) publiziert.

Christoph Conrad, Laura von Mandach (Hrsg./dir.)

Auf der Kippe / Sur la corde raide Integration und Ausschluss in Sozialhilfe und Sozialpolitik / IntÊgration et exclusion dans l’assistance sociale et la politique sociale 2008, 168 Seiten, ISBN 978-3-03777-060-3, SFr. 28.—

Claudia Kaufmann, Walter Leimgruber (Hrsg./dir.)

Was Akten bewirken kĂśnnen / Ce que des dossiers peuvent provoquer Integrations- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs / Processus d‘intĂŠgration et d‘un acte administratif 2008, 172 Seiten, ISBN 978-3-03777-059-7, SFr. 28.—

3FJIF %JGGFSFO[FO Monica Budowski, Michael Nollert (Hrsg.)

Soziale Gerechtigkeiten 2008, 272 Seiten, ISBN 978-3-03777-051-1, SFr. 45.—

3FJIF 4DISJGUFO [VS 4P[JBMFO 'SBHF Kathrin Oester, Ursula Fiechter, Elke-Nicole Kappus

Schulen in transnationalen Lebenswelten Integrations- und Segregationsprozesse am Beispiel von Bern West 2008, 324 Seiten, ISBN 978-3-03777-062-7, SFr. 48.—


meinung

One solution – revolution! In Zeiten von Weltfinanzkrise, Krieg und Bildungsprivatisierung hilft kein Beten, kein Wimmern und kein Zähneklappern. Weder die Partei noch der liebe Gott werden uns befreien – das können wir nur selbst, sagt John Holloway. Von Sarah Schlüter Es ist nicht der Schrei einzelner Verwirrter, der Schrei «der Anderen», der Schrei der Dummen oder der besonders Schlauen! Es ist unser aller Schrei. Wir schreien. Wer ist das, «wir»? Warum schreien wir? Und was bringt uns dieser Schrei? Fragen, denen Holloway auf den Grund geht. Der heute in Mexiko lehrende Politikwissenschaftler setzt sich seit geraumer Zeit mit revolutionären Theorien auseinander, bezieht sich dabei auf marxistische Konzepte, nimmt aber gleichzeitig Abstand von einer allzu engstirnigen Interpretation derselben. Holloway diskutiert gekonnt seine wichtigsten Vordenker wie etwa Lenin, Luxemburg, Lukács, Adorno oder Negri und scheint sich aus jedem Ansatz die besten Stücke herauszupicken. Gleichzeitig verhehlt er nicht seine grosse Sympathie für die Rebellenbewegung der Zapatistas in Chiapas, Mexiko und überrascht durch die gezielte Verwendung ihrer Parolen, die sich immer wieder auf treffende Weise in Holloways anspruchsvolle Philosophie der Selbstemanzipation einzugliedern scheinen. Das Ergebnis ist ein fesselndes Buch, das zum Nach- und Weiterdenken anregt und alles andere als verstaubte Theorie liefert.

Fluss des Tuns; es entsteht instrumentelles Tun. Das Getane wird vom Tuenden getrennt und es entsteht eine Diskrepanz zwischen Herrschenden und Beherrschten, indem Letztere ihr Tun den Vorstellungen Ersterer unterordnen. Eine Unterordnung,

Ya basta! Es reicht! Unser Schrei liefert den Ausgangspunkt, von dem aus der Autor uns durch seine Gedanken zur «dringlichen Unmöglichkeit» der Revolution führt. Eine Erklärung dafür, warum wir schreien, befindet Holloway für unnötig – es gibt viele Auslöser und doch einen gemeinsamen Ursprung: Unsere innere Zerrissenheit, die Widersprüchlichkeit unserer Exis­ tenz, mit der wir jeden Tag fertig werden müssen. Holloway geht, ohne das historisch vorbelastete marxistische Vokabular zu benutzen, vom Entfremdungsprozess als Basis unseres Schreiens aus. Ein Schreien, das zwei Dimensionen aufweist: unseren Zorn über die Welt, wie sie ist, und gleichzeitig die Hoffnung auf eine Welt, wie sie (noch) nicht ist. Die Fähigkeit, uns etwas vorzustellen, was (noch) nicht ist und gemäss dieser Vorstellungen zu handeln, zeichnet uns als Menschen aus und unterscheidet uns von Tieren und Maschinen. Es ist unser natürliches Bedürfnis, unsere Vorstellungen umzusetzen. Kreatives Tun nennt Holloway das. Wird der Mensch nun dazu gezwungen, die eigenen Vorstellungen zu ignorieren und stattdessen diejenigen eines anderen Menschen durch sein Tun umzusetzen, zerbricht der gesellschaftliche

die weder friedlich abläuft noch als abgeschlossen und unverrückbar angesehen werden muss, sondern sich entsprechend der primären Akkumulation bei Marx in einem stetigen Konstituierungsprozess befindet.

Revolution als dringliche Unmöglichkeit Es geht also um Arbeit, um Entfremdung, um Unterdrückung – Mechanismen, von denen der Kapitalismus lebt und die uns bis auf das Mark durchdringen. Die Entfremdung endet nicht pünktlich zum Feierabend, nicht beim Bier in der Stammkneipe, nicht vor dem Fernseher, nicht mal im Schlafzimmer. Sie vereinnahmt vielmehr jeden Aspekt unseres Lebens, die Fetischisierung scheint grenzenlos. Verdinglichung heisst das bei Lukács: die Umkehrung von Subjekt und Objekt, Herrschaft des Getanen über die Tuenden statt umgekehrt. Menschliche Beziehungen, die nur noch Beziehungen zwischen Dingen sind.

Zum Buch HOLLOWAY John (2002). Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen. Münster: Westfälisches Dampfboot.

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Entfremdung erschwert die Revolution

Autorin Redaktorin Sarah Schlüter (22) aus Zürich studiert im 6. Semester Politikwissenschaft und Literaturwissenschaften an der Universität Zürich. Momentan lebt sie in Paris.

Bilder 1. Westfälisches Dampfboot 2. Urs Güney

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Statt von festen Kategorien wie Geld, Wert, Staat zu sprechen, benutzt Holloway Begriffe wie Geldwerdung, Wertwerdung, Staatswerdung. Das Negierte, das Nicht-Definierte dieser Kategorien ist somit immer mit eingeschlossen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind nicht fix, sondern sie sind im Begriff ihrer Konstituierung. Jeden Tag. Immer. Gleichzeitig ist es wichtig, die Ausbeutung und Fetischisierung nicht als uns äusserliche Mechanismen anzusehen, denn wir reproduzieren sie fleissig mit, indem wir repetitive Handlungsmuster anwenden, indem wir definieren, uns und andere identifizieren, abgrenzen und so weiter. Herrschaft wird durch entfremdetes menschliches Tun produziert, kreative Macht wird so in instrumentelle Macht verwandelt. Menschliches Tun ist also das einzige Subjekt, die einzige konstituierende Macht. Wir sind es, die unsere eigene Zerstörung, unsere Selbst-Entfremdung erschaffen. Wir verinnerlichen tagtäglich eine identitätsbestimmende, entfremdende Realität. Schnell entsteht hier die Frage: Ist ein revolutionärer Wandel zu einer freien Gesellschaft überhaupt möglich mit einer Horde entmenschlichter Menschen, wie wir es sind? Das «Dilemma der dringlichen Unmöglichkeit der Revolution» nennt Holloway dies. Je stärker wir uns von unserer Menschlichkeit entfernen, desto dringender wird die Revolution – und desto schwieriger und unvorstellbarer wird sie. «Auf die Knie, auf die Knie, auf die Knie!» schreit das Kapital. Vergeblich: Es reicht nicht aus. Denn die allgegenwärtigen, von uns verinnerlichten Zwänge provozieren einen allgegenwärtigen Drang zur Selbstemanzipation: Nur wenn wir nichts als «einfach gegeben» betrachten, sondern als Produkt unserer eigenen Schöpfung, können wir die gesellschaftlichen Verhältnisse verstehen und verändern. Marx sagte dazu: «Wir sind es, die die Gesellschaft erschaffen, nicht Gott, noch das Kapital, noch der Zufall: Darum können wir sie ändern» Holloway wendet sich gegen die Identifikationsbestrebungen, die sich in den Kämpfen unterdrückter Gruppen immer wieder durchsetzen. Zwar

