GEGENBLENDE Ausgabe 18

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Ausgabe 18 November/Dezember 2012

Demokratie und Sozialstaat vor der Neuerfindung oder der Reform?

Impressum Deutscher Gewerkschaftsbund Redaktion GEGENBLENDE, Dr. Kai Lindemann Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin Telefon +49 (0) 30 24 060 757, E-Mail kai.lindemann@dgb.de Hinweis:

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Inhaltsverzeichnis Seite Editorial ......................................................................................................................... 5 Krisen und Wohlfahrtsstaat – einige deutsche Erfahrungen im 20. Jahrhundert ...... 6 von Prof. Dr. Diether Döring Kurswechsel: Die Zukunft der Mitbestimmung im Rahmen einer Wirtschaftsdemokratie ................................................................................................. 11 von Helga Schwitzer Eine Theorie globaler Ungleichheit oder „Why Nations Fail“ (Buchrezension) .........17 von Joachim Kasten Altersarmut – ein Armutszeugnis für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ..................21 von Prof. Dr. Christoph Butterwegge Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Sozialcharta ist überfällig ...................................................................................................................... 25 von Kolja Möller und Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur (Ausstellungskritik) ..................................................................................................... 30 von Dr. Rainer Fattmann Zur sozialen Dimension der Krise in Mali .................................................................. 34 von Dr. Thomas Greven Menschenwürdige Arbeit und Soziale Gerechtigkeit weltweit ................................... 39 von Susanne Hoffmann

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Schulden und Schuldige .............................................................................................. 47 von Dr. Reinhard Blomert Der außerschulische Hochschulzugang: Ein weißer Fleck im Gedächtnis gewerkschaftlicher Bildungspolitik? ........................................................................... 52 von Dr. Elisabeth Schwabe-Ruck Der unheilvolle Pakt .................................................................................................... 56 von Prof. Dr. Hartmut Rosa Auf dem Abstellplatz (Filmkritik) ............................................................................... 59 von Jürgen Kiontke Erwiderung auf den Artikel in Ausgabe 17 von Matthias Zimmer „Postwachstum als Irrglaube?“.............................................................................................................. 62 von Prof. Dr. Ulrich Brand Der Preis des Geldes .................................................................................................... 68 von Prof. Dr. Christina von Braun Eine Analyse der europäischen Eisenbahnmärkte nach den Reformen .................... 74 von Lars Neumann Die Inflation der Wertediskurse..................................................................................80 von Dr. Kai Lindemann Arbeitspolitik in Russland ........................................................................................... 85 von Anna Wolanska Wer will schon eine „Quotilde“ sein? .......................................................................... 89 von Prof. Dr. Hildegard-Maria Nickel Das deutsche Rentensystem im internationalen Vergleich ........................................ 93 von Georges Hallermayer

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Aus Arm mach Reich: George Orwell an der Regierung............................................. 97 von Albrecht von Lucke Der wiedergefundene Popstar (Filmkritik)............................................................... 102 von JĂźrgen Kiontke Unter dem Christbaum: Musik schenken leichter gemacht (Musikkritik) .............. 105 von Rhett Skai

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Editorial Die letzte Ausgabe der GEGENBLENDE in 2012 beinhaltet Schwerpunktbeiträge zu den Debatten um die Re-Reformierung des Sozialstaates und den Ausbau demokratischer Strukturen. Artikel zur Bildungspolitik, Verkehrspolitik und zur Gleichstellung von Männern und Frauen in Aufsichtsräten komplettieren das Magazin. Zudem gibt es wieder interessante Ausstellungskritiken, Filmkritiken, Buchbesprechungen, Musikkritiken und Länderberichte aus Mali und Russland. Viel Spaß bei der Lektüre der pdf-Ausgabe wünscht Kai Lindemann

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Krisen und Wohlfahrtsstaat – einige deutsche Erfahrungen im 20. Jahrhundert von Prof. Dr. Diether Döring Krisenhafte Pendelschläge begleiten die Geschichte des Wohlfahrtsstaates. Sie standen bei seiner Entstehung Pate und haben das heutige System in großem Maße geprägt. Der Beginn Der harte Kern des deutschen Sozialstaates - die Sozialversicherung - wurde mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts etabliert.[1] Das Deutsche Reich war nach der sog. „Gründerkrise“ 1873 bis etwa 1895 in eine Phase von Unterbeschäftigung und schwachen Wachstumsimpulsen eingetreten. Auf die wachsenden innenpolitischen Spannungen reagierte die Führung des Reiches mit repressiven Maßnahmen (Verbot der Sozialdemokratie), aber auch mit dem Zugeständnis einer Sozialversicherung für Arbeiter und „kleine“ Angestellte. Dadurch konnten die Armutsrisiken insbesondere im unteren Lohnbereich reduziert werden. Die Finanzierung setzte vorrangig auf lohnbezogene Beiträge, aus denen im Rentenbereich eine Kapitaldeckung aufgebaut wurde. Im Bereich der Arbeitslosigkeit vertraute man auf die in gewerkschaftlicher Selbsthilfe entstandenen Arbeitslosenversicherungen. Die um 1895 einsetzende lange Wachstumswelle stabilisierte die Systeme und erlaubte einige Ausbauschritte. Vom Krieg zur großen Inflation Der erste Weltkrieg, die folgende Nachkriegsarbeitslosigkeit sowie die Auseinandersetzungen um die Reparationen im Versailler Vertrag veränderten die Situation völlig. Eine massive Staatsschuldenkrise förderte eine fortschreitende Destabilisierung der Währung bis hin zur Hyperinflation mit erneuten destruktiven Wirkungen auf die Realwirtschaft. Sie zertrümmerte das bestehende sozialstaatliche System wie auch die privaten Sicherungen weitgehend:[2] •

Die gewerkschaftlichen Arbeitslosenversicherungen standen mit dem Kriegsende vor dem Kollaps. Die Revolutionsregierung entschied sich im November 1918 gegen deren Stützung und ersetzte sie durch eine steuerfinanzierte Arbeitslosenfürsorge.

Die gesetzliche Rentenversicherung geriet mit Krieg und Nachkriegsarbeitslosigkeit aus dem Gleichgewicht. Die ab 1921 schrittweise

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anziehende Inflation traf ebenso staatliche wie auch private Alterssicherungssysteme hart. Renten jeglichen Typs wurden schrittweise zu einer für den Lebensunterhalt fast irrelevanten Einkunftsart der Ruheständler. Nach wiederholten Teuerungszulagen wurden immerhin Ende 1921 bedürftigkeitsabhängige Zuschläge aus Steuermitteln zu den gesetzlichen Renten eingeführt. Bei privaten Renten gab es keine ernstzunehmende Nachsteuerungsmöglichkeit. Zusätzlich zerstörte die Inflation die Anlagevermögen fast aller kapitalgedeckten Systeme. Am Ende der Inflation hatte sich die Alterssicherung weitgehend in eine steuerfinanzierte fürsorgeartige Volkspension verwandelt. Nach der ersten Stabilisierung 1923 wurden die gesetzlichen Renten nur noch als Einheitsbeträge gezahlt, die bisherige Anwartschaftsdeckung durch eine fünfjährige Umlage ersetzt. Die völlig desolate Sozialversicherung erbrachte fortan eher dürftige Leistungen, die erst mit der verbesserten Wirtschaftslage ab 1925 langsam aufgewertet wurden. Der Aufschwung wurde auch dazu genutzt, angesichts der verbreiteten Unzufriedenheit mit der Fürsorge als Massensicherung die Sozialversicherung um eine Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und die Arbeitslosenversicherung zu ergänzen. Die zuvor bestehende Arbeitslosenfürsorge wurde als sog. „Krisenfürsorge“ an das Arbeitslosengeld angedockt. Die wichtigste Innovation aus der vorangehenden Krise war die Kurzarbeiterregelung, mit der man schon im Rahmen der vorangehenden Arbeitslosenfürsorge experimentiert hatte. Die starke, wenn auch kurze Aufschwungphase bis 1928 stabilisierte die Sozialversicherung und erlaubte eine erneute Rücklagenbildung. Von der Weltwirtschaftskrise bis zum Wiederaufbau in der AdenauerÄra Ende 1928 setzte ein weltweiter Abschwung ein, der durch starke Krisenerscheinungen an den Finanzmärkten begleitet wurde. Infolge der ungelösten Verschuldungsprobleme Deutschlands und der fragilen Finanzierungsbasis der deutschen Wirtschaft seit dem Krieg nahm die Krise eine besondere Härte an.[3] Die Arbeitslosigkeit stieg 1932 wellenförmig bis auf eine Quote von fast einem Drittel der Erwerbstätigen an, gleichzeitig stieg die Zahl der sogenannten „unsichtbaren“ Arbeitslosen auf eine ähnliche Größenordnung. Mit der Schwächung der Tarifverträge brachen Löhne und in deren Zuge auch die Preise ein. Die Produktion fiel bis 1932 auf etwa 56 % des Werts vor der Krise. Die eher prozyklisch ausgerichtete Deflationspolitik des Reichs verstärkte den Abschwung. Der Einbruch traf das gesamte Sicherungssystem, insbesondere die Arbeitslosenversicherung. Massive öffentliche Zuschüsse wurden notwendig, Beiträge angehoben. In den ersten beiden Krisenjahren versuchte man noch bis zu einem gewissen Grade sozialpolitisch „gegenzuhalten“, mit längerer Zahldauer der

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Krisenfürsorge, der Erneuerung der Frühverrentung ab 60 für arbeitslose Angestellte und der Kurzarbeit. 1931/32 änderte sich die Strategie. Man versuchte immer stärker die Belastungen der öffentlichen Haushalte zu verringern und die Ausgaben zu kürzen. Unter Reichskanzler von Papen wurde schließlich die Arbeitslosenversicherung zum Zeitpunkt der höchsten Arbeitslosigkeit durch brutale Eingriffe haushalterisch ausgeglichen, was sie zu einer fast funktionslosen Hülle machte. Das Arbeitslosengeld sicherte kurz vor der NS-Machtergreifung nur noch weniger als 10 % der gemeldeten Arbeitslosen ab. Mit der Strategie des „Deficit Spending“ für zivile und militärische Zwecke gelang es der NS-Regierung ab 1933, die Beschäftigung wieder schnell zu steigern. Dies führte zu massiven Überschüssen in der Sozialversicherung, zumal man praktisch keine der Leistungskürzungen der Krisenzeit zurücknahm.[4] Die enorme Mittelansammlung in der Sozialversicherung wurde ab 1938 zum Zwecke der Rüstungsfinanzierung dem Reichshaushalt zugeleitet. Der Krieg wurde also auch mit Sozialversicherungsmitteln geführt. Hiervon waren auch Betriebsrentenfonds und Lebensversicherungen betroffen. Nach dem 2. Weltkrieg war die Lage aller Systeme katastrophal. Die Rücklagen waren vernichtet, Einnahmen im Zuge der reduzierten Wirtschaftsleistung dürftig und Anforderungen kräftig gestiegen. Die Nachkriegssozialpolitik bestand zunächst weitgehend in der Linderung extremer Not. Maßgeblich für den geplanten Wiederaufbau war zunächst das gemeinsame Sozialversicherungskonzept der Alliierten. Es sah eine umlagefinanzierte Versicherung aller Erwerbstätigen vor und enthielt starke mindestsichernde Elemente. Einziges zählbares Ergebnis im Westen war die Einführung einer nicht bedarfsorientierten Mindestrente 1948, die immerhin ein Drittel der Rentenempfänger in Anspruch nahm. Die eigentlichen Schlüsselentscheidungen nach den vorangegangenen Katastrophen kamen erst mit dem Aufschwung der Wiederaufbauphase und nach der Debatte um die „Große Sozialreform“ 1953 bis 1956. Damit reagierte man in vier Schritten auf die Krisenerfahrungen und auf die positiven Erwartungen bezüglich der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung: •

Angesichts der desolaten Lage von Sparern, Betriebsrentnern und Lebensversicherten entschied man sich für eine massive Anhebung der Sicherungsniveaus der Sozialversicherung, womit der Löwenanteil am Lebensstandard gesichert werden sollte. Die Rentenreform 1956/57 erhöhte anschließend die Rente um durchschnittlich 65 %. Kapitalgedeckte Zusatzsysteme bekamen aufgrund der Erfahrungen eine weniger zentrale Bedeutung.

Angesichts der starken Niveauerhöhung erschienen die bestehenden mindestsichernden Elemente des Systems verzichtbar, so die Mindestrenten

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wie auch die erhöhten Arbeitslosengeldsätze bei Niedriglohn. Mit Blick auf die Vollbeschäftigung vertraute man stattdessen auf die mindeststandardsetzende Funktion der Flächentarifverträge. •

Nach der wiederholten Proletarisierung vor allem der Ruheständler wurde eine schrittweise Durchsetzung des dynamischen Prinzips vorgesehen. Neben dem vorangehenden krisenhaften Schleuderkurs war auch der schnelle Wachstumspfad der Wiederaufbauphase für die Dynamisierungsentscheidung maßgebend.

Von den Kapitaldeckungselementen des alten Rentensystems verabschiedete man sich. An deren Stelle trat in der Rentenversicherung eine zunächst zehnjährige Abschnittsdeckung, später in kürzere Umlageabschnitte umgewandelt.

Das Fortschrittsbestreben der Nachkriegsreformen war geprägt von den Krisenerfahrungen und dem wirtschaftlichen und politischen Systemwettbewerb, in dem die Bundesrepublik sich nun befand. Zudem musste die Teilrepublik stark auf Loyalität und Legitimation setzen, wofür sich die Sozialstaatsidee anbot. Der politischen Klasse der Nachkriegsjahre waren noch durch eigenes Erleben die fatalen politischen Folgen der Krisenpolitik der späten Weimarer Regierungen bewusst, die letztlich zum Niedergang des politischen Systems beigetragen haben. Nachbemerkung Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und den Reformen der Adenauer-Ära hat die Bundesrepublik keine krisenhaften Pendelschläge vergleichbarer Härte erlebt, wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Die lange Wachstumsphase erhöhte die Verteilungsspielräume, die für eine Kette von Leistungsverbesserungen genutzt wurde. Erst der Verlust der Vollbeschäftigung in den 70er Jahren sowie die folgende Erosion der Flächentarifverträge erhöhten schrittweise die Anforderungen und schwächten die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung. Die wenig erfolgreiche Nutzung der Frühverrentung und der Einsatz der Sozialversicherung als „Arbeitspferd“ der deutschen Einheit erhöhten die Anspannung. Eine Kette von Eingriffen hat in der Zwischenzeit dem Sozialstaat der Adenauer-Ära viel von seiner Attraktivität genommen. Wachsende Gruppen fanden nun nur noch schwer den Zugang zu auskömmlicher Erwerbsarbeit und somit zu sozialen Leistungen. Der wachsende Niedriglohnsektor machte den Mangel schlagkräftiger mindestsichernder Regelungen zu einem wachsenden Problem. Vor dem Hintergrund langfristiger Unterbeschäftigung und den drohenden demographischen Belastungen begann die deutsche Sozialstaatspolitik seit dem Ende des 20. Jahrhunderts vom Paradigma der Verpflichtung auf Sicherungsziele abzurücken und tendenziell sich eher einer beitragsdefinierten Strategie anzunähern.

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Einige Folgerungen Die Betrachtung zeigt, in welch hohem Maße wirtschaftliche und politische Pendelschläge das Gesicht des Sozialstaats geprägt haben. Das sozialstaatliche System ist keine Raumkapsel, die unabhängig von Veränderungen der Realität funktioniert. Es zeigt sich immer wieder ein grundlegendes Dilemma jeder Sozialstaatsstrategie. In ironischer Überspitzung kann man es so beschreiben: Der Sozialstaat ist dann von eindrucksvoller Leistungsstärke, wenn wir ihn weniger benötigen, wenn also die wirtschaftliche, soziale und demographische Realität ihn weniger fordert. Er verliert jedoch deutlich an Leistungskraft für den Einzelnen, wenn die Angewiesenheit der Gesellschaft steigt. Diesem Dilemma entkommt keine Sozialstaatsstrategie völlig. Wir sollten jedoch die bestehenden Chancen zur Verringerung dieses Dilemmas ausschöpfen. Wir sollten einerseits Möglichkeiten prüfen, die Resistenz der sozialen Sicherungssysteme bei krisenhaften Pendelschlägen zu erhöhen: So ließe sich durch vermehrte Rücklagenbildung die bisherige Kurzatmigkeit der sozialpolitischen Maßnahmen verringern. Auch würde eine Verbreiterung der Beitragspflicht auf verschiedene Einkunftsarten eine bessere Abfederung gegen wirtschaftliche Pendelschläge ermöglichen. Andererseits sollten wir die Chance ergreifen, die Stabilität der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung durch sozialstaatliche Zukunftsinvestitionen zu erhöhen. Hier zählen insbesondere die Bereiche Bildung, Weiterbildung und Betreuung sowie die Stärkung der präventiven Ausrichtung des Gesundheitsbereichs.

Kurzfassung eines Vortrages anlässlich der Tagung "Sozialstaat unter Krisendruck" des Arbeitskreises "Zukunft des Sozialstaats" am 10. Oktober 2012

Literatur/Quellen: [1] Vgl. u. a. D. Döring: Sozialstaat, Frankfurt/M., 2004 [2] Zum Folgenden vgl. u. a. L. Preller: Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, W. Abelshauser (Hg): Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, Stuttgart 1987 [3] Zum Folgenden: Preller 1949, Petzina 1987

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[4] Vgl. zum Folgenden: H. G. Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen in Nachkriegsdeutschland 1946 – 1957, Stuttgart 1980, D. Döring: Soziale Sicherung im Alter, Berlin 1997, Kapitel 1, H. Peters: Geschichte der sozialen Versicherung, St. Augustin 1978 Autor: Prof. Dr. Diether Döring, Professor an der Europäischen Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main

Kurswechsel: Die Zukunft der Mitbestimmung im Rahmen einer Wirtschaftsdemokratie von Helga Schwitzer Wirtschaftsdemokratie baut auf den Grundpfeilern der politischen Demokratie, des Sozialstaats und der Tarifautonomie auf. Ein entscheidender Eckpunkt ist die Mitbestimmung – sowohl auf gesellschaftlicher Ebene, als auch auf der Unternehmens- wie der betrieblichen Ebene. Ohne demokratisch verfasste Mitbestimmung im Unternehmen und ohne die Mitbestimmung der abhängig Beschäftigten im Betrieb kann keine Transformation der wirtschaftlichen Ordnung insgesamt gelingen. Für diese steht das Konzept der Wirtschaftsdemokratie, das eine lange Historie hat. Die (unzureichenden) Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte und Gewerkschaften in Deutschland wurden aber auch gegen eine „Sozialisierung“ in Stellung gebracht. In den Gewerkschaften sind diese Fragen in der Vergangenheit eher zurückhaltend bearbeitet und beantwortet worden. Die globale Krise des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus stellt sie neu. Dies erfordert neue Antworten. In der Finanzmarktkrise der Jahre 2008/2009 wurde einmal mehr deutlich, wie wichtig demokratische Einflussmöglichkeiten der Gewerkschaften und der betrieblichen Interessenvertreter für die Sicherung von Arbeitsplätzen und für eine stabile Beschäftigungspolitik sind. Der notwendige ökologische Wirtschaftsumbau ist sicherlich eine der großen Herausforderungen. Er kann aber nur sozial gerecht und mit der nötigen Verankerung in der Bevölkerung über eine intensive demokratische Beteiligung der Beschäftigten in den Betrieben gestaltet werden. Den Gewerkschaften ist immer bewusst gewesen, dass eine entwickelte demokratische Gesellschaft auch eine Demokratisierung der Wirtschaft, also des Kernbereichs gesellschaftlicher Macht, erfordert. In § 2 der IG Metall-Satzung ist

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unter anderem festgehalten, dass sich die IG Metall für eine Demokratisierung der Wirtschaft ausspricht. Weiter wird gefordert: „Die Erringung und Sicherung des Mitbestimmungsrechtes der Beschäftigten im Betrieb und Unternehmen und im gesamtwirtschaftlichen Bereich durch die Errichtung von Wirtschafts- und Sozialräten“, sowie die „Überführung von Schlüsselindustrien und anderer marktund wirtschaftbeherrschender Unternehmungen in Gemeineigentum“ voranzutreiben. Interessant ist auch der Blick in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Häufig wird Artikel 14 zitiert, wonach das Eigentum auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll. Noch spannender ist der Artikel 15 des Grundgesetzes. Unter der Überschrift „Vergesellschaftung“ heißt es: „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zweck der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ Soweit das Grundgesetz. Hier sollen unter dem Gesichtspunkt des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus ein paar Eckpunkte benannt werden, die für ein alternatives Konzept der Wirtschaftsdemokratie und ihren wesentlichen Bestandteil der Mitbestimmung stehen. Die aktive Rolle des Staates in Politik und Wirtschaft Ein wichtiger Eckpfeiler der Wirtschaftsdemokratie ist die Rolle des Staats. Er muss politisch eine aktive Rolle in der Wirtschaft spielen. Seit Jahren predigen die Vertreter von Politik, Wissenschaft und Publizistik die Prophezeiungen der neoliberalen Marktwirtschaft und des Shareholder-Value-Kapitalismus. Entfesselte Finanzmärkte galten als Schlüssel zu mehr Wachstum und Prosperität. Wer sich für eine stärkere staatliche Regulierung der Finanzmärkte, für staatliche Beteiligung an Banken oder gar für die Enteignung von Banken aussprach, wurde in der politischen Debatte in die Ecke gestellt und zum Schweigen gebracht. Das geht heute nicht mehr. Es ist schon fast kurios: Ausgerechnet im Mutterland des Neoliberalismus rettet der amerikanische Präsident gegen alle ideologischen Widerstände einen privaten Autokonzern durch Verstaatlichung. Und auch nach erfolgreicher Sanierung hält der Staat eine Sperrminorität, um wenigstens die Option zu haben, den Steuerzahler nicht nur an den Verlusten, sondern auch an Gewinnen in der Zukunft zu beteiligen. Die Sozialisierung der Verluste ist noch keine wirtschaftsdemokratische Veranstaltung. Aber indem ein demokratisch legitimierter Staat privaten Akteuren Grenzen setzt, werden Demokratie-Prinzipien in der Wirtschaft wirksam. Staatliche Regulierung von privat organisierten Finanzmärkten ist ein absolutes Muss. Diese Forderung gehört heute fast schon zum Allgemeingut. Allerdings wird immer noch mehr über die Regulierung der Finanzmärkte geredet, als dass diese endlich

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durchgesetzt wird. Wir erwarten von einer Regierung, dass sie nicht nur bei der Regulierung der Finanzmärkte aktiv in die Wirtschaft eingreift, sondern zum Beispiel auch bei der Arbeitsmarktpolitik, bei der Investitionspolitik, sowie bei der Regionalund Strukturpolitik. Auf gesellschaftlicher Ebene bedingt das ein verändertes Verhältnis von Politik und Ökonomie. Die Politik darf nicht länger Handlanger der wirtschaftlich und finanziell Mächtigen sein. Sie muss vielmehr der Ökonomie Ziele, Regeln und auch Grenzen setzen. Sie muss ihr auch eine andere Richtung geben: Weg vom Neoliberalismus, hin zu sozial verantwortlichem, ökologisch nachhaltigen Wirtschaften. Sie muss sich an den Interessen der Menschen im Land orientieren und nicht allein an der Profitmaximierung. Die Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen Die erweiterte Mitbestimmung ist ein zweiter Eckpfeiler der Wirtschaftsdemokratie. In den Betrieben geht es darum, dass die Beschäftigten ihre Arbeitsbedingungen und die Perspektiven ihres Unternehmens, ihrer Branche oder ihrer Region mitbestimmen können. Dazu muss es ihnen möglich sein, Einfluss auf Investitionsentscheidungen zu nehmen. Auf der untersten Ebene, am Arbeitsplatz, sorgt die „unsichtbare Hand“ des Marktes für ständige Produktivitätssteigerungen und Kostensenkungsprogramme. Hierzu sind in vielen Fällen die Betriebsräte gefragt, „ihre“ Arbeitsplätze zu retten. Die Unternehmen fordern von ihnen und den Beschäftigten Konzessionen und die Bereitschaft, von den Tarifverträgen nach unten abzuweichen. Dadurch sind die Institutionen der Mitbestimmung einem fortwährenden „Reform“-Druck ausgesetzt. Auf der tariflichen Ebene wurden den Gewerkschaften Öffnungsklauseln für betriebliche Regelungen und tarifliche Abweichungen abgerungen. Nicht zuletzt, um gesetzliche Verschlechterungen des Tarifrechts abzuwehren. Dabei kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen betrieblicher und tariflicher Ebene, zwischen Betriebsrat und Gewerkschaft um elementare Fragen der Mitbestimmung kommen. Obwohl der Paragraf 77, Absatz 3 BetrVG die Prioritäten klar setzt und die Möglichkeiten des Betriebsrats zu Recht eingeschränkt sind[1], droht eine Verbetrieblichung der Interessenvertretungsarbeit (Betriebssyndikalismus). Die Betriebsräte werden zwar scheinbar formal gestärkt, in der Praxis aber oft ausgebootet und unter Druck gesetzt. Eine sehr stark auf den einzelnen Betrieb bezogene Tarifpolitik birgt Gefahren, bietet aber auch die Möglichkeit, von der reinen Stellvertreterpolitik wegzukommen und die Beteiligung der Belegschaften an der Mitbestimmung zu stärken. Für uns als IG Metall kommt es entscheidend darauf an, betriebliche Abwehrkämpfe gemeinsam mit den Betriebsräten und den Beschäftigten zu führen. Dabei entstehen mit jedem

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Sozial- oder Sanierungstarifvertrag neue, bisher oft nicht von vornherein vorgesehene Möglichkeiten der direkten Einflussnahme auf das (Krisen-) Management im Unternehmen durch erweiterte Informationsrechte und Steuerung von Unternehmensentscheidungen. Und ganz nebenbei erhöhen sich Kompetenz und Attraktivität der kollektiven Interessenvertretung - auch für wirtschaftlich gute Zeiten. Mehr Beteiligung darf es nicht nur in Abwehrkämpfen geben. Vielmehr ist die Mitbestimmung insgesamt um die Perspektive einer demokratischen Aneignung der Arbeits- und Wirtschaftsprozesse durch die Beschäftigten zu erweitern. Franz Steinkühler benannte schon 1988 als konkrete Herausforderung „die Durchsetzung von Beteiligungszeiten und … die Untermauerung institutioneller Mitbestimmungsforderungen mit inhaltlicher Mitbestimmungspraxis •

durch die erweiterte Mitbestimmung im Betrieb und am Arbeitsplatz

durch Reklamations- und Initiativrechte auch des einzelnen Arbeitnehmers

durch die Nutzung des Betriebs als Ort der Aussprache über Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation

durch den Schritt der Mitbestimmung über das ‚Wie‘ zum ‚Was‘ der Produktion, von der Mitbestimmung im Produktionsprozess zur Mitbestimmung über Produktionsinhalte“.

Wie, was und wo produziert wird – darüber müssen die Beschäftigten mitentscheiden können. Und nicht zuletzt auch mit wem produziert wird – das ist die Frage, die aktuell zum Beispiel über eine erweiterte Mitbestimmung bei Leiharbeit und Werkverträgen verhandelt wird. Die institutionelle Mitbestimmung in Unternehmen und Konzernen geht über die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats hinaus, weil sie ja nicht nur auf der Ebene des Betriebes, sondern auch auf der Ebene der Unternehmen und Konzerne angesiedelt ist. Die Montanmitbestimmung in der Stahlindustrie und die Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 in Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten, müssen gerade angesichts der Wirtschaftskrise(n) weiterentwickelt werden. Bausteine für die Zukunft der Mitbestimmung im Rahmen einer Wirtschaftsdemokratie sind daher:

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Herabsetzung der Schwellenwerte für die Unternehmensmitbestimmung: Die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat eines Unternehmens muss bereits bei einer Grenze von mehr als 1.000 Beschäftigten gesetzlich verankert werden, unabhängig von der jeweiligen Rechtsform.

Die Aufnahme eines verpflichtenden Katalogs von zustimmungspflichtigen Geschäften in das Aktienrecht. Hierfür gibt es mit dem VW-Gesetz bereits ein Referenzmodell. Standortverlagerungen und Massenentlassungen können im VW-Konzern nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Aufsichtsrat getroffen werden, also nicht gegen die Arbeitnehmerbank.

Die Eigentumsfrage Der dritte Eckpunkt der Wirtschaftsdemokratie ist der politisch brisanteste. Viele drücken sich um diese Frage herum. Es geht letztlich darum, wem große Konzerne und Banken gehören sollen, also um die Eigentumsfrage. Dazu gehört auch, dass der Staat sich direkt an Unternehmen beteiligt. Ein immer wieder geforderter und teilweise schon vollzogener Rückzug des Staates bei Energie, Verkehr und Telekommunikation erscheint heute in einem anderen Licht. Durch die Krise und durch die Debatte über die Verstaatlichung von Banken haben sich Diskussionsspielräume eröffnet, die wir nutzen sollten. Die IG Metall hat in den Krisenjahren sehr deutlich formuliert, dass staatliche Rettungsschirme nicht nur über Banken, sondern im Bedarfsfall auch über produktive Unternehmen gespannt werden müssen. Dazu schlägt die IG Metall in ihrem Aktionsplan vom März 2009 einen 100-Milliarden-Euro-Beteiligungsfonds zur Unternehmenssicherung vor. Der Einstieg des Staates muss an harte Bedingungen geknüpft werden. Dazu gehören zum Beispiel ein Zukunftskonzept für das Unternehmen, die Mitbestimmung im Unternehmen, die Einhaltung der Tarifverträge und der Grundsatz, „keine betriebsbedingten Kündigungen“ auszusprechen. Es geht bei der Entscheidung über eine solche Beteiligung um eine verstärkte öffentliche Einflussnahme, damit gesamtwirtschaftliche und regionale Kriterien sowie Branchenentwicklungen berücksichtigt werden. Wirtschaftsdemokratie ist nicht voraussetzungslos. Sie kann nur auf den Grundpfeilern der Demokratie, eines Sozialstaats - der seinen Namen verdient, und auf einer funktionierenden Tarifautonomie aufbauen. Heute geht es also nicht darum, Modelle für eine ferne Zukunft zu konstruieren, sondern nach realistischen Chancen für mögliche Einflusswege auf Investitionsentscheidungen und die Politik der Unternehmen zu suchen.

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Aktuell kommt es weniger auf Eigentumstitel, sondern auf das Zusammenspiel von durchsetzungsfähiger Betriebspolitik, gewerkschaftlicher Organisationsmacht und institutionellen Absicherungen an. Es geht nicht um formelle, sondern um wirkliche, von den Menschen getragene Vergesellschaftung. Um die Eigentumsfrage darf man sich aber auch nicht herumdrücken, wenn die Vision einer besseren, humanen und solidarischen Gesellschaft Realität werden soll. Und wenn schon der finanzmarktgetriebene Kapitalismus in seinen Krisen selbst die Eigentumsfrage stellt, dürfen die Gewerkschaften dazu nicht schweigen. Es kommt schließlich darauf an, die Voraussetzungen für eine machbare Alternative zum Kapitalismus zu formen. Dabei reicht es nicht, Wirtschaftsdemokratie nur zu wollen. Man muss Schritte in diese Richtung gehen. Eine erweiterte Mitbestimmung nach „oben“ und nach „unten“ – ist ein gutes Instrument, solche Alternativen zu ermöglichen.

Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung von Arbeit und Leben Niedersachsen Literatur/Quellen:

[1] „Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.“

Autorin: Helga Schwitzer, seit 2007 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall

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Eine Theorie globaler Ungleichheit oder „Why Nations Fail“ (Buchrezension) von Joachim Kasten Über das Buch: "Why Nations Fail" von Daron Acemoglu und James A. Robinson; Crown Business New York 2012 Das Analyseszenario der Neuerscheinung „Why Nations Fail“ wird bereits auf dem Cover abgebildet: Hochhäuser und Bauaktivitäten im scharfen Kontrast zu einem Elendsquartier. Der reiche Teil liegt in Nogales im US-Bundesstaat Arizona. Die ärmere Schwesterstadt gleichen Namens befindet sich südlich des Grenzzauns in der Provinz Sonora in Mexiko. Mit Nogales als wegweisendem Beispiel erheben die Autoren Daron Acemoglu und James A. Robinson den Anspruch, eine allumfassende Theorie zu den Ursachen oft zählebiger Entwicklungsunterschiede zu formulieren. Warum gedeiht Wohlstand in dem einen Land, während die Menschen in anderen Regionen unter Armut leiden? Bereits die Fragestellung ist ein Klassiker und hat in allen Zeiten Debatten in Wissenschaft, Religion, Philosophie und Politik ausgelöst. Daron Acemoglu ist Ökonomieprofessor am Massachusetts Institute of Technology in Boston. Sein Coautor James A. Robinson forscht im Bereich politische Wissenschaften und Ökonomie an der Harvard University. Ihr gemeinsames Werk fasst fünfzehnjährige Studien und Erfahrungen zusammen, die sie laut Untertitel zum Thema „The Origins of Power, Prosperity, and Poverty“ gemacht haben. Der letzte Ökonom, der mit einer ähnlich ganzheitlichen Ambition schrieb, war einem Rezensenten von Spiegel-Online zu Folge Karl Marx. Mit Blick auf die revolutionären Konsequenzen des Marxismus ist die Parallele sicher etwas gewagt. Trotzdem, die Beobachtungen von Acemoglu und Robinson können als seriöser Versuch gelten, Impulse zu geben, mit dem Ziel, die Welt zum Besseren zu verändern. Die kleinen Unterschiede Im Zentrum ihrer Forschungsarbeit steht die Analyse über wohlstandsfördernde oder -hemmende politische und ökonomische Institutionen und Prozesse. Belege werden nicht zuletzt in der Geschichte gefunden. Warum avancierte gerade Großbritannien im 18. Und 19. Jahrhundert zur weltweit führenden Industrienation? Die Antwort liegt nicht in der Zufälligkeit, dass der Engländer James Watt die Dampfmaschine erfunden hatte. Nein, die tiefere Wahrheit ist, dass er auf historisch tief verwurzelte gesellschaftliche Veränderungsprozesse aufbauen konnte. Seine technische Genialität wurde motiviert und gesichert durch Patentschutz und eine Garantie, die Ergebnisse ökonomisch zu verwerten. Die Autoren vergleichen diese Entwicklung mit der

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genetischen Entwicklung von Lebewesen, die in einer längeren Zeitperiode wachsen und einen Organismus formen. So veränderte sich auch die englische Gesellschaft. Selbstverständlich denken sie dabei nicht an irgendeine Form von Biologismus. Es sind vielmehr „critical junctures“, d.h. Kristallisationspunkte, die mit Hilfe von Konflikten und revolutionären Veränderungen Fortschritte einleiten und steuern. Der Unterschied zum übrigen Europa begann bereits mit der Magna Charta (1215). Der englischen Bevölkerung gelang es Schritt für Schritt die institutionellen Machtbefugnisse des Königs und des Adels zu begrenzen. So entstand schließlich eine Gesellschaft, in der traditionelle Eliten die Prozesse nicht mehr nach eigenen Einkommensinteressen steuern konnten. Der durchschlagende Erfolg von James Watts Dampfmaschine machte gleichzeitig alte Produktionsmethoden wertlos. In der Terminologie von Acemoglu und Robinson resultierte daraus „creativ destruction“ also eine Periode mit schöpferischer Zerstörung, die letztlich in größere Prosperität und Wohlstand mündete. Schlüsselfaktoren Das englische Muster wurde mit Zeitverzögerung auch in Westeuropa samt USA, Kanada, Australien und Japan übernommen. Trotz historischer und kultureller Unterschiede bekamen diese und weitere Nationen einen gemeinsamen Nenner. Der Schlüsselbegriff von Daron Acemoglus und James A. Robinson lautet „inclusive economics and institutions“. Zielvorstellung ist somit eine Art freie Wirtschaft mit offenen Institutionen und pluralistischen Regierungsformen. Konkret gemeint ist damit auch, dass James Watt oder eine moderne Gestalt wie ”Bill Gates” auf einem System aufbauten, das ihre Innovationen vor Enteignung oder durch Wegsteuerung des Gewinns schützte. Notwendig sind weiterhin funktionierende Verwaltungen sowie unabhängige Gerichte. Zu den fördernden Grundbedingungen gehören anders ausgedrückt die Gewaltenteilungselemente des französischen Philosophen Charles de Montesquieu. Neben formalen Aspekten haben die Autoren qualitative Ansprüche an die jeweiligen Regierungen. Sie sollen Korruption bekämpfen und dürfen kein Instrument in den Händen von Personen sein, die ihre Partialinteressen rücksichtslos gegenüber der Mehrheitsbevölkerung durchsetzen. Der Bedingungskanon wird komplettiert durch einen Mindeststandard an staatlicher Zentralisation. Die Abwesenheit von einem oder mehreren Faktoren erhöht den Forschern zufolge das Risiko einer Bildung von ”extraktiven” bzw. ausbeutenden politischen und wirtschaftlichen Systemen. Die Machthaber achten dann hauptsächlich auf den eigenen oder den Wohlstand von Eliten, von denen sie abhängig sind.

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Das „eiserne Gesetz“ der Oligarchie Armut in Kontinenten wie Afrika oder Südamerika gehört zum Erbe europäischer Kolonialmächte. Mit einer solchen allgemein akzeptierten Ursachenbeschreibung geben sich die Autoren indes nicht zufrieden. Der spezielle Forschungsansatz von Daron Acemoglu und James A. Robinson beleuchtet vielmehr die postkoloniale Entwicklung verschiedener Länder. Warum ist Zimbabwe eine fehlgeschlagene Nation während das Nachbarland Botswana als geglücktes Beispiel gilt? Beide Staaten waren früher Teil des britischen Kolonialreiches. Zimbabwe wird seit 1980 vom berüchtigten Präsidenten Robert Mugabe regiert. Er und andere afrikanische Herrscher sind einer dramatischen Fehleinschätzung unterlegen. Sie haben die „weißen“ extraktiven Institutionen übernommen und mit einer neuen Elite ausgefüllt. Die Autoren sprechen vom „iron law of oligarchy“. Der korrupte und repressive Regierungsstil des Präsidenten Mugabe dient dazu, seine und die Brieftaschen von Clanmitgliedern sowie Anhängern der früheren Befreiungsorganisation ZANU-PF zu füllen Ein völlig absurdes Beispiel von Machtvollkommenheit ist für Acemoglu und Robinson der Gewinn einer staatlichen Lotterie durch Robert Mugabe. Im Juni 2000 zog der Präsident das große Los. Er erhielt den ersten Preis von Z$ 100.000,- einer Lotterie der staatlichen Zimbabwe Banking Corporation. Er kann die „extraktiven“ Institutionen des Landes bis ins Detail kontrollieren. Was in solchen Ländern fehlt, ist ein Prozess zur Befriedung innerer Konflikte sowie eine Politik, die staatliche Ressourcen verwendet, um wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen. Zimbabwes tristes Schicksal wird den Verfassern zufolge auch von Angola, Kamerun, Kongo, Sierra Leone, Liberia, Nepal, Sudan und Haiti geteilt. Diese und andere Länder sind heute ärmer als in den 60er Jahren. Den Teufelskreis verlassen Elend und tiefe Armut dominierte auch die postkoloniale Perspektive für Botswana. Zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit 1966 gehörte es zu den ärmsten Ländern der Welt. Mit einem Wirtschaftswachstum von zeitweilig bis zu zehn Prozent rangiert Botswana heute auf einem mittleren Platz in der Einkommensskala. Durch eine für afrikanische Verhältnisse beispielhafte Prosperität gelang es dem Land den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen. Nach Daron Acemoglus und James A. Robinsons Recherchen ist Botswanas afrikanisches Wirtschaftswunder keine zufällige Entwicklung. Wie die Autoren ermittelten, war das Gebiet bereits während vorkolonialer Zeit von einer ungewöhnlich hohen politischen Zentralisierung zwischen den Stämmen geprägt. Bereits praktiziert wurden demzufolge auch Ansätze einer kollektiven Beschlussfassung mit primitiven Formen von Pluralismus.

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Den postkolonialen Führern gelang es, an diese traditionellen Institutionen erneut anzuknüpfen. Das Ergebnis ist eine vorbildliche parlamentarische Demokratie mit „inklusiven Institutionen“. Die Ressourcen des Landes, seien es Steuern oder Rohstoffe, wurden nicht von herrschenden Politikern und deren Clanmitgliedern vereinnahmt. Sie wurden vielmehr in den Aufbau einer Infrastruktur sowie eines funktionierenden Gesundheits- und Schulwesens investiert. Auch hinsichtlich der Politikerpersönlichkeiten hatten die Einwohner Glück. Vom Volk gewählte Präsidenten wie Seretse Khama und Quett Masire zeigten keine Ähnlichkeiten mit Robert Mugabes brutalem Führungsstil. China versus Brasilien Interessant und zweifellos auch provozierend ist das Kapitel, welches die Autoren dem chinesischen Entwicklungsmodell widmen. Ihr politisches Urteil, nach dem das asiatische Land von einer autoritär bürokratischen Parteielite gesteuert wird, die keine demokratischen Grundrechte zulässt, wird vermutlich von niemandem ernsthaft bestritten. Auch zu Chinas aktueller Rolle als einer der wichtigsten Motoren der Weltkonjunktur herrscht sicher Konsens. In ihrer Studie sprechen die Autoren mit einem kritischen Unterton vom „autoritärem Wachstum“ im Zeichen des Drachen. Dieses Wachstum sei möglich, aber langfristig nicht haltbar. Sie schreiben: „..the growth will run out of steam unless extractive political institutions make way for inclusive institutions“. Ihre Prognose gilt für einen Zeithorizont, bis zu dem die gut 1,3 Milliarden Chinesen einen Lebensstandard vergleichbar mit Staaten durchschnittlichen Einkommens erreicht haben. Als ein Grund für ihre negative Beurteilung geben sie an, dass Chinas Wachstum auf der Aneignung vorhandener Technologien und schnellen Investitionen beruht. Was fehlt sind demnach „creative destructions“ und ein gesundes Belohnungssystem mit Eigentumsrechten an Innovationen. ”Brazil broke the mold”, lautet dagegen das Lob für das größte lateinamerikanische Land. Brasilien hat Erfolg. Es brach sein koloniales Muster mit entscheidenden „critical junctures” zur allmählichen Veränderung der Gesellschaft. Die Reformen begannen in den 70er Jahren. Triebfeder war nicht zuletzt die Gewerkschaftsbewegung als eine Wurzel der 1980 gegründeten Arbeiterpartei ”Partido dos Trabalhadores” (PT) erläutern Acemoglu und Robinson. Zusammen mit anderen sozialen Bewegungen und Netzwerken auf Graswurzelniveau entstand eine breite Koalition mit demokratischer Grundorientierung. Parallel zu den pluralistischen Strukturen wuchsen auch offene „inclusive political institutions“. Brasiliens Präsident wurde der PT-Vorsitzende Lula da Silva. Während seiner Regierungszeit blühte das wirtschaftliche Wachstum, mit dessen Hilfe 20 Millionen Menschen den Sumpf der Armut verlassen konnten.

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Daron Acemoglus und James A. Robinsons Werk beinhaltet eine Theorie mit substantiellen Eckpfeilern für ökonomischen Erfolg. Der Anspruch der Autoren ist es, mehr erklären zu können als traditionelle Hypothesen, allerdings dürfen die Aussagen nicht als einfache Rezeptur zum Aufbau von Wohlstand missverstanden werden. Wichtig ist indessen, dass aus Veränderungen selbst in kleinen Details langfristig nützliche Strukturen wachsen können. Autor: Joachim Kasten, Lehrer an der Handelsschule Holstenwall in Hamburg

Altersarmut – ein Armutszeugnis für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft von Prof. Dr. Christoph Butterwegge Das hierzulande schon heute bestehende, also keineswegs – wie häufig behauptet – erst in ferner Zukunft drohende Problem der Verarmung vieler alter Menschen ist für die Betroffenen deshalb besonders gravierend, weil ihnen jede Hoffnung auf einen auskömmlichen Ruhestand geraubt, nach einem häufig langen, entbehrungsreichen Arbeitsleben die Würde genommen und ein gerechter Lohn für ihre Lebensleistung vorenthalten wird. Zudem wirkt Altersarmut als gesellschaftliche Drohkulisse und politisches Disziplinierungsinstrument für die Arbeitnehmer/innen, das Millionen jüngere Menschen nötigt, härter zu schuften und einen wachsenden Teil ihres mühselig verdienten Geldes auf den Finanzmärkten in der trügerischen Hoffnung anzulegen, durch private Vorsorge einen materiell gesicherten Lebensabend verbringen zu können. Dass dem Problem der Altersarmut erst große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, als Ursula von der Leyen aus parteitaktischen Gründen, nämlich um ihr Konzept der „Zuschussrente“ innerhalb der Union und der Koalition durchsetzungsfähig zu machen, dramatisierende Zahlen zur Rentenhöhe im Jahr 2030 veröffentlichte, hat wahrscheinlich nicht zuletzt damit zu tun, dass jene Menschen, die Angst vor Armut im Alter haben, das für sie leidige Thema am liebsten verdrängen. Ausbau des Sozialstaates und der Altersvorsorge nach 1945 Das im Kaiserreich begründete mehrgliedrige Wohlfahrtsstaatssystem mit der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), der Gesetzlichen Krankenversicherung, der Gesetzlichen Unfallversicherung sowie der während der Weimarer Republik ergänzend geschaffenen Arbeitslosenversicherung als Kerninstitutionen wurde in der 1949 gegründeten Bundesrepublik beibehalten und relativ zügig ausgebaut.

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Im angehenden „Wirtschaftswunder“ galt die Rente als „verdienter Lohn für Lebensleistung“, auf die man einen verfassungsrechtlich garantierten Anspruch hatte, um im Ruhestand keine großen Abstriche vom gewohnten Lebensstandard hinnehmen zu müssen. Seinerzeit wäre niemand auf die Idee gekommen, das Rentenniveau zu senken, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen auch damals kontinuierlich stieg. Das relativ stete Wachstum der Wirtschaft, die allgemeine Wohlstandsentwicklung sowie der Systemgegensatz schufen in den 1950er-, 1960er- und frühen 1970er-Jahren ein für die Rentenpolitik ausgesprochen günstiges Klima, wie sie überhaupt verhältnismäßig generöse Leistungen für sozial Benachteiligte und Bedürftige ermöglichten. Damals gab es eine „Allparteienkoalition“ der Sozialpolitiker/innen im Bundestag, was aber nicht mit grenzenloser Großzügigkeit ihrer Fraktionen zu erklären ist, sondern in der günstigen Konjunkturentwicklung, erfolgreichen Kämpfen der Gewerkschaftsbewegung unter Einschluss spontaner Arbeitsniederlegungen (Septemberstreiks 1969) sowie einer mittlerweile gefestigten Wohlfahrtskultur der Bundesrepublik begründet lag. Armut wurde zwar keineswegs beseitigt, aber für mehrere Jahrzehnte eher zu einer gesellschaftlichen Rand(gruppen)erscheinung (vgl. hierzu: Butterwegge 2012a, S. 96 ff.). Vom Modellfall zum Auslaufmodell? – Sozialstaatsentwicklung und Alterssicherung in der Krise Zu einer historischen Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung führte die Weltwirtschaftskrise 1974/75, denn seither fand mit Ausnahme einzelner Leistungsverbesserungen im Bereich der Familienpolitik und der Einführung der Pflegeversicherung kein weiterer Ausbau des sozialen Sicherungssystems mehr statt (vgl. hierzu: Butterwegge 2012b, S. 113 ff.). Stattdessen wurden zahlreiche Transferleistungen gekürzt, Anspruchsvoraussetzungen verschärft und Kontrollmaßnahmen intensiviert. Das gilt auch für die gesetzliche Altersvorsorge, deren Leistungsniveau schrittweise herabgedrückt wurde. Beispielsweise ging man von der brutto- zur nettolohnbezogenen Anpassung der Renten über, verkürzte die Höchstdauer der Anrechnung von Ausbildungszeiten, ließ die Rente nach Mindestentgeltpunkten auslaufen, hob die Altersgrenzen für den Renteneintritt von Frauen schrittweise auf 65 Jahre an und führte Abschläge von 0,3 Prozent pro Monat bei vorzeitigem Rentenbezug ein, die bis zum Tod wirksam sind. Der neoliberale Zeitgeist, die Wirtschaftseliten und die etablierten Parteien meinten es nicht gut mit Arbeitnehmer(inne)n und Senior(inn)en. Einerseits wurde der Arbeitsmarkt dereguliert und vornehmlich mittels der sog. Hartz-Gesetze ein breiter Niedriglohnsektor konstituiert. Das arbeitsrechtlich und tarifvertraglich geschützte Normalarbeitsverhältnis mit einer gut entlohnten Vollzeittätigkeit wurde durch atypische Beschäftigungsverhältnisse geschwächt: Mini- bzw. Midijobs, Leiharbeit sowie Werk- und Honorarverträge prägen seither die Arbeitswelt, was erhebliche

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Konsequenzen für die Altersversorgung der dort Tätigen hat (vgl. dazu: Schmitz 2012). Andererseits wurden die sozialen Sicherungssysteme zunehmend Markt-, also Leistungs- und Konkurrenzgesetzen unterworfen. Die rot-grünen Rentenreformen: Altersarmut per Gesetz Mit der nach Walter Riester benannten Rentenreform war ein doppelter Paradigmenwechsel verbunden: Zum einen stand nicht mehr das für den Sozialstaat jahrzehntelang konstitutive Ziel der Lebensstandardsicherung, sondern die angeblich über die Leistungsfähigkeit des „Wirtschaftsstandortes“ entscheidende Beitragssatzstabilität im Mittelpunkt der Alterssicherungspolitik (vgl. dazu: Schmähl 2012, S. 50 ff.). Versicherungskonzernen, Großbanken und Fondsgesellschaften wurde mit der staatlich geförderten Privatvorsorge ein neues Geschäftsfeld erschlossen, während für prekär Beschäftigte, Geringverdiener/innen und Langzeitarbeitslose bzw. Mehrfacharbeitslose, die sich keine private Altersvorsorge leisten (können), mit dem bis zum Jahr 2030 schrittweise sinkenden Rentenniveau das Risiko der Armut im Ruhestand verbunden ist. Zum anderen brach nach der Pflegeversicherung nun auch ein „klassischer“ Versicherungszweig mit dem Prinzip der paritätischen Finanzierung. Gerechtfertigt wurden die Reformen, durch die das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 um mehr als ein Viertel gesenkt wird, in Politik und (Medien-)Öffentlichkeit mit dem demografischen Wandel und mangelnder „Generationengerechtigkeit“, obwohl besonders künftige Rentnergenerationen darunter zu leiden haben (vgl. dazu: Bosbach/Korff 2012; Kistler/Trischler 2012; Kreutz 2012). Versicherungskonzerne, Großbanken und Kapitalanlagegesellschaften übten durch professionelle Medienkampagnen gegen das umlagefinanzierte Rentensystem und durch Lobbyarbeit politischen Druck aus (vgl. Wehlau 2012). Rentenkürzung durch Lebensarbeitszeitverlängerung Die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre führt zu weiteren Rentenkürzungen, zwingt sie doch mehr Arbeitnehmer/innen, vor Erreichen des gesetzlichen Renteneintrittsalters – und das heißt: mit entsprechenden Abschlägen – in den Ruhestand zu gehen. Mit besonderer Härte trifft die Heraufsetzung der Altersgrenze unterdurchschnittlich Verdienende, Mehrfach- und Langzeitarbeitslose. Nach dem Auslaufen der sog. 58er-Regelung, die dafür sorgte, dass ältere Langzeitarbeitslose dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen mussten, um Transferleistungen beziehen zu können, werden die Betroffenen mit 63 Jahren zwangsverrentet, was ihre dürftigen Rentenansprüche weiter verringert.

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Abbau des Sozialstaates und Anstieg der (Alters-)Armut Ursula von der Leyens umstrittenes „Rentenpaket“ enthält für das Problem der Armut im Alter keine Lösung. Aufgrund hoher Zugangshürden (lange Versicherungsund Pflichtbeitragszeiten sowie jahrzehntelanges „Riestern“) würde die Zuschussrente nur eine kleine Gruppe von Menschen erreichen. Mehrfach- und Langzeitarbeitslose müssten z. B. auf den Rentenzuschuss verzichten, weil sie die genannten Voraussetzungen nicht erfüllen. Und selbst bei den Anspruchsberechtigten könnte die Zuschussrente wenig gegen die Altersarmut ausrichten, müssten sie doch von ihren damit auf 850 EUR im Monat aufgestockten Bezügen noch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung entrichten. Bisher war die staatlich subventionierte Privatvorsorge freiwillig. Da eine der o.g. Voraussetzungen für den Bezug der Zuschussrente das jahre-, später sogar das jahrzehntelange „Riestern“ ist, lässt sich diese als weiteres Förderprogramm für die Versicherungswirtschaft bezeichnen. Denn zumindest für Geringverdiener/innen würde die private Vorsorge nahezu obligatorisch, also ausgerechnet für eine Bevölkerungsgruppe, deren Angehörige vorher höchst selten Riester-Verträge abschlossen, weil sie mit ihrem kargen Lohn oder Gehalt ohnehin kaum über die Runden kamen. Ähnliches gilt auch für das unter der Leitung von Sigmar Gabriel erarbeitete Rentenkonzept der SPD. Denn es beinhaltet eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge, die ebenfalls dem Finanzsektor zugute käme und implizit eine weitere Schwächung der Gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet. Die – im Gegensatz zur Zuschussrente – ausschließlich steuerfinanzierte „Solidarrente“ der SPD in gleicher Höhe (850 EUR monatlich; allerdings handelt es sich hierbei um einen Nettobetrag) würde die Arbeitgeber noch stärker aus ihrer Verantwortung für eine solide Alterssicherung der Arbeitnehmer entlassen. Dass die SPD und ihr Kanzlerkandidat Peer Steinbrück an der Riester-Reform, der Absenkung des Rentenniveaus und der „Rente mit 67“ im Kern festhalten, macht sie im Kampf gegen die Altersarmut nicht eben glaubwürdiger.

Vom Autor ist soeben in Zusammenarbeit mit Gerd Bosbach und Matthias Birkwald erschienen: Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012

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Literatur/Quellen: Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2012 (a) Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl. Wiesbaden 2012 (b) Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012 – alle übrigen Literaturverweise beziehen sich auf Beiträge in diesem soeben erschienenen Sammelband. Autor: Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geboren am 26. Januar 1951 in Albersloh (Westf.), Professor für Polikwissenschaft an der Universität Köln

Der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Sozialcharta ist überfällig von Kolja Möller und Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano Soziale Rechte – damit verbindet man im alltäglichen Sprachgebrauch vor allem Rechte auf soziale Sicherung, Arbeit, Mitbestimmung und Koalitionsfreiheit, wie sie Eingang in die nationalstaatlichen Verfassungen gefunden haben. Heute steht es um die sozialen Rechte, darin sind sich die meisten Beobachter einig, eher schlecht. Sie stehen durch die marktliberale Dominanz in Europa und der Weltgesellschaft massiv unter Druck. Die neu auftretenden Verrechtlichungsprozesse auf transnationalem Terrain spielen für diese Asymmetrie eine zentrale Rolle. Die Global Player der Weltökonomie prägen längst das transnationale Recht. Gestützt auf weltumspannende Verträge der so genannten lex mercatoria, dem staatsfernen Recht der globalisierten Wirtschaft, bewegen sich die Unternehmen auf globalen Märkten. Sie haben feine Techniken entwickelt, um sich das Recht zu Dienste zu machen und eine Welt nach ihrem Bilde geschaffen: Riesige globale Anwaltsfirmen bieten das juristische Know-How zur Interessendurchsetzung. In der Welthandelsorganisation (WTO) und bei der Weltbank sind gerichtliche Foren installiert, in denen das Recht des Freihandels und die Rechte private Investoren gerichtlich durchgesetzt werden.

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Man mag fragen, wo dabei die sozialen Rechte, die Rechte der Arbeitnehmerinnen, der Erwerbslosen, der Ausgeschlossenen und Unterlegenen bleiben. Es ist deshalb nur konsequent, dass soziale Bewegungen in den letzten Jahren zunehmend die Forderung nach „globalen sozialen Rechten“ erhoben haben, also danach, die sozialen Rechte vom Nationalstaat zu lösen und in die rechtspolitischen Arenen der Weltgesellschaft einzudringen. Die soziale Frage, so die Annahme, ist längst eine transnationale soziale Frage. Das Ziel muss darin bestehen Anknüpfungspunkte im geltenden Recht der Weltgesellschaft zu identifizieren, um sozialen Rechten zum Durchbruch zu verhelfen. Transnationale Verrechtlichung Auf globaler Ebene ist ein allgemeiner Trend der Verrechtlichung zu beobachten. Weltweit sind mehr als 100 neue Gerichtsinstitutionen entstanden. Diese Institutionen sind aber vornehmlich dem Schutz von Eigentumsrechten, Investitionsrechten und dem Recht des Welthandels verpflichtet. Es liegt eine ungleichzeitige Verrechtlichung in den einzelnen Sektoren der Weltgesellschaft vor. Die sozialen und ökologischen Rechte sind nur mit unzureichenden Durchsetzungsmöglichkeiten versehen. Sie sind dadurch bereits strukturell im Hintertreffen. Ein aktuelles Beispiel ist ein Schiedsverfahren zwischen dem Energiekonzern Vattenfall und der Bundesrepublik Deutschland.Anfang Juni diesen Jahres hat der schwedische Energiekonzern Vattenfall die Bundesrepublik Deutschland vor dem Schiedsgericht der Weltbank auf Schadensersatz in Milliardenhöhe (insgesamt geht es, nimmt man die Forderungen von E.ON, RWE und Vattenfall zusammen um 15 Milliarden Euro) verklagt. Seine Klage stützt der Konzern auf den Energiecharta-Vertrag, ein internationales Abkommen zum Schutz ausländischer Investitionen, den die Bundesrepublik nach Ansicht Vattenfalls durch den gesetzlich geregelten Atomausstieg gebrochen haben soll. Das Schiedsgericht, das mit der Entscheidung betraut ist, entscheidet nach den Standards des transnationalen Rechts. Die Frage ist zentral, ob und in wiefern dort „Investitionsschutz über alles“ geht oder ob es gelingt eine Bindung der Akteure an menschen- und umweltrechtliche Mindeststandards sicherzustellen und den Eigentumsschutz sozialverträglich zu relativieren. Das Beispiel zeigt: Die sozialen Rechte werden ohne eine transnationale Dimension keine Zukunft haben. Der wirtschaftlichen Globalisierung muss eine Globalisierung der sozialen Rechte folgen. Soziale Gegen-Rechte stärken Es gibt für diesen notwendigen Schritt zur Stärkung sozialer Rechte schon Anknüpfungspunkte in der Weltgesellschaft. Es gehört zu den Missverständnissen der neueren Sozialstaatsdiskussion, dass sie die Unterschiede zwischen den jeweiligen nationalen Wohlfahrtsstaaten in den Mittelpunkt stellt und nicht sieht, dass nach dem zweiten Weltkrieg auch die Grundsteine für eine

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Transnationalisierung der sozialen Rechte gelegt wurden. Dies gilt für die in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung (1948) und den UN-Pakten über zivile und soziale Rechte (1966) und in der Europäischen Sozialcharta (1961) festgehaltenen Rechtsansprüchen auf soziale Sicherung, gute Arbeit, Mitbestimmung und Streik. So rückt die rechtspolitische Herausforderung ins Blickfeld: Man muss die schon vorhandenen sozialen Rechte stärken, mit eigenen Durchsetzungsmechanismen und gerichtlichen Foren versehen. Was sich darin abzeichnen könnte, ist ein „GegenRecht“ zur marktliberalen Dominanz in Europa und der Welt. Dabei ist auch klar, dass die sozialen Rechte als gesellschaftliche Rechte nicht nur das Verhalten von Staaten betreffen, sondern gleichsam auf andere Akteure, insbesondere transnationale Unternehmen, zielen. Erst wenn sie ihr Handeln den sozialen Menschenrechten unterwerfen, wenn sie verpflichtet werden Rechte auf Mitbestimmung, auf eine intakte Umwelt und gerechte Entlohnung einzuhalten, kann den Gefährdungslagen, die vom Finanzmarktkapitalismus ausgehen begegnet werden – die rein nationale und auf die Handlungsebene des Staates verengte Sichtweise vermag hier wenig auszurichten. Schließlich sind es gerade die Global Player, die sich auf transnationalem Terrain und oft jenseits des internationalen Staatensystems bewegen. Soziales Europa Der Kampf um globale soziale Rechte hat nicht nur eine globale, er hat auch eine europäische Dimension. Denn in Europa, das mit seiner gewachsenen Wohlfahrtsstaatlichkeit einst das Kernland der sozialen Rechte darstellte, drängen die einseitige Orientierung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und die neuartigen austeritätsorientierten Steuerungsmechanismen des Fiskalvertrags die sozialen Rechte zunehmend zurück. Als Gegengift könnte die Stärkung der Europäischen Sozialcharta den sozialen Rechten wieder einen Haltepunkt auf europäischer Ebene geben. Die Charta ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der zum Recht des Europarates gehört. Insgesamt 27 europäische Staaten, aber nicht alle Mitgliedsstaaten der EU haben sie unterzeichnet. Die Charta fristet aktuell ein Schattendasein. Das Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta und das darin enthaltene Kollektivbeschwerdeverfahren wurden kaum ratifiziert, auch nicht durch die Bundesrepublik. Neben der gebotenen Ratifizierung spricht nichts dagegen, die Rechte der Sozialcharta auch vor Gericht bringen zu können sowie Individual- und Kollektivbeschwerden zu ermöglichen. Wenn im Unionsvertrag gefordert wird, dass die Europäische Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten soll und mittlerweile der Entwurf einer Vereinbarung dazu vorliegt,[1] dann sollte die Europäische Union sich auch der Europäischen Sozialcharta verpflichten und zu einer der maßgeblichen Kräfte ihrer Stärkung werden. Darüber hinaus könnte ein gerichtliches Forum im Rahmen der Europäischen Sozialcharta, ein europäischer

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Sozialgerichtshof das Netzwerk europäischer Gerichte ergänzen. Es bedarf einer gerichtlichen Instanz, die nicht wie der Europäische Gerichtshof primär dem Binnenmarkt verpflichtet ist, sondern dafür Sorge trägt, dass die sozialen Rechte in Europa endlich zentrale Bedeutung erhalten. Es geht dabei nicht um einen juristischen Kniff und Zuständigkeitstricks; vielmehr stellt sich die Frage, wie und wo die Kollision zwischen sozialer Demokratie und marktliberaler Ökonomie im Medium des Rechts so verhandelt wird, dass die juridischen Vorfahrtsregeln nicht schon in der Grundkonstellation die sozialen Rechte in der Seitenstraße platzieren. Pólemos der sozialen Rechte: Ohne Konflikt, kein Fortschritt Was sich auf transnationalem Terrain reproduziert, ist ein alter Konflikt: Die konservative Staatsrechtslehre hatte die sozialen Rechte schon immer nicht als einklagbare Rechte, sondern als „polemische Leistungsrechte“ verstanden.[2] Zwar könne man politische Partizipationsrechte und negative Abwehrrechte gegen den Staat in den Grundrechtskatalogen kodifizieren, soziale Rechte aber ausdrücklich nicht. Sie kosteten Geld, seien unbestimmt und tasteten an Sphären wie Wirtschaft und Familie, die als privat zu verstehen seien. Die Gegenargumente liegen natürlich auf der Hand: Auch negative Freiheitsrechte, wie der Schutz körperlicher Integrität, soll die kostenintensive Institution der Polizei gewährleisten. Rechtsnormen sind notwendig unbestimmt, auch die klassischen negativen Grundrechte. Sphären wie Wirtschaft und Familie als „privat“ auszuweisen, sieht darüber hinweg, dass man sie der Dominanz der strukturstarken Interessensgruppen und dem meist männlichen Alleinernährer preisgibt. Demgegenüber stand immer die Auffassung progressiver Sozialbewegungen, dass das „Soziale“ der sozialen Rechte nicht darin besteht, dass sie eigentlich keine Rechte sind. Vielmehr ging es immer darum, die Idee der Menschenrechte und der Demokratie über den Staat hinaus auf die Gesellschaft auszuweiten. Die sozialen Rechte dienen als Hebel, um, so hat es Wolfgang Abendroth klassisch formuliert, die „Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung selbst zur Disposition der demokratischen Willensbildung des Volkes“ stehen kann.[3] Beim Sozialstaatsgebot handelt es sich eben nicht nur um eine vage Zielbestimmung ohne rechtliche Relevanz, sondern um die Garantie konkreter Rechte. Soziale Rechte bieten die Grundlage dafür, nicht nur vom Staat, sondern auch von der Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen eine demokratische Organisation zu verlangen. Demokratie, so deutet Abendroth das Versprechen sozialer Rechte, soll eine Gesellschaftsform darstellen und keine Staatsform. Die Funktion sozialer Rechte erschöpft sich also nicht in der Garantie von soziokulturellen Minimalbedingungen, sondern sie fordert auch die demokratische Ausgestaltung der Entscheidungsverfahren. So rücken Formen gelebter Demokratie ins Blickfeld, die gegenwärtig in den Protesten von Bürgerinnen und Jugendbewegungen – sei es an der Puerta del Sol in Madrid oder der OccupyBewegung – wieder aufleben. Dass die Demokratie nicht auf den einen Ort und die

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letzte Parlamentsentscheidung reduziert werden darf; dass sie auf vielen Plätzen gleichzeitig stattfindet, hat Wolfgang Abendroth schon 1954 treffend benannt: „Die lebendige und demokratisch organisierte Selbstverwaltung der Gebietskörperschaften [...], die Heranziehung der demokratischen Massenorganisationen, [...] die Sicherung der demokratischen Beteiligung aller an der planmäßigen Steuerung der wirtschaftlichen Prozesse, die über das Geschick der Gesellschaft entscheiden, bei ständigem Ringen gegen alle gesellschaftlichen Gruppen, die Ausbeutungs- und Machtprivilegien verteidigen wollen – das sind die Kampffelder“.[4] Der hier angedeutete Konflikt ist heute im transnationalen Maßstab schon angelegt. Es kommt darauf an, dass das progressive Lager ihn nutzt und die Polemik sozialer Rechte in der Weltgesellschaft wiederbelebt. Dass dafür an scheinbar alte Formen der Auseinandersetzung, also Streik- und Protestbewegungen, solidarische Selbstorganisierung über nationale Grenzen hinweg und die Konstruktion kultureller Gegenwelten neu anzuknüpfen sein wird, liegt angesichts der schwindenden Spielräume im nationalstaatlichen Maßstab auf der Hand. Widerstreit im Recht ist also das, was von einem emanzipatorischen Leitbegriff der globalen sozialen Rechte erwartet werden kann. Ohne Pólemos, also „Streit“, „Auseinandersetzung“, „Widerspruch“, ist eine andere Welt nicht zu haben.

