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Im Dauerumbruch mit hoher Taktzahl

So sieht Prof. Dr. Hans-Wilhelm Zeidler der Zeidler Consulting GmbH die Branche und wer, wenn nicht er, sollte da genauestens Bescheid wissen. Der ehemalige Vertriebsvorstand der Zurich sitzt in diversen Aufsichts- und Beiräten. Im finanzwelt-Interview spricht er über die Themen Digitalisierung, Provisionsdeckel, Courtageverbot und ESG in der Versicherungsbranche. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, legt er den Finger in die Wunden der Branche, aber mit Heilungsvorschlägen. Konstruktiv, kreativ und hoffentlich heilsam.

finanzwelt: Herr Prof. Dr. Zeidler, die Branche steht mal wieder oder immer noch vor einem Umbruch. Was sind Ihrer Meinung nach die Themen, mit denen sich Versicherer und Vertrieb auseinandersetzen müssen?

Prof. Dr. Hans-Wilhelm Zeidler» Lieber Herr von Stockhausen, ich denke, wir sind in einem Dauerumbruch mit hoher Taktzahl. Wo haben wir in der Branche denn Pausen zwischen erwünschten oder geforderten Change-Prozessen? Das führt ja auch gerade dazu, eine stabile Größe haben zu müssen, um Schritt halten zu können auf dem Weg in die Zukunft. Themen, mit denen die Branche sich auseinandersetzen muss? Eine unhöfliche Frage zurück: Welche Themen können denn als unveränderbar und abschließend geklärt in einen Ordner ‚FERTIG‘ geheftet werden? Das doch wohl nur die, die ersetzt wurden oder aus anderen Gründen keine Relevanz mehr haben. Dann heften sie im Ordner ‚GESCHICHTE‘. Nun wäre die Antwort: ‚mit allen lebenden Themen müsse man sich auseinandersetzen‘, eine ziemlich doofe Antwort. Meiner Meinung nach haben besondere Relevanz: nach wie vor die Digitalisierung, die aktuelle Inflations- und Zinsentwicklung, aus neuen Techniken oder Umständen – wie Klimawandel – resultierende Risiken und ihre Abdeckung oder das Reagieren auf regulatorische Anforderungen.

finanzwelt: Wie wird sich die Branche generell darauf einstellen müssen? Oder andersrum gefragt, was passiert schon hinter den Kulissen?

Prof. Zeidler» Wie Sie schon sagen, HINTER den Kulissen.

Dort werkelt jeder Teilnehmer der Branche mit anderer Schwerpunktsetzung, unterschiedlicher Intensität und sich unterscheidenden Ausgangslagen. Dazu kann ich nichts sagen. Grundsätzlich weiß die Branche natürlich um die Probleme, der einzelne Teilnehmer reagiert nach seiner eigenen Fasson. Das ist ja ein Merkmal unserer Wettbewerbsgesellschaft.

finanzwelt: Ist die einseitige Konzentration auf Techniken oder Vertriebe nicht ein furchtbarer Irrweg?

Prof. Zeidler» Das kann ich so nicht teilen. Viele betriebswirtschaftliche Faktoren sind endlich, vielleicht alle, aber auf jeden Fall sind es die Budgets, die eingesetzt werden können für die Erreichung wirtschaftlicher Ziele. Dann stellt sich die Frage, wo führen die eingesetzten Mittel am effizientesten zur Zielerreichung. Der Vertrieb – wie immer er gestaltet ist – ist und bleibt nun mal die notwendige Nebelschnur zum Markt. Unsere Produkte müssen wir verkaufen, wir können sie nicht einfach verteilen. Das ist eine Kenntnis, die uns alle zum Gähnen animiert, deshalb wundert ja die aktuelle Courtage-Diskussion so sehr. Aber Sie fragten ja auch nach den Techniken. Ja, der Weg ist vorgezeichnet, dass immer mehr Kunden bei der Befriedigung ihrer Bedürfnisse ein Serviceniveau erwarten, bei dem die Technik hilft, dieses zu erfüllen. Hier gibt es natürlich unterschiedliche Leistungsstandards in der Branche und es wird aus dem Wettbewerb heraus ein Höherhängen der Anspruchslatte an die Technik geben.

finanzwelt: Zum Thema Digitalisierung kann man ja ganze Bücher schreiben. Die Transformation ins digitale Zeitalter ist auch eine der Aufgaben, die beständig weiterschreitet und nie aufhören wird. Aber was sind Ihrer Meinung nach die Milestones der nächsten drei bis vier Jahre?