ist es nötig, sich als «Arbeiterklasse», als «Frauen», als «Schwarze» zu vereinigen, um ganz konkreten Widerstand leisten zu können. Klassenkampf kann aber nicht auf die Konfrontation einer Arbeiterklasse mit der Bourgeoisie reduziert werden. In den Worten Wildeats: «Der Kern der Objektivierung, der Identifizierung, des Fetischismus-als-Prozess ist für Holloway der Klassenkampf. Hier findet der Versuch statt, das Tun zu brechen und hier wird gegen diesen Versuch rebelliert. Es gibt keinen Klassenkampf von unten oder von oben, er ist Kern der Fetischisierung. Klassenkampf ist der Versuch der Klassifizierung und der Widerstand gegen das Klassifiziert-Werden.» Wildeat geht mit Holloway einig in seiner Kritik aller Bestrebungen, «die Arbeiterklasse als positives Subjekt und nicht als Negation zu begreifen: von der Sozialdemokratie bis zum Operaismus». Definitionen sind wichtig, um Identifikation herzustellen und um Wissen zu erschaffen. Objektivität wird angestrebt, subjektives, unwissenschaftliches Denken möglichst ausgeblendet. Unsere definitorische Welt bezeichnet Holloway als Welt-des-Andersseins, geprägt von klaren Unterteilungen und meint: «Eine ganze Horrorwelt verbirgt sich hinter dem Prozess der Definition.» Doch Identifikation ist für die Ausübung von Macht unerlässlich. Kapitalistische Produktion baut auf dem Unterschied zwischen «mein» und «dein». Statt des freien Subjekts findet Holloway nur eine zerrissene Subjektivität, Gemeinschaften existieren bloss als Ansammlungen von Individuen, von Privateigentümern. Man ist eine Person, man ist für sich und kann nicht Person-als-Teil- einer-Gemeinschaft sein. Holloway zitiert Ute Bublitz, die Identität als Antithese von gegenseitiger Anerkennung, Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe bezeichnet.

Was tun? Die revolutionäre Machtübernahme im Staat wurde und wird bis heute vielerorts als einzige Möglichkeit angesehen, die Welt radikal zu verändern. Zumindest als erster Schritt, wie zum Beispiel bei Lenin und Trotzki, die über die Macht im Staat die Weltrevolution in Angriff nehmen wollten. Dabei wird vernachlässigt, dass der Staat nur ein Knoten im grossen Netz der gesellschaftlichen Verhältnisse ist, das Grundproblem jedoch in der Organisation der Arbeit liegt. Der Staat ist nur ein Instrument von vielen, die der Aufrechterhaltung der Unterdrückung im Kapitalismus dienen. Für die Machtübernahme im Staat müssen entsprechende Strukturen dafür aufgebaut werden, eine Armee oder Partei. Durch den Aufbau einer Organisation findet die oben kritisierte positive Identifikation statt. Die Kreation von Institutionen erfordert eine Einführung in die Eroberung von Macht, was automatisch eine Einführung in die Macht selbst bedeutet. Und wenn das geschieht, ist der Kampf schon verloren, denn die Logik der Macht wurde

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Der Fetischismus lebt von der Negierung, und darin sieht Holloway den Knackpunkt, an dem es sich festzuhalten gilt. Die Negierung des kreativen Tuns, des freien Subjektes und der Menschlichkeit provoziert automatisch einen Antagonismus, eine Spannung zwischen dem, was wir sein sollen und dem, was wir sein könnten – denn wir haben eine unzerstörbare Idee davon, wie sich das Leben anfühlen könnte, wäre es nicht von Zwang bestimmt. Hierher rührt also unser Schrei: die Verweigerung der Negation und die gleichzeitige Hoffnung auf Emanzipation. Fetischismus ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Die Unterordnung unseres Lebens unter das kapitalistische System ist nicht abgeschlossen, sondern ist ein ständiger Kampf.


meinung

übernommen statt abgeschafft. Holloway geht es aber um einen negativen Mechanismus, um eine Ablehnung der herrschenden Verhältnisse. Das Ziel ist eine Aufhebung der Macht, anstelle ihres Weiterbestehens in anderer Form. Deshalb muss der Kampf immer negativ, ablehnend, auflehnend bleiben, die Forderung der Revolution eine Auflösung der Machtverhältnisse. Dies ist eine anspruchsvollere Forderung als die der Machtübernahme im Staat und scheint auf den ersten Blick unrealistischer. Holloway drückt es so aus: «Die Frage nach der Veränderung der Welt ohne Übernahme der Macht zu stellen, heisst, bereits an der Kante eines Abgrunds verrückter Unmöglichkeit zu taumeln». Dies ist jedoch gemäss Holloway die einzige realistische Lösung! Der Autor macht es seiner Leserschaft nicht leicht, indem er weder beschwichtigt, noch konkrete Lösungsvorschläge liefert. Holloway möchte unseren Schrei nicht ersticken oder beschönigen: im Gegenteil – er sorgt mit seinem leidenschaftlichen Schreibstil und dem konsequenten

Einbezug des Lesers in das schreiende «wir» eher dafür, dass man nach der Lektüre dieses Buches kaum noch ruhig sitzen kann. Holloway haut uns die eigene Zerrissenheit um die Ohren und appelliert an unser Innerstes. Solidarität, Widerstand und stetige Analyse sind gefragt. Der Kampf um die Befreiung kreativer Macht ist die Etablierung einer Anti-Macht, von etwas, das sich radikal von instrumenteller Macht unterscheidet. Macht kann nicht übernommen und auf gute Art und Weise angewendet werden. Macht gehört nicht bestimmten Menschen oder Institutionen, sondern lebt von der Fragmentierung der Gesellschaft, besteht in der Struktur, die unser Leben bestimmt. Diese muss zerstört, nicht übernommen, nicht modifiziert werden. Diese Erkenntnis scheinen auch die mexikanischen Zapatistas gewonnen zu haben, wenn sie sagen: «Es ist nicht nötig, die Welt zu erobern. Uns reicht es, sie neu zu erschaffen.»

Holloway schreibt vom Zorn über die Welt, wie sie ist, und von der Hoffnung einer Welt, wie sie (noch) nicht ist.

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Wissen, was Wert ist – Utopie im besetzten Hörsaal Von Dublin bis Neapel, von Barcelona bis an den östlichsten Rand von Polen waren in den letzten Monaten Hörsäle der Universitäten besetzt. Die Forderungen standen unter einem ähnlichen Stern: dem der freien Bildung.

Die Wiener Studis machten es allen vor Literatur ADORNO Theodor W. (2006). Theorie der Halbbildung. Frankfurt/M: Suhrkamp. LIESSMANN Konrad Paul (2006). Theorie der Unbildung. Wien: Paul Szolnay-Verlag.

Aber Holla die Waldfee! Was steht denn da nun auf der Tagesordnung des österreichischen Parlaments? Ein 100-Milliarden-Paket zur Sicherung der Banken? In den USA waren es sogar 900 Milliarden. Jetzt mal ehrlich: Wer – ausser den Historikern – hätte das für möglich gehalten? Nicht nur Politiker mussten sich verlegen an der verschwitzten Geheimratsecke kratzen, auch Studierende verfolgten plötzlich eifriger als sonst die Nachrichten. Denn sie mussten über Jahre hinweg mitansehen, wie das Bildungssystem kaputt gespart wurde. Bei jeder

Ein besetzer Hörsaal in Wien.

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Budgetverhandlung hofften Rektorat und Co. auf einige wenige Millionenkrümmel, die für die Universitäten beim grossen Finanzkuchen-Fressgelage unter den Tisch fallen würden. Und jetzt, da die Geldquellen der Finanzinstitute zu versiegen drohen, sprudeln über Nacht die Steuermilliarden. Da ist es doch verständlich, dass man an dem zu zweifeln beginnt, was bisher als «im Rahmen des finanziell Möglichen» galt. Durch diese Zweifel wurden die Studierenden von der politischen Muse geküsst. Zu Beginn der Proteste in Wien, als die Teilnehmer selbst noch nicht so recht an einen Erfolg ihrer Aktion glaubten, kursierten Flugblätter, auf denen zu lesen war: «Wir fordern die Subventionierung einer 50 m² großen Wohnung für alle Studierenden» und «Gratis Gulasch mit Freibier zu Mittag». Klar: Das war ein Witz mit medienwirksamer Rhetorik. Aber ein Witz, der nicht nur zur besseren Stimmung beitrug, sondern auch zeigen sollte, dass ab heute etwas mehr möglich ist, als es gestern noch der Fall war. Auch wenn heute noch die wenig utopische Forderung nach «mehrlagigem Toilettenpapier in allen Toiletten der Hochschule» (Forderungskatalog der FU Berlin, Stand 12.01.10) unter der Rubrik «Mehr Geld für Bildung» an zweiter Stelle der Wunschliste mancher Protestierender steht, finden sich auch ernsthaftere und rühmlichere Anliegen darunter. Etwa das Bestreben, dass auch Kinder von NichtAkademikern vermehrt am universitären Treiben teilnehmen können, falls sie etwa aus finanziellen