Kürzlich von den beiden Autoren erschienen: Der Kampf um globale soziale Rechte. Zart wäre das Gröbste, Wagenbach 2012. Literatur/Quellen: [1] Zu den Ungereimtheiten dieses Prozesses: Theodor Schilling, „Der Beitritt der EU zur EMRK. Verhandlungen und Modalitäten. Fast eine Polemik“, in: HFR 2011, S. 83 ff. [2] Siehe dazu etwa Ernst Forsthoff, “Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates“ (1954), in: Forsthoff, Ernst (Hg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, 165-200. [3] Wolfgang Abendroth, Wolfgang Abendroth, “Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ (1954), in: Gesammelte Schriften Band 2, Hannover 2008, 338-357, 346.

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[4] Wolfgang Abendroth, „Demokratie als Institution und Aufgabe“ (1954), in: Gesammelte Schriften Band 2, S. 407 ff. (415). Autoren: Kolja Möller, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich "Transformation von Staatlichkeit" der Universität Bremen und am Zentrum für europäische Rechtspolitik, Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano, Direktor am Zentrum für Europäische Rechtspolitik (ZERP) in Bremen, Professor für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Bremen

Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur (Ausstellungskritik) von Dr. Rainer Fattmann Am 5. Oktober 2012 eröffnete im Berliner Neuen Museum die von dem Staatlichen Museum Moskau, dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte sowie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz gemeinsam konzipierte Ausstellung „Russen und Deutsche“. Zuvor war die Schau in abgewandelter Form im Historischen Museum in Moskau zu sehen gewesen. Die deutsch-russische Koproduktion soll, so der von ihren Urhebern deklarierte Anspruch, „die Vielfältigkeit der Beziehungen zwischen Russen und Deutschen, die vielseitigen Kontakte der beiden Nationen und deren wechselseitigen Einfluss darstellen.“ (Ausstellungskatalog, S. 9) Sie will einen Beitrag leisten, die im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg gipfelnde und tief im kollektiven Gedächtnis beider Völker verankerte Unheilsgeschichte des vergangenen Jahrhunderts durch ein epochenübergreifendes Narrativ zu ergänzen. Welche Spuren, so also die durchaus spannende Frage der Ausstellungsmacher, haben Russen in Deutschland und Deutsche in Russland im Laufe der Jahrhunderte hinterlassen? Die chronologisch angelegte Schau teilt den Zeitraum bis zum 19. Jahrhundert zunächst in drei umfangreiche Ausstellungsabschnitte ein, die sich auf die in ihrer Epoche dominierenden wirtschaftlichen bzw. staatlichen Zentren des sich herausbildenden eurasischen Großreichs konzentrieren: auf Nowgorod, Moskau und St. Petersburg. Es folgt ein Ausstellungsraum über Deutsche und Russen im 19. Jahrhundert. Daran anschließend wird die Zeit nach der Oktoberrevolution nur noch kursorisch abgehandelt. Was erwartet interessierte Besucherinnen und Besucher im Einzelnen für den mit vierzehn Euro durchaus gesalzenen Eintrittspreis?

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Nowgorod Im Zentrum des Nowgoroder Ausstellungsbereichs stehen die hauptsächlich von den Hansekaufleuten getragenen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den sich herausbildenden Völkern; vorgestellt werden das Hansekontor der Nowgorodfahrer sowie an den russischen Handelsorten umgeschlagene Waren wie gläserne Fingerringe und tönerne Kiewer Eier. Größtes Exponat ist ein vier Meter langes Holzrelief der Stralsunder Kaufleute mit zeitgenössischen Szenen aus dem deutschrussischen Handel im späten Mittelalter. Moskau Der folgende Abschnitt des Ausstellungsparcours widmet sich in erster Linie den diplomatischen Beziehungen zwischen den deutschen Territorien und dem Moskauer Großfürstentum, das im 15. Jahrhundert seine Abhängigkeit von den Mongolen hatte abschütteln können und das sich in der Folgezeit zu einer Großmacht im Osten Europas entwickelte. Der Betrachter wird fast erschlagen von einer bunten Vielfalt von Leuchtern, Schalen, Tafelaufsätzen und opulentem Zierrat aller Art, der als Geschenk kaiserlicher Gesandter in den Kreml gelangte. Interessanter sind da schon die Dokumente und Illustrationen jener Moskauer Gesandtschaft, die 1576 den zu diesem Zeitpunkt in Regensburg tagenden Reichstag des Heiligen Römischen Reiches besuchte. Wenige Jahre zuvor hatte Sigmund Freiherr von Herberstein, den als kaiserlichen Gesandten zwei ausführliche Reisen an den Moskauer Hof geführt hatten, unter dem Titel „Moskoviter wunderbare Historien“ das Abendland erstmals detailliert und umfassend über die Verhältnisse in Russland informiert und so über ein Land Bericht erstattet, das zu diesem Zeitpunkt aus dem europäischen Bewusstsein seit Generationen fast vollständig verschwunden war. Herbersteins Russlandkunde blieb lange die wichtigste Informationsquelle über das Reich im Osten. Ihr zur Seite trat rund Hundert Jahre später der Bericht des Adam Olorius. Der Gesandte des Herzogs von Schleswig-Holstein veröffentlichte 1656 seine „Moskowitische und persische Reise: die holsteinische Gesandtschaft 1633-1639.“ Auch dieses Werk ist, reich bebildert, in der Ausstellung zu bewundern. St. Petersburg Zar Peter I. gilt zu Recht als der wohl bedeutendste Reformzar des russischen Reiches. Die Gründung St. Petersburgs an der Mündung der Newa in die Ostsee verschaffte Russland einen eisfreien Zugang zum Meer und eröffnete neue Möglichkeiten des Austausches auch mit den deutschen Territorien. Die Schau konzentriert sich nun vornehmlich auf den wissenschaftlichen und kulturellen

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Transfer zwischen beiden Nationen, der zunächst überwiegend gen Osten gerichtet war. Die Sprache in der noch von Peter I. gegründeten russischen Akademie der Wissenschaften blieb über Jahrhunderte deutsch. Zahlreiche teils spektakuläre Exponate illustrieren die prominente Rolle deutscher Gelehrter an den spektakulären Entdeckungsreisen, mit denen im 18. Jahrhundert die asiatischen Räume des russischen Reiches auf dem Land- und auf dem Seeweg erkundet wurden. Der zweite Raumteil der St. Petersburger Epoche ist Katharina der Großen gewidmet. Die Herrscherin aus dem zweifellos deutschen Haus Anhalt-Zerbst tritt dem Besucher in mehreren großformatigen Porträts gegenüber. Über ihre Politik erfährt man hingegen wenig. Mehr oder weniger beiläufig wird die Anwerbung deutscher Siedler besonders in den Wolgaraum erwähnt. Was diese dann dort taten und wie sich die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung gestalteten, interessiert die Ausstellung dann nicht. Sozial- oder gar alltagsgeschichtliche Aspekte des deutschrussischen Miteinanders werden in dieser Schau überhaupt fast vollständig übergangen. Dasselbe gilt für die mehrmaligen Teilungen Polens durch unheilige deutsch-russische Allianzen. Das 19. Jahrhundert Die ersten drei Ausstellungsabschnitte sind nicht frei von Schwächen. Doch immerhin wird streckenweise interessantes Anschauungsmaterial besonders über die wirtschaftlichen und wissenschaftlich-kulturellen Beziehungen beider Nationen stimmig in den Blick genommen. In den daran anschließenden Abschnitten über das 19. und 20. Jahrhundert verliert die Schau dann allerdings völlig den roten Faden und gleitet gänzlich ins Beliebig-gefällige ab. Sicherlich: Die sich bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nunmehr ständig verdichtenden kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kontakte werden nun durch zahlreiche, im Einzelnen durchaus interessante Exponate illustriert. Das gilt besonders für jene Ausstellungsobjekte, die das vielfältige Engagement zahlreicher deutscher Unternehmen von Daimler-Benz bis Siemens belegen, welche ihr Augenmerk schon im 19. Jahrhundert auf die russischen Absatzmärkte im Osten richteten. Dass die Ausstellungsmacher darauf verzichten, den Einfluss des Marxismus und damit der wohl wirkungsmächtigsten politischen Ideologie des 19. Jahrhunderts auf die russische Geschichte auch nur zu erwähnen, ist kaum zu begreifen. Überhaupt wird der Stellenwert von Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus mit ihren zahlreichen deutschen und russischen Protagonisten für die Geschicke beider Völker schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg komplett ausgeblendet.

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Nach dem Ersten Weltkrieg Auch über die Rückstrahlungen des Leninismus und Stalinismus auf das Leben der Deutschen in der Zeit der Weimarer Republik und dann in Ostdeutschland schweigt die Schau. Immerhin thematisiert wird, dass im Zarenreich im Jahr 1917 überhaupt eine Revolution statt gefunden hat; die Gründe hierfür bleiben allerdings in ein ebensolches Zwielicht getaucht, wie weite Strecken der insgesamt merkwürdig dunkel ausgeleuchteten Ausstellung selbst. Insgesamt ist die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durch zahlreiche Auslassungen gekennzeichnet. Dazu zählt auch die weitgehende Vernichtung der osteuropäischen Juden, die sich in großem Umfang auf dem Gebiet der UdSSR abspielte. Eine Annäherung an das Thema Zweiter Weltkrieg und der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft im Osten soll durch einen Raum mit großformatigen zeitgenössischen Fotos der Schlachtfelder des Zweiten Weltkriegs gelingen.Die anschließende Ära des Kalten Krieges wird durch ein mediales Potpourri allenfalls illustriert. Dies reicht von Kriegsheimkehrer-Interviews über Alltagsfotos über TVFilmsequenzen bis hin zu zeitgenössischen e-Mail-Schilderungen von in Russland wohnenden Deutschen und russischen Bewohnern der Bundesrepublik. Letztere sind durchaus interessant und authentisch. Fazit Alles in allem jedoch bleibt die vom Energieriesen eon gesponserte Ausstellung über weite Strecken blass und wenig inspirierend. Auszunehmen von diesen Urteil sind die Ausstellungsabschnitte über Nowgorod, teilweise auch diejenigen über Moskau und St. Petersburg. Insgesamt fokussiert die Schau auf die zweifellos häufig vergessenen produktiven Aspekte des russisch-deutschen Mit- und Nebeneinanders im Verlauf des letzten Jahrtausends. In Bezug auf die problematischen und ambivalenten Aspekte dieses Beziehungsgeflechts lässt sie jeglichen Mut zu reflektiert-kritischer Präsentation vermissen. Ergebnis ist eine geglättete Geschichtsdarstellung ohne intellektuellem Biss und Erkenntniswert. Dies ist auch durch die an sich nachvollziehbare Ausstellungskonzeption nicht zu entschuldigen, die Geschichte zwischen Deutschen und Russen nicht auf die ganz überwiegend von Deutschland ausgehenden katastrophalen Auseinandersetzungen zwischen beiden Nationen im vergangenen Jahrhundert beschränken will.

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Russen und Deutsche – 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur Neues Museum, Museumsinsel Berlin, bis 13. Januar 2013 Eintritt: Erwachsene: 14,00 €; ermäßigter Eintritt: 7,00 € Katalog und Essay-Band, Imhof-Verlag, 49,95 € Autor: Dr. Rainer Fattmann, Historiker und selbständiger wissenschaftlicher Publizist

Zur sozialen Dimension der Krise in Mali von Dr. Thomas Greven Nach dem Kurzbesuch des Bundesaußenministers Guido Westerwelle in der malischen Hauptstadt Bamako am 1. November 2012 stieg die mediale Aufmerksamkeit für das westafrikanische Land, welches seit März zu zwei Dritteln von einer Allianz von Tuareg-Rebellen (MNLA), Islamisten (Ansar Dine) und islamistischen Terroristen (AQMI, Mujao, wahrscheinlich auch Boko Haram aus Nigeria) beherrscht wird – wobei die säkulare MNLA inzwischen weitgehend marginalisiert ist. Der Norden Malis, wo nun eine extreme Form der Scharia praktiziert wird, ist eine unzugängliche und arme Wüstenregion, in der die traditionell nomadisch lebenden Tuareg nur die größte von vielen Volksgruppen sind. Weder für die Unabhängigkeitsbestrebungen mancher Tuareg noch für den fundamentalistischen Islam gibt es in Mali nennenswerte Unterstützung, auch nicht unter den Tuareg. Die Tuareg-Bevölkerungen der angrenzenden Staaten, insbesondere des Niger, lehnen den Irredentismus sogar explizit ab; sie haben sich mit den schwarzafrikanischen Mehrheitsbevölkerungen arrangiert. Die deutsche Wahrnehmung des Konflikts Die mediale Diskussion in Deutschland fokussierte lange auf die Zerstörung des Weltkulturerbes in Timbuktu durch die Islamisten, welche zum größten Teil nicht aus Mali stammen, sondern aus Algerien, Mauretanien und arabischen Ländern. Timbuktu, die „Stadt der 333 Heiligen“ ist eine Chiffre für exotische Reiseziele im Nirgendwo. Im Dezember 2011 wurde dort ein deutscher Tourist, der sich einem Entführungsversuch widersetzte, erschossen. AQMI und ihre Verbündeten haben derzeit mindestens ein Dutzend Geiseln in ihrer Gewalt, die zum einen als Schutz vor Angriffen dienen, zum anderen zur Finanzierung des Terrorismus.

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Die aktuelle Diskussion in Deutschland beschäftigt sich vorrangig mit der möglichen Rolle deutscher Soldaten im Rahmen einer Militäraktion zur Wiedereroberung des Nordens von Mali. Die EU hat beschlossen, das malische Militär und die Eingreiftruppen der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS zu unterstützen, weil befürchtet wird, dass Nord-Mali ansonsten noch stärker als bisher zu einem Rückzugsraum islamistischer Terroristen wird. Schon gibt es Erkenntnisse, dass auch Konvertiten aus Europa dorthin gelangen, um ausgebildet zu werden. Es soll vor allem verhindert werden, dass mit den vielen afrikanischen Migranten, die über die Sahara nach Norden wandern, auch Terroristen Europa erreichen. In den meisten Medienberichten geht unter, dass es bis März 2012 eine bereits Jahrzehnte währende Militärkooperation Deutschlands mit Mali gab, deren Gegenstand die Pionierausbildung war. Seit seiner Demokratisierung im Jahr 1991 zählte Mali zu den Hoffnungsträgern auf dem afrikanischen Kontinent und erhielt entsprechend viel Entwicklungshilfe und Unterstützung, auch von Deutschland. Erst ein Militärputsch im März 2012 beendete zwischenzeitlich diese Wahrnehmung und die entwicklungspolitische Strategie. Inzwischen gibt es in Mali wieder eine zivile Übergangsregierung, die bisher nicht in Wahlen bestätigt wurde. Auch ist unklar, inwieweit die Putschisten tatsächlich von der Macht abgelassen haben. Ob Wahlen aber vor der Rückeroberung des Nordens organisiert werden können und sollen ist umstritten, auch weil mittlerweile fast 500.000 Malier auf der Flucht sind und im Land selbst wie auch in den benachbarten Ländern Schutz gesucht haben. Bei einer Bevölkerung von ca. 14 Millionen wäre die Legitimität von Wahlen möglicherweise zu stark beschädigt, wenn die Bewohner des Nordens und die Flüchtlinge nicht teilnehmen könnten. Die Tuareg - Rebellion Über die politischen Hintergründe der Tuareg-Rebellion im Norden Malis, die im Januar 2012 begann, und den darauffolgenden Militärputsch in der Hauptstadt Bamako wurde in Deutschland deutlich weniger berichtet als über die Zerstörungen in Timbuktu, die Steinigungen und Amputationen im Rahmen der Scharia und die mögliche Militärmission. Und nur selten wurden die sozialen Probleme und Auseinandersetzungen, die sowohl der Rebellion als auch der lange Zeit breiten Unterstützung für den Putsch zugrunde liegen, überhaupt erwähnt. Armut und Elend, Massenarbeitslosigkeit, Überbevölkerung, Dürren und Nahrungsmittelkrisen, all das ist ein so „normaler“ Bestandteil unseres Afrika-Bildes, dass es ohnehin schon immer vorausgesetzt werden kann, so scheint es. Wenn im Mainstream-Diskurs auch gerne eine ethnische Dimension gewalttätiger Konflikte gesucht wird und in kritischeren Publikationen nie der Hinweis auf das koloniale Erbe und die Rolle der Anpassungsprogramme internationaler Institutionen fehlt, bleibt doch die Komplexität sozialer Auseinandersetzungen in Afrika im Regelfall unterbeleuchtet.

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Die Rebellion verschiedener Tuareg-Gruppen im Norden Malis hatte ihren konkreten Anlass in der unkontrollierten Einreise schwer bewaffneter ehemaliger GaddafiKämpfer nach deren Niederlage in Libyen Ende 2011. Die NATO ließ sie abziehen, was in Mali sogleich für Verschwörungstheorien über einen Kuhhandel zwischen der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und den Tuareg sorgte. Viele Menschen in Mali trauen insbesondere Frankreich beinahe alles zu, wenn es um die politische und militärische Präsenz in der Region geht. Auch die malische Regierung unternahm nichts, um die etwa zweitausend Kämpfer zu entwaffnen, stattdessen versuchte Präsident Amadou Toumani Touré (ATT) seinerseits einen Kuhhandel, der seine Politik des Teilens und Herrschens gegenüber den verschiedenen Tuareg-Klans fortsetzen sollte. Dies mag angesichts der begrenzten militärischen Möglichkeiten der malischen Zentralregierung, die tausende von Kilometern lange Wüstengrenze Malis nach Mauretanien, Algerien und Niger zu schützen, nicht überraschen, doch auch nach Beginn der Rebellion blieb der Präsident handlungsschwach, was wiederum für Verschwörungstheorien über seine Verstrickung in die illegalen Geschäfte der Tuareg auf den Straßen von Bamako sorgte. Die grundlegenden Ursachen dieser neuesten von einer langen Reihe der TuaregRebellionen in Mali liegen viel tiefer. Ohne die problematische Romantisierung der „Hommes bleus“ in vielen westlichen Medien nachzuvollziehen und ihre Beteiligung an organisierter Kriminalität und internationalem Terrorismus zu vernachlässigen, geht es im Kern um eine dramatisch unterentwickelte und von der Zentralregierung lange vernachlässigte Region. Diese wird zwar nicht mehrheitlich von Tuareg bewohnt, doch stellen deren verschiedene Klans gemeinsam die größte Volksgruppe, die sich deutlich von der Mehrheitsbevölkerung unterscheidet. Denn die Entwicklungsproblematik wird durch das schwierige Verhältnis der nomadischen, hellhäutigeren Tuareg zu der zumeist sesshaften, schwarzen Mehrheitsbevölkerung verschärft. Traditionell geht es dabei um den Zugang zum knappen Wasser in dieser regenarmen Region. Weil die Wüste immer weiter vordringt und die Flüsse immer stärker versanden, ist dieses Zugangs- und Verteilungsproblem enorm gewachsen. Ressentiments der Bevölkerungsgruppen Am Ende sind es jedoch vor allem die kulturellen Unterschiede zwischen den Volksgruppen, die Konfliktlösungen erschweren. Die Tuareg (wie auch andere Minderheiten im Norden Malis wie Araber und Mauren) werden von Angehörigen schwarzafrikanischer Volksgruppen oft als „hellhäutig“ bezeichnet. Umgekehrt können manche Tuareg nur schwer akzeptieren von Schwarzafrikanern regiert zu werden. Überlegenheitsgefühle, die an Rassismus grenzen, sind weit verbreitet. Zudem praktizieren bis in die Gegenwart einige Tuareg eine Art Leibeigenschaft, zum Beispiel leben Angehörige der Volksgruppe der Bella als Dienstboten mit den Tuareg. Aus Sicht vieler schwarzer Malier ist dies nichts anderes als Sklaverei.

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Der von den schwarzen Maliern ebenso wie von den Tuareg mehrheitlich praktizierte Islam hilft die kulturellen Grenzen zu überwinden. Zudem hat die malische Gesellschaft über Jahrhunderte kulturelle Praktiken zur Konfliktvermeidung – und lösung entwickelt, welche das weitgehend friedliche Zusammenleben in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft ermöglichen (insbesondere die sogenannten „Scherzbeziehungen“, frz. Cousinage, und die Teerunden, „grin“ genannt). Die Tuareg sind in diese kulturellen Praktiken prinzipiell eingebunden, insbesondere im bevölkerungsreicheren Süden des Landes, wo die Verkehrssprache Bamanakà eine ethnienübergreifende Kommunikation erlaubt. In Abwesenheit eines funktionierenden Rechtsstaats sorgen Cousinage und Grin für weitaus friedlichere Beziehungen zwischen Moslems und Christen und Angehörigen verschiedener Ethnien als es dem Klischee von Westafrika entspricht. Versagen diese Mechanismen jedoch, versagen oft auch Polizei und Gerichte dabei, die zum Teil exzessive Gewalt zu verhindern. Die Situation des Staates Im Norden Malis sollten nach der letzten Tuareg-Rebellion in den 1990er Jahren durch einen Friedensvertrag die Konfliktursachen beseitigt werden. Dies gelang trotz tatsächlich gestiegener Anstrengungen der Zentralregierung auch deshalb nicht, weil die Bevölkerungsentwicklung in der ressourcenarmen Region – wie insgesamt in Mali – jedwede Fortschritte sogleich wieder konterkarierte. Die Thematisierung der Überbevölkerung ist jedoch (wie überall in Afrika) äußerst schwierig. Zudem stieg im Zuge der wachsenden Präsenz islamistischer Terroristen im unzugänglichen Norden das Interesse an staatsfreien Räumen auch bei Einheimischen. Denn mit Entführungen westlicher Staatsbürger und Drogenschmuggel ließen sich weit bessere Geschäfte machen als mit traditionellen Tätigkeiten oder Tourismus. Weil der malische Zentralstaat seine Präsenz im Norden verstärken und – auf Druck des Westens – auch gegen den Terrorismus vorgehen wollte, musste es zu einem Konflikt kommen. Auch die Ursachen der krisenhaften Zuspitzung in der Hauptstadt liegen tief. Unmittelbarer Anlass des (wahrscheinlich spontanen) Putsches niedriger Offiziere und gemeiner Soldaten im März 2012 war die unzureichende Ausrüstung der malischen Armee im Kampf gegen die Rebellion im Norden Malis. Dahinter steckte eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit der Amtsführung des Präsidenten ATT bezüglich der Krise, insbesondere nach einem Massaker an über hundert malischen Soldaten in Aguelhok – den Tuareg unter ihnen wurden die Kehlen durchgeschnitten, die anderen erschossen. Über Mobiltelefone wurden Bilder hiervon verbreitet und sorgten für große Wut in der Bevölkerung. Der Putsch fand dann nur sechs Wochen vor den bereits angesetzten Wahlen statt, bei denen der amtsmüde und kranke Präsident – anders als vielfach in Afrika üblich – nicht mehr angetreten wäre.

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Der Militärputsch spaltete Mali politisch und gesellschaftlich; es bildeten sich mehrere Bündnisse von Befürwortern und Gegnern des Putsches. Alle großen Parteien, die in der Assemblée Nationale die vorige Regierung stützten, sprachen sich sofort gegen den Putsch aus. Die einzige Oppositionspartei in der Assemblée, SADI, hat den Putsch befürwortet und führte das Pro-Putsch-Bündnis COPAM an, welches zunächst auch den nach einem Abkommen der Putschisten mit der Regionalorganisation ECOWAS eingesetzten Übergangspräsidenten Dioncounda Traoré ablehnte. Traoré wurde von einem Mob verprügelt, dem die Soldaten des Putschistenführers Sanogo den Zugang zum Palast gewährten, und kam erst Ende Juli von einem Genesungsaufenthalt in Frankreich nach Mali zurück. Die Zivilgesellschaft und die soziale Misere Die zivilgesellschaftlichen Organisationen sind gespalten, prominentes Beispiel dafür sind die beiden Gewerkschaftsdachverbände. Es kam zu Straßenschlachten und Verhaftungen. Die Bevölkerung, insbesondere die ärmeren und bildungslosen Schichten, haben den Putsch zumindest anfänglich breit unterstützt. Insbesondere das Massaker an über hundert malischen Soldaten hatte die Menschen „auf der Straße“ gegen ATT aufgebracht; ihm wurde vielfach gar eine Komplizenschaft mit den Tuareg-Rebellen unterstellt. Die Unterstützung des Putsches durch SADI und die an der COPAM und anderen Bündnissen beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen wurde jedoch nicht nur durch diese naheliegenden Belange begründet; vielmehr gingen die Befürworter von einer sozialrevolutionären Stimmung in der Bevölkerung aus und streben eine fundamentale Umwälzung an. So war es dann auch der als progressiv geltende Gewerkschaftsdachverband CSTM, der den Putsch unterstützte und dessen Präsident sich an die Spitze eines Pro-Putsch-Bündnisses setzte. Die Analyse der PutschBefürworter ist jedoch unzureichend und ihre politische Strategie war daher kontraproduktiv: Viele Menschen beklagen Armut, Arbeitslosigkeit und die weit verbreitete Korruption und haben ihre Frustration auf den Putsch projiziert. Eine soziale Umwälzung kann aber nicht aus dem Stand aus einer opportunistischen Stimmung hervorgehen. Der schnelle Zerfall der seit den 1990er Jahren als afrikanisches Vorbild geltenden Demokratie Malis zeigt aber deutlich, dass die formalen Institutionen einer Demokratie nicht viel wert sind, wenn weder die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Bevölkerung vorankommt, noch verhindert wird, dass sich Cliquen und Eliten nahe an der Macht auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Damit ist auch die Lebenslüge der westlichen Entwicklungszusammenarbeit entlarvt, dass es vor allem faire Wahlen sind, welche eine funktionierende Demokratie ausmachen. So bevorzugt man Mali vor dem Militärputsch behandelt hat, so schnell hat man es fallen gelassen, als es plötzlich keine demokratisch legitimierte Regierung

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mehr gab. Mittlerweile gibt es durch die zivile Übergangsregierung wieder einen gangbaren Weg der Zusammenarbeit, der nun auf eine vom Westen unterstützte Militäraktion zur Befreiung des Nordens hinausläuft. Hier wird ein mögliches Modell für zukünftige Interventionen ausprobiert: Westliche Finanzierung, Ausbildung, logistische Unterstützung, vielleicht Drohnen, aber ohne eigene Bodentruppen. Der in Afghanistan so schwierige „Exit“ ist dann nicht mehr ein so großes Problem, könnte man denken. Doch wenn es wohl eine richtige Überlegung ist – und von der malischen Regierung und Bevölkerung auch so gewollt – die militärischen Operationen von den Betroffenen selbst durchführen zu lassen, bedarf es doch grundsätzlicher Überlegungen, wie denn zukünftig die tausende von Kilometern lange Grenze gegen die Infiltration von Terroristen geschützt werden soll. Mali ist damit auch zukünftig überfordert. Autor: Dr. Thomas Greven, Privatdozent für Politikwissenschaft an der FU Berlin

Menschenwürdige Arbeit und Soziale Gerechtigkeit weltweit von Susanne Hoffmann Soziale Gerechtigkeit steht schon als Leitmotiv in der Präambel zur Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 1919. Dort heißt es, dass Frieden auf die Dauer nur auf soziale Gerechtigkeit aufgebaut werden kann. Und mit Frieden war nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern ganz konkret die explizite Anwesenheit von sozialem Frieden gemeint, gegründet auf soziale Gerechtigkeit. Diese umfasst schon in der Präambel der ILO-Verfassung Prinzipien wie Gewerkschaftsfreiheit, Verhinderung von Arbeitslosigkeit, Regulierung von Arbeitszeiten, Gesundheits- und Arbeitsschutz, den Schutz von Kindern, Vorsorge für ältere Menschen, gleichen Lohn für gleiche Arbeit und angemessene Löhne, Aus- und Weiterbildung, und: schon damals im Vorgriff auf die Globalisierung: den Schutz von Arbeitnehmerinteressen bei Beschäftigung im Ausland. Die ILO Erklärung von Philadelphia aus dem Jahr 1944 hat diese Grundsätze weiterentwickelt und festgehalten, dass Arbeit keine Ware ist und Armut den Wohlstand aller gefährdet. Im Jahr 1999 wurde die Agenda der ILO für menschenwürdige Arbeit - die Decent Work Agenda – verabschiedet.

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Sie hat die Grundprinzipien der Verfassung und der Philadelphia-Erklärung strukturiert und in eine neue Form gegossen mit vier strategischen Zielen: •

Förderung frei gewählter produktiver Beschäftigung zu fairen Löhnen;

Fortentwicklung von sozialem Schutz und sozialer Sicherheit;

Förderung von sozialem Dialog und Dreigliedrigkeit zwischen Regierungen und Sozialpartnern,

Respektieren, fördern und umsetzen der fundamentalen Prinzipien und Rechte bei der Arbeit

Verbot von Kinderarbeit und Verbot von Zwangsarbeit

Verbot von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf und Gebot der gleichen Entlohnung für gleiche Arbeit und

Das Recht auf Gewerkschaftsfreiheit und Kollektivverhandlungen als besonders wichtiges Element, um die Ziele der Decent Work Agenda zu erreichen und umzusetzen.