Prof. Zeidler» Erlauben Sie mir, diese Frage aus der Sicht eines Anwenders zu beantworten. Was nervt, sind Brüche im IT-System, will heißen, dass es keine homogene Welt der Bearbeitung gibt. Dass es hier keine Branchenbasis gibt, ist unverständlich. In vielen Branchen gibt es diese Basis und die Differenzierung zum Kunden erfolgt über Service, Preis etc.

Und wie steht es mit der Nutzung von KI? Die Branche kann wie Dagobert Duck im Geld in Daten schwimmen. Meines Erachtens wird aus diesem Schatz zu wenig gemacht, wäre aber gern lernbereit beim Gegenbeweis.

finanzwelt: Wie müssen sich denn Vertrieb der Gesellschaften und Makler/Vermittler auf die digitalen Weichenstellungen einstellen?

Prof. Zeidler» Mitmachen.

finanzwelt: Böse gefragt: Braucht es für gewissen Produkte überhaupt noch Makler oder ist das nicht eine Frage des Produktes, der Qualität eines Produktes und der damit einhergehenden qualitativen Beratung?

Prof. Zeidler» Mit Sicherheit haben Sie Recht, wir haben Produkttypen, die sind wunderbar im elektronischen Vertrieb einsetzbar und sollten auch über diesen Weg verkauft werden. Für Berater gibt es einen ganz großen limitativen Faktor – und das ist die Zeit. Diese darauf zu verwenden, für einfache und auch für Kunden in der Regel gut zu verstehende Produkte Kundenbesuche durchzuführen, scheint mir betriebswirtschaftlich nicht sehr effizient zu sein. Natürlich gibt es eine Reihe von guten Gründen, auch für eine Privat- haftlichtversicherung ins Auto zu steigen, wie bei einem Erstkontakt oder in Verbindung mit anderen Fragestellungen. Aber generell würde ich davon abraten. Auch der Handhabungswunsch der Kunden zu einem solchen Abschluss hat sich geändert, hin zu einer direkten Verbindung. Es gibt aber auch eine bedeutende Anzahl von Produkttypen, die auch weiterhin einer persönlichen Beratung – jedenfalls für eine absehbare Zeit – bedürfen. Da kommen wir an qualifizierten und engagierten Vertreibern nicht vorbei. finanzwelt: Einige Produkte fliegen auch schon wegen zu niedriger Courtagen aus dem Fokus vieler Vermittler, wie z. B. Kfz. Ist da eine Abschaffung oder zu große Deckelung von Provisionen nicht kontraproduktiv? Gerade in der Altersvorsorge werden sich doch dann große Versorgungslücken in Deutschland auftun, oder?

Prof. Zeidler» Jetzt muss ich erst einmal die Fragenkomplexe sortieren. Denken Sie daran, ich bin bekennender Ostfriese. Lassen Sie mich mit dem Fokus der Vermittler beginnen. Ja, es wird Sparten geben, die sind mehr im Fokus eines Vermittlers als andere, aber vergessen Sie bitte nicht den gesetzlichen oder moralischen Auftrag an Vermittler zu einer gesamthaften Beratung. Hier komme ich auf die letzte finanzwelt: Klar! Andererseits hat der Provisionsdeckel in der KV in der Kombination mit verlängertem Storno die elende Umdeckerei beendet und dem Markt insgesamt sehr gutgetan. Wäre eine Anpassung vielleicht hilfreich, um die leidige Diskussion diesbezüglich zu beenden? finanzwelt: Kommen wir zu einem meiner Lieblingsthemen. ESG. Was macht eine Versicherung eigentlich nachhaltig? Sprich worauf müssen Vertrieb und Kunde achten?

Frage zurück. Dazu ein Beispiel: Oft wird in unserer Branche, wenn ein kleines Verkaufserlebnis beschrieben werden soll, das Mopedschild herangezogen. Eine Mopedversicherung frisst, wenn sich ein Vermittler darum kümmert, Zeit. Jetzt habe ich einen Versicherer kennengelernt, der den Verkauf dieser Versicherung voll automatisiert hat mit einem 24/7-Service. Genau so sollte es sein. Gut bediente Kunden und ein für wichtigere Beratungen mit mehr Zeit ausgestattete Vermittler. Bei Ihrer Frage, Herr von Stockhausen, nach der Abschaffung oder Deckelung der Courtagen, treffen Sie bei mir einen freiliegenden Nerv. Für dieses Ansinnen habe ich überhaupt kein Verständnis. Ausländische Beispiele zeigen, dass die Beratungsleistung für die, die es besonders benötigen, verringert oder eingestellt wird. Das ist eine sozialpolitische Katastrophe. Dann wird auch die Existenzgrundlage eines wichtigen Beratungsberufs in Frage gestellt, es hat die Wirkung eines Berufsverbotes. Die Diskussion findet statt vor dem Hintergrund, dass das durchschnittliche Einkommen im Vertrieb – so zeigen Studien – völlig im Rahmen einer normalen Gehaltsstruktur in der Gesellschaft ist, es also keine exorbitante Höhe gibt. Das bei Dritten außerhalb der Branche häufig anzutreffende Bild der ausufernden Einkommen bei Vermittlern rührt von durch die Presse gern aufgegriffenen Einzelfällen, die immer seltener werden, wie überhaupt die Qualität des Vertriebes stetig steigt. Das war jetzt etwas lang, haben Sie noch was?