zoon politikon | februar 2010 | nr. 8

Von Christian Wimplinger In den letzten Jahrzehnten hat es sich der Typus des Realpolitikers in den Bänken der Parlamente Europas bequem gemacht. Ein Realpolitiker zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, nicht nur zu wissen, was möglich ist, sondern zusätzlich zu wissen, was real möglich ist. Und das ist wahrlich eine einfache Sache: Denn was schon einmal wirklich war, muss auch sicher möglich sein. Deshalb bevorzugt ein Realpolitiker, es seinen Vätern und Müttern gleichzutun und durch offene Türen zu gehen, anstatt Wände einreissen zu wollen. So ist es möglich geworden, dass ein Entscheid über die Finanzierung von Abwassersystemen zu einem Meilenstein der Politikgeschichte werden kann. Über Ideen zu verhandeln ist ein mühseliges Geschäft, das man guten Gewissens an der Parlamentsgarderobe abgeben kann.


Was vespricht Bildung? Dies und vieles mehr läuft unter dem Label der freien Bildung, die von den Protestierenden symbolisch zu Grabe getragen wurde. Aber halt: Was war das noch gleich, «freie Bildung»? Wurde sie nicht schon vor langer, langer Zeit eingesargt und tief verscharrt? Sie sei der Kulturindustrie zum Opfer gefallen, hiess es vor 50 Jahren in Theodor W. Adornos «Theorie der Halbbildung». Klassische Bildungsinhalte, an denen das Individuum zu Humboldts Zeiten wachsen sollte, wurden durch Bildungsgüter ersetzt, die vielmehr zum Sammeln als zum Verinnerlichen taugten. Und jetzt haben wir den Schlamassel – wir verharren nicht ohne Stolz in einem schlichten Ratespiel der Namen, haben dabei aber etwas die Übersicht verloren und können daher mit dem Benannten nur selten mehr anfangen, als es mit einem Künstler oder einer Epoche zu assoziieren. Eines bleibt aber sicher: Ein Dummkopf, wer Mona Lisas Namen nicht von ihren Lippen ablesen kann. «Wer wird Millionär?» als etabliertes Lebensprinzip. Seit Adornos Kritik blieb aber nicht nur der Anspruch auf eine klassische Bildung in der Versenkung verschwunden, auch der Bildungsfetischismus, der noch eine letzte, wenn auch entfremdete Wertschätzung der Klassiker versprach, ist mittlerweile ausgelöscht. Wissen hat seinen Wert an sich einbüssen müssen, so Konrad Paul Liessmann in seiner «Theorie der Unbildung», und bekommt seinen Wert von externen Faktoren wie Verwertbarkeit zugewiesen. Wissen bleibt nutzlos, wenn es nicht als Rohstoff in wirtschaftlichen Prozessen verarbeitet werden kann. Dadurch drückt sich die Missachtung unserer Gesellschaft gegenüber dem Wissen aus. Töne wie diese kamen einem auch in den besetzten Hörsälen zu Ohren. «Stoppt den Ausverkauf der Bildung» oder «Gegen die Ökonomisierung der Bildung» konnte man auf Transparenten lesen. Dadurch wird suggeriert, wir hätten noch einen «antiken» Bildungsbegriff, der jetzt von der Ökonomisierung eingenommen zu werden droht. Am ehesten ist uns ein solcher Bildungsbegriff aber nur noch aus den Bildungsromanen des 19. Jahrhunderts bekannt, wie etwa aus Stifters «Nachsommer», der das Bild eines jungen Forschers zeichnet, dessen finanzielle Unabhängigkeit ihm erlaubt, sein in den Kinderjahren begonnenes Naturstudium durch ein Kunststudium zu ergänzen und der sich seiner vollendeten Bildung wegen mit der ersehnten Geliebten vermählen darf. Aber das ist es eben nicht, was die Studierenden fordern: Söhne reicher Eltern, die sich dank der Arbeit der Gesellschaft ihr Lebensglück zurechtbilden

können. Das ist die grundlegende Herausforderung, der sich Protestbewegungen wie «unsere uni» stellen müssen: Die Forderung zu rechtfertigen, dass es in unserer Gesellschaft einen Ort geben soll, an dem Wissen ein Eigenwert beigemessen wird, ohne dass dieses Wissen als Produkt in einen Verwertungsprozess Eingang finden müsste. Die Wortneuschöpfungen der letzten Jahre geben lebhaftes Zeugnis davon ab, mit welchem übermächtigen Gegner es die Protestierenden zu tun haben: unverwertbares Wissen gilt gemeinhin als «Wissensballast», die rasche «Wissensproduktion» lässt uns von der «Halbwertszeit des Wissens» sprechen, und zur Erfassung des «intellektuellen Kapitals» bedarf es einer «Wissensbilanz», wie Konrad Paul Liessmann betont. Die Hörsaalbesetzenden ergriffen die Macht, nahmen den nötigen Raum in Anspruch und schufen sich einen solchen Ort. Diese Keckheit wurde von grossen Teilen der Bevölkerung unterstützt und von konservativeren Kreisen zumindest kommentarlos zur Kenntnis genommen. Dies aber leider nur aus dem einen Grund, dass in den Universitäten tatsächlich der Putz von den Wänden bröckelt und sie als chronisch unterfinanziert gelten, nicht aber weil Wissen abseits einer Verwertungslogik als wertvoll betrachtet wird. Für wenige Wochen, so scheint es, ist eine Utopie real geworden.

meinung

Gründen davon ausgeschlossen sein sollten. Jede und jeder soll auch jenes Fach studieren dürfen, welches seinen Interessen entspricht, egal ob es zu den stark überlaufenen «Trendstudiengängen» zählt oder nicht.

Autor Redaktor Christian Wimplinger (23) aus Wien studiert Germanistik und Philosophie und verbringt ein ErasmusJahr in Zürich

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WIDERSPRUCH WIDERSPRUCH 57 57

iträge zu Beiträge zu zialistischer Politik

sozialistischer Politik

Staat undKrise Krise Staat und Finanzmarktkrise, Staatsinterventionismus,

Finanzmarktkrise, Staatsinterventionismus, Green New Deal; Staaten in Afrika; Green New Deal; Staaten in Afrika; Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und Geschlechtergerechtigkeit; Staatsleitbilder und marktliberaler Diskurs; Finanzund Steuerpolitik; marktliberaler Finanz- Post-Neoliberalismus; und Steuerpolitik; KritischeDiskurs; Arbeitssoziologie; Deglobalisierung – Strategie von unten; Kritische Arbeitssoziologie; Post-Neoliberalismus; Arbeitnehmer/innenrechte in Europa Deglobalisierung – Strategie von unten; Arbeitnehmer/innenrechte in Europa E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling, D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre, E. Altvater, H. Melber, B. Sauer, H.-J. Bieling, U. Brand, H. Schäppi, P. Rechsteiner

D. Lampart, W. Vontobel, J. Wissel, K. Dörre, U. Brand, H. Schäppi, P. Rechsteiner

Diskussion

M. Vester: Wirtschaftlicher Pfadwechsel Diskussion P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik C. v. Werlhof: Post-patriarchale Zivilisation

M. Vester: Wirtschaftlicher W. Völker: André Gorz’ Pfadwechsel radikales Vermächtnis P. Oehlke: Soziale Demokratie und Verfassungspolitik C. v. Werlhof: Post-patriarchale Zivilisation Marginalien / Rezensionen / Zeitschriftenschau W. Völker: André Gorz’ radikales Vermächtnis

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Ich habe keine Zeit für solche Ideen

Von Stefan Kovac Manchmal, ihr kennt das, bildet man sich etwas ein, doch kurz darauf ist es auch schon wieder vergessen. Doch das Hirn ist nicht so gebaut, es ist fies und gemein, denn plötzlich ist es wieder von dieser Einbildung besessen.

Es wirkt als würde in uns unbewusst was konstruiert, das irgendwann an unser Bewusstsein klopft, ungeniert eintritt und nicht fertige Ideen präsentiert, uns mästet, wie ein Bauer, der die Gänse stopft.