In 2008 wurde dann auf der Internationalen Arbeitskonferenz die Erklärung zur „Sozialen Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung“ verabschiedet. Ganz wichtig ist hier die Aussage, dass die Verletzung von Fundamentalen Prinzipien und Rechten bei der Arbeit nicht als Wettbewerbsvorteil und die Einhaltung von Arbeitsstandards nicht für protektionistische Zwecke missbraucht werden dürfen. Und schließlich gibt es noch einen Vierten im Bunde dieser zunächst mehr abstrakten Betrachtungen, den ILO Global Jobs Pact, verabschiedet im Jahr 2009 als Operationalisierung der Decent Work Agenda und ihrer Antwort auf die Krise sowie als Krisenprävention, anerkannt von vielen multilateralen und internationalen Gremien wie den Vereinten Nationen, der EU und den G20. Trotz dieser vielen Schritte sind wir aber weit vom Zustand sozialer Gerechtigkeit entfernt. Denn die Koordinaten, vor allem die der sozialen Gerechtigkeit, sind aus den Fugen geraten, global und europaweit: •

Die reichsten 20% der Weltbevölkerung verfügen über 70% des globalen Reichtums,

80% der Weltbevölkerung haben keinen umfassenden Sozialschutz

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Weltweit über 200 Mio. Menschen suchen einen Job, davon sind allein 75 Mio. junge Menschen.

Obwohl im letzten Jahrzehnt die Arbeitsproduktivität in den entwickelten Ländern um mehr als 10% anstieg, stagnierte die Lohnentwicklung bei weniger als der Hälfte.

Die Einkommensentwicklung hat sich spürbar zugunsten von Kapitalerträgen und Einkommen aus unternehmerischer Tätigkeit verschoben.

Unsichere Beschäftigung und die Beschäftigung im informellen Sektor sind wieder auf dem Vormarsch.

Die Armutsraten gehen nur unzureichend und bei weitem zu langsam zurück. Nach den Angaben der ILO würde es bei Fortschreibung des bisherigen Tempos noch weitere 88 Jahre dauern, um eine Welt ohne extreme Armut zu erreichen.

Für das globale Gender-Pay-Gap hat die ILO ausgerechnet, dass dessen Beseitigung unter gegenwärtigen Bedingungen erst in 75 Jahren erfolgreich sein könne.

Wie sieht es in Europa aus? Die Beschäftigungsraten und die Beschäftigungsbedingungen in der EU, die der Lackmustest für menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit sind, werfen kein gutes Bild auf Europa: •

Anstieg der Arbeitslosigkeit von 2008 bis Mitte 2012 von 7% auf 10,4%,

Eine Jugendarbeitslosigkeitsrate, die nahezu doppelt so hoch ist wie die der Erwachsenen mit historischen hohen Ausschlägen in Spanien und Griechenland nahe an 50%,

Mit Jobs, die zunehmend atypisch und in vielen Fällen auch prekär werden.

42,5% der jugendlichen Beschäftigten in der EU sind in zeitlich befristeter Beschäftigung. Temporär Beschäftigte verdienen im EU-Schnitt rund 14% weniger als ihre Kollegen in festen Arbeitsverhältnissen und haben einen weit limitierteren Zugang zu sozialer Sicherheit.

Die Langzeitarbeitslosigkeit ist in 2011 EU-weit auf über 10 Mio. angestiegen

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Die Anzahl derer, die von Armut bedroht sind, ist nach Angaben der EUKommission inzwischen auf 116 Mio. angestiegen. 50% der Haushalte in Europa, die arm sind, haben zumindest eine Person in Beschäftigung!

Dementsprechend ist auch der von der ILO entwickelte Index für soziale Unruhen in Europa angestiegen.

Zugleich sind allein in 13 von 17 Eurozonen-Ländern Reformen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes unternommen worden. Allerdings haben diese Reformen vor allem zu mehr Kündigungen, aber keinesfalls zu mehr Jobs geführt. Dies gilt auch in anderen Fällen, wo z.B. harte Einschnitte im Lohnbereich beschlossen wurden, die wie im Fall Griechenland die SubMindestlöhne für Jugendliche zwar unter die Armutsgrenze gedrückt, aber trotzdem keinen einzigen Arbeitsplatz mehr geschaffen haben.

Kinderarbeit Zwar haben 163 Staaten das ILO Übereinkommen Nr. 138 über das Mindestalter für die Zulassung zu Beschäftigung aus dem Jahr 1973 ratifiziert. Und 175 der 185 Mitgliedsstaaten der ILO haben das Verbot der schlimmsten Formen der Kinderarbeit aus dem Jahr 1999 ratifiziert. Und immerhin ist zwischen 2000 und 2004 die Zahl der Kinderarbeiter um 11% auf 222 Mio. zurückgegangen. In allerdings stark verlangsamtem Tempo, nämlich um 3,2%, ging dann die Zahl auf 215 Mio. bis zum Jahr 2008 zurück. Von den 215 Mio. sind immer noch 115 Mio. Kinder in gefährlicher Arbeit tätig. Ein besonders eklatantes Beispiel – quasi vor der deutschen Haustür – ist das Problem der Kinderarbeit in der Baumwollernte in Usbekistan. Nach Erkenntnissen des ILO-Sachverständigen-Ausschusses werden bis zu 1,5 Mio. Kinder jährlich zur dreimonatigen Baumwollernte gezwungen, wo sie großer Hitze und Pestiziden ausgesetzt sind, ohne medizinische Versorgung. Sie werden geschlagen, wenn sie die täglichen Ernte-Quoten von bis zu 40 kg nicht erreichen. Dennoch leugnet die usbekische Seite hartnäckig das Problem. Sie spielt auf Zeit, und einmal mehr hat die ILO trotz zahlreichem Insistieren und weiteren Gesprächskontakten- und Angeboten keinen Zutritt zur Baumwollernte erhalten. Nach Informationen der Usbekischen Nachrichten-Agentur UZNEWSNET ist in diesem Jahr ein Gewerkschafter, der dort zur Baumwollernte ohne vorherige medizinische Untersuchung gezwungen wurde, bei der Baumwollernte gestorben. Hierbei dürfte es sich die usbekische Regierung zunutze gemacht haben, dass es dieses Jahr auf der ILO-Jahreskonferenz keine Diskussion über die schlimmsten

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Verstöße gegen Arbeitnehmerrechte und die Rechte von Kindern gegeben hat. Weil die Arbeitgeberseite das Mandat des ILO Sachverständigen-Ausschusses in Frage gestellt hatte, aus dem Ü 87 zu Vereinigungsfreiheit das Streikrecht herzuleiten, konnten sich die Sozialpartner in der Folge nicht auf die Liste der zu verhandelnden Fälle einigen. Dies hat gravierende Folgen, nicht nur für die institutionelle Glaubwürdigkeit des Normen-Überwachungssystem der ILO, sondern es hat auch konkret gravierende Auswirkungen auf die Situation für die Menschen in all den Ländern, in denen fundamentale Prinzipien und Rechte bei der Arbeit schwer und nachhaltig verletzt werden. Auch die Situation der Gewerkschaftsrechte hat sich durch diese Aktion der Arbeitgeber nicht verbessert. Unabhängig von zahlreichen Morden an Gewerkschaftern sowie Entlassungen, Festnahmen und Inhaftierungen hat sich die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise weiter negativ auf den Sozialen Dialog, die Sozialpartnerschaft und die Gewerkschaftsrechte ausgewirkt. Extreme Formen der Deregulierung des Arbeitsmarkts wie im Fall Georgiens sind eine Variante, die um sich greift. Es gibt aber auch zahlreiche mehr oder weniger schleichende Formen der Aushöhlung von Gewerkschaftsrechten, •

wie im Fall der Telekom-Tochter T-Mobile in den USA,

der Nichteinbindung von Sozialpartnern in drastische Sparprogramme wie im Fall Griechenlands,

der Unterminierung des nationalen Wirtschafts- und Sozial-Rates wie im Fall Rumäniens,

dem Verlagern von Tarifabschlüssen und Kollektivverhandlungen von der sektoralen auf die einzelbetriebliche Ebene um Gewerkschaftsvertretungen zu schwächen.

die Ersetzung von echten Gewerkschaften durch „Vereinigungen von Personen“.

Was wir global und europaweit beobachten können, ist trotz relativ hoher Ratifizierungsraten im Bereich der ILO-Kernarbeitsnormen und den grundsätzlichen Verbalbekenntnissen zu Menschenwürdiger Arbeit und sozialer Gerechtigkeit •

eine mit hoher Flexibilisierung einhergehende Segmentierung der Arbeitsmärkte mit steigendem Armutsrisiko;

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die zunehmende Vernachlässigung von Internationalen Arbeitsstandards, vor allem eine Abwärtsspirale bei der Anwendung von fundamentalen Prinzipien und Rechten bei der Arbeit.

Wir sehen eine hoch gefährdete Architektur des Sozialen Dialogs, und wir sehen

jede Menge zerstörter Lebensperspektiven für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem für die jungen unter ihnen.

Dies alles hat erkennbar nichts mit Menschenwürdiger Arbeit und Sozialer Gerechtigkeit zu tun, auch wenn es nach wie vor Staaten gibt, die - wie z.B. Deutschland – •

eine vergleichsweise niedrige Arbeitslosenrate, vor allem auch im Bereich der 15-24-Jährigen haben,

über ein grundsätzlich gutes System an automatischen Stabilisatoren wie Sozialem Schutz und Sozialer Sicherheit verfügen und

die in der Krise auf einen gut etablierten Sozialen Dialog aufbauen konnten.

Aber auch in Deutschland gibt es Stundenlöhne, die, wenn man sich z.B. den neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung anschaut, selbst im Bereich der normalen regulären Arbeitsverhältnisse nicht mehr existenzsichernd sind. Woran liegt es, dass wir oft nicht über die Ebene der Verbalbekenntnisse hinauskommen, dass Viele zwar „Menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ sagen, aber oft nicht einmal auf halbem Weg ankommen? Es sind die Partikularinteressen, vor allem die Interessen der Finanzmärkte und in den meisten Fällen die fehlende Bereitschaft und Fähigkeit von Regierungen, den richtigen Mix an Maßnahmen und Politik-Instrumenten zu finden. Wirtschaftliches Wachstum muss aber den Zielen von menschenwürdiger Arbeit und Sozialer Gerechtigkeit verpflichtet sein. Umgekehrt müssen Menschenwürdige Arbeit und Soziale Gerechtigkeit auch wirtschaftliches Wachstum im Auge haben. Politik-Kohärenz

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Um eine Politik-Kohärenz (zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik) zu erreichen, benötigen wir gemeinsame Überzeugungen, Werte, Regeln und Normen als Maßstab. Die Bedeutung von Recht, Rechtsetzung und Einhaltung von Recht muss stärker werden, auch, um dem Primat von Wirtschaft und Finanzmarkt wieder klare Grenzen zu setzen. Andernfalls ist Politikkohärenz Alles und Nichts, etwas Beliebiges, wenn wir keinem verbindlichen Maßstab verpflichtet sind. Hier kommen die Internationalen Arbeitsstandards, vor allem die Fundamentalen Prinzipien und Rechte bei der Arbeit, ins Spiel. Diese müssen nicht nur ratifiziert, sondern auch wirklich umgesetzt werden. Fundamentale Prinzipen und Rechte bei der Arbeit sind nicht nur ein guter Selbstzweck, damit sich Alle möglichst wohlfühlen. Nein, sie sind viel mehr: Die diesjährige Jahreskonferenz der ILO hat bei der Diskussion zu den Fundamentalen Prinzipien und Rechten bei der Arbeit festgehalten, dass diese auch die Verbindung zwischen wirtschaftlichem Wachstum, nachhaltigen Unternehmen und sozialem Fortschritt sichern müssen. Zur Umsetzung der Internationalen Arbeitsstandards gehört aber auch, dass sie wieder Gegenstand eines funktionierenden ILO Normen-Überwachungssystems werden. Das ILO Büro unternimmt zur Zeit Alles, um die hier aufgetretenen Probleme mit den Konstituenten zu lösen, damit auf der nächsten Internationalen Arbeitskonferenz wieder die schlimmsten Fälle von Rechtsverletzungen diskutiert und verfolgt werden können. Mit Hilfe guter kohärenter Politiken können Wege gefunden werden •

Zur Schaffung inklusiverer Arbeitsmärkte, die Ungleichheit und Segmentierung vorbeugen und soziale Kohäsion befördern

Zur Schließung von Lücken im Sozialem Schutz

Zur Überführung von atypischen, prekären Arbeitsverhältnissen in existenzsichernde Beschäftigung

Zur schrittweisen Formalisierung von Arbeit im informellen Sektor, und

schließlich zur Stärkung des Sozialen Dialogs, für gute Arbeitsbedingungen, für Löhne, die der Produktivität folgen und für eine nachhaltige Erholung von der Krise.

Gerade in den Bereichen Sozialer Schutz und Formalisierung des informellen Sektors hat die ILO in den letzten beiden Jahren die Weichen erfolgreich gestellt: Durch das auf der 100. Internationalen Arbeitskonferenz in 2011 verabschiedete

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Übereinkommen für Hausangestellte im informellen Bereich können alle weltweit geschätzten ca. 100 Mio betroffenen Menschen erfasst werden. Das Übereinkommen sieht neben dem Schutz durch die fundamentalen Prinzipien und Rechten bei der Arbeit und damit auch dem Zugang zu Gewerkschaftsfreiheit und Kollektivverhandlungen u.a. Mindestlöhne, einen schriftlichen Arbeitsvertrag, Ruhepausenregelungen, Regelungen zu Arbeitszeit und Urlaub, soziale Sicherheit und Regelungen zum Mutterschutz sowie Beschwerde- und Klagemechanismen zur Einhaltung dieser Rechte vor. Jetzt kommt es darauf an, dass das Übereinkommen von möglichst vielen Staaten schnell ratifiziert wird. Im Bereich der Sozialen Sicherheit ist auf der diesjährigen Internationalen Arbeitskonferenz eine Empfehlung zu National Social Protection Floors verabschiedet worden. Sie ist ein Riesenschritt, weil hier ebenfalls der informelle Sektor adressiert wird und wenigstens eine Basissicherung in den Bereichen Gesundheitsversorgung für bedürftige Familien mit Kindern sowie für erwerbsfähige und alte Menschen in Not angestrebt wird. Beide Instrumente, zu den Hausangestellten wie zu den nationalen Social Protection Floors, haben gezeigt, dass man auch Regelungen und Empfehlungen für den informellen Sektor treffen kann. Die Erklärung von Philadelphia sagt: „Armut gefährdet den Wohlstand Aller.“ Die ILO-Verfassung von 1919 formuliert es so: „Das Versagen einer Nation, humane Arbeitsbedingungen anzunehmen, ist ein Hindernis für andere Nationen, die die Bedingungen in ihren eigenen Ländern verbessern möchten.“ Das gilt bis heute. Und deshalb sind Menschenwürdige Arbeit, Soziale Gerechtigkeit und Solidarität zwischen Ländern und Menschen auch ein wirtschaftliches Gebot, mehr denn je und gerade auch in der derzeitigen globalen und mehr noch europäischen Sozial- und Beschäftigungskrise. Autorin: Susanne Hoffmann, geboren 1958 in Kassel, ILO Regionaldirektorin für Europa und Zentralasien

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Schulden und Schuldige von Dr. Reinhard Blomert Nach der Lehman-Pleite im September 2008 wurde schnell deutlich, dass auch europäische Banken ungehemmt gigantische Fehlinvestitionen getätigt hatten. Die Schulden der Banken in Deutschland, Großbritannien, Island, Irland und in den südlichen Eurozonenländern, die sich verspekuliert hatten, wurden aufgrund eines Beschlusses der G8-Staaten von ihren Heimatstaaten übernommen, um die Finanzmärkte zu retten. Die Folge: Staaten gaben Bürgschaften ohne strenge Bedingungen und kauften Bankanleihen ohne Stimmrechte, um die höchst lückenhaft gewordene Kapitaldecke zu schließen und den Geldinstituten die Fortführung ihrer Geschäfte zu ermöglichen. Die Schulden belasteten nun die Staatshaushalte. Die Lage in Irland, Griechenland, Spanien, Portugal und Italien wurde prekär und durch die einsetzende Rezession noch verstärkt. Seit 2010 können die Länder neue Staatsanleihen, mit denen sie fällig gewordene Staatspapiere refinanzieren müssen, nur gegen überhöhte Zinsen absetzen. Die auf den Auktionen für Staatsanleihen zugelassenen Investmentbanken übernehmen seitdem die Anleihen dieser Länder erst ab einem Zinssatz von mehr als sechs Prozent – einem Satz also, der über dem Dreifachen der Wachstumsrate liegt und diese Staaten tiefer in die Schulden treibt. Das war zugleich ein Angriff auf die Eurozone. Bis dahin hatte für alle Länder ein etwa gleicher Zinssatz gegolten, da man davon ausging, dass es sich um eine echte Währungsgemeinschaft handelt. Die Länder in der Eurozone waren auf einen solchen Angriff nicht vorbereitet und reagierten mit einer hektischen Folge von Sitzungen und Gesetzespaketen. Eine langfristige Lösung ist bislang nicht abzusehen. Die beliebte Schuldfrage Die deutsche Bundesregierung, unterstützt von großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit, beharrt darauf, dass jedes Mitgliedsland seine Verteidigung gegen die Spekulanten auf den Devisenmärkten selbst organisiert. Luxemburg, Finnland und Österreich teilen die deutsche Position. Die übrigen Euroländer vermissen die Solidarität zwischen den Mitgliedern der Eurozone, zumal die Deutschen gut an der Immobilienkonjunktur in den südlichen Euroländern und an Bauprojekten wie dem neuen Athener Olympiastadion und dem Athener Flughafen verdient haben. Sie fragen sich: Sind die Kapitalfehlallokationen in der Eurozone die Schuld der Nationalstaaten? Hat der Euro nicht sein Ziel verfehlt, Staaten vor Spekulationen zu

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schützen? Warum werden einzelne Mitgliedsstaaten der Eurozone haftbar gemacht für die Folgen einer schrankenlosen Kapitalmobilität in der Europäischen Union? Diagnose und Therapie der Eurokrise sind höchst umstritten. In Deutschland dominieren die Auseinandersetzung mit der „Schuld“ der Krisenländer und der Ruf nach mehr Kontrolle. Die von den Banken bevorzugte Sprachregelung wird auch von der Bundesregierung benutzt: Statt Eurokrise wird vorrangig von „Staatsschuldenkrise“ gesprochen, womit suggeriert wird, nicht die Banken, sondern die Staaten seien „schuld“ an der Krise. Der deutsche Begriff „Schuld“ vereint die beiden Bedeutungen von Schulden und Schuld, die im Englischen getrennt sind: „debt“ und „guilt“. Josef Joffe, der Herausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, nennt die Länder Frankreich, Italien und Spanien „Sünder“. Bundesfinanzminister Schäuble beschrieb die hohen Zinsen für Staatsanleihen sogar als eine „berechtigte Strafe“, die darin bestehe, dass diese Länder sparen müssten. Grenzen der Diskussion Die Diskussion endet in Deutschland fast immer mit Hinweisen auf juristische Grenzen und dem Wunsch nach einer allumfassenden Kontrolle. Es sind ordnungspolitische Prinzipien, auf die man sich beruft: „Verträge sind einzuhalten“. In der deutschen Öffentlichkeit herrscht die Ansicht vor, dass der Euro „ins Schleudern gekommen sei, weil viele Staaten – zeitweise auch Deutschland – die vereinbarten Stabilitätsgesetze nicht eingehalten“ hätten, wie es der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch formulierte. Der frühere Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), Jürgen Stark, beklagt, Umsetzungen der Empfehlungen der EU-Kommission an die nationale Wirtschaftspolitik der einzelnen Mitgliedsstaaten seien nie kontrolliert worden. Warum herrscht diese Ansicht in Deutschland vor? Vielleicht wird sie durch eine Einschätzung des britischen Historikers, Timothy Garton Ash, erklärbar. Ash sagte in einem Interview, er habe viel Sympathie für deutsche Steuerzahler, die sagten: Wir haben gespart, Lohnverzicht geübt und die anderen haben auf Pump gelebt – dafür wollen wir nicht noch geradestehen. Das Leiden Das Argument, der deutsche Steuerzahler habe selbst Lohnverzicht geübt, legt nicht nur nahe, dass diese Opfer einen ökonomischen Sinn haben – sonst hätte man sie ja umsonst gebracht! Es impliziert auch, die anderen Länder hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Von ihnen könnten daher auch Opfer verlangt werden – ein weiterer Topos der Debatte, der in verschiedenen Varianten auftaucht und in der Forderung nach dem Verkauf von griechischen Ferieninseln gipfelte.

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Was wir hier vorfinden, ist das klassische Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner. Obwohl nicht jeder Deutsche ein Gläubiger ist, so scheint sich doch die Mehrheit in dieser Position wiederzufinden, selbst wenn es eine Position ist, die seit Shakespeares Kaufmann von Venedig eher als unsympathisch empfunden wird. Allein die Exportbilanz scheint der Mehrheit recht zu geben: Der Ausfuhrüberschuss im Jahr 2010 betrug über 153 Milliarden Euro, davon mehr als 122 Milliarden Euro in EU-Länder. Kein Wunder, dass in der deutschen Öffentlichkeit das Bild des Gläubigers Deutschland gegenüber seinen Schuldnern, den Krisenländern, dominiert. Die Bank – der ehrliche Makler Gläubiger und Schuldner haben selten ein entspanntes Verhältnis zueinander: Trotz aller offiziellen Bekenntnisse trauen sie sich gegenseitig nicht über den Weg. Daher werden die Kreditbeziehungen in der Regel über Banken abgewickelt, weil der Verkäufer dadurch rascher an sein Geld kommt und seine Schulden nicht selbst eintreiben muss. Und so ist es die Finanzbranche, die zwischen Hoffnung und Ärger vermittelt. Aber was passiert, wenn die Finanzbranche selbst unter massiven Schulden und Kapitaleinbrüchen leidet? Sie wendet sich an den Staat, der nun, weil er den Banken hilft, selbst zum Schuldner wird. Die Positionen von Gläubiger und Schuldner sind seither in der Eurozone klar auf Nationalstaaten und Nationalitäten verteilt. Gläubiger und Schuldner finden sich nicht mehr in derselben Gesellschaft, in der sie ein politisches Übereinkommen finden müssen. Vielmehr sind es ganze Nationen, die sich gegenseitig nicht trauen. Der Zankapfel ist die gemeinsame Währung: Die Gläubiger wollen mit Zinsen und gutem Geld ausgezahlt werden, die Schuldner können in Zeiten der Krise ihre mit Aufschlägen versehenen Schulden nicht zurückzahlen und verlangen Streckung und Abschreibungen. Inkasso Schon immer gilt: Schuldner werden mit allen Mitteln gedrängt, ihre Ausfälle zu bezahlen. In mittelalterlichen Handelsstädten galt die Gemeinschaftshaftung, Kaufleute wurden wegen der Schulden eines Gildenbruders gefangen gehalten, bis die Mitbrüder ihn auslösten. In England wurden Schuldner in den Schuldturm gesperrt, in der Kolonialzeit setzte man Kanonenboote ein und in den 1920er Jahren schickte Frankreich die Armee ins Ruhrgebiet, um die Reparationen einzutreiben. Dass diese Mittel nicht immer zum Ziel führten, ist bekannt, aber sie trugen einer moralischen Dimension Rechnung. Die Mittel, um Staatsschulden einzutreiben, haben meist genauso wenig Erfolg. Durch verordnete Lohnsenkungen, Verkauf von

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Staatseigentum, Entlassung von Staatsangestellten und Senkung der Renten werden Staaten zu sweatshops: Ihre Souveränität wird aufgehoben, Tarif- und Parlamentshoheit werden ausgehebelt. Die Nationen werden an den Pranger gestellt. Moral Hazard Auch die Hauptströmung der ökonomischen Wissenschaft steht aufseiten der Gläubiger, wenn sie vom moral hazard des Schuldners spricht, also dem moralisch verwerflichen Gewinn durch Unterlaufen von Regeln oder Ausnutzen von glücklichen Umständen, etwa wenn er der Zahlung des vollen Betrags entkommen kann, weil Inflation seine Schulden teilweise abtragen hilft. Sie schweigt jedoch vom moral hazard, wenn plötzlich Risikoaufschläge möglich werden, die Zinsen ansteigen und die Banken dasselbe, unverdiente Glück trifft. Dann sind es die Schuldner, die von „unverdientem Einkommen“ sprechen, von Wucherzinsen oder von erpresserischem Geldverleih. Die amerikanische Regierung wurde 2008 durch das Argument des moral hazard davon überzeugt, die Investmentbank Lehman Brothers nicht zu retten – mit dem bekannten Ergebnis der jüngsten Weltfinanzkrise. Mit diesem Argument Hilfen zu verweigern, hat den Zweck, leichtsinnige Geschäftsleute zu warnen, die bewusst das Scheitern und die nachfolgende Hilfe der Regierung einkalkulieren. Es enthält, wie man sogleich erkennt, eine tief verwurzelte Gläubigerangst – misstrauisch bis zur Menschenfeindschaft. Eine realistische Einschätzung der Situation findet aber nicht statt; Hilfsverweigerung wird in der moral-hazard-Argumentation zu einer moralischen Pflicht. Vertragspartner Die US-Regierung hat freilich diese Position rasch wieder verlassen. Zu lebendig wirkt noch immer das amerikanische Trauma der Großen Depression, die sich entwickeln konnte, weil die amerikanische Politik die Möglichkeit staatlichen Eingreifens in die Wirtschaft bis 1933 verweigerte. Das tiefe Misstrauen galt damals den Banken: „Vom organisierten Geld regiert zu werden, ist so schlimm, wie vom organisierten Verbrechen regiert zu werden“, klagte Präsident Roosevelt bei einer Wahlveranstaltung 1936 im Madison Square Garden in New York. Roosevelt hat die Möglichkeiten des Staatseingriffs geschaffen und dem caveat emptor auch ein caveat venditor hinzugefügt: Nicht nur der Käufer – zum Beispiel eines Wertpapiers – muss aufpassen, sondern auch dem Verkäufer wird eine Verantwortung übertragen, für das, was er verkauft. Bis dahin galt das angelsächsische „Vertrag ist Vertrag“ – es gab kein Wucherverbot wie in Kontinentaleuropa und keine allgemeinen gesetzlichen Vertrauensschutzregeln. Nun aber wurde darauf gedrungen, dass nicht nur die Käufer schuld sind, wenn sie etwas Kleingedrucktes in den Verträgen übersehen,

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sondern dass auch die Verkäufer die Verpflichtung haben, auf faire Vertragsgestaltung zu achten. Eine Gläubigerposition ist in der Regel eine starke Position, aber sie ist nicht unumstößlich, denn der Gläubiger ist zumeist in der Minderheit, während die Schuldner in der Mehrheit sind. Seit der Wahl von François Hollande ist die Position Deutschlands in der Gläubigerrolle geschwächt: Denn Frankreich verlangt beides – Disziplin und Solidarität. Schuldenunion Deutschlands Angst, durch die Rettung ohne Auflagen zugleich das wirksamste Instrument zu verlieren, nämlich auf die Umwandlung der Schuldnerländer zu wettbewerbsfähigen Staaten einwirken zu können, mag berechtigt sein. Aber die Voraussetzung für eine Kontrolle ist ein europäischer Staat, der nicht nur die Abgabe von Autonomie verlangt, sondern auch Schutz vor sozialen Einbrüchen bieten muss. Ein solcher Gedanke aber stößt auf breite Ablehnung in Deutschland. Die Nationalstaaten wurden moralisch bereits so diskreditiert, dass die Vorstellung, mit ihnen einen gemeinsamen Staat zu bilden, immer unrealistischer zu werden scheint. Eine Währungsunion erfordert die Überwindung einer Haltung, die sich an den Ursachen der Krise für unschuldig hält: Caveat vendor – auch der Kreditgeber hat Verantwortung zu übernehmen, der Exporteur ebenso wie die Bank, die die Finanzierung übernommen hat. Die Identifikation mit dem Gläubigerstandpunkt („keine Vergemeinschaftung der Schulden“) führt in die Sackgasse. Ein zentralistisch kontrolliertes Europa, das den Mitgliedsstaaten die fiskalischen Spielräume gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs versagt, wird scheitern. Fazit Wir müssen weiterhin in einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten und der Varietäten leben, aber wer die Staaten fiskalisch einhegen will, muss auch die privaten Akteure begrenzen, um die wirtschaftlichen Schieflagen zu vermeiden, die zu Arbeitslosigkeit und Armut führen. Wer einer Schuldenbremse für die Staaten das Wort redet, darf über eine Schuldenbremse für Private nicht schweigen. Ein demokratisch-föderales Europa muss die Kapitalmobilität ebenso streng und demokratisch kontrollieren wie die Staatshaushalte.

Dieser Text erschien zuvor in den „WZB Mitteilungen“ Heft 137 vom Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin.

