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Erika Kaneko
Es hat schon beinahe etwas Meditatives, wenn Erika Kaneko ihren dicken schwarzen Pinsel fast senkrecht auf das Papier setzt und mit sanftem Druck Striche und Bögen formt. Zwei japanische Schriftzeichen entstehen: REI WA, Schönheit und Harmonie. Erika Kanekos Künstlername und ihr Lebensmotto.
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GOING RAW
ERIKA KANEKO: KÖCHIN, KONDITORIN, KALLIGRAFIN
VON JÖRG TEUSCHER
Erika Kaneko, ihr Mann Robert Kuls und Tochter Aina.
Katrin Tiede ist ein eher sachlicher Typ. Im Falle des Hojicha Cream Cheesecakes, den ihr Erika Kaneko vor ein paar Monaten anbot, geriet die Inhaberin des japanischen Feinkostladens Hanabira jedoch schier aus dem Häuschen: „Diese Fertigungsakkuratesse, diese Geschmacksexplosion, ein Meisterwerk der Rohkost-Küche.“ Seitdem stehen die Kreationen der Raw-Konditorin in der HanabiraKuchentheke und finden Woche für Woche neue Liebhaber. Bei so viel Jubel wurden auch wir neugierig, probierten und staunten nicht schlecht: Katrin Tiedes Euphorie ist tatsächlich berechtigt. Grund genug also, uns mit Erika Kaneko zu verabreden.
Die 44-jährige Japanerin stammt aus Yokohama, studierte in Tokio Landwirtschaft, Abschluss als Bachelor of Agricultural Science und ergatterte einen Job in einem großen japanischen Reisebüro. 2008 kam ihre Tochter Aina zu Welt. Das Leben der freundlichen, eher zurückhaltenden jungen Frau schien in geordneten Bahnen. 2012 dann die Diagnose: Schilddrüsenkrebs. Eine erfolgreiche Operation.
„Die Krankheit hat mir die Augen geöffnet, was wirklich wichtig ist im Leben“, sagt Erika Kaneko. Sie stellt ihre Ernährung auf Rohkost um, erwirbt das Diplom als Raw-Food-Master, schreibt Artikel zum Thema Rohkost und beginnt, Keks- und Kuchenkreationen zu verkaufen. „Rohkost ist die natürlichste und harmonischste Lebensweise, die es seit der Antike gibt“, Zitat Erika Kaneko. Sie tuscht drei japanische Schriftzeichen: Gesundheit, Glück, Freude.
All das erschien ihr 2011 in Gefahr. Die Katastrophe von Fukushima. Sie nennt den Supergau ihr Erweckungserlebnis. Diese plötzliche, alles erschütternde Wahrnehmung, wie unnormal die Wirklichkeit sein kann. Und wie nah jederzeit die Katastrophe.
Solche Gedanken spielten eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, Japan zu verlassen. 2018 kommt Erika Kaneko mit ihrer Tochter nach Berlin. Sie lernt Robert Kuls, IT-Manager bei Siemens kennen, findet familiäres Glück. Und auch beruflich geht es voran — sowohl mit der Raw-Bäckerei als auch mit ihrer zweiten Leidenschaft, der Kalligrafie.
Es geht um eine besondere Form der Schriftkultur, die der allgemeinen Definition „Kunst des schönen Schreibens“ zwar nahe kommt, sie aber dennoch nur unzureichend beschreibt. Wichtiger als die Leserlichkeit ist bei der Kalligrafie die ästhetische Ausgewogenheit und – wie es Erika Kaneko nennt – „das Vermögen, Schrift so zu gestalten, dass Emotionen sichtbar werden.“
Bereits als Kind interessierte sich Erika Kaneko für diese Art des Schreibens, dann wurde anderes wichtiger. „Als Erwachsene habe ich meine Leidenschaft aber wiedergefunden“, sagt sie. Sie erwarb eine Lizenz, die sie berechtigt als Kalligrafie-Lehrerin zu arbeiten – wer den hohen Stellenwert der Kalligrafie im gesellschaftlichen Leben Japans kennt, kann ungefähr ermessen, wie schwer es ist, solche Lehrer-Lizenz zu erhalten…
Auch in Berlin bietet Erika Kaneko – neben Rohkost-Kursen – übrigens solche für Hobby-Kalligrafen an.