Natürlich lassen wir es zu, was haben wir für eine Wahl? Und natürlich will ich hier nicht sagen, es wäre eine Qual, nur, manchmal ist es eben dann gerade zeitlich nicht so gut, wenn der «Bauer» die unfertigen Ideen in unser Bewusstsein tut. Wenn man Auto fährt im dichten Verkehr und einem einfällt, dass man die Tapeten ja auch hätte pink streichen können, und es wäre sicher auch fein, hätte man die Ente mit Oliven gefüllt, oder solche Gedanken, die wie aus dem Nichts in einem brennen, anstatt sich zu konzentrieren, um den Wagen zu lenken, meint der «Bauer», er müsse uns das Hirn verrenken.

Es gibt sicher zahlreiche Situationen, in denen wir uns fragen, warum wir gerade in diesen solche Ideen in uns tragen, und wer oder was eigentlich dafür verantwortlich ist, dass man an eine Frau denkt, während man die andere küsst.

«Das habe ich nicht so gewollt, du musst das verstehen!», diesen Satz, erst kürzlich wieder in einem Film gesehen, ist eigentlich gar nicht mal so unpassend formuliert, nur eines ist’s, was mich an diesem Satz so stört: Warum soll jemand anders Verständnis dafür haben, wenn man selber nicht imstande ist, die Antwort zu tragen?

Nun, jeder trägt einen solchen «Bauer» in sich mit, der einem gnadenlos solche Ideen in den Kopf tritt. Unterbewusstsein wird es von anderen auch genannt,

Doch irgendwie ist mir der Name dafür nicht so galant. Denn eigentlich ist es nicht unter dem Bewusstsein gelegen, sondern über dem, denn das Bewusstsein ist untergeben.

Eigentlich, ich muss es doch noch gestehen, habe ich gar keine Zeit für solche Ideen. Ich will auch gar nicht länger über solche schreiben, sonst werde ich noch die ganze Nacht in solchen bleiben.

Die meisten von diesen wären sicher ganz nett, wenn man so liegt, halb schlafend in seinem Bett. Jedoch kämen sicher auch solche, und dann würde ich sauer, glaubt mir, dann würde ich nicht sein wollen der «Bauer».

Dichter Redaktor Stefan Kovac

Ich würde mich krönen, im Luftschloss wohnen, König sein, den «Bauer» aufsuchen bei ihm, oder eben bei mir daheim, alles auf den Kopf stellen, ihn lernen lassen mir zu weichen und zu guter Letzt, würde ich ihm die Subventionen streichen. Nur: Ich, König, Monarch in meiner eigenen Monarchie? Das, meine Lieben, das, wäre, wie lautet das Wort? Genau: Utopie!

(30) aus Zürich studiert Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft an der Universität Zürich.

Bild Urs Güney

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«Ja, das ist unbefriedigend» Professor Dieter Ruloff, Direktor des Intstituts für Politikwissenschaft (IPZ), spricht über das Problem der vakanten Professorenstellen und den bevorstehenden Umzug des IPZ nach Oerlikon.

Wie ist der Stand bei der Nachfolge Vatter? Dieter Ruloff: Der Abgang Vatter ist ja ein bisschen plötzlich gewesen. Die Kommission hat jetzt gearbeitet, der Strukturbericht ist genehmigt worden und die Ausschreibung ist erfolgt. Man kann auch hier damit rechnen, dass die Probevorträge im Frühjahr stattfinden werden. Der frühste Zeitpunkt, auf den eine Berufung erfolgen könnte, wäre das Wintersemester 2010. Aber das müsste mit sehr grosser Beschleunigung von statten gehen. Und ob das passiert, weiss ich nicht. Wie sieht denn dieses Verfahren genau aus? Dieter Ruloff: Es werden vermutlich im März oder April Probevorträge stattfinden. Das darauf folgende Kommissionsgutachten wird mit viel Glück bis im Mai durch die Fakultät beraten und wird dann mit einer Einschätzung des Dekans an die Universitätsleitung weitergeleitet. Die Universitätsleitung wird dann mit einem Kandidaten reden und ihm im Juni oder Juli einen so genannten Ruf erteilen. Wenn das alles sehr rasch und sehr glatt geht, dann könnte der Universitätsrat in allen Fällen bereits auf den 1. September 2010 einen Ruf erteilen. Es kommt dann darauf an, wie schnell der Betroffene in der Lage ist, zu kommen. Es kann sehr wohl sein, dass jemand, der berufen werden soll, eine lange Kündigungsfrist hat, und dann würde dieser erst auf das Frühjahrssemester 2011 kommen oder noch später. Das sind unerfreuliche Perspektiven, aber so ist das Prozedere. Weshalb hat man in der Nachfolge im Fach Methoden noch immer noch keine Resultate? Dieter Ruloff: Die Fakultät hat eine neue Kommission eingesetzt, welche verschiedene Möglichkeiten

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für das weitere Vorgehen beraten hat. Der Dekan unserer Fakultät, Herr Roeck, hat der Kommission dann nahegelegt, die Sache auf dem regulären Weg voran zu treiben, also diese Professur auszuschreiben. Und ich vermute, man wird sie innert nützlicher Frist auch ausschreiben. Es wird wahrscheinlich eine etwas verkürzte Bewerbungsfrist geben, damit man ebenfalls im Frühjahr Probevorträge durchführen kann. Weshalb wird diese Professur erst jetzt ausgeschrieben? Sie ist ja schon beinahe zwei Jahre vakant! Dieter Ruloff: Das Verfahren wurde schon einmal in die Wege geleitet und die Universitätsleitung hat im Sommer 2009 versucht, jemanden zu berufen. Dies ist gescheitert. Danach ist man in die Sommerpause hineingeraten und hat dann aber auf Beginn des Herbstsemesters 2009 eine Kommission eingesetzt, welche betreffend weiteren Vorgehens grossen Beratungsbedarf hatte. Aus diesem Grund hat sich das verzögert. Sie haben jetzt geschildert, weshalb diese Berufungsprozesse lange dauern. Es ist deshalb erstaunlich, dass der Berufungsprozess an der Uni Bern bei der Abberufung von Professor Vatter ungleich schneller von statten ging. Wie konnte es passieren, dass Professor Vatter nach nur zwei Semestern schon wieder weg war? Dieter Ruloff: Ich weiss nicht, wie das in Bern gemacht worden ist, das muss ich Ihnen ehrlich sagen. Ich weiss nur, was man darüber sagt. Ich kann mir vorstellen, dass man Herrn Vatter hat haben wollen, und zwar nur ihn. Angeblich erschien allein er auf der Liste der Berufungskommission. Ich vermute, dass man sehr früh auch mit ihm geredet hat, aber das ist Spekulation. Wenn er ihnen dann signalisiert hat, dass er interessiert ist und weitere involvierte Kreise sich einig waren, dann geht das sehr schnell. Man hat auch in Bern ein reguläres Verfahren durchgeführt, es sind Leute eingeladen worden, aber von den übrigen Kandidaten ist angeblich niemand auf die Liste gekommen. War das nicht alles absehbar, als man Professor Vatter berufen hat? Dieter Ruloff: Bei der Beratung war allen klar, dass sein Lehrer in Bern, Professor Wolf Linder, zur Emeritierung anstand, und dass Herr Vatter seinen Lebensmittelpunkt immer noch und weiterhin in Bern hatte. Seine Frau hat eine Stelle dort, seine Kinder

zoon politikon | februar 2010 | nr. 8

Von Petra Vogel und Marco Büsch Wie präsentiert sich der aktuelle Stand der beiden Berufungsverfahren für die Lehrstühle Innenpolitik und Methoden? Dieter Ruloff: Wir haben noch eine dritte Vakanz, das ist die Nachfolge Kohler. Kohler wird demnächst emeritiert. Die Berufungskommissionen arbeiten und man kann sagen, dass es in allen drei Fällen innert nützlicher Frist, das heisst im Frühjahrssemester 2010, Probevorträge geben wird. Bei der Nachfolge Kohler hat die Kommission getagt und man weiss, wen man einladen wird. Es sind durchaus sehr valable Kandidaten, die dort zum Vortrag kommen werden.