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Autor: Dr. Reinhard Blomert, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Projektgruppe der WZB Präsidentin

Der außerschulische Hochschulzugang: Ein weißer Fleck im Gedächtnis gewerkschaftlicher Bildungspolitik? von Dr. Elisabeth Schwabe-Ruck Die GEW-Studierenden in Hamburg haben im Frühsommer eine Veranstaltungsreihe über „kritische Bildung“ gemacht. Dort sollte es um „eine kritische Reflexion der sozialen Widersprüche, das Bedingtsein der Bildung von gesellschaftlich hegemonialen Macht- und Herrschaftsstrukturen und die eigene Verstricktheit in die Herstellung von Ungleichheit“ gehen. Bildung wird als „Reproduktionsstätte für historisch etablierte und aktuelle hegemoniale Verhältnisse“ gesehen. Dieses Verständnis von vereinnahmter Bildung widerspricht diametral der gesellschaftlich nach wie vor vorherrschenden Überzeugung, in der modernen, individualisierten Leistungsgesellschaft sei jeder „seines Glückes Schmied“. Dabei hat die Argumentation der GEW-Studierenden – auch und gerade in Gewerkschaftszusammenhängen – eine lange Tradition, die leider im Zusammenhang der Hochschulöffnungsdebatte in den Hintergrund geraten ist. Im Folgenden sollen deshalb die erstaunlich aktuell anmutenden Überlegungen Fritz Naphtalis, Wirtschaftsexperte des ADGB während der Weimarer Republik, zu Fragen der Durchlässigkeit im Bildungssystem in Erinnerung gerufen werden. Er hat sie in dem von ihm im Auftrag des ADGB 1928 herausgegebenen Buchs „Wirtschaftsdemokratie“ unter dem Kapitel „Die Demokratisierung des Bildungswesens „ zusammengefasst. Mit Wilhelm Liebknecht teilt er die Überzeugung, dass „tiefgreifende Veränderungen im Ziel, im Umkreis und der Organisation des Bildungswesens nur eintreten können, wenn auf dem Wege langsamer Umbildung oder im Sturm der Revolutionen sich eine neue Gesellschaftsordnung durchsetzt.“ (Naphtali 1928 S. 158) Im Gegensatz zu Liebknecht, der in seiner programmatischen Rede „Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ 1872 als Konsequenz dieser Überzeugung zum Aufbau außerstaatlicher Bildungseinrichtungen für die Arbeiterbewegung aufgerufen hatte,

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ist Naphtali auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit der (noch) funktionsfähigen Weimarer Republik der gewerkschaftlich geprägten Grundüberzeugung, dass über beharrlich vorangetriebene Reformen ein allmählicher Weg zu Wirtschaftsdemokratie und Sozialismus einzuschlagen sei. Gesellschaftlicher Fortschritt bedinge aber gleichermaßen den Fortschritt im Bildungssystem. So sei es als große Leistung des aufgeklärten Absolutismus zu betrachten, das Schulsystem von kirchlicher Kontrolle befreit zu haben. Bildung für wen und für was Die Volksbildung sei allerdings bewusst unter geistlicher Obhut geblieben, um so die Bevölkerung unwissend und gefügig zu halten. Hier liegt nach Naphtalis Überzeugung der tiefere Sinn des marxschen Verdikts von der „Religion als Opium fürs Volk“. Eine weitere von Naphtali schon 1928 gesehene Folge dieser Ungleichbehandlung ist das sich seit dem 19. Jahrhundert etablierende „Bildungsschisma“ zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung. Weder Handwerker noch ländliche Bevölkerung konnten demnach von den neu gegründeten höheren Schulen und Hochschulen profitieren. Gesellschaftlicher Aufstieg durch Bildung wurde so zum ausschließlichen Privileg des besitzenden Bürgertums. „Schon früh im 19. Jahrhundert wurden höhere technische Schulen gegründet. Die ersten Technischen Hochschulen stammen aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Fachschulen aller Art folgten. Aber alle diese Schulen waren der Masse der Bevölkerung, waren der Arbeiterschaft ebenso verschlossen wie die höheren Schulen und Universitäten. Für sie kamen höchstens die Fortbildungsschulen alten Stils in Frage, die nichts anderes waren als Ergänzungs- und Wiederholungsschulen. (…) Die Lebensschule der Arbeiter nach der dürftigen Unterweisung in der Volksschule war die Fabrik.“ (ebd. S. 162) Erst zur Zeit der Hochindustrialisierung habe die Arbeiterschaft, nach dem „Gesetz der Schwerkraft“ erstmals ein Gefühl von Solidarität und politischer Willensgemeinschaft entwickeln können. Innerhalb der nun entstehenden Arbeiterbewegung hätten sich „eine kaum zu ermessende Fülle geistiger Energien“ (ebd. S. 165) im Proletariat entfaltet[1], allerdings zunächst aufgrund der politischen Repressionen im Wilhelminismus ausschließlich im informellen Bereich. Die letztendlich doch noch im Kaiserreich gelungene faktische „Durchbrechung des Bildungsmonopols ist ein Erfolg der wirksamsten und härtesten Schule, die es gibt, einer Schule, die von keiner pädagogischen Veranstaltung

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übertroffen oder auch nur erreicht werden kann, dem praktischen Leben.“ (ebd. S. 166) Im Zuge der hier aufgezeigten normativen Kraft des Faktischen sieht Naphtali nun in der Weimarer Republik die Zeit dafür gekommen, auch institutionell, das Bildungssystem betreffend, zu grundlegenden Veränderungen zu kommen. Erste Schritte auf diesem Weg sind seiner Überzeugung nach bereits getan. „Jede Reform des Bildungswesens, die den Grund zu einer einheitlichen Volksbildung legen will (…), muss von der Volksschule ausgehen (…), weil sie im republikanischen Deutschland in den ersten drei bis vier Jahren die gemeinsame Grundlage für alle Schularten bildet.“ (ebd. S. 166) Bildungschancen durch neue Institutionen Um allerdings zu einem tatsächlich chancengerechten Bildungssystem durchzustoßen, sind, so bereits Naphtalis Überzeugung, auch Reformen im weiterführenden Schulwesen erforderlich. Bislang sieht er die klare Dominanz des gymnasialen Weges an die Hochschule allein durch die neu in der Weimarer Republik ins Leben gerufenen Aufbauschulen, die auf der sieben bzw. achtjährigen Volksschule aufbauend, den direkten Weg zur Reifeprüfung und Hochschule ermöglichen, in Zweifel gezogen. Dem gegenüber sei der dritte Schulzug, der über Berufsschule und Lehre direkt in die berufliche Praxis führt, bislang ein Torso geblieben, denn hier fehle der Ausbau zur Hochschule. Sein Erklärungsmodell für diesen Missstand ist von erstaunlicher Aktualität: „Wenn dieser letztere Schulzug (…) bisher so wenig ausgebaut worden ist, so ist der Grund darin zu suchen, dass das alte Ideal der allgemeinen Bildung noch immer allzu hoch in Geltung steht, auch in der Wirtschaft, die wie in vergangener Zeit den Bewerbern immer noch den Vorzug gibt, die die Obersekundarreife oder das Abitur nachweisen können.“ (ebd. S. 169) Als Ursache dieses Konservativismus macht er die tiefe Verwurzelung des Berechtigungswesens aus. Offenkundig überdauerten diese traditionellen Haltungen auch Zeiten bereits real umgesetzter Reformen im Bildungssystem.[2] Naphtali schlussfolgert aus diesen Beobachtungen 1928: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn das Bildungsmonopol wirklich durchbrochen werden soll, der Vorzugsstellung der höheren Schulen (Gymnasium, Realgymnasium usw.) in der Erteilung der Berechtigungen ein Ende gemacht werden muss. Der Rahmen des Berechtigungswesens muss „durch Aufnahme desjenigen Bildungsideals, das aus dem Typus des heutigen berufstätigen Menschen zu

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gewinnen ist“, vorurteilslos erweitert werden. Dabei handelt es sich nicht nur um die Anerkennung der Gleichberechtigung eines Schulzuges (…), sondern auch um die Anerkennung eines außerschulischen Weges zu den höchsten Bildungsstätten der Nation“. (ebd. S. 169) Der dritte Weg an die Hochschule Die Forderung des Ausbaus dieses „dritten Weges an die Hochschule“ hält er gleichzeitig für ein zentrales Anliegen gewerkschaftlicher Personalpolitik, eröffne er doch den beruflich besonders Befähigten aus der Arbeiterschaft Wege in mittlere und leitende Berufe ohne dass sie die Fühlung mit der praktischen Arbeit verlören. Blickt man nur auf die Argumentationslinie und lässt zeithistorisch bedingte Altertümlichkeiten im Sprachgebrauch außer Acht, dann kann die Modernität der Analyse nur verblüffen und gleichzeitig erschüttern. Naphtali • • •

fordert die Abkehr von einem weitgehend an schulischer Allgemeinbildung ausgerichtetem Bildungsideal, denn dieses verhindere Chancengerechtigkeit begrüßt eine einheitliche schulische Grundbildung als Fundament der weiterführenden Schulen verlangt den Ausbau direkter Wege von der beruflichen Praxis an die Hochschule

Die innergewerkschaftliche bildungspolitische Debatte kann nur gewinnen, wenn die historischen Wurzeln des aktuellen Diskurses realisiert und die entsprechenden Lehren daraus gewonnen werden. Die allenthalben sichtbar werdenden Beharrungskräfte des bürgerlichen Bildungsverständnisses erklären sich eben nicht allein aus den formalen Hürden, die einem direkten Zugang von der Werkbank an die Hochschule bislang im Wege standen. Die Einrichtung eines chancengerechten und nicht nur formalrechtlich chancengleichen Bildungssystems ist deshalb nicht mit der Institutionalisierung neuer Zugänge an die Hochschule erledigt. Das hat bereits Fritz Naphtali 1928 klar gesehen. Dem Verständnis von konkurrierenden, leistungsorientierten und individualisierten Bildungswegen, die, so ein populärer Slogan der 1920er Jahre, den Tüchtigen freie Bahn gewähren, ist ein Verständnis von Bildung als einer gemeinsam über Generationen aufgebauten kollektiven Ressource entgegenzusetzen. Bildung dergestalt als Gemeingut des Geistes anzusehen, bietet einen wirksamen Hebel, um die über schulische Bildung etablierte und erstarrte innergesellschaftliche Hierarchie zwischen den Gebildeten und den Bildungsfernen zugunsten eines tatsächlich chancengerechten Bildungssystems zu überwinden. Gewerkschaften stehen seit gut 150 Jahren für Kraft durch Solidarität und damit für den Schutz öffentlicher Güter, wie der Bildung. Sie sollten mit dieser Tradition selbstbewusst umgehen.

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Literatur/Quellen:

Fritz Naphtali (1928): Wirtschaftsdemokratie, Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin

[1] Man beachte, dass Naphtali bereits 1928 auf die intellektuellen Ressourcen bildungsferner Bevölkerungsschichten verweist, die durch das repressive Bildungssystem nicht genutzt wurden. [2] Auch hier ist der Parallelismus zur heutigen Situation mit Händen zu greifen. Die formalrechtliche Öffnung der Hochschulen hat bereits stattgefunden. Trotzdem haben sich die Zahlen der beruflich Qualifizierten ohne Reifezeugnis bislang kaum an den Hochschulen erhöht. Autorin: Dr. Elisabeth Schwabe-Ruck, Bildungswissenschaftlerin, Lehrbeauftragte an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg

Der unheilvolle Pakt von Prof. Dr. Hartmut Rosa Warum die Linke falsch spielt und das Leben nicht besser wird Auf den ersten Blick scheint die Sache klar zu sein: Die spätmoderne kapitalistische Gesellschaft erzeugt systematisch Gewinner und Verlierer, und sie lässt die Gewinne der Sieger ebenso wie die Verluste und Leiden der Verlierer immer größer werden. Folglich tut die politische Linke gut daran, ebendiese Verteilungslogik zum Hauptgegenstand ihrer Kritik zu machen. Und die faktischen Verhältnisse drängen diese Kritik ja auch unmittelbar auf: Die öffentliche Diskussion konzentriert sich aktuell auf das unbestreitbare Skandalon, dass die Gehälter der Spitzenmanager in Deutschland inzwischen das 400fache des einfachen Angestellten oder Arbeiters betragen – und geradezu explodieren, während die Reallöhne am unteren Einkommensende schrumpfen. Klarer Fall, Attacke? Irrtum! Ich möchte hier die These vertreten, dass die unheilvolle Konzentration der politischen Linken auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit niemandem anderen

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als dem neoliberalen Gegner in die Hände spielt und das unheilvolle Spiralsystem, welches jener betreibt, in Gang hält. Um diese Behauptung zu plausibilisieren, werfen wir zunächst einen Blick auf die Sieger des neoliberalen Gewinnspiels. Beginnen wir mit Japans Abschöpfern: ‚Nippons kranke Manager‘ titelte die Süddeutsche Zeitung – und verwies darauf, dass in Japan die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1945 deutlich und kontinuierlich angestiegen ist, bei den ökonomischen Eliten aber seit 1990, also seit dem Beginn des neoliberalen Zeitalters, kontinuierlich sinkt. Seit 2000 habe das Mortalitätsrisiko der Führungskräfte um 70% zugenommen. Auch bei den Selbsttötungen liegen die Manager an der Spitze; seit 1980 sei ihre Suizidrate um 271% gestiegen. Selbst ihren Sprößlingen scheint es nicht viel besser zu gehen: Die Zeit berichtet von einer stressbedingten Selbstmordwelle unter Studenten einer südkoreamischen Eliteuniversität. Na gut, Asien…. mag die skeptische Leserin hier einwenden. Wie sieht es in Europa aus? Instruktiv hierfür ist der Fall von France Télécom: Der Konzern verordnete sich unter dem Slogan ‚time to move‘ ein Dynamisierungsprogramm, das die Führungskräfte alle drei Jahre zwangsversetzte. So sollten sie offen für Neues, flexibel, innovativ und kreativ bleiben und ‚Verhaftungen‘ mit Personal, Routinen, Sozialräumen etc. vermeiden. Das Ergebnis: Allein zwischen März 2008 und März 2010 nahmen sich mindestens 41 Konzernangestellte das Leben, viele weitere versuchten es, bis schließlich die französische Justiz wegen ‚fahrlässiger Tötung‘ gegen das Unternehmen ermittelte. Wie es bei den überlebenden Gewinnern im raffgierigen Zentrum des Finanzmarktkapitalismus aussieht, machte jüngst der bei Goldman Sachs ausgestiegene Spitzenmanager Greg Smith in der New York Times deutlich: Er verlasse ein Unternehmen, dessen Klima an der Führungsspitze so vergiftet, destruktiv, zynisch und menschenverachtend sei, dass es ihn buchstäblich krank mache. Sehen so Sieger aus? Man muss gar nicht erst das Reiz- und Modethema ‚Burnout‘ bemühen, um sich zu fragen: Sehen so Sieger aus?! Im Grunde ist es doch offensichtlich: Ein Spiel, das solche Gewinner erzeugt, ist idiotisch und ungesund, es macht über kurz oder lang alle zu Verlierern. Man sollte es so schnell wie möglich beenden. Doch dazu kommt es nicht, weil die Spielregeln (wie bei jedem Spiel) nicht nur Gewinner und Verlierer definieren und die Verhaltensweisen und Strategien bestimmen, sondern zugleich die zugehörigen Muster von Angst und Begehren als motivationale Energien erzeugen. Das ist im Kapitalismus nicht anders als beim Mensch Ärgere Dich Nicht. Man hat Angst, aus dem Rennen geworfen zu werden, zurückzufallen, man hofft, sich an die

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Spitze setzen oder wenigstens ein paar Plätze aufrücken zu können, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Diese simple Spiellogik kann unglaubliche Leidenschaften entfachen. Sie verschwinden und relativieren sich erst, wenn man dem Spielbrett den Rücken kehrt. Die Linke fixiert jedoch alle Energien auf das Spielbrett: Die Abstände vergrößern sich! Die Manager haben nur Fünfer und Sechser auf dem Würfel! Sie haben viel mehr Männchen! Sie würfeln zwei Mal! Sie haben Schaum vor dem Mund! Das ist alles richtig, und es ist kein harmloses Spiel, sondern eins auf Leben und Tod, das hier gespielt wird. Aber es gibt zwei Probleme mit ihm: Erstens, die Spielregeln sind ungerecht, die Gewinnchancen sind ungleich verteilt. Das ist das Gerechtigkeitsproblem, und es ist ein gewaltiges Problem für alle, die dem Feld hinterherlaufen müssen. Zweitens, es ist ein idiotisches Spiel, weil es keinerlei erkennbares Ende hat, das ist das Entfremdungsproblem: Auch die schon 20, 40 oder 400 Männchen im Ziel haben, werden von den immer gleichen Angst- und Begehrensmustern angetrieben. Sie spielen, auch wenn es sie selber ruiniert, sie spielen, auch wenn es ihre Familien zerstört, ihre Kinder in den Selbstmord oder Burnout treibt, die sozialen Bande untergräbt, die ökologischen Grundlagen unseres Lebens vernichtet. Deshalb wäre es höchste Zeit für die Linke, den motivationalen Stecker zu ziehen. Die Sieger sind gar keine Sieger. Es sind armselige, raffgierige, orientierungslose Süchtige, die ein unabschließbares Steigerungsspiel betreiben: Wachstum, Reichtum, Beschleunigung, Innovationsverdichtung. Mut zum Spielverderber Dieses Spiel braucht gewaltige und immer größere kulturelle Antriebsenergie. Diese wird ihm zugeführt durch eine politische Position, die den einen permanent einhämmert: Ihr seid die Sieger! Ihr seid die Gewinner! Ihr habt ein gutes Leben! Verteidigt Euren Vorsprung! Bleibt oben! Der Kampf ist hart! Und den anderen: Ihr seid die Betrogenen! Ihr kommt zu kurz! Fordert mehr Männchen! Wer so argumentiert und damit Wahlkämpfe führt, betreibt ungewollt das Geschäft eines Neoliberalismus, der um alles in der Welt auf Wirtschaft, Wachstum und Wettbewerb setzt. Denn dieser hat keinerlei kulturelle Ressourcen, um das aberwitzige, selbstzerstörerische Steigerungsspiel mit Motivationsenergie zu versorgen. Das macht die Linke für ihn, und sie macht es deshalb, weil es für das Gerechtigkeitsproblem harte und eindeutige Zahlen gibt, für das Entfremdungsproblem aber nur vage Gegenkonzepte eines anderen, wirklich guten Lebens. Diese Gegenkonzepte scheut die Linke wie der Teufel das Weihwasser, weil sie Angst hat vor Paternalismus, Angst vor Uneinigkeit, Angst davor, dass uns wieder jemand vorschreiben könnte, wie wir zu leben haben – als ob das Steigerungsspiel nicht genau das ohnehin täte.

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Natürlich wissen die Protagonisten der Mehrheitslinken, das das Spiel insgesamt pervers ist. Aber sie glauben, dass zuerst die Gerechtigkeitslücke geschlossen werden müsse, bevor über die Zielsetzung als solche ernsthaft verhandelt werden könne: Erst wenn alle ungefähr gleich viele Männchen im Spiel oder im Ziel haben, könne man über den Spielsinn streiten. Dass es sich gerade umgekehrt verhält: Dass sich das Gerechtigkeitsproblem viel leichter und vielleicht von selbst lösen ließe, wenn der Motivationsstecker gezogen würde und die Spieler den Unsinn ihres Tuns mit nüchternen Augen erkennen könnten – das könnte die Linke vom frühen Marx lernen. Der Kapitalismus bzw. das Privateigentum, schreibt Marx in den frühen Pariser Manuskripten, sei nicht etwa die Ursache, sondern schon „das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst“, es ergebe sich „aus dem Begriff des entäußerten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, des entfremdeten Menschen“. Das aber heißt: Die Ungerechtigkeit resultiert aus der Entfremdung, daher gibt es gute Gründe für die Hoffnung, dass sie mit ihr auch verschwindet. Wenn das Spiel zu Ende ist, fällt es dem Sieger leicht, die erbeuteten Männchen herzugeben. Erst wenn die Linke die Frage nach der Entfremdung und ihrem Gegenteil, dem gelingenden Leben, zu ihrem ureigentlichen Thema macht, löst sie sich aus dem unheilvollen Pakt mit dem Neoliberalismus und zieht den Stecker für dessen selbstzerstörerisches Steigerungsspiel. Autor: Prof. Dr. Hartmut Rosa, Geboren 1965 in Lörrach, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena

Auf dem Abstellplatz (Filmkritik) von Jürgen Kiontke Die Filmkunst stellt Fred („Star Trek“-Star Colm Meaney) am Rande der Stadt ab, und das ganz wörtlich: Weil er keinen Wohnsitz hat, muss er im Auto schlafen. Das steht irgendwo zwischen Industriebrache und - wir kommen zum zweiten Teil des Filmtitels - dem Strand der irischen See. „Parked - Gestrandet“ heißt nur allzu sinnbildlich Darragh Byrnes Spielfilm, dessen Held sich zwischen allen Parklücken wiederfindet. Weil Fred keine korrekte Adresse vorweisen kann, bekommt er keine Sozialhilfe. Und weil er die nicht hat, keine Wohnung. Das ist die gelebte Tautologie des westlichen Abstiegs: Weil Fred keinen Wohnsitz hat, hat er keinen Wohnsitz.

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Am Rand ausgesetzt, abgestellt - so fühlt sich Byrnes Antiheld Fred. Wenigstens ist der Parkplatz gebührenfrei. Fred ist ein schon etwas älteres Semester. Er steht am Ende des Berufslebens. Lange hat er sich im Ausland mit Jobs durchgeschlagen. Jetzt ist er ökonomisch am Ende und kehrt in seine Heimatstadt zurück, in der weniges so wie früher, aber vieles ganz anders ist. Im Haus des Vaters wohnt irgendwer, die Stadt wirkt unbekannt. Es ist alles nicht mehr seins. Zu zweit jenseits der Parklücken Eines Tages kommt Besuch. Der junge Cathal (Colin Morgan) zieht „nebenan“ ein - er stellt seine Karre neben Freds. Man kommt sich näher. Doch zunächst werden die beiden zentralen Figuren mit wenig Hintergrund exponiert. Cathal kennt nichts außer seiner Drogensucht, von Fred erfahren wir nur so viel, dass er mal als Uhrmacher gearbeitet hat, einem Gewerbe, dem es nicht mehr gut geht. Der Regisseur Darragh Byrne drehte bisher vor allem Dokumentarfilme. So gleicht das Sujet in „Parked“ einer Bestandsaufnahme der ungeschönten Versuchsanordnung: Wie werden die beiden Freaks miteinander und dem Rest der Welt zurechtkommen? Hier haben sich zwei getroffen, die es nicht wollten. Fred, der abgerutschte Handwerker, hat wenig Interesse an jungen Drogenfreaks wie Cathal. Eben deshalb sind Parallelen zu einer Vater-Sohn-Beziehung durchaus augenfällig. Jeder mit seinen eigenen Schwierigkeiten: peripher wie prekär: Der Film möchte aus diesem Umstand seine Spannung ziehen. Bald gibt der eine dem anderen Hilfestellung in dem, was der andere nicht kann. Cathal macht Schwimmunterricht in der Badeanstalt, die man zum Waschen nutzt. Fahrtraining gibt’s auch noch. Armut ist heutzutage generationenübergreifend. Der Parkplatz – das Symbol der Austerität Die filmische Absicht ist: Die beiden Männer sollen soziale Verhältnisse widerspiegeln. Folgerichtig müsste nun Fred kriminell werden und Cathal bürgerliche Karriere machen. Aber mit Filmlogik kommt man hier, wie an manchen Stellen des Films, nicht weiter. Es ist eher eine Bestandsaufnahme, denn Europa hat sich in ein Armenhaus verwandelt. So geht es derzeit auch vielen Menschen im Süden Europas. Für die zwei Typen geht es nicht vor, eher zurück. Godot liegt im Industriegelände. So vergehen die Tage in gefühlter Nutzlosigkeit. Zuweilen repariert Fred eine Uhr, er scheint auf gutem Weg, er verliebt sich sogar. Bei Cathal blockieren die Drogen jeden Besserungsversuch. Und wenn es doch mal gut läuft, kommt der Dealer und verlangt - durchaus eindrucksvoll - nach dem gestundeten Geld.

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Cathal, der junge Drogensüchtige, Fred, der abgeschobene Alte: Der Regisseur Byrne findet eine zugespitzte Bildsprache für die Gegenwart Irlands, dem einstmaligen „Keltischen Tiger“, der heute nicht mal eine Miezekatze ist. Das Land ist schon zu Beginn der Finanzkrise ordentlich gerupft worden. Die Banken mit Schulden, die das Mehrfache des Bruttoinlandsprodukts übersteigen, die Menschen mit Hypotheken, die sie nicht mehr abzahlen können. Rezession, Arbeitslosigkeit, schlechte Ratings. Auch Irland versucht sich in Austeritätspolitik. Einsparen, wo nichts ist, das ist die Devise der Stunde. Das drückt auf die Stimmung, die ökonomische wie auch die im Alltag. Armut ohne Anschrift Byrne fragt: Was bedeutet diese Politik konkret für die, bei denen sie ankommt? Fred und Cathal verbringen oft mal einen Nachmittag bei der Sozialbehörde. Aber immer wieder wird die Unterstützung mit dem Verweis auf den fehlenden Wohnsitz abgelehnt. Letztlich liefert man sich, wie auf allen Sozialämtern Europas, bürokratische Scharmützel mit dem Sachbearbeiter, dessen Arbeitsplatz hier gesichert ist wie ein Bankschalter. Er könne keine Bescheide zustellen ohne Anschrift. „Doch“, sagt Fred. Schreiben Sie doch: „Parkplatz am Strand, rechtes Auto.“ Gleich hinterm Flaschencontainer. Ein weiterer Grundzug der Armut in „Parked“ ist die fehlende Initiative bei den desillusionierten Protagonisten. Entgegen der landläufigen Meinung, Not mache erfinderisch, sind die beiden Derangierten kaum zu phantasievollen Aktionen in der Lage. Fred ist vom Leben abgekämpft, bei Cathal sorgt nur die Drogensucht für Bewegung. Bei Ken Loach hätten die zwei mindestens eine Whisky-Destillerie ausgeraubt! Aber sie sind nicht die Vollproleten, wie sie Loach etwa in seinem Alkohol-Film „The Angels’ Share“ zeigt. Sie sind eher der Fall-out der Mittelschicht. Und so sind auch die beiden Autos die typischen Mittelklasse-Kleinfamilienkutschen, wie sie überall in Europa gefahren werden. Das Materielle soll bei Fred vom Amt kommen, bei Cathal vom Vater und der - das ist der Auslöser für Cathals Sucht - hat seinen Sohn rausgeschmissen. Der Grund für die Misere war: „Weil deine Mutter uns verlassen hat.“ Cathal: „Sie ist an Krebs gestorben.“ Das ist einer der wenigen „Gags“ dieses Films. Man ahnt: Für die beiden wird es keine glückliche Wendung geben. Die prekarisierten Gestalten, Randfiguren in der Mitte der Gesellschaft, finden in Byrnes Sozialdrama keinen freundlichen Ausgang. Der angedeutete Gemeinschaftsgeist der Iren, der das Schicksal der Armut für Momente aushebelt - im Schwimmbad oder bei Chorstunden - konnte zwar die Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt rücken, aber angesichts der bedrückenden Lage findet er wenig Hebelwirkung. Nicht nur die Banken und der Staat, auch die Gesellschaft ist irgendwie pleite gegangen.

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„Parked - Gestrandet“. FIN/IR 2011. Regie: Darragh Byrne. Darsteller: Colm Meaney, Colin Morgan u.a. Kinostart: 29. November 2012 Autor: Jürgen Kiontke, Redakteur des DGB-Jugend-Magazins Soli aktuell und Filmkritiker u.a. für das Amnesty-Journal

Erwiderung auf den Artikel in Ausgabe 17 von Matthias Zimmer „Postwachstum als Irrglaube?“ von Prof. Dr. Ulrich Brand Matthias Zimmer konstatiert in seinem Beitrag mit dem Titel „Postwachstum? Über eine eigentümliche Debatte“, dass die Orientierung am Postwachstum mit der Begründung geringerer Umweltbelastung und größerer Generationengerechtigkeit trügerisch und moralisch sogar falsch sei. Er argumentiert, dass es sich um einen postmaterialistischen „Diskurs der Satten“ handle, der für Milliarden armer Menschen weltweit, aber auch für viele hierzulande nicht gelte. Materielle Verteilungsspielräume und stabile demokratische Verhältnisse hängen aus seiner Sicht am Wirtschaftswachstum. Aus meiner Sicht verpasst Kollege Zimmer einige entscheidende Punkte. Insbesondere unterschätzt er, dass wir womöglich vor einem epochalen gesellschaftlichen Bruch stehen, der aufgrund sozialer Verwerfungen und ökologischer Zerstörung die Notwendigkeit eines anderen gesellschaftlichen Organisationsprinzips hervorruft. Genau das ist die Intention der vielen, in sich heterogenen Beiträge der Postwachstumsdebatte.[1] In ihnen besteht wenig Vertrauen in die vorhandenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Institutionen, weshalb andere Perspektiven benötigt werden. Im Kern bestätigt Matthias Zimmer - stellvertretend für gesellschaftlich herrschende Denkmuster – die Orientierung am Wirtschaftswachstum in einer Weise, die zentrale Punkte der Postwachstumsdebatte nicht verstehen will.

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Die Ambivalenz des Wachstums Wirtschaftliches Wachstum ist ein höchst ambivalenter Ausdruck für innerhalb einer Zeitperiode für den kapitalistischen Markt produzierten Güter und Dienstleistungen. Ambivalent ist es, weil es mit Umweltzerstörung, ungleicher Verteilung des erwirtschafteten Reichtums sowie mit Disziplinierung einhergeht. Ambivalent aber auch – da machen es sich viele WachstumskritikerInnen zu einfach -, weil es nicht einfach zurückzuweisen ist. Denn wirtschaftliches Wachstum geht in Ländern mit den entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Strukturen durchaus mit steigendem Wohlstand für breite Bevölkerungsteile einher. Dass da kein Automatismus besteht, wissen wir aus vielen Weltregionen und ist eine zentrale Erfahrung neoliberaler Politiken hierzulande. Und dennoch: Erfahrungen und Versprechen mit der Wachstumsmaschinerie bestehen und aus einer demokratischen und emanzipatorischen Perspektiven kann nicht darüber hinweggegangen werden. Sonst wird es tendenziell öko-autoritär. Mein Kritikpunkt an der affirmativen Position ist aber noch ein anderer: Wirtschaftswachstum unter kapitalistischen Verhältnissen basiert auf vielfältigen Herrschaftsverhältnissen und sichert diese ab.[2] Ausgeblendet wird erstens der herrschaftliche Charakter der Organisierung der Produktion, denn die Lohnabhängigen werden nicht nur diszipliniert, auch die Kontrolle über den Produktionsapparat bleibt bei den Kapitalbesitzern und dem Management. Damit soll die Mitbestimmung nicht kleingeredet werden; aber die Verfügung über das Kapital bleibt letztlich in der Hand weniger. Innovation, Forschung und Entwicklung und die sich daran anschließende Produktion und Vermarktung finden unter Bedingungen kapitalistischer Weltmarktkonkurrenz statt (oft als Globalisierung verharmlost oder in den Status eines Sachzwangs geschoben). Das geschieht nicht demokratisch. Das ist der Kern des Wachstumszwangs – der Imperativ der Akkumulation des Kapitals. Daran hängt der Staat, daran hängen Lohnarbeitsplätze und Einkommen. Das ist aber eher als Problem zu begreifen und nicht als unveränderliche Tatsache. Hier macht die Debatte um Postwachstum einen wichtigen Punkt, der noch viel zu wenig deutlich ist.[3] Zweitens schreibt kapitalistisch getriebenes Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Produktions- und Konsumnormen die Herrschaft über die Natur und damit ihre Zerstörung fest. Soziale Herrschaft und Herrschaft über Natur sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier liegt das Drama der Debatte um „grünes Wachstum“ und „grüne Wirtschaft“, die nicht nur den sozialen Herrschaftsaspekt unterschätzt, sondern auch eben jenen über die Natur.[4]

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Neue Perspektiven Daher benötigen wir gerade in der gewerkschaftlichen Diskussion eine Perspektivverschiebung. Denn die konkreten, un-nachhaltigen und kapitalgetriebenen Formen von industrialisierter Landwirtschaft und oft fragwürdiger Ernährung, von Mobilität und Kommunikation, von Städten und Wohnen sind das Problem. Es sind eben nicht nur die Konsumweisen der Menschen – die es durchaus zu ändern gilt -, sondern auch sehr spezifische, nämlich auf Profit gerichtete Produktionsweisen. Es geht daher weniger um die Natur oder den Planeten, sondern um die Veränderung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Entsprechend müssen wir die heute bereits stattfindenden Konflikte um die Extraktion von Öl und Gas, von Uran und Gold sehen, die weit weg von uns stattfinden (im Nigerdelta wird bei der Ölförderung weiterhin jedes Jahr mehr Gas abgefackelt als Deutschland benötigt). Damit sind wir bei einem dritten Aspekt, der fast eine Art unhinterfragter Wahrheit in der Wachstumsdebatte ist. Es ist meines Erachtens fast zynisch zu behaupten, „die Menschen“ im globalen Süden wollten per se Wachstum und Entwicklung. Wollen die Menschen in Bangladesh in die Weltmarkfabriken, um für KiK und C&A und damit für die KonsumentInnen im Norden billige Klamotten zu produzieren? Welche Mechanismen entscheiden darüber? Doch das nach billiger Arbeitskraft suchende Kapital, das die Menschen zu höchst unglücklich und gefährlich lebenden LohnarbeiterInnen ohne Rechte macht. Wer sieht genau hin, wie und warum sie vielleicht vorher von ihrem Land vertrieben wurden, damit dort die Landwirtschaft (im Namen des Fortschritts) industrialisiert werden kann? Oder, wie aktuell in Indonesien, im Namen der Nachhaltigkeit Menschen vertrieben werden, um auf dem Land Palmöl in Großplantagen für Agrartreibstoffe anzubauen. Das ist Wirtschaftswachstum. Aber es ist weder Wohlstand, noch Entwicklung, noch „nachholende Modernisierung“ (Matthias Zimmer). Auch und gerade hier stellt sich die Frage der Demokratie. Die demokratische Frage Aber auch für Europa ist die Aussage problematisch: „Die Griechen brauchen nicht nur eine schmerzhafte Anpassung, sie brauchen vor allem Wachstum.“ (Zimmer) Welches Wachstum? Die Verschleuderung von Agrarprodukten, Rohstoffen und mit billigen Arbeitskräften hergestellte Waren, die ökologisch problematische Forcierung des Bergbaus. Um Missverständnisse zu vermeiden: Postwachstumspositionen laben sich nicht an Krisen. Wirtschaftskrisen werden meist autoritär bearbeitet und nützen