Prof. Zeidler» Ja, Diskussionen, die möglichen Unzulänglichkeiten einer Betreuung zu beseitigen helfen, sind natürlich willkommen.

Prof. Zeidler» Was ist denn hier die Versicherung? Die Unternehmung oder das Produkt? Im Grunde ist beides betroffen. Aber erst einmal allgemein: Die Branche widmet sich – nicht nur durch die Verpflichtungen aus den Verordnungen – sehr diesem Thema. Es sind viele Initiativen zu diesem Thema feststellbar, zum Teil mit großem Einsatz. Der Versicherer kann all das tun, was sein Unternehmen bei E und bei S und bei G akzeptabel macht und das wird erkennbar auch betrieben. Die Produkte müssen auf ihre ESG-Konformität hin geprüft und in die Kategorien der unterschiedlichen Umweltverträglich- keit einsortiert werden. Dabei sollten keine Selbstauskünfte zugrunde gelegt werden, da diese immer zu falschen Einschätzungen führen. Also Zertifizierungen aus extern erhältlichen und damit überprüfbaren Quellen, wie es Zielke Research bietet. Der Vertrieb muss ja seit Herbst letzten Jahres seine Kunden bezüglich deren Nachhaltigkeitsneigung befragen und die adäquaten Produkte empfehlen. Wie macht er das? Am besten ist dort ein standardisiertes Verfahren anzuwenden, das vermeidet, dass es zu Diskussionen (z. B. über Fotovoltaik, Frauenquote oder Atomkraft) zwischen potenziellem Kunden und dem Verkäufer kommt, da das vom eigentlichen Verkauf ablenkt – und diesen bei unterschiedlichen Einschätzungen der Situation sogar verhindern kann. Ein solches Verfahren ist beispielsweise eine Abfrage nach einer DIN-Norm, wie sie gerade entwickelt wurde. Darüber hinaus sollte sich der Verkäufer einem Zertifizierer anschließen, da er ohne Hilfe nicht in der Lage ist, zu bewerten, ob ein Produkt nachhaltig ist und in welcher Klasse. Er gerate da als Makler in eine nicht zu unterschätzende Haftungslage. finanzwelt: Wie wichtig ist das Thema beim Versicherer, wie wichtig beim Makler und wie wichtig bei Kunden? Ist da nicht ein Missverhältnis? finanzwelt: Wie entgegnen wir Greenwashing und Greenmarketing glaubwürdig?

Prof. Zeidler» Sie greifen vor, Sie Ungeduldiger. Meiner Einschätzung nach ist bei vielen Versicherern dieses Thema sehr weit oben auf ihrer Entscheidungsagenda. Für den Makler – danach haben Sie gefragt – ist es ein weiterer Baustein der Analyseerfassung und der notwendigen Dokumentation mit der entsprechenden Zeitinvestition. Aber ihm kommt das Mindset der sich ändernden Kundensicht entgegen. Den Menschen ist die Frage der Nachhaltigkeit zunehmend wichtig und sie möchten zu diesem Thema bei ihren Entscheidungen einen positiven Beitrag leisten. Zugegeben, das gilt noch nicht für alle Menschen, aber es werden mehr. Der Lackmustest besteht darin, dass der potenzielle Kunde gegebenenfalls auch eine Renditeeinschränkung hinzunehmen bereit sein sollte, wenn er ESG-zertifizierte Produkte erwirbt. Im Moment gibt es auch noch nicht genügend nach Artikel 8 und 9 zertifizierte Produkte, um jeden möglichen Bedarf befriedigen zu können, aber auch die werden stetig mehr.

Prof. Zeidler» Das ist schwer zu beantworten. Es wird natürlich solche Auswüchse geben. Wieso gerade hier nicht. Gefordert ist eine Aufmerksamkeit. Die kann ein Einzelner nicht leisten, das muss geleistet werden von Instituten oder ähnlichen, die das bewerten können. Wäre das etwas für die Marktwächter? (lvs)

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