Man ging dieses Risiko also bewusst ein? Dieter Ruloff: Nein, ich würde es noch nicht einmal ein Risiko nennen. Wenn Sie solche Verfahren der Spekulation eröffnen, dann kommen Sie in riesige Schwierigkeiten. Auch in der Privatwirtschaft ist es ja üblich, dass man über gewisse Dinge nicht redet, beispielsweise sind Frauen nicht verpflichtet, zu sagen, dass sie schwanger sind. Man schaltet solche Sachen bewusst aus, weil es keine Rolle spielen darf. Es kann immer auch anders kommen. Die Konstellationen in Bern hätten sich kehren können, man hätte beispielsweise einen Jüngeren vorziehen können und allfällige Kalkulationen Vatters wären nicht aufgegangen. Professor Vatter hat bei seinem Abgang teilweise Assistierende des IPZ mitgenommen, die vorher schon hier waren. Konnten oder wollten Sie das nicht verhindern?

institut

sind dort verwurzelt. Aber man hat dann argumentiert, dass solche Überlegungen in einem Verfahren keine Rolle spielen dürfen, weil das ja alles spekulativ ist. Und auch Herr Vatter hat ja nicht 100 Prozent sicher sein können, dass man ihm den Ruf nach Bern später auch erteilen wird. Bei einer Berufung kann alles Mögliche schief gehen. Herr Vatter hat mir gesagt «ich habe mich bei euch nicht nicht bewerben können und habe die Stelle nicht nicht annehmen können». Nein, man hat es gewusst, aber Sie können jemanden nicht ausschliessen auf der Basis von Spekulationen über die Zukunft.

Dieter Ruloff: Die Leute sind frei zu kündigen, ich kann sie ja nicht zwingen hierzubleiben. Ich kann Sie nicht halten, wenn sie eine gute Offerte bekommen und Herr Vatter ihnen auf mittlere Sicht eine Zukunft bietet. Hier ist für Mitarbeiter die Ungewissheit relativ gross, man weiss nicht, wer kommen wird. Ich kann die Mitarbeitenden des Lehrstuhls Schweizer Politik nicht länger beschäftigen, als jeweils bis zum Zeitpunkt einer möglichen Besetzung. Aber wir versuchen natürlich, die Mitarbeitenden zu halten, damit sie Lehre machen, das ist ganz klar. Ausserdem ist ein Professor, der neu kommt, oft auch froh, wenn er Leute vor Ort hat, die wissen wie’s läuft. Als Herr Vatter zu uns gekommen ist, hat er ja so gut wie niemanden mitgebracht, und er ist sehr froh gewesen um die vormaligen Mitarbeitenden von Ulrich Klöti und hat alle samt und sonders übernommen. Für die Studierenden ist es unbefriedigend, wenn einem Lehrstuhl mit vakanter Professorenstelle auch die guten Assistierenden fehlen, die in der Lehre arbeiten könnten. Dieter Ruloff: Ja, das ist unbefriedigend, aber wir haben ja einen Gastprofessor, Herrn Widmer, der, wenn man so will, für die Zeit der Vakanz «befördert» wurde und grössere Aufgaben übernommen hat. Er macht seine Sache sehr gut, aber die Vakanz bleibt unbefriedigend. Für uns ist es auch eine unangenehme Sache, wenn Kollegen aus anderen Gebieten fragen, was denn bei uns los sei, weil uns die Leute «weglaufen». Nun, wir haben in zwei Fäl-

Dieter Ruloff: «Das Ziel eines Betreuungsverhältnisses von 1:60 bei Professoren zu Studierenden ist noch sehr fern.»

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len Pech gehabt, das kann mitunter passieren. Es gibt Hauptfachstudierende, die seit vier Semestern in keiner Veranstaltung mehr einen Professor zu Gesicht bekommen haben. Was sagen Sie dazu? Dieter Ruloff: Wenn Sie hauptsächlich im Bereich Schweizer Politik studieren, ist das wohl möglich. Hanspeter Kriesi und Fabrizio Gilardi bieten jedoch Veranstaltungen in ähnlichen Bereichen an. Und Gilardi ist neu und hat noch wenige Studierende, die bei ihm Arbeiten schreiben. Er ist jung und kommt bei den Studierenden gut an.

Autoren Redaktor Marco Büsch (19) aus Zürich studiert im 2. Semester Politikwissenschaft,

Aber es geht doch darum, dass man die Veranstaltungen nach Interesse aussuchen können sollte und trotzdem ab und zu in den Genuss der Anwesenheit eines Professors oder einer Professorin kommt. Die Betreuungsverhältnisse sind im Fach Politikwissenschaft allgemein sehr schlecht. Dieter Ruloff: Ja, das ist richtig. Die Politikwissenschaft ist 1996/97 zum Hauptfach gemacht worden und seitdem aus allen Nähten geplatzt. Bis 2002 gab es nur Ulrich Klöti und mich mit an die tausend Studierenden. Und wir haben schwer gekämpft, um den Betrieb aufrecht zu halten. 2002 hat man Hanspeter Kriesi berufen und danach das Institut sukzessive ausbauen können. Es ist also besser geworden. Aber es ist natürlich noch immer nicht befriedigend aus unserer Perspektive, und auch die Fakultäts- und Universitätsleitung sehen dies so. Das Ziel eines Betreuungsverhältnisses von 1:60 bei Professoren zu Studierenden ist noch sehr fern. Wir werden es auch auf weithin absehbare Zeit nicht erreichen. Der vormalige Rektor, Herr Weder, hat dies bei Bedarf auch immer gerne bestätigt: Die Zahl der Studierenden sei sicherlich nicht das einzige Kriterium, nach dem man ein Fach aus- oder zurückbauen wird. Fächer zurückbauen ist an der Uni Zürich ohnehin extrem schwierig, wer will schon gerne ein Fach «aussterben» lassen? Im Plan der Fakultät ist jedoch noch eine weitere Professur für unser Institut vorgesehen. Es handelt sich um eine Professur für politische Theorie. Ob und wann diese kommen wird, weiss man nicht, angesichts der wirtschaftlichen Situation ist jede Prognose noch ungewisser als ohnehin schon.

zu gewichten, weil sie in manchen Fällen zu einer Art Stolperstein geworden sind. Sehr gute Leute sind im Probevortrag schlecht angekommen, weil sie beispielsweise zu nervös waren. Ich würde sagen, der Probevortrag ist manchmal etwas zu stark gewichtet worden. Leute, die in der Lage sind, sich im Probevortrag sehr gut zu präsentieren, haben einen Vorteil, das ist vollkommen klar. Sie finden also, der Auftritt vor Studierenden sollte weniger stark gewichtet werden? Dieter Ruloff: Das sage ich nicht, nein, mir macht die Lehre Spass und ich habe immer gute Evaluationen. Ich mache das gerne und bin auch der Meinung, es ist wichtig, Studierende zu motivieren. Wenn sie gerne in die Vorlesung kommen und Spass dabei haben und etwas dabei lernen, dann finde ich das gut. Werden nach dem Umzug auch die meisten Lehrveranstaltungen der Politikwissenschaft in Oerlikon stattfinden? Dieter Ruloff: In dem Moment, wo die Räume dort verfügbar sind, wird man vieles in Oerlikon machen und das, was nicht in Oerlikon geht – es wird dort einen einzigen grössen Hörsaal geben, in den zirka 200 Studierende passen – wird am Irchel stattfinden. Das Zentrum ist dann für uns «verboten». Ich bin über letzteres nicht sehr glücklich, ich fand die Lehrsituation hier im Zentrum optimal, und der Irchel ist dann schon etwas unpersönlicher. Was bringt der Umzug denn für die Studierenden nebst den Nachteilen noch für Vorteile mit sich, was wird geboten? Dieter Ruloff: Es gibt eine neue, grosse Bibliothek, es gibt mehr Arbeitsplätze, es gibt eine recht angenehme Cafeteria, wo man Kleinigkeiten essen kann. Im Sommer kann man draussen sitzen unter einem Sonnendach. Die räumliche Situation wird deutlich verbessert, das ist ganz klar.

ZUR PERSON

Recht und Soziologie an

Redaktorin Petra Vogel (30) aus Rombach studiert im 10. Semester Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Unversität Zürich.