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den Herrschenden, die ihre gesellschaftlichen Positionen mit allen Mitteln verteidigen. Es geht vielmehr um eine bewusste, in vielen gesellschaftlichen Bereichen stattfindende Zurückdrängung der Wachstumszwänge, “a multi-faceted political project that aspires to mobilise support for a change of direction, at the macro-level of economic and political institutions and at the micro level of personal values and aspirations. Income and material comfort is to be reduced for many along the way, but the goal is that this is not experienced as welfare loss.”[5] Ein anderer Wohlstand in einer anderen Produktions- und Lebensweise ist die Perspektive, ein „Wohlstand, der es den Menschen ermöglicht, ein gutes Leben zu führen, mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen, mehr Wohlbefinden zu erfahren und trotzdem die materiellen Umweltbelastungen zu reduzieren.“[6] Viertens: Mit der Figur des Ausnahmezustands von Carl Schmitt wird von Matthias Zimmer Gefahr für die Demokratie postuliert, wenn der Wirtschaftsladen nicht mehr läuft. Umgekehrt ist es stimmiger: Wenn wir auf eine Demokratisierung der Verhältnisse hinarbeiten, die Gewerkschaften etwa endlich wieder ihre Rolle als Gestalter einer guten, nachhaltigen, solidarischen und produktiven Gesellschaft annehmen (und nicht als Sprachrohr von Kernbelegschaften und Wettbewerbsfähigkeit), dann werden Menschen verstärkt Verantwortlichkeit für das Gemeinwesen übernehmen. Die Individualisierung von Menschen durch die politischen und ökonomischen Eliten lässt jede Forderung nachhaltig zu konsumieren, hohl werden. Warum sollen Menschen außerhalb ihres Privatlebens, nämlich in Beruf, Öffentlichkeit und Politik nichts zu bestimmen haben, aber dann beim Konsum aufgeklärt handeln? Wenn es um die Akzeptanz der bestehenden kapitalistischen Industriemoderne geht, heißt es: „Die Menschen wollen das so.“ Wirklich? Man könnte auch sagen: Die Menschen werden über eine auskömmliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse hinaus so im Wachstums- und Konsumversprechen beruhigt, damit sie sich nicht der alltäglichen Entwürdigung durch die politischen und ökonomischen Eliten widersetzen. Den Postwachstumsdiskurs zu delegitimieren bedeutet auch, diese Fragen nicht stellen zu wollen. Eben jene nach Demokratie im emphatischen Sinne, nach gesellschaftlicher Gestaltung. Wie gesagt, ich leugne nicht die real existierenden positiven Erfahrungen eines Wirtschaftswachstums, das Erwerbsarbeit und Primäreinkommen, staatliche (Verteilungs-)Politik im Interesse breiter Bevölkerungsteile und soziale Sicherungssysteme garantiert. Ich gebe mich aber nicht damit zufrieden, dass das Bestehende den Horizont gesellschaftlicher Gestaltung vorgibt. Wohlstand und Wachstum Fünftens führen die meisten Pro-Wachstumsperspektiven eine Engführung mit sich, der man im Jahr 2012 kaum noch Glauben schenken mag. Nämlich nicht nur die sehr

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enge Kopplung von Wachstum und Wohlstand, sondern die Fokussierung von Wohlstand auf die formelle Marktökonomie plus den Staat. Dass individueller und gesellschaftlicher Wohlstand, wie insbesondere die feministische Debatte seit Jahrzehnten betont, ganz entscheidend an den nicht-marktvermittelten Tätigkeiten hängt, wird ausgeblendet, zum Beispiel die Sorge- und Pflegearbeit sowie die Freiwilligenarbeit.[7] Auch die vielen Elemente und „Dienstleistungen“ der Natur, die nicht zu kapitalistischen Waren gemacht werden, sind ganz entscheidend für die Reproduktion eben der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für menschliche Gesellschaften. Sechstens: Wir hatten in einer Projektgruppe der Enquete-Kommission heftige Debatten über eine Vorreiterrolle Deutschlands. Matthias Zimmer befürwortet eine solche Rolle: „In Deutschland ist das Know How konzentriert, um die Fortschritte in der Materialund Ressourceneffizienz möglich werden zu lassen. Die Möglichkeit, diese Technologien international zu vermarkten zieht automatisch Prozesse des Wachstums nach sich und hilft die Umweltbelastungen zu senken. Umgekehrt formuliert: In einer Postwachstumsgesellschaft wäre es erheblich schwieriger Beiträge zur Lösung internationaler Entwicklungsprobleme zu leisten. Können wir es uns aus einer wachstumskritischen Binnensicht leisten, sehenden Auges keinen Beitrag zur Lösung der Modernisierungsfolgen anderer Länder leisten zu wollen? Wäre dies nicht eine Verabschiedung aus einer globalen Verantwortung?“ Nein, das wäre es nicht. Eine Postwachstumsperspektive würde nämlich danach fragen, wie überhaupt die Zwänge der Weltmarktkonkurrenz, die ja vor allem Probleme erzeugen und nicht ins Paradies der globalen Verwendung deutscher Umwelttechnologien führt, eingedämmt oder aufgehoben werden können. Wenn wir eine solidarische, nachhaltige und dennoch produktive Ökonomie wollen, muss sie zuvorderst regionalisiert werden. Für die verbleibenden Produktionsprozesse und Produkte, für die eine internationale Arbeitsteilung sinnvoll ist, bedarf es einer starken Regulierung des Weltmarktes mit Planungselementen. Alles andere verlängert den aktuellen zerstörerischen Entwicklungspfad – ob mit grünen Elementen oder nicht. Matthias Zimmers Argumente ignorieren zudem eine Konstellation, auf die ein Mitglied der Enquete-Kommission, Norbert Reuter, nicht müde wird hinzuweisen: Nämlich auf den säkularen Trend abnehmender Wachstumsraten. Auf die damit einhergehenden Anforderungen an Umverteilung von Vermögen, Einkommen und Erwerbsarbeit, auf eine Umgestaltung der erwerbszentrieten sozialen Sicherungssysteme. Eine Fehleinschätzung des Kollegen Zimmer kommt immer wieder: BefürworterInnen einer Postwachstums-Perspektive wird unterstellt, dass sie da irgendwas gegen Mehrheiten steuern wollen. Nein, das wollen sie nicht!

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Postwachstum bedeutet zunächst, Wachstumszwänge als herrschaftliche (über Menschen und über Natur) zu begreifen und sich dann an die schwierige, konfliktreiche und mit Lernprozessen verbundene sozial-ökologische Transformation unserer Produktions- und Lebensweise zu machen. Daher halte ich die Perspektive der demokratischen Gestaltung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft für ganz zentral. Die kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten und Perspektiven der Postwachstums-Perspektive scheint mir richtig und wichtig. Doch man muss ihre Argumente auch differenziert wahrnehmen. Und die sind emanzipatorischer und herrschaftskritischer als Matthias Zimmer mit seinem Hieb auf die postmaterialistischen grünen Mittelschichten vermutet.

Ich danke Michael Popp für wertvolle Anmerkungen Literatur/Quellen: [1] Vgl. Überblicke in: Friedrich Hinterberger et al. (Hrsg.), Welches Wachstum ist nachhaltig?, Wien 2009; Reinhard Steurer, 2010. Die Wachstumskontroverse als Endlosschleife. Themen und Paradigmen im Überblick. Wirtschaftspolitische Blätter 4, 423-435; die internationale Debatte: Joan Martínez-Alier et al., 2010. Sustainable de-growth. Mapping the context, criticisms and future prospects of an emergent paradigm. Ecological Economics 69 (9), 1741-1747; van den Bergh, J., 2011. Environment versus growth – A criticism of “degrowth” and a plea for “a-growth”. Ecological Economics 70 (5), 881-890; Giorgos Kallis, In defence of degrowth, in: Ecological Economics 70 (5), 2011, 873-880. [2] Brand, Ulrich (2012): Die Wachstums-Enquete: Parlamentarische Sackgasse? In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Oktober, 18-21. [3] Biesecker, Adelheid/Wichterich, Christa/von Winterfeld, Uta (2012): Feministische Perspektiven zum Themenbereich Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, Hintergrundpapier für die Enquete-Kommission; Christa Wichterich, Kapitalismus mit Wärmedämmung. Feministische Kritik und Gegenentwürfe zur Green Economy, in: informationen für die frau 60, 2011, S. 5-7; Brand, Ulrich (2012): Wachstum und Herrschaft. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Nr. 27/28. 5. Juli, 612.

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[4] Altvater, Elmar (2011): Mit Green New Deal aus dem Wachstumsdilemma? In: Widerspruch 60, Juni; Brand, Ulrich (2012): After Sustainable Development: Green Economy as the Next Oxymoron? In: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 21(1): 28-32. [5] G. Kallis (2011): In defence of degrowth, in: Ecological Economics 70 (5), 878. [6] Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, München 2011, 54. [7] Biesecker, Adelheid/Wichterich, Christa/von Winterfeld, Uta (2012): Feministische Perspektiven zum Themenbereich Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, Hintergrundpapier für die Enquete-Kommission.

Autor: Prof. Dr. Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik an der Universität Wien, Sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" des Deutschen Bundestages

Der Preis des Geldes von Prof. Dr. Christina von Braun Historisch gab es immer drei Möglichkeiten, den Wert des Geldes zu beglaubigen – und alle drei standen am Ursprung des Geldes. Erstens wird Geld durch materielle Werte (Grund und Boden, Waren, Edelmetalle etc.) garantiert. Zweitens verleiht der Stempel des Souveräns einer Währung ihre Glaubwürdigkeit. Drittens gab es eine ‚theologische’ Beglaubigung, die aus dem antiken Opferkult stammt. Das germanische Wort ‚gelt’ heißt ursprünglich ‚Götteropfer’, und die erste Münze Griechenlands hieß ‚obolós’: Das bedeutet Bratenspieß und verwies auf das Werkzeug, mit dem verdiente Mitglieder der Gemeinschaft am Opfermahl teilnehmen durften. Vom Wort ‚obolós’ leitet sich der Obolus in der Kirche ab. Die ersten Münzen befanden sich in den Tempeln der Fruchtbarkeitsgöttinnen, wo diese Opferzeremonien durchgeführt wurden. Später wurde das Opfer durch eine Münze substituiert, auf die Opferwerkzeuge oder die Hörner des Stiers, dem höchsten Opfertier, geprägt wurden. Das Abbild genügte, um dem Geld seinen Wert zu verleihen: Es war im Tauschgeschäft mit den Göttern von diesen angenommen

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worden; darin bestand sein Wert, auch im zwischenmenschlichen Handel. Dass sich auch das moderne Geld auf diese Form der Beglaubigung beruft, zeigt nicht nur die Architektur großer Bankhäuser und Börsen, die oft der griechischer Tempel nachgebildet ist, sondern ist auch an den Geldzeichen zu erkennen: Laut Alfred Kallir sind die beiden Striche im Dollar, dem englischen Pfund (₤) und neuerdings auch dem Euro (€) Relikte der Stierhörner.[i] Die ersten beiden Formen der ‚Deckung’ büßten im Laufe der Geschichte immer mehr ihre Glaubwürdigkeit ein: Herrscher missbrauchten ihre Macht über die Emission des Geldes, um schlechtes Geld unter die Leute zu bringen und durch Inflationen die Staatskasse zu sanieren. Auch die materielle Beglaubigung verlor an Bedeutung: Je abstrakter das Geld wurde – von der Münze, über Wechsel, Papiergeld bis zum elektronischen Zeichen – desto weniger galt diese Form der Deckung. Das geschah endgültig mit der Ablösung vom Goldstandard, der letzten Anbindung an eine selbst nur noch symbolische ‚Materie’. Heute findet gerade mal ein Bruchteil des weltweit zirkulierenden Kapitals in Wirtschaftswerten seine Entsprechung. Umso nachdrücklicher wurde aber das Bedürfnis nach der theologischen Beglaubigung des Geldes, die nach einem Opfer verlangt. Bedenkt man nun, dass jede Opferhandlung – ob es sich um Tiere oder Früchte der Felder handelt – eigentlich den Opfernden selbst meint (ein Opfer hat nur Wert, wenn der Opfernde etwas von sich selbst damit gibt), so begreift man, warum immer mehr Menschen dran glauben müssen, damit wir alle ans Geld glauben können. Das Geld der Finanzbranche In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sind bei den Mitgliedern der Finanzbranche die höchsten Einkommenszuwächse zu verzeichnen, während der Lohn der untersten Einkommensschichten stagniert, zurückging oder Menschen wurden ganz auf die Straße gesetzt. Sehr oft steigt der Aktienwert eines international operierenden Unternehmens mit der Zahl der entlassenen Mitarbeiter. Das gilt nicht erst seit der Finanzkrise von 2008. Als die Deutsche Bank im Februar 2005, trotz Rekordergebnissen, die Streichung von 6400 Stellen verkündete, verteidigte Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt die Entscheidung mit dem Argument, dass die „ausreichende Gewinnerzielung“ eines Unternehmens Voraussetzung sei, „um der sozialen Verantwortung gerecht zu werden“.[ii] In Wirklichkeit waren es die Entlassenen, denen die ‚soziale Verantwortung’ aufgebürdet wurde: Sie hatten mit ihrer Existenz für den Wert des Geldes einzustehen. Auch bei Konkursen zahlen sie

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den Preis des Geldes. Beim Zusammenbruch von Enron lag die geschätzte Verschuldung bei 64 Milliarden Dollar. Es war das siebtgrößte Unternehmen der USA.[iii] Fünftausend Menschen verloren ihren Job, das Altersruhegeld von tausenden von Mitarbeitern löste sich in nichts auf. Kurz vor dem Konkurs hatte der Konzern seine eigenen Compliance-Regeln abgeschafft.[iv]Die Tatsache, dass die Aktien eines Unternehmens steigen, sobald es ihm gelingt, die Zahl der Arbeitnehmer zu reduzieren, wird zumeist mit der wirtschaftlichen Logik der Rationalisierung erklärt. In Wirklichkeit entspricht es der Logik des sakralen Opfers. Die Spaltung in zwei ‚Dienstleistungen’ ist der Grund dafür, dass die Schere zwischen Gutverdienenden und gering Entlohnten immer weiter auseinander geht. In den USA verdient heute ein Vorstandschef etwa das Vierhundertfache des normalen Durchschnitts-Arbeitnehmers, manchmal sogar mehr. Vor einigen Jahrzehnten lag das Niveau beim Vierzigfachen. Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Gründer der Bank Morgan Stanley, John Pierpoint Morgan, noch festgelegt, dass der Bestbezahlte seiner Firma nicht mehr als das Zwanzigfache des Geringstverdienenden erhalten durfte. Als John P. Morgan diese Regelung aufstellte, hing das Geld noch am Tropf des Goldstandards. Inzwischen wird es nur noch durch Menschenleben beglaubigt. Die Opfer und die Geldlosen Karl Marx dachte nicht in Kategorien des sakralen Opfers. Seine Industrieunternehmer brauchten die lebendigen Körper der ‚Geldlosen’: als Arbeitskraft zur Akkumulation des Kapitals.Im Finanzkapitalismus ist das anders. Der, der über Geld verfügt, bedarf des ‚Geldlosen’, damit das Kapital seinen Wert nicht verliert. In dieser Konstruktion liegt der entscheidende Unterschied zum Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts. Bei Karl Marx war die Wertsteigerung des Kapitals der Arbeit jener geschuldet, die am Gewinn nicht beteiligt wurden. Im Finanzkapitalismus geht es nicht um die Ausbeutung von Arbeitskraft, sondern um die Aussonderung von Menschen, die zu dem ‚Rohstoff’ gemacht werden, der den Werterhalt des Kapitals garantiert. War für Keynes die Verhinderung der Arbeitslosigkeit noch ein zentrales Anliegen, so bedarf der Finanzkapitalismus der Verwerfung von Menschen. Die auf die Finanzkrise von 2008 folgende Arbeitslosigkeit (sechs Millionen Arbeitslose allein in den USA) wurde als Konsequenz des deregulierten Marktes gesehen. Aber sie ist eher eine dem Finanzkapitalismus inhärente Notwendigkeit.

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Das immer ‚virtueller’ gewordene Geld (der größte Teil des heute umlaufenden Geldes ist reines Kreditgeld, also kaum mehr als ein Zeichen im Computer) verlangt nach immer ‚echteren’ Opfern: Menschen, die den symbolischen Tod zu erleiden haben.Ist es das, was der Vorstandsvorsitzende von Goldman-Sachs, Lloyd Blankenfein, meinte, als er verkündete, die Finanzinstitute „vollbringen nur das Werk Gottes“?[v] Chancen, Risiken und Nebenwirkungen des Geldes Das Geld schafft soziale Mobilität: von unten nach oben. Das Geld hat aus Randständigen Eliten gemacht, Leibeigene befreit und die unbeweglichen Klassenstrukturen des Feudalismus aufgebrochen. Aber es impliziert auch soziale Mobilität nach unten. Das galt schon für die Antike, wo es – noch unterhalb der Klasse der Sklaven – die total Verworfenen und Randständigen gab, die abjectissimi: Bettler, Witwen, Waisen, Kranke und Alte. Sie waren die ‚sozial Toten’. Heute, so hat Zygmunt Bauman in seinem Buch Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne an Beispielen wie dem Enron-Skandal gezeigt, vollziehen sich ähnliche Prozesse der ‚Verwerfung’. Doch im Finanzkapitalismus geht das schneller als zuvor, und dabei passiert es immer häufiger, dass Mensch von der einen Dienstleistung zur anderen wechseln: Aus Agenten werden Beglaubiger des Geldes. Nach der Lehman Pleite von 2008 wuchs bei vielen Gutverdienenden die Angst, auf die Seite der ‚Verlierer’ zu geraten. Auf die Folgen dieser Angst ging das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in einer Studie vom Juni 2010 ein. Laut DIW wuchs im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sowohl die Gruppe der Reichen als auch die der Armen – ein Phänomen, das sich auch in anderen Industrieländern und auf globaler Ebene im Verhältnis von reichen und armen Ländern beobachten lässt. Dazu schreiben die Experten: „Die Polarisierung der Einkommen kann die soziale Kohäsion gefährden, da die stabilisierende Wirkung einer breiten Mittelschicht nachlässt“ – mit der Folge einer „Statuspanik“, das heißt, der Tendenz, „eine andere Bevölkerungsgruppe für diesen Status-Verlust verantwortlich zu machen und so zur Ausbreitung von diskriminierenden Einstellungen (wie Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhass) beizutragen.“[vi]

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Abstieg und Tod Hinter der Furcht vor dem ‚Statusverlust’ steht der Horror, auf die andere Seite des sakralen Opferkults zu geraten. Der französische Schriftsteller Georges Bataille hat die Angst des Reichen vor der Armut als Angst vor dem Tod beschrieben. „Das Grauen, das die Reichen vor den Arbeitern empfinden, die Panik, die Kleinbürger bei der Vorstellung ergreift, in die Lage der Arbeiter zu geraten, beruhen darauf, dass die Armen in ihren Augen stärker als sie selbst unter der Peitsche des Todes stehen. Bisweilen mehr als der Tod selbst, sind diese trüben Spuren des Schmutzes, der Ohnmacht, des Verderbens, die auf ihn zugleiten, Gegenstand unseres Abscheus.“[vii] Das Geld, das einerseits dazu beitrug, Menschen aus der Leibeigenschaft zu befreien,[viii] hat andererseits auch eine Barriere errichtet, die der zwischen Leben und symbolischem Tod entspricht. Mit ökonomischer Rationalität ist der Unterschied zwischen Arm und Reich nicht zu erklären. Der Wirtschaftshistoriker Richard Wilkinson und die Epidemiologin Kate Pickett haben in ihrem Buch The Spirit Level: Why Greater Equality Makes Societies Stronger[ix] nachgewiesen, dass soziale Ungleichheit für die Wirtschaft unrentabel ist. Sie argumentieren, dass sie Kosten für psychische Erkrankungen, Schulversagen, Kindersterblichkeit, niedrige Lebenserwartung, und Kriminalität verursacht, die die Gesellschaft teuer zu stehen kommen. Soziale Ungerechtigkeit schade der Volkswirtschaft: nicht nur wegen der hohen Bewachungs- und Krankheitskosten, sondern auch wegen der niedrigen Produktivität. In Ländern mit geringeren Einkommensunterschieden ist sie höher als in denen mit großem Einkommensgefälle. Ähnlich argumentiert auch James K. Galbraith, der das University of Texas Inequality Project leitet, an dem neue Messwerte für ökonomische Prozesse entwickelt werden. Wenn man soziale Ungleichheit und wirtschaftliche Effizienz miteinander vergleicht, erkenne man schnell, dass Länder mit weniger Ungleichheit im Lohngefüge auch weniger Arbeitslosigkeit produzieren. Soziale Ungleichheit führe zu einer extremen Instabilität des Wirtschaftssystems. Galbraith schlägt vor, das untere Ende der Lohnskala anzuheben mit dem Ziel (und eben das ist bemerkenswert), die Effizienz der Wirtschaft zu stärken.[x] Von der Autorin ist zuletzt erschienen: Der Preis des Geldes: Eine Kulturgeschichte; Aufbau-Verlag 2012

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Literatur/Quellen:

[i] Alfred Kallir, Sign and Design: The Psychogenetic Sources of the Alphabet, London 1961, S. 243. (dt.: Sign and Design. Die psychogenetischen Quellen des Alphabets. Berlin 2002), S. 40. [ii] Spiegel-Online, 13. 2. 2005. [iii] Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, übers. aus d. Englischen v. Frank Jakubzik, Frankfurt/M. 2011, S. 101. [iv] Hans Leyendecker, Die große Gier. Korruption, Kartelle, Lustreisen: Warum unsere Wirtschaft eine neue Moral braucht, Berlin 2007, S. 252. [v] Im Interview mit John Arlidge in der Sunday Times of London, zit. n. New York Times, 11. 11. 2009. [vi] Jan Goebel/Martin Gornig/Hartmut Häußermann, Die Polarisierung der Einkommen. Die Mittelschicht verliert, in: Wochenbericht des DIW, Berlin Nr. 24, 2010. [vii] Georges Bataille, Michelet, in: Michelet, Die Hexe, mit Beiträgen von Roland Barthes und Georges Bataille, hg. v. Traugott König, München 1984, S. 258. [viii] Georg Simmel, Philosophie des Geldes, in: Gesammelte Werke, Berlin 1977, Bd.1, S. 375 ff. [ix] Deutsche Ausgabe: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin 2009. [x] James K. Galbraith, in: Wirtschaftsweise ratlos? Deutschlandfunk v. 27..11. 2011.

Autorin: Prof. Dr. Christina von Braun, Professorin für Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin

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Eine Analyse der europäischen Eisenbahnmärkte nach den Reformen von Lars Neumann In den 1990er Jahren haben die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten mit umfassenden Reformen ihrer nationalen Eisenbahnen begonnen. Ziel war es, die Attraktivität und wirtschaftliche Effizienz des Verkehrsträgers Schiene zu stärken und die öffentlichen Mittel für das System Schiene in finanzierbaren Grenzen zu halten. Der Steuerzahler sollte nachhaltig entlastet werden. Dazu wurden viele Eisenbahnen privatisiert und die Märkte für den Wettbewerb geöffnet. Das Beratungsunternehmen SCI Verkehr hat diese Entwicklung in einer Studie analysiert, auf der dieser Artikel beruht. Dabei wurden unterschiedliche Leistungsgrößen verglichen, die sich aus den Zielsetzungen der europäischen Bahnreformen ableiten. Das Ergebnis ist, dass die Entwicklung der europäischen Eisenbahnmärkte unwesentlich von Fragen wie der strukturellen Integration versus Trennung von Netz und Betrieb, sondern vielmehr von konkreten politischen Entscheidungen zur Stärkung der Eisenbahnen abhängig ist. Hier sind verkehrspolitische und finanzpolitische Entscheidungen zu Gunsten der Eisenbahnen, gerade zur Schieneninfrastrukturfinanzierung, sowie die wettbewerbspolitischen Entscheidungen zu Gunsten eines wirtschaftlich und qualitativ hochwertigen Angebots der Eisenbahnunternehmen wesentlich stärkere Einflussfaktoren.

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SCI Verkehr

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Die Entwicklung der europäischen Eisenbahnmärkte Im Schienenpersonenverkehr werden die höchsten, europäischen Verkehrsleistungen in Frankreich und in Deutschland erbracht. Der Personenverkehr in anderen europäischen Ländern liegt deutlich darunter. In den vergangenen Jahren konnten insbesondere Frankreich, Deutschland und das Vereinigte Königreich ein signifikantes Wachstum der Verkehrsleistung verzeichnen. Im Schienengüterverkehr ist Deutschland mit Abstand der größte Markt in Europa. Während die meisten Länder einen Zuwachs der Leistung im Schienengüterverkehr aufweisen konnten, befindet er sich in Frankreich und in der Tschechischen Republik auf einem Abwärtstrend. Die Schweiz weist traditionell einen hohen Anteil der Schiene am gesamten Verkehrsaufkommen auf. Sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr liegt sie weit vorne. Im Güterverkehr jedoch weist auch Österreich einen ähnlichen hohen Anteil der Schiene auf. Die Infrastruktur- und Fahrzeugkapazitäten haben zu diesen Entwicklungen beigetragen. Trotz eines starken Rückgangs der Schienennetzlänge verfügt Deutschland, gefolgt von Frankreich, über das längste Schienennetz in Europa. Die Netznutzungsintensität ist in der Schweiz vergleichsweise hoch. Die Analyse der Fahrzeuge für den Schienenpersonenverkehr zeigt, dass es in Deutschland zahlreiche Investitionen ermöglicht haben, annähernd 50 % der aktuellen Flotte neu zu beschaffen. Die Personenverkehrsflotte ist außerdem die jüngste Europas. Die Fahrzeuge für den Schienengüterverkehr haben insbesondere in Österreich ein geringes Durchschnittsalter. Die europäischen Länder weisen unterschiedliche Liberalisierungsgrade für den Wettbewerb auf. Trotz eines grundsätzlich harmonisierten Rechtsrahmens innerhalb der Europäischen Union im Hinblick auf die Marktöffnung für Personennah- und Regionalverkehre auf der Schiene existieren große Unterschiede zwischen den betrachteten Ländern. Das Vereinigte Königreich und Deutschland haben ihre Märkte vollständig für den Wettbewerb geöffnet. Der von der Europäischen Union eingeleitete Prozess zur Öffnung der Märkte setzt sich jedoch weiter fort. Im Schienenpersonenfernverkehr sind die Zugangsbedingungen je nach Land sehr unterschiedlich. Bei den betrachteten Ländern können zwei Gruppen identifiziert werden. In Deutschland, im Vereinigten Königreich, in Österreich und in der Tschechischen Republik besteht die Möglichkeit, eigenwirtschaftliche

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Schienenpersonenverkehre anzubieten. In diesen Ländern sind auch dritte Eisenbahnverkehrsunternehmen aktiv. In Frankreich und in der Schweiz hingegen ist die Erbringung von eigenwirtschaftlichen Leistungen durch dritte Eisenbahnverkehrsunternehmen nur eingeschränkt möglich. Der Markt für den Schienengüterverkehr ist in allen europäischen Ländern geöffnet. Dritte Eisenbahnverkehrsunternehmen dürfen Verkehre auf Open Access-Basis anbieten. Die Verkehrsunternehmen in den europäischen Eisenbahnmärkten Die französische SNCF und die Deutsche Bahn AG dominieren den europäischen Schienenpersonenverkehrsmarkt nach Umsätzen deutlich. Die Unternehmen in den weiteren Vergleichsländern folgen mit großem Abstand. Im Jahr 2011 verzeichneten die Deutsche Bahn AG und die Schweizer SBB die höchste Umsatzrendite. Dahinter folgen die First Group, die SNCF, die österreichische ÖBB und die tschechische ČD. Die DB Schenker Rail Deutschland ist der größte Schienengüterverkehrsbetreiber nach Umsatz in Europa. Dahinter folgen die RCA mit einem Umsatz, Fret SNCF, die SBB Cargo, die DB Schenker Rail UK und die ČD Cargo. Im Jahr 2011 verzeichnen die DB Schenker Rail UK, RCA und ČD Cargo eine positive Umsatzrendite, wobei alle untersuchten Unternehmen 2010 eine negative Umsatzrendite als Folge der Wirtschaftskrise aufwiesen. Die DB Schenker Rail Deutschland und die SBB Cargo weisen leicht negative Umsatzrenditen auf. Obwohl immer noch mit einem sehr schwachen Wirtschaftsergebnis hat sich Fret SNCF seit 2009 inzwischen wieder leicht erholt. Die öffentlichen Zuwendungen für die europäischen Eisenbahnmärkte In Deutschland und Frankreich sind die öffentlichen Gesamtzuwendungen für die Eisenbahnmärkte am höchsten. Im Vereinigten Königreich sind die öffentlichen Gesamtzuwendungen zwar niedriger, jedoch ist zu beachten, dass die öffentlichen Mittel für die Infrastruktur während ihrer ordnungspolitischen Trennung und Privatisierung in den Jahren 1994 bis 2002 (Railtrack) auf einem sehr niedrigen Niveau lagen. Nach ihrer Reorganisation und Überführung in öffentliches Eigentum (Network Rail) sind die öffentlichen Mittel sehr stark gestiegen. Nach einem sehr hohen Mittelzufluss bis etwa 2007 sanken diese inzwischen wieder auf das Niveau der Jahre 2002 bis 2005.