Bild Marco Büsch

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Wie werden eigentlich die Kriterien «Qualität in der Forschung» und «Qualität in der Lehre» im Berufungsprozess gewichtet? Dieter Ruloff: Es ist ungefähr gleich. Man wird niemanden berufen, der nicht einen «Fussabdruck» in der Forschung hinterlassen hat. Aber man wird auch niemanden berufen, der vor der Klasse versagt. Aus dem Grunde gibt es die Probevorträge, die wichtig, manchmal zu wichtig geworden sind. Der vormalige Dekan hat die Berufungskommissionen deshalb schon angewiesen, die Probevorträge nicht zu stark

Dieter Ruloff Professor Dr. Dieter Ruloff ist seit 2000 Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Zürich und Inhaber des Lehrstuhls Internationale Beziehungen. Im Mittelpunkt seiner Forschung stehen unter anderem die Themen Welthandel, internationale Umweltpolitik und Schweizerische Aussenpolitik.

zoon politikon | februar 2010 | nr. 8

der Universität Zürich.


institut

Ein Ausweg aus dem Massenstudium Das CIS bietet einen exklusiven Masterlehrgang in Vergleichender und Internationaler Politik an. Bereits zwei Jahrgänge haben diese spezialisierte Ausbildung abgeschlossen - höchste Zeit, diesen neuen Studiengang kennen zu lernen. Von Petra Vogel Wer sich beim «Center for Comparative and International Studies» (CIS) um einen Studienplatz bewirbt, muss mit einer Enttäuschung rechnen. Doch wer es schafft, einen solchen zu bekommen, absolviert einen Masterlehrgang in einem nicht nur an dieser Universität einzigartien Lernumfeld. Sich anzustrengen lohnt sich also. Das CIS wird gemeinsam von der ETH Zürich und der Universität Zürich betrieben im Bestreben, Synergien zu nutzen und die Zusammenarbeit in Forschung und Lehre zu fördern. Insbesondere hat sich das CIS zum Ziel gesetzt, Studien über nationale Politiksysteme und solche über internationale Politik zu integrieren. Es beschäftigt dazu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Bereichen Politikwissenschaft, Wirtschaft und Geschichte sowie diverse Doktoranden und weiteres Personal aus dem Bereich Sozialwissenschaft, Humanities der ETH und dem Institut für Politikwissenschaft der Uni Zürich. Einen Forschungsschwerpunkt bildet dabei das vom Schweizer Nationalfonds initiierte interdisziplinäre Forschungsprogramm «Herausforderungen der Demokratie im 21. Jahrhundert». Seit 2006 bietet das CIS zusätzlich einen spezialisierten Masterlehrgang in Vergleichender und Internationaler Politik an. Dieser Lehrgang will Studierende mit den Fähigkeiten ausstatten, die für die Erforschung der komplexen Verflechtungen nationaler, internationaler und transnationaler politischer Prozesse notwendig sind.

Vier Schwerpunkte prägen das Studium Zu diesem Zweck werden die Studierenden schwerpunktmässig in vier Kernthemen ausgebildet. Erstens erhalten sie eine fundierte Methodenausbildung sowohl in qualitativer als auch quantitativer Hinsicht. Den zweiten Schwerpunkt bilden die gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie im globalisierten Umfeld, auf die mithilfe der wichtigsten Ansätze politischer Theorie Antworten gesucht werden. Der dritte Kernbereich beschäftigt sich mit Fragen rund um das Thema «politische Gewalt». Gegenstand dieses Schwerpunkts bilden Theorien sowohl über klassische zwischenstaatliche Kriege als auch über innerstaatliche, ethnische und regionale Konflikte. Auch die neuen Gefahren, die der Terrorismus und allgemein die Privatisierung

politischer Gewalt mit sich bringen, werden erörtert. Zu guter Letzt widmet sich das vierte Kernthema der politischen Ökonomie, die sich mit dem Zusammenspiel zwischen politischen und wirtschaftlichen Kräften bei der Politikformulierung sowohl auf lokaler als auch auf globaler Ebene auseinandersetzt. Hier geht es unter anderem um Fragen staatlicher Regulierungen, Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit sowie um staatliche Geld- und Steuerpolitik. Nebst diesen vier Schwerpunkten absolvieren die Studierenden zusätzlich ein Forschungsseminar und können aus einem Pool von Wahlfächern weitere Veranstaltungen auswählen.

Studierende kommen von überall her Mit diesem Lehrgang sollen explizit auch ausländische Studierende angesprochen und nach Zürich gelockt werden. Alle Veranstaltungen werden in Englisch gehalten, weshalb auch ausreichende Kenntnisse der englischen Sprache eine Voraussetzung für das Studium bilden. Dagegen müssen Kandidierende keinen Nachweis über etwaige Deutschkenntnisse vorlegen. Von den Studierenden, die im Jahr 2009 das Studium am CIS aufgenommen haben, stammt denn auch nur gut ein Drittel aus der Schweiz. Die Zahl der Schweizer Studierenden hat im Vergleich zu den Vorjahren aber zugenommen. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass Bologna nun auch hierzulande definitiv angekommen ist. Die restlichen Studierenden dieses Jahrgangs verteilen sich in etwa gleichmässig auf Studierende aus der EU und aus Drittstaaten. Letztere stammen vor allem aus den USA, aber auch aus Kenya und China. Auch für den Studienbeginn 2010 haben sich Kandidatinnen und Kandidaten aus fast allen Kontinenten und Ländern beworben.

Nicht jeder wird angenommen Aber nicht jeder, der gerne möchte, kann das Masterstudium am CIS auch tatsächlich aufnehmen. Nebst den gängigen Voraussetzungen – einem Bachelordiplom oder einer vergleichbaren Ausbildung – gilt es noch weitere Hürden zu überwinden, um einen der raren Plätze ergattern zu können. Die Exklusivität dieses Masterstudiengangs wird dadurch gewährleistet, dass jährlich jeweils nur rund zwanzig Studienplätze vergeben werden. Ausgewählt werden diejenigen Kandidierenden, die länder­

Links http://www.cis.ethz.ch/ education/macis http://www.nccrdemocracy.uzh.ch/

Bild Urs Güney

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Petra Vogel aus Rombach (30) studiert im 10. Semester Politikwissenschaft und öffentliches Recht an der Universität Zürich.

Die Universität und die ETH bieten den Master gemeinsam an.

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Weg dazu. Indem die Teilnehmerzahl in den Lehrveranstaltungen sehr tief gehalten wird, profitieren diese Studentinnen und Studenten im Gegensatz zu manchen ihrer Artgenossen von ausgesprochen guten Betreuungsverhältnissen.

Die Bewerbungsfrist läuft noch Wer nun Lust bekommen hat, nach dem Bachelor oder dem Lizenziat in Politikwissenschaft einen spannenden Master in einem kompetitiven Umfeld zu absolvieren, der kann sich noch bis zum 15. April 2010 für den Studienbeginn im Herbst 2010 bewerben.

zoon politikon | februar 2010 | nr. 8

Autorin

übergreifend die höchsten Qualifikationen vorweisen können. Empfehlungsschreiben von zwei Professoren gehören unter anderem zum obligatorischen Bestandteil des Bewerbungsdossiers. Bis jetzt wurden trotz einer Vielzahl von Bewerbungen nie mehr als 18 Personen pro Jahr angenommen. In den Jahren 2007 und 2008 nahmen jeweils gar nur 10 neue Studierende das Masterstudium am CIS auf; dies obwohl in beiden Jahren rund 60 Bewerbungen eingegangen sind. Bis heute haben 21 Studierende ihre Ausbildung mit dem Titel «Master of Arts in Comparative and International Studies» abgeschlossen, 28 sind auf dem


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POLITO – Ein Rückblick Dank mehreren neuen Vorstandsmitgliedern konnte der Fachverein für Politikwissenschaft ein gutes Programm und spannende Veranstaltungen durchführen. Von Jan Raudszus Zu Beginn des Semesters haben wir den letzten warmen Sommertag für ein gut besuchtes Grillfest im Irchelpark genutzt. Grossen Anklang fand auch der alle zwei Wochen durchgeführte Stammtisch des Fachvereins. Als besonderen Leckerbissen haben wir an zwei Abenden Mitglieder der «Classe Polititique» eingeladen. Tim Frey, Generalsekretär der CVP Schweiz, gewährte uns spannende Einblicke in den «Maschinenraum» politischer Arbeit. Als zweiter Gast wurde Cédric Wermuth, der polarisierende Chef der JUSO, eingeladen. Er gab Auskunft über die programmatische Ausrichtung und Entwicklung seiner Partei und über deren neue Initiative «1:12».

FV-POLITO

Dank den engagierten Vorstandsmitgliedern konnten im letzten Jahr viele unserer Projekte erfolgreich umgesetzt werden. Herzlichen Dank allen, die ihren Teil dazu beitrugen. Engagierte Mitglieder sind die Luft, die ein Verein atmet. Wenn du also Lust hast mitzuwirken, dann melde dich bei uns. Die Arbeit im Fachverein ist übrigens ein ausgezeichnetes SoftSkill-Training. Erfahrungen in einer Organisation, bei Verhandlungen und einen guten Eintrag im CV

– das alles bietet POLITO.

Autor Jan Raudszus ist Vizepräsident des

http://www.polito.uzh.ch

Fachvereins.

Unterstützung bei der Prüfungsvorbereitung

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Gegen Semesterende veranstaltete der Fachverein Tutorate zur Prüfungsvorbereitung, ergänzt wird das Angebot durch Zusammenfassungen zu verschiedenen Kursen auf unserer Homepage. Dass dieses Angebot bitter nötig ist, haben die Ergebnisse der vergangen Prüfungen gezeigt: die Durchfallquote lag bei rund 55 Prozent. Viele Studierende erachten zudem die Regelung der Nachprüfungen als mangelhaft. Dies hat sogar einen Artikel im Tagesanzeiger provoziert.

Institutsumzug und Neubesetzung der vakanten Lehrstühle Zu reden gibt im Moment auch der Umzug des IPZ samt Bibliothek in das SwissPort-Gebäude beim Bahnhof Oerlikon. Dort werden in Zukunft alle Lehrstühle, Seminarräume und Arbeitsplätze an einem Ort zusammengeführt. Zum anderen sind nach wie vor die beiden Lehrstühle für Methoden und Schweizer Politik vakant. Wir werden euch auf die Probevorlesungen im kommenden Semester hinweisen – bitte kommt zahlreich, eure Eindrücke sind wichtig!

Bald wieder eine POLITO-Party Für das Frühlingssemester ist eine Umfrage unter IPZ-Studierenden geplant. Wir möchten eruieren, was am Studium gefällt und wo es Verbesserungen bedarf. Geplant ist auch eine grosse POLITO-Party, die während des Frühjahrssemesters steigen wird. Wir freuen uns auf die vielfältigen Begegnungen und Herausforderungen und hoffen, als Fachverein weiter zu wachsen.

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Befreit die Bildung! Eine utopische Forderung? Besetzte Hörsäle und Demonstrationen machten in den letzten Wochen in Zürich Schlagzeilen. Werden die Anliegen der protestierenden Studierenden aber auch als realistisch erachtet? Christian Seidel und Stefanie Heine hörten sich an der Uni um.

Katherine (28), Doktorandin in Jura Die Senkung der Studiengebühren ist eine unrealistische und utopische Forderung der Studenten. Im internationalen Vergleich haben die Schweizer Universitäten sehr geringe Studiengebühren. Bei zunehmender Internationalisierung ist eher von einer Erhöhung auszugehen – leider. Oscar (21), Physikstudent I believe the protests against the Bologna system are totally utopian, as the EU institutions won‘t weaken because of the support of all the European elite class. However, the protests against the study fees might have a real impact on the national or cantonal representatives, as it is a smaller scale system, submitted to people‘s direct vote and the social problematics being important for Swiss people. Christian (31), Postdoc in BWL Im Vergleich zu der Schweiz gibt es in Tolouse eine Universität, an welcher jedes Jahr mehrere Monate gestreikt wird. Die Ziele dieser Studenten könnte man sicherlich als utopisch bezeichnen.

Autoren Christian Seidel (27) studierte Physik an der Technischen Universität in München. Redaktorin Stefanie Heine (26) aus Zürich studierte Englisch, Philosophie und Komparatistik. Sie ist nun Doktorandin in englischer Literaturwissenschaft und Komparistik an der Universität Zürich.

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Andrés (30), PhD-Student aus Spanien I find the claims of the students too idealistic in a society like the one we live in Switzerland. Although in an ideal society everyone should have the same opportunities to study and get a better position in the job market, the fact that no or few economical support is offered by the government makes it impractical. Education and health should be free de facto for all. The Bologna standardisation makes the universities lose freedom in the way they educate the local society. For some studies it is good, as the European job market needs professionals ready to work with similar knowledge. However, the university has to be seen as a professional worker‘s factory. Traditionally, it has been a craddle for new ideas and movements, because not all societies are equal.

Marco (22), Theologiestudent Utopisch sind die Forderungen der Protestierenden sowieso, aber es spricht nichts dagegen. Die Forderungen sind angemessen verglichen damit, wofür sonst Geld ausgegeben wird. Ich denke dabei daran, dass ein Drittel der Staatsausgaben für Militär und Rüstung ausgegeben wird. Dann halte ich es sehr sinnvoll, dass man die Studiengebühren senkt. Ob studieren ganz gratis sein soll, ist eine andere Frage. Auf dem Niveau, wie die Studiengebühren momentan sind, ist es okay, aber wenn ein Hans Weder 2500 Franken pro Semester verlangt, liegt das gar nicht drin. Eine Senkung oder Beibehaltung der jetzigen Studiengebühren ist vermutlich nicht realisierbar bei der bürgerlich bestimmten Politik, die wir in der Schweiz haben. Hannes (23), Hispanistikstudent Keine Studiengebühren zu zahlen, finde ich utopisch. Man könnte versuchen, die Gebühren zu reduzieren und nach besseren Finanzierungsmöglichkeiten zu suchen. Die Abschaffung des Bologna-Systems wäre für manche Studiengänge an der Philosophischen Fakultät sicher sinnvoll. Ich denke allerdings, dass es schwierig sein wird, das Bologna-System rückgängig zu machen, weil es schon so etabliert ist. Für andere Studiengänge, etwa in den Naturwissenschaften, finde ich es nicht notwendig, dass das Bologna-System abgeschafft wird. Peter (22), Rechtswissenschaftenstudent Utopisch finde ich es nicht, dass man Forderungen stellt bezüglich Senkung der Studiengebühren und so weiter – aber ich finde es unbegründet. Ich bin kein Fan von Anschlüssen an andere Länder und davon, dass in der Schweiz protestiert wird, nur weil es anderswo auch passiert. Man sollte sich auf das Wesentliche beschränken und schauen, wie gut man es in der Schweiz eigentlich hat. Ich finde die Proteste in Zürich darum eher peinlich.

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Andreas (25), PhD-Student Die Studentenproteste waren meiner Meinung nach zu unsystematisch und ziellos. Ausserhalb hat keiner bemerkt, woran es fehlt und was gefordert wird. Deswegen waren die Proteste von Anfang an zum Scheitern verurteilt.


agenda

ROT ANSTREICHEN! Uni-Veranstaltungen Der totaldemokratische Minimalstaat. Zur Geschichte des schweizerischen Steuersystems 25.02.2010, 18:15-20:00 Uhr Referent: Prof. Dr. Jakob Tanner Ort: Uni Zürich, Raum: KO2-F-180 «Freie» politische Willensbildung und

Medienberichterstattung 01.03.2010, 18:15-19:00 Uhr

Too Big to Fail 12.04.2010, 19:30-20:15 Uhr Referent: Prof. Dr. Urs Birchler Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-201 (Aula) Finanzmarktregulierung im Spannungsfeld von Recht und Politik 17.05.2010, 17:00-17:45 Uhr Referent: PD Dr. Christoph B. Bühler Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-201 (Aula)

Referent: Prof. Dr. Jörg Matthes Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-230 Kasino-Kapitalismus – wie es zur Finanzkrise kam und was jetzt zu tun ist 02.03.2010, 18:00-19:30 Uhr Referent: Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, Universität München Ort: Uni Zürich, Raum: HG-G-5 Future Reloaded – Die Zukunftshaltigkeit der Wissenschaften II: Utopie und Vision in Wissenschaft und Technik 09.03.2010, 18:15-20:00 Uhr Referent: Prof. Gerd Folkers Ort: Collegium Helveticum, Schmelzbergstr. 25, 8006 Zürich

Partisan Ideology or Political Realism? Politics of the Welfare State 24.03.2010, 18:15-20:00 Uhr Referent: Prof. Dr. Junko Kato, University of Tokyo Ort: Uni Zürich, Raum: KO2-F-180

SIAF-Veranstaltungen Gegenwart und Zukunft Mitteleuropas 18.03.2010, 18:15 Uhr Referent: Karl Fürst zu Schwarzenberg, Senator der Tschechischen Republik Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-201 (Aula) Weltrisikogesellschaft – neue Formen kosmopolitischer Schicksalsgemeinschaften 25.03.2010, 18:15 Uhr Referent: Prof. Dr. Ulrich Beck Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-201 (Aula) Brennpunkt Kaukasus 20.04.2010, 18:15 Uhr Referentin: Heidi Tagliavini, Botschafterin Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-201 (Aula) Sicherheitspolitik zurück auf der Agenda 06.05.2010, 18:15 Uhr Referent: Ueli Maurer, Bundesrat Ort: Uni Zürich, Raum: KOL-G-201 (Aula)

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Verordnete Grenzen – verschobene Ordnungen Frauenhandel ist ein Problem der neuen Wirtschaftsordnung. Eine verstärkte Einwanderungskontrolle bietet keine Abhilfe. Eine Stellungnahme zu Alexander Otts Beitrag «Menschenhandel im Halbschatten der Gesellschaft» in Zoon Politikon Nr. 7, September 2009.