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Im Verhältnis zur Gesamtschienenverkehrsleistung sind die öffentlichen Gesamtzuwendungen in Deutschland, Österreich und Frankreich am niedrigsten. Deutlich höhere Mittelaufwendungen werden in der Schweiz und im Vereinigten Königreich getätigt. Fünf Thesen zum deutschen Eisenbahnmarkt SCI Verkehr hat vor dem Hintergrund der umrissenen Analyse fünf Thesen zum „Regulierungsbedarf im Bereich des Schienennetzes in Deutschland“ erarbeitet:

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1. Entwicklungspfade der Eisenbahnmärkte in Europa berücksichtigen Die europäischen Eisenbahnmärkte sind historisch gewachsene, sehr komplexe Systeme mit jeweiligen Ordnungsrahmen. Jede Leistungsanalyse der unterschiedlichen Ordnungsmodelle der Eisenbahnen in Europa muss diese Entwicklungspfade berücksichtigen und vor ihrem jeweiligen Hintergrund bewerten. 2. Das deutsche Eisenbahnsystem ist auch im Vergleich erfolgreich Die Leistungsanalyse kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich das Eisenbahnsystem in Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre – insbesondere bei wettbewerblichen, haushaltspolitischen und beschäftigungspolitischen Leistungsgrößen – erfolgreich entwickelt hat. Weitgehende Veränderungen des ordnungspolitischen Strukturmodells würden zu neuen Schnittstellen, erhöhtem Abstimmungsaufwand und damit auch zu einem deutlich erhöhten finanziellen Aufwand führen, welcher sich negativ auf die Leistungsbilanz des deutschen Eisenbahnmodells auswirken würde. 3. Die Stärkung der Eisenbahn im intermodalen Wettbewerb bleibt wesentliche Herausforderung Unter Berücksichtigung der verschiedenen Leistungsgrößen wird insbesondere im intermodalen Wettbewerb der Verkehrsträger ein wesentlicher Handlungsbedarf deutlich. Im europäischen Vergleich bewegt sich der Modal-Split-Anteil der Schiene in Deutschland nur im unteren, bzw. mittleren Niveau. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass die öffentlichen Finanzmittel für die Eisenbahnen im internationalen Vergleich sehr gering sind. Insofern bleibt die Stärkung der Schiene – insbesondere durch höhere finanzielle Beiträge für die Infrastruktur – eine wesentliche Herausforderung. 4. Systemführerschaft in einem integrierten Ordnungsmodell zur Optimierung des Verkehrsträgers Schiene nutzen Die Deutsche Bahn AG konnte ihre Vorteile als Systemführer zur Optimierung der Eisenbahn insbesondere im intermodalen Wettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern nutzen. In einem klar definierten Ordnungsrahmen wurden diese Systemvorteile auch an die Wettbewerber der DB Mobility AG auf den

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Verkehrsmärkten weitergegeben. Die gelebte Konkurrenz der Verkehrsunternehmen verstärkt die positive Entwicklung der Schiene im intermodalen Wettbewerb weiter. 5. Wesentliche Eckpfeiler des Ordnungsmodells für die Eisenbahnmärkte in Deutschland weiterentwickeln Um die zuvor beschriebene Dynamik zu ermöglichen ist der Erhalt der wesentlichen Eckpfeiler des Ordnungsmodells für die Eisenbahnmärkte in Deutschland eine Voraussetzung. Hierzu zählen u. a. klar abgegrenzte Verantwortungsbereiche der öffentlichen und privaten Akteure, den klar definierten Ordnungsrahmen und die Berücksichtigung des Zusammenhangs des Rad-Schiene-Systems. Weitere Informationen und die Studie findet man unter: www.sci.de

Autor: Lars Neumann, strategischer Berater der Bahn- und Logistikindustrie

Die Inflation der Wertediskurse von Dr. Kai Lindemann Das neoliberale Zeitalter begleitet ein merkwürdiges Phänomen: in diversen Institutionen und auf allen politischen Ebenen werden Wertediskurse ausgetragen. In großen Betrieben ist es en vogue Verhaltenskodizes für Manager und Angestellte zu erstellen. Nachhaltigkeitsmanagement und CSR – Standards werden seit Jahren massiv von Politik und Verbänden gefördert, denn „ethisches Handeln ist nicht nur ein Standortfaktor“, auch manch Ethik-Manager freut sich über „moralische“ Bürgerproteste, die seine Stellung legitimieren. Auch im internationalen Geschäftsverkehr blühen seit ungefähr zwanzig Jahren diverse Ethik-Standards und Integritäts-Modelle, die im Handel skandalträchtiges Verhalten minimieren sollen. Auch die Ebene der Nichtregierungsorganisationen ist von der Werteindustrie tangiert: ihr berühmtestes Beispiel mag wohl die NGO Transparency International sein, die sich seit ungefähr zwanzig Jahren der internationalen Korruptionsbekämpfung widmet. Sie propagiert Transparenz – das ist eigentlich mehr ein Zustand als ein Wert, trotzdem so wertvoll, dass selbst mit ihm auch neue Parteien punkten, wie die Piraten. Auch die Politik macht sich über Werte Gedanken, auffällig ist, dass gerade die Parteien an dem Thema interessiert sind, denen in den

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letzten beiden Jahrzehnten die klassischen Milieus weggebrochen sind. Seit Ausbruch der Krise und dem Versagen der Expertise unterstellt sich inzwischen auch die Wirtschaftswissenschaft diversen Ethikstandards und besetzt neuerdings auch Lehrstühle mit Ethikprofessoren. Selbst die kritischen Sozialwissenschaften haben sich dem Thema angenommen. Im Zuge der „Transformationsdiskussionen“ über ein neues Wirtschaften taucht der Wert des Glücks als Ersatz und Erweiterung von Wohlstandsindikatoren auf. Selbst Wachstum wird als Wert der westlichen Welt in den Blick genommen. In der Soziologie ist sogar die Rede von einem „Ethikkapitalismus“ (Dörre). Und zu guter letzt erleben wir in Deutschland eine Inflation der „Ethikkommissionen“, was zweifellos auch dem verschmähten Wort „Regulierung“ geschuldet ist. Es liegt bezüglich all dieser nationalen, als auch internationalen „Werte-„ Phänomene die Vermutung nahe, dass die neoliberale Gesellschaft, die sich gerade von der „Sittlichkeit“ im Sinne Hegels, also dem Staat verabschieden wollte, nun nach neuen mal mehr mal weniger unverbindlichen moralischen Regeln sucht. In dieser beinah doppelt säkularisierten Gesellschaft (erste Trennung von Staat und Religion, zweite „vermeintliche“ Trennung von Staat und Individuum) sollen Wertedebatten alte Grundwerte der politischen Gesellschaft ersetzen oder ergänzen. Diese Deutung ist nicht nur plausibel, sondern auch bezeichnend für ein quasi „metaphysisches Vakuum“, das sich auch in den medialen und politischen Nachbetrachtungen der Krise und ihrer Verursacher an allen Stellen zeigt. Denn wie soll ich eine Krise mit hohlen Metaphern erklären (z. B. Markt), deren vorbehaltloser Gebrauch wiederum eine Ursache der Krise war – da braucht es etwas Neues. Wozu braucht ein ideologiefreies Zeitalter eine Wertediskussion? Der Mauerfall brachte nicht nur ein ganzes Weltsystem zum Einsturz, er erodierte bekannte ideologische Muster auf allen Seiten. Es war nicht das Ende der Geschichte, aber es war das Ende einer Geschichte, wie man sie bis dahin kannte. Denn ohne diesen radikalen Bruch wäre zweifellos das hohle Gedankengebäude des Neoliberalismus nicht so vorbehaltlos in die Köpfe der Menschen gewandert. Diese neue Weltanschauung propagierte banale Regeln des Tauschs (Markt), der Leistung (Gewinner und Verlierer), des individuellen Glücks (Entsolidarisierung) und des persönlichen Erfolgs (überall Wettbewerb). Bis heute fühlen sich viele Menschen meist gehobener Milieus „unheimlich“ ideologiefrei. Der Individualismus verstärkte auch eine mediale Selbstgerechtigkeit, die kontroverse Standpunkte nivellierte und einen „Jargon der Eigentlichkeit“ – den landläufig bekannten Spruch „Aber ist doch so!“ wieder salonfähig machte. Kollektive Muster der Verantwortung und Solidarität wurden verschmäht und häufig sogar als freiheitsberaubend diffamiert. Damit ging ein Sieg des „Ich bin Ich“ einher, ein Selbstverständnis, das zweifellos die individuellen Schutzrechte der bürgerlichen Aufklärung stärkte, allerdings mit einer unangemessenen Überhöhung der „freien“ Person und damit einer Nivellierung

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kollektiver Werte der Aufklärung. Jede Ideologie besitzt diese erschreckende Totalität, die sich in späteren Zeiten oft mit dem Satz: „es war ja nicht alles schlecht an…“ begründet, denn dem Menschen fällt es schwer, sich von vormals fest geglaubten Gewissheiten zu verabschieden. Für ein langsames Hinterfragen dient nichts besser als eine Ethikdebatte, man kann von Defiziten ablenken, Werte neu erfinden ohne sich den vormals flapsig widerlegten gesellschaftlichen Grundnormen anzunehmen. Hauptsache neu. Jede Ideologie braucht einfache Formeln Neoliberaler Marktglaube trägt oft überaus naive Züge, zum Beispiel, dass mit der Zurückdrängung des Staates die Macht verschwinde und dadurch die persönliche Freiheit gesteigert werde. Ein weiterer Glaube war, dass die Prinzipien Markt und Wettbewerb ideologisch völlig homogen sind. Sie wurden als Schlagwörter weder differenziert, noch kategorisiert – das machten im Übrigen auch lange Zeit die Kritiker des Neoliberalismus. Ebenso naiv wurde von den neuen Marktgläubigen auch die staatliche Regulierung diskreditiert. Sie gilt per se als schlecht. Die Staatskritik reduzierte sich im Neoliberalismus auf die plumpe Forderung aus ihm ein Unternehmen machen zu wollen, womit die zweite Säkularisierung eingeläutet werden sollte. In diesem Weltbild ist staatliche Regulierung gleich Gängelung, alles soll privat werden. Ein Jahrhundert zuvor hatte man in den USA während der Debatten um das erste Anti-Trust-Gesetz fast genau diese Argumente gegen die Macht der Großkonzerne eingebracht. Wir erleben heute eine ideologisch verkehrte Welt. Heute haben viele Konzerne mehr Umsatz als der Etat mittlerer Staaten. Manche Konzerne unterscheiden sich in ihren Strukturen auch gar nicht allzu groß von staatlichen Verwaltungen, insbesondere von autoritären Staatsverwaltungen. Die größten „privaten“ Konzerne lassen sich auch gerne von autoritären Staaten aufkaufen, zumindest teilweise. Und die internationalen Konzerne profitieren heute am meisten vom neoliberalen Marktglauben, der neuen monotheistischen Herrschaftsideologie. So wie ein Prediger im Mittelalter stets seine Worte prüfen musste, ob nicht eine Reaktion aus dem christlichen Rom folgt, muss heute Wolfgang Schäuble jedes seiner Worte prüfen, ob sie nicht eine ungewollte Reaktion auf den DAX auslösen. Die naive Welt des Neoliberalismus ist nicht nur hohl, sie ist auch ungemein widersprüchlich. Aber an nichts besseren macht sich die naive Ideologie des Neoliberalismus fest, als an dem vermittelten Gesellschaftsbild, an der Versöhnung mit den „uralten“ Praxen des Kapitalismus. Das blasphemische Wort Sozialabbau impliziert die neoliberale Kampfansage, die Gesellschaft zu spalten in wiederum klassisch-kapitalistische Formen. Neoliberale Politik war und ist deshalb auch immer Klassenpolitik gewesen. Der marxistischen Klassenanalyse fehlte lange die realpolitische Plausibilität. In Zeiten, in denen ehemalige Mitarbeiter von Goldman & Sachs ohne demokratische

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Legitimation in Regierungen „eingeschleust“ werden, bekommen die steilen Stamokap-Thesen der orthodoxesten Marxisten eine neue Relevanz. Sowohl die „herrschende Klasse“, als auch die neuen Klassen des Prekariats werden deutlicher. Eine neue Armut hat sich festgesetzt und gleichzeitig agieren die reichen Gruppen immer unverschämter und diffamieren die Ansprüche der Mehrheit als Neid. Das ist eine primitive Wiederholung der Geschichte, ob als Farce – sei dahingestellt. Wertevakuum Ist nun die Durchsichtigkeit der neoliberalen Ideologie Beweis genug, dass unsere Gesellschaft in einem Wertevakuum steckt? Wofür braucht die Politik, die Gesellschaft überhaupt neue Werte? Fakt ist: so freie Märkte wie wir sie heute kennen, versauen das politische Spiel der gesellschaftlichen Versprechen, denn sie schließen aus und sind vor allem unberechenbar. Einst basierte das neoliberale Versprechen auf persönlichen Erfolg außerhalb der „alten“ Institutionen. Der Selbstverwirklichungsglaube stellte individuelle Handlungsbezüge als Freiheitsversprechen radikal in den Mittelpunkt, so dass kollektive Bezüge auf Gruppen, die Gesellschaft und allgemeine gesetzliche Verbindlichkeiten, per se verschmäht wurden. Heute sehen sich viele Individualisten auch Jahre nach dem Studienabschluss noch auf Studentenjob-Niveau. Irgendwann werden auch sie widerspenstig, wenn ihnen die Hoffnung auf Aufstieg und Partizipation am gesellschaftlichen Reichtum und Fortschritt weiterhin verwehrt bleibt. Die neoliberale Ideologie hat ihre Versprechen nur gegenüber einer kleinen Minderheit eingelöst – das wird sie nicht lange tragen. Schon nach den Krisen setzte ein ansatzweises Umdenken ein. Es ist nun eine Herausforderung, um genau das zu identifizieren, was in den Köpfen an neoliberaler Ideologie übrigblieb: nach den Krisen, nach Unmengen von Büchern über „Banken intern“, nach schamlosen Reichtum neben verhinderbarer Armut und nach einer großflächigen Entrechtung der Arbeit. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass auch die Politik ihren Wertebedarf erkennt, um mit neuen Versprechen Hoffnung zu machen auf ein besseres Leben. Ob diese Versprechen eine Verbindlichkeit besitzen, das bleibt gegenwärtig noch offen. Kontinuität und Wandel Die Ideologiekritik am Neoliberalismus hat noch viele Hausaufgaben zu erledigen. Werte sind auch ihr Beipackzettel. Sie kann schnell „nörgelig“ unattraktiv werden, wenn sie nicht ihre eigenen Maßstäbe benennt. Im 20. Jahrhundert hätte man diese vermeintlich sinnentleerte Situation so gedeutet, dass der Gesellschaft oder den sozialen Gruppen das „politische Projekt“ fehle. Die gab es vor dem Mauerfall, ob sozialistisch, konservativ oder im Sinne des noch heute bemühten Projektbegriffs der sozialen Marktwirtschaft. Alle haben noch ihre gewisse Geltung, doch keines reicht

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auch nur annähernd für ein „politisches Projekt“ der Gegenwart. Politische Projekte durchzogen das 20.Jahrhundert, aber in dieser Pointierung auch nur das. Es stellt sich die Frage, ob der Wertediskurs in Wirtschaft und Politik als Zeichen dieses Mangels an politischen Projekten zu deuten ist. Brauchen wir deshalb heute noch ein politisches Projekt? Zeigt der Kapitalismus auch heute noch seine ursprüngliche Fratze, oder sind die klassenpolitischen Offensiven nur eine kurze Gelegenheit gewesen, die wahrgenommen wurde? Auch von sozialen Bewegungen werden heute nur nachvollziehbare Ansprüche artikuliert und „größere Würfe“ (politische Projekte) werden meistens vermieden. Der Wertediskurs zeigt eigentlich nur eins: die Weltgesellschaft ist im Wandel und niemand kann bislang sagen, was sich wandelt, was bleibt und was wiederkommt.Zum Beispiel erleben wir gegenwärtig, dass kollektive Werte, wie Gerechtigkeitsansprüche und solidarische Muster, wieder häufiger artikuliert werden, aber nicht in alter tradierter Weise. Dennoch…ist Old School besser als garnichts! Auch wenn ein politisches Projekt den Mief des 20. Jahrhunderts suggeriert, so ist es nicht ganz falsch. Nur muss es sich den heutigen sozialen Realitäten stärker widmen, es darf nicht mehr als homogenes fertig geschriebenes Gesellschaftsmodell daher kommen. Es muss fragen und zur Mitgestaltung animieren. Auch wenn Kampagnen wie die der Gewerkschaften „Wie willst du leben?“ recht banal daher kommen, so sind sie doch stärker am Nabel der Zeit, als die verschreibungspflichtigen Rezepte vergangener Zeiten. Ein Projekt, das verbindliche, gesellschaftliche Werte stark macht, muss ein offener Prozess sein. Die gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit fehlt vielen der heutigen Wertediskurse. Es wird Zeit, aus den vieldiskutierten Werten wieder eine politische Realität zu gestalten, und das geht nur, wenn man sich auch den neoliberal geschaffenen Machtverhältnissen konsequent annimmt. Denn ein „richtiges Leben“ mit guten Werten führt nur über eine „richtige Politik“: „Kurz, also was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre.“ (T.W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt 2010, Seite 262) Autor: Dr. Kai Lindemann, geboren 1968 in Bremen, Verantwortlicher Redakteur des Debattenmagazins GEGENBLENDE,

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Arbeitspolitik in Russland von Anna Wolanska «Menschenwürdige Arbeit» und der Fall Valentin Urusow: ein Glaubwürdigkeitstest Wie alle Politik ist Arbeitspolitik in Russland von Widersprüchen geprägt. Einerseits besuchte der damalige Premierminister und heutige Präsident Vladimir Putin 2011 die Internationale Arbeitskonferenz und nahm im darauffolgenden Jahr an der 1. Mai-Demonstration der russischen Gewerkschaften teil. Dabei stellte er sich als Befürworter progressiver Arbeitsgesetzgebung und der Prinzipien des Sozialdialogs dar. Tatsächlich gibt es ein eingespieltes tripartistisches System in Russland: keine soziale Frage wird entschieden, ohne dass sie vorher in der Ständigen Trilateralen Kommission verhandelt wird. Um die weitere Entwicklung des Tripartismus und sozial verantwortliche Maßnahmen hinsichtlich der Herausforderungen der globalen Wirtschaftskrise zu diskutieren, veranstaltet die russische Regierung am 11. und 12. Dezember eine internationale Konferenz zu Menschenwürdiger Arbeit. Es werden um die 800 Delegierte erwartet, darunter Premierminister, Mitglieder von Regierungen sowie Vertreter von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften aus 80 Ländern. Bei einem gemeinsamen Briefing während der letzten Sitzung des Verwaltungsrates der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) im November 2012 mit Guy Ryder, dem Generaldirektor der IAO, lud die stellvertretende Ministerin für Arbeit und Soziales der Russischen Föderation, Ljubow Jelzowa, alle Mitgliedstaaten der IAO zur Teilnahme an der Konferenz ein. Sie betonte, Russland messe der Zusammenarbeit bei der Entwicklung internationaler Arbeits- und Sozialstandards, dem Schutz von Individual- und Kollektivarbeitsrechten und den Interessen der Arbeiter große Bedeutung bei. Sie erklärte: „Das Konzept der menschenwürdigen Arbeit ermöglicht die Suche von Lösungen für zentrale Herausforderungen vor denen die Internationale Gemeinschaft steht, wie etwa die Schaffung neuer Arbeitsplätze, die Reduzierung von Armut, soziale Stabilität, und eine Globalisierung auf Grundlage gerechter Verhältnisse.“ An dem Tag als die Vizeministerin ihre Verbundenheit mit Prinzipien und Idealen sozialer Gerechtigkeit erklärte, veröffentlichte der Ausschuss für Vereinigungsfreiheit der IAO einen Bericht zu einer Beschwerde russischer und internationaler Gewerkschaftsorganisationen. Die Beschwerde war bei der IAO 2011 eingereicht worden und weist Fakten auf, die vom offiziellen Bild abweichen: ständig wachsender Druck auf Gewerkschaftsaktivisten, Verfolgungen, Androhungen körperlicher Gewalt, repressive Urteile örtlicher Gerichte gegen Gewerkschafter, Verbot von

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Gewerkschaftsflugblättern und Bildungsmaterial für Beschäftigte. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund der Zerstörung der Sozialsysteme in einem Land mit einem für einen entwickelten europäischen Staat beschämend niedrigen Lohnniveau ab. Die Geschichte von Valentin Urusow Die Beschwerde bei der IAO enthielt neben anderen Fällen die Geschichte des unabhängigen Gewerkschaftsaktivisten Valentin Urusow (geb. 1974), für dessen Freilassung sich Gewerkschaften in Russland und der ganzen Welt seit Jahren einsetzen. Seine Geschichte ist nicht nur ein Beispiel für Standhaftigkeit und Selbstaufopferung, sondern auch eine deutliche Illustration der wahren Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital im heutigen Russland, in dem große Arbeitgeber zusammen mit korrupten Staatsbediensteten zielgerichtet und methodisch die Triebe einer neuen Gewerkschaftsbewegung zerstören, während der Kreml über Sozialpartnerschaft spricht. Valentin Urusow arbeitete als Elektroschlosser in einem Bergbau-Kombinat des Diamantenförderers ALROSA in der Stadt Udatschny in der Republik Sakha (Jakutien). Als intelligente und überzeugende Führungsfigur wurde er zum Vorsitzenden der dort entstehenden Gewerkschaftsorganisation „Profsvoboda“ (Gewerkschaftliche Freiheit) gewählt und war eine Schlüsselfigur bei Aktionen der Beschäftigten. Die Profsvoboda wurde im Juni 2008 in Udatschny gegründet. Mitte August desselben Jahres kündigten die Beschäftigten einer der Reparaturwerkstätten eines ALROSA-Unternehmens aus Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und den niedrigen Löhnen einen Hungerstreik an. Die Aktion wurde bei der Betriebsverwaltung angemeldet. Um den Konflikt beizulegen, ernannte der Direktor des Betriebs eine Vermittlungskommission. Die Profsvoboda sollte an deren Arbeit als Vertreterin der Beschäftigten teilnehmen und beendete daraufhin Streikplanungen am darauffolgenden Tag. Anstatt jedoch - wie zugesagt - ernsthafte Verhandlungen zu führen, begann ALROSA eine Repressionskampagne gegen die Gewerkschafter. Als Reaktion begannen die Beschäftigten mit der Vorbereitung einer Protestkundgebung. Am 3. September 2008 wurde Valentin Urusov wegen „Verdachts des Drogenbesitzes“ festgenommen. Eine Festnahme, die zeitnah mit der Vorbereitung der großen Protestaktion der ALROSA-Arbeiter zusammenfiel, an der Urusow aktiv beteiligt war. Ebenso „zufällig“ war der stellvertretende Direktor für ökonomische Sicherheit des Betriebs als offizieller Zeuge anwesend, als die Drogen bei Urusow „gefunden wurden“. Die Anwesenheit solcher Zeugen ist nach russischem Gesetz eine notwendige Formalität bei polizeilichen Durchsuchungen. In einer Erklärung, die seiner Anwältin vorliegt, beschreibt Urusow seine Verhaftung als Entführung unter Schlägen und Drohungen. Die Beamten, die ihn festnahmen, hätten ihn unter Morddrohungen gezwungen eine Erklärung zu unterschreiben, in der er zugibt, dass das ihm untergeschobene Päckchen mit Drogen tatsächlich ihm

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gehöre. Für den Fall, dass er sich weigere, drohten sie ihn umzubringen. Außerdem verlangten die Beamten, Urusow solle zugeben, das Paket von seinem stellvertretenden Gewerkschaftsvorsitzenden erhalten zu haben. Auf diese Weise sollte die Gewerkschaftsführung vollständig zerschlagen werden. Urusow weigerte sich jedoch, seinen Genossen zu belasten. „Die Anklage gegen Urusow stützt sich auf die Aussagen von Mitarbeitern der staatlichen Stellen sowie von befangenen Zeugen“, so Urusows Anwalt. „Die Unterschrift unter das Durchsuchungsprotokoll mit der Beschlagnahme des Pakets mit Betäubungsmitteln wurde durch Erniedrigung und Drohung erzwungen. Urusow wurde in den Wald gefahren, es wurde dicht an seinem Kopf vorbei geschossen, er wurde mit einem Schlagstock geschlagen und aufgefordert, sich auf seinen Tod vorzubereiten.“ Am 26. Dezember 2008 verurteilte das Bezirksgericht Mirninskij der Stadt Udatschny Valentin Urusow zu sechs Jahren Gefängnis. Am 12. Mai 2009 hob das Oberste Gericht der Republik Sakha das Urteil auf und Urusow wurde noch im Gerichtssaal entlassen. Dabei bürgten für ihn die bekannten Menschenrechtler Ludmilla Aleksejeva und Lew Ponomarjow aus der Moskauer Helsinki-Gruppe. Bei der Wiederverhandlung am 26. Juni 2009 verurteilte das Bezirksgericht Mirninskij Urusow erneut zu einer Haftstrafe, wobei es das Urteil lediglich um ein Jahr minderte. Im Mai 2010 wurde der Miliz-Offizier Sergei Rudow, der Urusows Verhaftung geleitet hatte, selbst wegen Urkundenfälschung im Dienst und Kompetenzüberschreitung festgenommen. Ihm wurde vorgeworfen von ALROSA 2,5 Millionen Rubel (80.000 US Dollar) kurz nach Urusows Verhaftung erhalten zu haben. Angesichts dieser Tatsachen sind russische und internationale Menschenrechtsorganisationen überzeugt, dass der Fall Urusow von seinem Arbeitgeber, dem ALROSA Konzern, eingefädelt wurde. Gewerkschaften starteten eine Solidaritätskampagne für Urusow. Öffentliche Proteste und andere Aktionen finden nicht nur in Russland, sondern weltweit statt. Dutzende europäische Intellektuelle, Personen des öffentlichen Lebens sowie der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) unterzeichneten einen Aufruf zur Freilassung Urusows, während das Internet-Portal LabourStart eine weitere Email-Solidaritätskampagne durchführte. Der Bericht des IAO- Ausschusses für Vereinigungsfreiheit zweifelt das Urteil gegen Urusow ebenfalls an und fordert die russische Regierung auf zu erläutern, ob im Verlauf der Ermittlungen und des Gerichtsverfahrens die Fakten, die auf eine Verfolgung Valentin Urusows wegen seiner gewerkschaftlichen Tätigkeit hinweisen, gewürdigt und analysiert worden seien. Außerdem wird die Regierung gebeten, eine erneute Untersuchung einzuleiten und Maßnahmen zur schnellstmöglichen Freilassung des Gewerkschaftsführers zu ergreifen. In seinen Schlussfolgerungen erwähnt der Ausschuss auch die Aufnahme von Gewerkschaftsflugblättern in die

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Liste „extremistischer Materialien“. Nach Meinung des Ausschusses beschränkt die Aufnahme gewerkschaftlicher Publikationen in eine solche Liste die Meinungsfreiheit der Gewerkschaften erheblich. Es wird betont, dass dies eine nicht hinnehmbare Einschränkung gewerkschaftlicher Tätigkeiten und ein klarer Verstoß gegen die Vereinigungsfreiheit darstellen. Der Ausschuss erinnert daran, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung, einschließlich der Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung ein demokratisches Grundrecht ist. Tatsächlich enthielten die fraglichen Flugblätter lediglich Informationen über Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung sowie über Gefahren, die von der Ausbreitung der Leiharbeit und anderer prekärer Beschäftigungsformen ausgehen. Derartige Veröffentlichungen als „extremistisch“ einzustufen, stelle einen eindeutigen Versuch dar, gewerkschaftliche Tätigkeiten zu kriminalisieren. Der IAO-Ausschuss zur Vereinigungsfreiheit empfiehlt der russischen Regierung alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen Flugblätter der Gewerkschaften umgehend aus der Liste der extremistischen Materialien zu streichen. Ferner möge die Regierung Sorge tragen, dass sich eine solche Situation nicht wiederhole. Ungeachtet der Tatsache, dass die Meinung des Ausschusses nur empfehlenden Charakter hat, sollte sich die russische Regierung das Statement zu Gemüte führen. Erstens hat der Ausschuss wiederholt seine Unparteilichkeit bei Fragen der Vereinigungsfreiheit bewiesen. Zweitens würden die Freilassung Valentin Urusows und die Erfüllung der anderen IAOEmpfehlungen einen überzeugenden Beweis dafür darstellen, dass „menschenwürdige Arbeit“ tatsächlich zu den Prioritäten der russischen Regierung gehört. Ein solches Handeln würde beweisen, dass die eloquenten Erklärungen zur Unterstützung der Sozialpartnerschaft nicht nur eine Schutzbehauptung sind, hinter der sich die Missachtung der Vereinigungsfreiheit verbirgt.

Dieser Beitrag ist zuvor in der Global Labor Column erschienen. Er wird hier erstmals auf Deutsch publiziert.

Autorin: Anna Wolanska, Internationale Sekretärin der NSZZ Solidarnosc aus Polen und Mitglied des Verwaltungsrates der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO).

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Wer will schon eine „Quotilde“ sein? von Prof. Dr. Hildegard-Maria Nickel Für und Wider Frauenquote „Geschafft“? Frauenquote für Aufsichtsräte Viviane Reding, EU-Justizkommissarin und zuständig für Gleichstellungsfragen in der EU, hat der EU-Kommission in einem zweiten Anlauf – der erste war im Oktober gescheitert, weil die Kritik in Reihen der EU-Kommission selbst zu stark war – einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, dass bis zum Jahre 2020 die Aufsichtsräte von börsennotierten Unternehmen zu 40 Prozent mit Frauen besetzt werden. Ob der Vorschlag Gesetzeskraft erhält, ist allerdings noch offen. Denn die Frauenquote ist höchst umstritten, sowohl im Europaparlament, das den Vorschlag erst noch beraten muss, wie in den Mitgliedsstaaten, die ihn umsetzen müssten. Dennoch wird dieser Vorstoß von QuotenbefürworterInnen als Erfolg gefeiert, denn er bedeutet Rückenwind für all jene, die sich mit den vagen Gleichstellungsversprechungen der Wirtschaft nicht mehr zufrieden geben wollen. Und das sind auch in Deutschland viele Leute. Dazu zählt nicht die deutsche Frauenministerin Schröder, die auf Freiwilligkeit setzt und an der „Flexiquote“ festhalten will. Dazu zählt auch nicht die Bundeskanzlerin, die – ganz einig mit der FDP – eine europäische Vorgabe für eine Frauenquote strikt ablehnt. Aber dazu zählen – neben der Opposition – die Arbeitsministerin Ursula von der Leyen und die Frauen Union. Die BefürworterInnen der Frauenquote lassen sich längst nicht mehr nach Parteizugehörigkeit sortieren, wie der Quotenstreit in der Koalition zeigt. Eine Forsa-Umfrage hat herausgefunden, dass auch die Mehrzahl der Deutschen für eine staatlich vorgegebene Quote ist, weil sie den Unternehmen keine angemessene Frauenförderung zutraut. Ein Drittel der Befragten befürwortete sogar eine Quote von mindestens 50 Prozent. Bemerkenswert sind die Gründe, die die Befragten für den Männerüberschuss in den Top-Etagen nannten: 71 Prozent der Befragten sahen Gründe in der männlich dominierten Unternehmenskultur, zwei Drittel in den betrieblichen Rahmenbedingungen, beispielsweise für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, nur ein Drittel der Befragten nannte als Grund „weibliche Zurückhaltung“ (Böckler Impuls 3/2011). Das norwegische Beispiel Norwegen hat 2003 als erstes Land der Welt eine Geschlechterquote von 40 Prozent für Aufsichtsräte eingeführt. Auch hier hat es eine langwierige und scharfe Debatte zwischen BefürworterInnen und GegnerInnen der Quote gegeben. Die Pro und Contra Argumente glichen denen, die hierzulande den Streit bestimmen. Im Kern

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waren es drei Argumentationslinien: Gerechtigkeit, Fähigkeiten, Demokratie (Storvik/Teigen 2010). BefürworterInnen der Quote hielten das Gleichgewicht der Geschlechter in allen Bereichen nicht nur für ein formales Gerechtigkeitsprinzip, sondern für eine Frage der gleichen Ressourcenverteilung. GegnerInnen der Quote argumentierten auf der Basis des Gerechtigkeitsprinzips konträr: „Die Quotenregulierung wurde als unrechtmäßige Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Männern bezeichnet“ (Storvik/Teigen 2010: 7). Gleichermaßen konträr ist das Fähigkeitsargument benutzt worden. Betonten die BefürworterInnen mit Blick auf das Humankapital, dass das gesamte Talentpotential einer Bevölkerung sich ziemlich gleichmäßig auf Männer und Frauen verteile und die extreme Vorherrschaft von Männern in Spitzenpositionen mit einer mangelnden Ausschöpfung der Fähigkeiten von hochqualifizierten Frauen einhergehe. Das Gegnerargument lautete, die Quotenregulierung führe dazu, dass kompetentere Männer durch weniger kompetente Frauen ersetzt würden. Das Demokratieargument diente den BefürworterInnen der Quote zur Legitimierung ihres Vorgehens: Gleichberechtigte Teilhabe beider Geschlechter an den wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen sei Ausdruck moderner Demokratie. Während das zentrale Gegenargument seitens der Unternehmen war, dass die demokratischen Rechte der Anteilseigner durch die Quotenregulierung gefährdet seien. Ein Spiegel Online Artikel von Klaus Werle (13. Nov. 2012) zeigt, dass die hiesigen Argumentationslinien „Für und wider Quote“ stark den genannten Gründen aus Norwegen gleichen. Auf die Formel „Jetzt wird zurück diskriminiert“ (Werle) ist anscheinend die Angst vieler männlicher Manager zu bringen, die angeblich die Erfahrung machen, dass „das YChromosom in den Chefetagen nicht mehr en vogue sei.“ (Werle, Spiegel Online) Ohne Quote geht es nicht! Gerade das macht der männliche Alarmismus sichtbar. Ohne Frauenquote ändert sich nichts bzw. zu wenig. Männer fürchten um ihre Karrieren, wenn auch Frauen stärker zum Zuge kommen. Insofern ist nicht überraschend, dass männliche Freiwilligkeit in diesem Punkte ihre Grenzen hat. Stagnation: Männerquote in Spitzengremien Der Führungskräfte-Monitor (DIW), der Managerinnen-Barometer (DIW) und der Datenreport der Hans-Böckler-Stiftung zeigen: Die Zahl der Frauen in Leitungsfunktionen erhöht sich nur langsam. Trotz der Selbstverpflichtung der deutschen Privatwirtschaft für eine Gleichstellung der Geschlechter aus dem Jahre 2001 sind in den Top-Positionen Männer immer noch weitgehend unter sich. „Männliche Monokultur“ nennt Elke Holst vom DIW die Situation in den Spitzengremien (Vorstände, Aufsichtsräte) großer Unternehmen: Nur 3,1% der Vorstände sind weiblich, in den Aktiengesellschaften der wichtigsten deutschen Börsenindizes sind 10% der Aufsichtsräte weiblich. Ohne die Unternehmensmitbestimmung wären das noch weniger, die Arbeitnehmerbank besetzen zu fast einem Fünftel Frauen (Böckler Impuls 4/2011).