Ein Markt für informelle Dienstleistungen

Literatur LUTZ Helma (2008). Vom Weltmarkt in den Privathaushalt. Die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung. 2. überarb. Aufl., Opladen. WALLERSTEIN Immanuel (1999). Integration und Marginalisierung. Wem dient das Staatsbürgerrecht? In: WIDERSPRUCH, Beiträge zur sozialistischen Politik. 19. Jg., Heft 37, Zürich, S. 107-115.

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Die Produktion von Erkenntnissen über gesellschaftliche Phänomene ist allerdings immer abhängig von der eigenen sozialen und kontextuellen Verortung mit ihren Privilegien und blinden Flecken. Insbesondere hinsichtlich migrationspolitischer Aspekte kamen die Soziologin Ursula Fiechter und ich in einer vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie zu anderen Schlussfolgerungen als Alexander Ott. Im Zentrum unserer Untersuchung stand die Perspektive betroffener Migrantinnen auf gesellschaftliche Determinanten des Frauenhandels. Menschenhandel ist im Kontext internationaler und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung zu betrachten. In erster Linie sind davon Frauen betroffen. Im neu gestalteten Weltarbeitsmarkt besteht nicht nur ein Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften, sondern ebenso eine Nachfrage nach unsichtbaren informellen Dienstleistungen. Parallel zu einer hoch spezialisierten, international tätigen Geschäftswelt ist ein Markt für stark abgewertete Dienstleistungen entstanden, so etwa im Reinigungs- und Haushaltsbereich oder für das Unterhaltungsgewerbe. Entsprechend den herrschenden Ungleichheitsverhältnissen werden diese Tätigkeiten vorwiegend Frauen respektive Migrantinnen zugewiesen. Migrantinnen aus Ländern des Südens und Ostens werden folglich nicht nur als billige und willige Arbeitskräfte gesucht, sondern auch für die Unterhaltung und die Regeneration von Männern als Prostituierte und Nachtclub-Tänzerinnen weltweit verschoben. Darüber hinaus wer-

den sie als Hausangestellte und Ehefrauen für die Hausarbeit und Kinderbetreuung angeworben.

Restriktion schafft neue Abhängigkeiten Die Behörden in der Schweiz versuchen, dem Phänomen Menschenhandel mit der Bekämpfung der illegalen Migration zu begegnen. Zu diesem Zweck wird die Einwanderungskontrolle verstärkt. Dabei bleiben die realen Voraussetzungen des Frauenhandels und die Lebensbedingungen der Betroffenen unbeachtet. Denn diese Massnahmen ignorieren, dass Frauenhandel mit Strukturveränderungen globaler und lokaler Ökonomien in engem Zusammenhang steht. Eine restriktive Einwanderungspolitik produziert daher in erster Linie neue, aufenthaltsrechtliche Abhängigkeiten. Die Ursachen und Motive von Migration und Frauenhandel kann sie jedoch kaum beeinflussen. Migration stellt grundsätzlich keine Randerscheinung im modernen Weltsystem, sondern ein konstituierendes Element dar. Vor dem Hintergrund einer restriktiven Einwanderungspolitik führt die Abnahme von legalen Beschäftigungsmöglichkeiten für Migrantinnen und Migranten zu einer Zunahme illegaler beziehungsweise illegalisierter Beschäftigungsverhältnisse im informellen Sektor. Dabei spielt der Bedarf einheimischer Akteurinnen und Akteure an Arbeitskräften insbesondere im Sex-, Haushalts- und Reinigungsbereich, für die Kinderbetreuung sowie die Pflege von Familienangehörigen eine wichtige Rolle. Mittelschichts- und Einelternfamilien greifen genauso auf die billigen Arbeitskräfte von Papierlosen zurück wie Landwirte. Das Ausmass solcher Beschäftigungsverhältnisse ist zwar unbekannt, sicher ist aber, dass es sich abgesehen vom Landwirtschaftssektor grösstenteils um Frauenarbeit handelt. Und gerade Sexgewerbe und Haushalt gelten in diesem informellen Dienstleistungssektor als typische Arbeitsbereiche, in denen sich von Menschenhandel betroffene Frauen wiederfinden.

Die Strafverfolgung ist ungenügend Diesen gesellschaftlichen Gegebenheiten steht eine minimale Verurteilungsquote von Frauenhändlerinnen und Frauenhändlern gegenüber. Die Vermutung liegt nahe, dass dem Delikt Menschenhandel in der Strafverfolgungspraxis eine eher geringe

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Von Maritza Le Breton Alexander Ott stellt wichtige Überlegungen zu Menschen- beziehungsweise Frauenhandel an und erläutert Ansätze zu dessen Bekämpfung. Er plädiert für eine Erweiterung des Wissens über Zusammenhänge, Ausmass und Folgen dieses komplexen Phänomens. In der Tat ist die Datenlage trotz langjährigem Engagement beispielsweise der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in Zürich unvollständig und die Erhebungsmotivation niedrig. Doch das öffentliche Interesse an der Problematik der frauenspezifischen Migration wächst.


Der Opferschutz wird vernachlässigt Als mögliche Erklärung für diese geringe Anzahl registrierter Fälle wird das Anzeigeverhalten der Opfer angegeben. Obwohl die Opferaussagen für eine effizientere Arbeit von Polizei und Justiz als unerlässlich gelten, wird der Opferschutz vernachlässigt. Solange Frauen über keinen Schutz verfügen und von einer Ausweisung bedroht sind, werden sie kaum in der Lage sein, mit der Polizei zu kooperieren und gegen Täter auszusagen. Das revidierte Ausländergesetz trägt den ausgewiesenen Schutzbedürfnissen betroffener Migrantinnen kaum Rechnung. Zwar besteht nun die Möglichkeit, Opfern von Menschenhandel im Rahmen des polizeilichen

replik

Bedeutung eingeräumt wird. Der Straftatbestand wird unzureichend verfolgt. Geschätzten Zahlen zufolge gelangen jährlich rund 1500 bis 3000 Frauen als Opfer des Frauenhandels in die Schweiz. Polizei und Justiz greifen eine verschwindend kleine Minderheit der betroffenen Frauen auf. Laut Bundesamt für Statistik sind von 1992 bis 2006 in der Schweiz lediglich 45 Personen wegen Menschenhandels verurteilt worden. Das macht pro Jahr im Durchschnitt drei Fälle.

Ermessens eine Aufenthaltsbewilligung für die Dauer eines Strafprozesses zu gewähren. Dies ändert jedoch nichts daran, dass deren Aufenthaltsrecht gefährdet bleibt.

Entkriminalisierung garantiert Mindeststandards Trotz struktureller Einschränkungen und aufenthaltsrechtlicher Restriktionen versuchen die betroffenen Frauen, die eigene Situation zu beeinflussen und ihre Lebensbedingungen über Grenzen hinweg zu verbessern. Dadurch wirken sie individuell an der Veränderung der Verhältnisse mit. In der Literatur wird dieser Prozess als «Transnationalismus von Unten» charakterisiert – ein Begriff, der den Beitrag würdigt, welchen Migrantinnen häufig unsichtbar leisten. Ein erster Schritt zur Verbesserung der Situation liegt in der Entkriminalisierung der Sexarbeit. Aus der Anerkennung der Sexarbeit als Beruf und der darin Tätigen als Sexarbeitende, können Arbeitsund Aufenthaltsrechte für die hier arbeitenden Frauen resultieren. Diese würden Mindeststandards, Schutz und angemessene Lebensbedingungen garantieren.

Autorin Maritza Le Breton ist Professorin an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Gender und Migration, Frauenhandel und Sexarbeit.

Bild Urs Güney

Frauenhandel – ein gesellschaftliches Problem.

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Urs Marti, Christian Urech, Bruno S. Frey, Franz-Xaver Hiestand, Laurent Goetschel, Michael Schmitz, Paul Hasler, Johannes Riquet, Daniel Jung, Jesuthasan Peduru, Jan Raudszuz.

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Zoon Politikon – Zeitschrift von Studierenden der Politikwissenschaft der Universität Zürich, Rämistrasse 62, 8006 Zürich.

HERAUSGEBER Johanna Klaus, Matthias Müller,

KORREKTORAT Petra Vogel.

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