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Die Frauenquote ist ein Türöffner, aber nicht die Lösung des Problems Das Beispiel Norwegen zeigt, die sanktionsbewehrte gesetzliche Quote bewegt etwas, auch wenn nicht alle Probleme damit gelöst sind. Die Frauenquote ist eine notwendige Krücke. Aber sie bedeutet nicht, dass damit schon Geschlechtergerechtigkeit erreicht wäre - auch das zeigt das Beispiel Norwegen. Das Ergebnis einer 2009 durchgeführten Studie lautet: „die Vorherrschaft der Männer ungebrochen“. Von den Geschäftsführern sind noch immer weniger als zwei Prozent Frauen und insgesamt sei es noch zu früh, um festzustellen, ob die Quotenreform zu einer Erhöhung des Frauenanteils bei den Spitzenpositionen in der norwegischen Wirtschaft führen wird. (Storvik/Teigen 2010:12) Die Hartleibigkeit männlicher Unternehmenskultur zeigt sich auch in Folgendem: Frauen, die es – auch hierzulande – in Spitzenpositionen geschafft haben, verdienen deutlich weniger als Männer – im Schnitt knapp 22 Prozent. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass Frauen, selbst wenn sie in die Vorstände aufsteigen, eher für die „weichen“ Felder zuständig sind: Personal, Recht, Marketing. Wollen Frauen in die Top-Positionen? Diskutiere ich mit Studierenden die Quote, stoße ich auf Ablehnung: „Wer will schon eine Quotilde sein?“ Die Quotendebatte geht am Lebensgefühl vieler, nicht nur junger Frauen vorbei. Mindestlöhne, existenzsichernde Arbeit, Betreuungsinfrastruktur – das sind die Themen, die die Mehrheit bewegt. Die Quotendebatte sei ein Eliteproblem, eine Debatte der gut verdienenden, hochqualifizierten Schichten. Die gesellschaftspolitische Dimension und Relevanz von Geschlechtergerechtigkeit werde damit eher verdeckt und auf einen Teilaspekt reduziert. Auch in den Unternehmen, in denen ich seit vielen Jahren forsche, reagieren Frauen, auch jene, die zu den „Potentialträgerinnen“ zählen und Führungspositionen inne haben, verhalten auf die Quotendebatte (Nickel 2009). Das liegt weniger daran, dass sie sich den Aufstieg in höchste Positionen nicht zutrauen, sondern an der männlichen Kultur, die hier immer noch herrscht: Einzelkämpfertum statt Teamarbeit; hohe zeitliche Präsenz und Verfügbarkeit, die ein Leben außerhalb des Jobs kaum zulassen. Wenn also die vielen qualifizierten Frauen, die in der „Pipeline“ stehen und für Spitzenpositionen in Frage kommen, tatsächlich auch Wollen-sollen, müsste sich an der Führungs- und Unternehmenskultur vieles ändern. Die Quote könnte dabei helfen. Frauen sind eine gesellschaftspolitische Kraft, die einen „stetigen Druck auf die Trägheit der bisherigen Eliten und institutionellen Formen“ (Vester/Gardemin 2001: 483) ausübt. Gleichwohl darf nicht erwartet werden, dass sie die Heilerinnen eines wirtschaftlichen Systems sind, das auch wegen seiner Missachtung von Bedürfnissen, die Menschen jenseits des Erwerbs haben, zunehmend auch an seine Grenzen stößt.

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Vor diesem Hintergrund könnten sich durchaus auch neue interessenpolitische Konstellationen Geltung verschaffen, die eine andere, nicht-monokulturelle Führungs- und Unternehmenskultur denkbar machen. Auch männliche Führungskräfte der jüngeren Generation scheinen zunehmend zu erkennen, dass es neben dem Top-Job noch ein Leben gibt, das ihnen wichtig ist und für das sie Zeit haben wollen. So gesehen, könnten die mit Hilfe der Quote angeschobenen Veränderungen an der Spitze von Unternehmen dazu beitragen, dass sich die Arbeitskultur insgesamt verändert. Bedürfnisse, die vor allem Frauen repräsentieren und ihnen zugeschrieben werden, könnten als allgemeinmenschliche erkannt werden und den Respekt erfahren, der ihnen zukommen muss, wenn die Zukunft nicht nur geschlechtergerechter, sondern lebbarer werden soll.

Literatur/Quellen: Böckler Impuls 3/2011. Böckler Impuls 4/2011. Nickel, Hildegard Maria (2009): Führung und Macht in Unternehmen. In: Martina Löw (Hg.): Geschlecht und Macht, VS Verlag für Sozialwissenschaften. Storvik, Aagoth/Teigen, Mari (2010): Das norwegische Experiment, Friedrich-EbertStiftung. Vester, Michael/Gardemin, Daniel (2001): Milieu, Klasse Geschlecht. In: Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41/2009. Werle, Klaus: Spiegel Online, 13. November 2012.

Autorin: Prof. Dr. Hildegard-Maria Nickel, geboren 1948, Professorin für Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin

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Das deutsche Rentensystem im internationalen Vergleich von Georges Hallermayer Auf Platz 12 von 18! Hat die PISA-Studie der OECD, die die Schülerleistungen von 15jährigen im internationalen Vergleich maßen und bewerteten, in Deutschland im Jahre 2000 einen Schock bewirkt, der das morsche dreigliedrige Schulsystem in Deutschland an den Reformpranger stellte, könnte die internationale Studie "MELBOURNE MERCER GLOBAL PENSION INDEX 2012“ (1), die jetzt im vierten Jahr erscheint, einen ähnlichen Reformschub bewirken. Schließlich spiegelt diese internationale Studie ein für das deutsche Rentensystem peinliches Ergebnis. Die Rentenreform-Debatte ist in Deutschland bereits eröffnet, was aber die deutschen Mainstream-Medien nicht daran hinderte, diese internationale Studie vornehm zu übersehen. Offensichtlich kommt sie ungelegen - man fragt sich, warum wohl. Eine Sättigung, was internationale Vergleichsstudien anbelangt, kann es nicht sein, steht doch die OECD-Studie PIAAC (2) nächstes Jahr vor der Veröffentlichung, in der das Lebenslange Lernen in Deutschland mit den OECD-Staaten verglichen wird (3). Die Tatsache, dass ein international tätiges privates ConsultingUnternehmen wie MERCER diese Studie publizierte, kann es auch nicht sein, wurde doch der MERCER GLOBAL PENSION INDEX 2012 von wissenschaftlich renommierten Partnern mitverfasst wie das "Australien Centre for Financial Studies" (ACFS), ein Non-Profit-Consortium der Monash University, eine unter den acht angesehensten Universitäten Australiens, und mit der RMIT University (dem Royal Melbourne Institute of Technology) und der FINSIA (Financial Services Institute of Australia). Die Kriterien der MERCER-Studie Im MERCER GLOBAL PENSION INDEX 2012 wurde die Altersversorgung im Hinblick auf ihre Angemessenheit (40 %), Nachhaltigkeit (35 %) und Integrität (25 %) untersucht und bewertet. Dabei wurden nicht nur die staatlichen Rentensysteme berücksichtigt, sondern auch die ergänzende betriebliche Altersversorgung. Unter dem Kriterium "Angemessenheit" wurden die derzeit gewährten Versorgungsleistungen und einige Charakteristika wie Versorgungsniveau, steuerliche Anreize und Sparquote untersucht und mit 40 % gewichtet. Das Kriterium Nachhaltigkeit, gewichtet mit 35 %, untersuchte, ob und wie weit das gegenwärtige System in Zukunft aufrechterhalten werden kann. Hier spielten Faktoren wie

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Rückdeckung, Finanzierung, Demographie, Staatsverschuldung und flexible Arbeitszeitmodelle für ältere Beschäftigte eine Rolle. Der Subindex "Integrität" mit der Gewichtung von 25 % stellte auf die Bereiche der Privatvorsorge ab und untersuchte, wie beständig und "vertrauenswürdig" das Vorsorgesystem ist. Hier fanden staatliche Aufsicht, Governance, Risikosteuerung und Kommunikation Berücksichtigung. Bei der Gewichtung könnte bereits die Kritik einhaken, wenn man bedenkt, dass der Index "Angemessenheit", der die materielle Versorgungsleistung enthält, nur zu 40 % gewichtet wird, während demgegenüber zu 60 % makro-politökonomische Faktoren bewertet werden. Man könnte auch das zu einem Viertel gewichtete Subkriterium „Integrität“ der privatisierenden Globalisierung geschuldet sehen. Jedenfalls nimmt es nicht Wunder, dass Deutschland im Vergleich zum Vorjahr ein wenig nach oben gerutscht ist und sich vor Frankreich geschoben hat: Bei der Notwendigkeit privater Vorsorge, Stichwort Riester-Rente, hat Deutschland zweifelsohne Wettbewerbsvorteile, während Frankreich bei den aktuellen Versorgungsleistungen (im Kriterium "Angemessenheit" berücksichtigt) an zweiter Stelle steht - Deutschland erst auf dem zehnten Platz. Doch sehen wir uns die Ergebnisse etwas näher an: Im direkten Vergleich der Rentensysteme in 18 ausgesuchten Ländern, darunter die wichtigsten Industriestaaten, liegt Deutschland auf dem blamablen Platz 12. Asiatische Länder wie Singapur und China und Südkorea liegen dahinter, Japan und Indien sind die Schlusslichter. Den Spitzenplatz nimmt Dänemark ein, gefolgt von den Niederlanden und Australien. Schweden, die Schweiz und Großbritannien liegen auch noch vor Deutschland. Wieso stehen die Rentensysteme – und beschränken wir uns auf die beiden ersten - in Dänemark und den Niederlanden an der Spitze? Einige Rahmendaten illustrieren das: In Dänemark (4) wie in Holland (5) steht das Rentensystem auf drei Säulen, der steuerfinanzierten Grundrente, einer betrieblichen Altersrente, von Unternehmen und Beschäftigten gemeinsam finanziert, und der privaten Vorsorge. Die über Steuern finanzierte Volksversicherung „AOW“ in Holland und die Volksrente „Folkepension“ in Dänemark stellt die erste Säule dar, die beide auf dem Wohnsitzprinzip basieren und das soziale Minimum (am Mindestlohn orientiert) abdecken. Zum Beispiel sind alle Einwohner der Niederlande im Alter zwischen 15 und 65 Jahren im Prinzip AOW-berechtigt. In Dänemark ist die Volksrente als Pauschbetrag festgelegt (2009 betrug die volle Grundrente 705 €, die volle Rentenzulage 709 €). Die zweite Säule ist die betriebliche Rentenversicherung: In Dänemark tarifvertraglich vereinbart (Branchen-)Fondsgestützt (Arbeitgeber 8,4 % und Arbeitnehmer 4,2 % Beitrag) plus eine obligatorische ArbeitsmarktZusatzrente ATP, die vom Arbeitgeber mit etwa 24 € und Arbeitnehmer mit 12 € finanziert werden. In den Niederlanden werden die Betriebsrenten-Beiträge als Lohnbestandteil durch die Sozialpartner ausgehandelt. Dadurch haben rund 91 % der Arbeitnehmer Rentenansprüche über Betriebsrenten aufgebaut, um mit den beiden

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Renten etwa 70 % des letzten Einkommens erzielen zu können. In Dänemark beträgt das relative Bruttorentenniveau 80 % des durchschnittlichen Arbeitsentgelts, das relative Nettorentenniveau liegt sogar bei 90 % (6). Auch wenn in beiden Ländern – wie in der EU - der Druck auf die Finanzierung sozialer Leistungen wächst - ein Rentensystem besteht, das die deutsche Reformdiskussion beflügeln könnte. Empfehlungen Die Agentur Mercer gibt den Spitzenreitern liberale Ratschläge auf den Weg: Beide Länder sollten die Sparquote der Haushalte und den Beschäftigungsgrad älterer Arbeitnehmer erhöhen, aber auch für größeren Schutz der eingezahlten Rentenbeiträge bei Insolvenz der Fonds bzw. der Unternehmen sorgen. Die Dänen sollten Regelungen bei Scheidung einführen, um „die Interessen beider Parteien zu schützen“, die Holländer ein Mindesteintrittsalter einführen, um klarzumachen, „dass die Leistungen der Rente vorbehalten sind“. Für das deutsche Rentensystem stellt die Studie ebenfalls darauf ab, dass weitere wirtschaftsliberale Reformen nötig seien, um den "Herausforderungen einer alternden Gesellschaft besser gerecht zu werden und im weltweiten Vergleich bestehen zu können". So werden insbesondere technokratische Verbesserungen in folgenden Bereichen vorgeschlagen: • • • •

die Erwerbsquote älterer Arbeitnehmer weiter zu erhöhen, die betrieblichen Versorgungsleistungen ganz oder zu einem wesentlichen Teil in Form einer lebenslänglichen Rente zu gewähren, die Arbeitnehmer über die erreichten Leistungen der betrieblichen Altersversorgung fortlaufend zu informieren. Die Mindestrenten für Niedriglohn-Rentner anzuheben verbleibt innerhalb der bestehenden Rentensystem-Grenzen, wie auch der völlig unzureichende Diskussions-Vorschlag der SPD (7).

Allerdings schlägt die Studie bezeichnenderweise selbst rentensystem-immanente soziale Verbesserungen nicht vor, wie: • • •

die Rentenformel einzufrieren, um ein weiteres Absinken der Rente zu verhindern und dies gegenzufinanzieren durch eine geringe Erhöhung des Beitragssatzes (8); die Rente - wie in Frankreich - mit einem Bonus von 10 % für die Erziehungszeiten von mindestens 3 Kindern zu erhöhen, um zusätzliche Anreize zur Familienförderung zu geben. Das Rentensystem zu öffnen für alle Beschäftigten, indem die Beitragsbemessungsgrenze aufgehoben, ersatzlos gestrichen, wird.

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Der letzte Punkt könnte auch über die aktuelle Diskussion hinausweisen in die Richtung, das deutsche 2-Säulen-Modell (Rentenversicherung & private Vorsorge wie Riester-Rente) in ein 3-Säulen-Modell, wie es die in der Mercer-Studie führenden Länder haben, mit einer steuerfinanzierten, wohnsitzorientierten Grundrente zu untermauern, und dabei branchenbezogene tarifvertragliche Betriebsrentenregelungen staatlich zu fördern.

Literatur/Quellen: (1) http://globalpensionindex.com/pdf/melbourne-mercer-global-pension-index2012-report.pdf (2) Programme for the International Assessement of Adult Competencies, in Deutschland vom Deutschen Institut für Erwachsenenbildung und dem Leibnitz Zentrum für Lebenslanges Lernen evaluiert (3) Prof. Dieter Gnahs auf der GEW-Herbstakademie in Weimar am 16.11.2012 (4) Rente Dänemark Endbericht. in: http://www.efbww.org/pdfs/18%20%20Denmark%20DE.pdf Siehe auch: http://www.workinfo.dk/deDE/EMNER/ID117/ID143/ID144.aspx (5) Boris Krause und Anneke Wardenbach: Demografischer Wandel in den Niederlanden. VI. Wie ist das Rentensystem in NL organisiert? in: http://www.unimuenster.de/NiederlandeNet/nlwissen/soziales/vertiefung/demografie/rentensyste m.html. (Januar 2008) (6) siehe Anmerkung 2 und 3 (7) Bevor Mindestrenten für Niedriglohn-Rentner angehoben werden könnten – wie Mercer es vorschlägt - wären allerdings zuerst Mindestrenten einzuführen. Einen völlig unzureichenden Vorschlag brachte der SPD-Vorsitzende Gabriel ein (850 € nach 40 Beitragsjahren) siehe: Die Zeit vom 8.9.2012 (8) wie dies der DGB in seinem Rentenkonzept vom 16.10.2012 „Demografiereserve aufbauen statt Rentenbeitrag senken“ und in der aktuellen Initiative „Heute die Rente von morgen sichern“ (www.ichwillrente.net) vorschlägt.

Autor: Georges Hallermayer, Dozent im Carl Duisberg Centrum Saarbrücken.

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Aus Arm mach Reich: George Orwell an der Regierung von Albrecht von Lucke Dass der „Neusprech“ im Sinne George Orwells in diese Bundesregierung gefahren ist, wusste man ja schon länger. Bereits in der letzten Bundestagsdebatte zur EuroKrise, aber auch in ihrer jüngsten Parteitagsrede titulierte die Bundeskanzlerin Schwarz-Gelb als die „beste Regierung seit der Wiedervereinigung" – ganz offenbar allen Realitäten zum Trotz. Doch anscheinend war dies nur die Probe aufs Exempel, denn erst der jüngste Armuts- und Reichtumsbericht setzt der Verdrehung der Tatsachen die Krone auf. Offenbar verfährt die Bundesregierung jetzt endgültig getreu der Devise: Wenn mir die Wirklichkeit nicht gefällt, dann male ich mir eben eine andere. Aber der Reihe nach. Seit der Einführung im Jahr 2000 wurden bisher drei Armutsberichte vorgelegt, 2001, 2005 und 2008, sprich: in jeder Legislaturperiode einer. Ein Jahr vor dem Ende von Schwarz-Gelb ist es also allerhöchste Zeit für den schwarz-gelben Armutsbericht. Und tatsächlich hat das dafür zuständige Arbeitsministerium von Ursula von der Leyen unlängst seinen Entwurf vorgelegt. Völlig zu Recht heißt es dort in der Einleitung: „Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt“. Und weiter: „Die Einkommensspreizung hat zugenommen." Dies, so von der Leyens Fazit, verletze „das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung“ und gefährde den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Wie Philipp Rösler die Realitäten „glättet“ Alles völlig zutreffend – und von niemandem, der sich mit der Materie auskennt, wirklich bezweifelt. Aber offenbar verletzte dies allzu sehr das besonders feine Gerechtigkeitsempfinden des aus bekannten Gründen ohnehin stark unter Druck stehenden Wirtschaftsministers Philipp Rösler. Nach Auskunft der Bundesregierung wurde daher – in bestem Orwell-Deutsch – etwas „geglättet“. Nun heißt es doch tatsächlich: Die sinkenden Reallöhne seien „Ausdruck struktureller Verbesserungen“ am Arbeitsmarkt. Denn zwischen 2007 und 2011 hätten Erwerbslose durch die Schaffung neuer Vollzeitjobs im unteren Lohnbereich eine Arbeit bekommen. Keine Rede davon, dass es sich bei diesen „neuen Vollzeitjobs“ in unzähligen Fällen um Jobs handelt, die ohne Aufstockung durch Hartz IV nicht einmal zum Überleben reichen.

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Damit erfüllt dieser Armutsbericht exakt den Anspruch des Orwellschen Neusprech: Begriffe werden bewusst völlig unklar oder sogar diametral entgegen ihrer ursprünglichen Bedeutung gebraucht, damit man so ihren wahren Inhalt nicht mehr erkennt. Das Ziel der Übung liegt auf der Hand – und ist ebenfalls bei Orwell nachzulesen. Wir alle sollen zu „Goodthinkern“, zu Gutdenkernerzogen werden. Oder, neudeutsch und internetaffin gesprochen, zu Menschen mit inkorporiertem Like- oder Smiley-Button. Wenn wir erst alle zu derart gutgläubigen Personen geworden sind, dann ließe sich in der Tat perfekt in der von Angela Merkel gewünschten Weise „durchregieren“. Armutszeugnis für die Bundesregierung Nein, ein größeres Armutszeugnis wie ihren geglätteten Armutsbericht hätte sich diese Bundesregierung wohl selbst nicht ausstellen können. Denn er ist in doppelter Hinsicht beredt. Erstens durch die völlig unverblümte Verdrehung, ja Entstellung der Tatsachen. Und zweitens durch die Art, wie salopp die Regierung damit umgeht. Es habe bei der Ressortabstimmung Veränderungswünsche gegeben, stellte ein Ministeriumssprecher lapidar fest. Dies aber sei „ein ganz normaler Vorgang“. Da lobt man sich doch fast die alte rot-grüne Bundesregierung, die den Armutsbericht einst eingeführt hatte, für ihre Ehrlichkeit. Vor fast zehn Jahren, nämlich am 14. März 2003, verkündete Bundeskanzler Gerhard Schröder in aller ihm gegebenen brutalen Klarheit im Bundestag: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen". Und so geschah es denn auch: Löhne und Gehälter wurden erheblich gesenkt, während die Kapital- und Vermögenserträge erheblich stiegen. Nein, Beschönigung konnte man der Schröder-Regierung nicht vorwerfen. Bei Rot-Grün wusste man wenigstens, woran man war. Und die SPD wird bis heute für ihre damalige Politik abgestraft (übrigens anders als die Grünen, was eine ganz eigene Ungerechtigkeit der Geschichte darstellt). Denn den „Preis der Ungleichheit“, wie es Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz in seinem fulminanten neuen Buch nennt, zahlen die sozial Schwachen. Was all das nämlich konkret für die Menschen bedeutet, fällt bei den schnöden Regierungsverlautbarungen völlig unter den Tisch. Faktisch frisst sich heute die Armut in einer Weise in diese Gesellschaft, wie man es noch vor zehn Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Mit ungeheuren Auswirkungen für jeden einzelnen Betroffenen: Arme werden faktisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Am Anfang steht die schleichende

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Entfremdung von den Freunden – wenn man sich nicht mehr das Bier in der Kneipe leisten kann –, und am Ende steht der Verlust der menschlichen Würde und der faktische Ausschluss aus der Gesellschaft – nämlich durch den Verlust der materiellen Existenzgrundlagen und letztlich jeglicher Teilhabe an der Gesellschaft. Aus Armut macht man „Asozialität“ Doch die Regierung will von diesen neuen Formen dramatischer Armut offenbar nichts wissen. Damit aber steht sie keineswegs allein, sondern sie stößt in der Gesellschaft auf erstaunliche Zustimmung. Denn auch im Bürgertum, sprich in der Mittelschicht wird die Armut der wachsenden Unterschicht wirksam beschönigt und verdrängt. Und zwar mit einer großen Legende von der eigenen Selbstausbeutung, nämlich durch die "Asozialen" – so als ein Beispiel unter vielen, wenn auch als ein besonders abschreckendes, der provozierende Titel des jüngsten Buchs von Stern-Autor Walter Wüllenweber. Nach dieser Legende gibt es in der Bundesrepublik keine materielle Armut mehr, denn, so Wüllenwebers These: „In Deutschland haben die Armen Geld genug“. Armut ist also keine soziale Frage und Armutsbekämpfung damit keine Frage des Geldes. Sondern: Armut ist eine Frage der Haltung, der eigenen Verwahrlosung und damit selbstverschuldet. Kurzum: Armut ist asozial und geht zu Lasten der Fleißigen. Wie meinte unlängst schon Peter Sloterdijk zu wissen: Die Ausbeutung findet heute von unten nach oben statt, nämlich der Produktiven, vulgo: Leistungsträger, durch die nutzlosen Leistungsempfänger. Angeblich leben diese Armen glänzend von der Versorgungsindustrie, sprich: von sprudelnden Hartz IV-Gaben. Und „Springer“Chef Mathias Döpfner bringt es nur noch zynisch auf den Punkt: „Ich begreife den Staat nicht als Getränkeautomaten, von dem sich jeder etwas abzapfen kann, der gerade Durst hat.“ Das jedoch ist ein völlig falsches Bild der herrschenden Armut. Längst gibt es wieder eine Unterschicht, von der sich das saturierte Bürgertum massiv abgrenzt. Zu dieser neuen Unterschicht gehören Hunderttausende, die ihr Leben lang hart gearbeitet haben und sich heute, im Alter und nach dem Verlust der Arbeit, nicht einmal mehr einen Kino- oder Theater-Besuch leisten können. Gleichzeitig subventioniert sich die angeblich so ausgebeutete Mittelschicht selbst ihre Theater- und Opern-Karten – genauso wie die Autobahnen und Intercitys, deren Benutzung mangels Autos und nötigem Kleingeld sich Hartz IV-Empfänger schon lange nicht mehr leisten können.

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Die Rückbildung des Sozialstaats zum Almosenstaat Was wir erleben, ist die schleichende Rückbildung des Sozialstaats zum Almosenstaat. Ohne karitative Einrichtungen, an der Spitze die in fast jeder kleineren und größeren Stadt existierenden Tafeln, ginge heute fast gar nichts mehr. Armut ist damit längst wieder ein gesamtgesellschaftliches Problem. Wüllenweber dagegen behauptet, Armut werde als politischer Kampfbegriff bloß benutzt, etwa von Ulrich Schneider, dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, den Wüllenweber als Cheflobbyisten der Armutsszene diffamiert. Dabei sind es die Wüllenwebers dieses Landes, die den historisch hoch belasteten Begriff der „Asozialität“ gegen Arme und sozial Schwache in Stellung bringen. Heute gilt es, dieser Diskriminierung der neuen Armen endlich entgegenzuwirken. Am Anfang müsste daher die Aufklärung über die neuen Formen unverschuldeter Armut stehen. Diesem Aufklärungsauftrag handelt die Bundesregierung mit ihrem geglätteten Armuts- und Reichtumsbericht jedoch aktiv zuwider. Gesellschaft in Auflösung Wie heißt es dazu passenderweise bei Wüllenweber: „Die deutsche Gesellschaft befindet sich im Zustand der Auflösung. Am unteren Ende ist eine wachsende Unterschicht dabei, sich aus den bürgerlichen Wertvorstellungen zu verabschieden.“ In der Tat muss heute von einer massiven Erosion der Gesellschaft gesprochen werden. Faktisch ist jedoch die gut-bürgerliche Gesellschaft – inklusive ihrer schwarz-gelben „bürgerlichen Wunschkoalition“ – längst selbst dabei, sich von ihren alten Wertvorstellungen der gesellschaftlichen Solidarität zu befreien. Im Wüllenweberschen Ressentiment gegen die „Asozialen“ artikuliert sich nur besonders deutlich eine weithin geteilte elitäre Haltung des Bürgertums – nämlich des Ekels gegenüber denen da unten. Diese neu aufflammende, aber eigentlich ganz alte Stoßrichtung im Besitz- und Bildungsbürgertum wendet sich zunehmend gegen den solidarischen Egalitarismus. Heute lautet die erste, etwa aus den Ergebnissen der diversen PISA- und IGLU-Studien gezogene Lehre der neuen Bürgerlichkeit: „Wer oben ist, hat gute Chancen, oben zu bleiben.“ Aber noch sicherer gilt die zweite Lehre: „Wer unten ist, bleibt unten.“ Das Bürgertum, oder was sich heute dafür hält, hat heute – seinerseits zutiefst indoktriniert durch die neoliberale Logik der Alternativlosigkeit und der unüberwindbaren Sachzwänge – nur noch ein vorrangiges Ziel: die eigene Klasse, den eigenen Lebensstandard zu halten. Die daraus folgende Devise liegt auf der Hand: Man hält auf Abstand. Auf diese Weise verbindet sich die Haltung der Meinungsmacher vom Schlage Wüllenwebers mit einer immer

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ausgeprägteren Disposition der vor allem von Abstiegsängsten gepeinigten Mittelschichten. Die Mitte hält auf Abstand – von denen da unten Andere gehen in ihrem Kampf gegen die „Asozialen“ sogar noch einen Schritt weiter als Wüllenweber. So kommt der radikal-liberale Publizist André Lichtschlag in seinem Kampf gegen die angeblich alles dominierende Gleichmacherei zu dem Schluss: „Staatsabhängige Asoziale anstelle selbstständiger Menschen sind das Ergebnis des allumfassenden Sozialstaats“. Die Folge dieser Tyrannei der faulenzenden Mehrheit sei der „sichere Gang in den Totalitarismus“. Dagegen hilft in Lichtschlags Augen nur eins: allen „Nettostaatsprofiteuren, Beamten, Politikern, Arbeitslosen und Rentnern, das Wahlrecht zu entziehen, weil deren wachsende Mehrheit jeden noch produktiven Menschen niederstimmt.“ Die Devise dahinter ist klar: „Weniger Demokratie wagen“ – vom Verhältniswahlrecht zurück zum Zensusoder Klassenwahlrecht. Auf diese Weise verbindet sich in den radikalsten Vertretern einer radikal neoliberalen neuen Bürgerlichkeit die Legitimation immer krasserer Ungleichheit mit dem Kampf gegen die Demokratie und das allgemeine Wahlrecht. Am Ende stünde eine doppelte Exklusion der „Asozialen“: nämlich von Demokratie und Sozialstaat. Damit wäre die Refeudalisierung der Gesellschaft endgültig vollzogen. Angesichts dieser Tendenzen ist es schon eine besondere Ironie der Geschichte, dass die neue Spaltung der Gesellschaft jetzt auch in der für Demokratie und Gerechtigkeit eigentlich zuständigen zentralen Institution angekommen ist: Soeben wurde bekannt, dass Schreibkräfte, die im Bundestag als Leiharbeiter arbeiten, inzwischen so wenig verdienen, dass sie teilweise auf Hartz-IV-Niveau aufstocken müssen. So kehrt auch hier das neue Elend an seinen alten Ursprungsort zurück. Autor: Albrecht von Lucke, geboren 1967, Redakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik"

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Der wiedergefundene Popstar (Filmkritik) von Jürgen Kiontke Der schwedische Regisseur Malik Bendjelloulhat mit seinem Film die aufregende Suche nach einem mythischen Sänger und seinem musikalischen Wirken in vierjähriger Kleinarbeit dokumentiert. Was hier herausgefunden wird, was die Protagonisten tun und sagen, ist voller verrückter Wendungen, irrer Zufälle und fantastischer und rührender Momente. Wer ist der „Sugar Man“? Der Sänger und Songwriter Sixto Rodriguez beginnt seine Karriere Ende der sechziger Jahre. In seinen Texten beschreibt der junge Musiker, der sich in Detroit mit Fabrikjobs durchschlägt, das Lebensgefühl der Arbeiterklassein den Metropolen. Er weiß, wovon er singt: Sixto Diaz Rodriguez, Jahrgang 1942, wird als sechster Sohn einer mexikanischen Immigranten-Familie in der Autostadt geboren. Mutter und Vater sind in den zwanziger Jahren übergesiedelt, um in der aufstrebenden Industrie gutes Geld am Fließband zu verdienen. In der ruppigen und gefährlichen Großstadt aufzuwachsen, ist nicht einfach. Doch die Eltern haben eine eiserne Regel: Bildung macht den Menschen. Und so halten sie ihre Kinder an, Kunst und Literatur zu studieren. Rodriguez entwickelt damit sein musikalisches Talent - und da ist er in Detroit nicht am schlechtesten Ort. Denn die Großstadt ist nicht nur Auto-Hochburg, Detroit rockt auch. Was von hier kommt hat Weltgeltung - bis heute. Hier arbeitete das MotownLabel; Iggy Pop startete hier seine Karriere; der Detroit Techno setzte Maßstäbe, hier begann der berühmteste Rapper der Welt damit zum Sound der Drumbox seine Mutter zu beschimpfen. Das bringt ihn noch heute in die Charts. Auch Rodriguez kann sich zum Detroit-Spirit rechnen. Hier tritt der junge Künstler zuallererst in Hinterhof-Kneipen auf. Manchmal, wenn ihm nicht ganz wohl ist, mit dem Rücken zum Publikum. Bald wird er von zwei Produzenten entdeckt. Sonst arbeiten die Profis mit Stars wie Marvin Gaye, Stevie Wonder, The Temptations und The Supremes zusammen - sie müssen wissen, was geht. Rodriguez’ Texte - und den Rest des Typen auch - halten sie für so gut. Bob Dylan kommt ihnen dagegen wie der reinste Schlagersänger vor.

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Flucht vorm Flop Rodriguez bringt die soziale Situation auf den Punkt: Seine Erfahrungen im Straßenund Großstadtleben, in Hilfsjobs und Armut, verdichtet er in dezidiert gesellschaftskritischen Texten und unterlegt sie mit traditionellen Singer-SongwriterElementen wie auch dem ganz großen Orchester. „Searching for Sugar Man“ lautet einer der Titel, und drei Mal darf man raten, welche Art von Zucker hier gemeint ist. Die Monotonie des Arbeitsalltags, das kann Rodriguez in seiner unmittelbaren Umgebung feststellen, ist von seinen Akteuren oft nur mit Zusatzstoffen auszuhalten. Doch trotz guter Kritiken irren die Label-Chefs. Das Album „Cold Fact“ von 1970 floppt; und auch die zweite Platte wird ein finanzieller Misserfolg. 1971 nimmt Rodriguez das Album „Coming From Reality“ auf, zur Abwechslung in London. Es wird wie „Cold Fact“ ein Ladenhüter. Und damit ist die Karriere zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat. Rodriguez veröffentlicht noch drei Songs, hinterlässt ein paar Bänder und verschwindet spurlos. Der Beginn der Legende in Südafrika So etwas führt naturgemäß zur Legendenbildung: Dem Vernehmen nach zündet sich Rodriguez - wohl die einzig richtige Art des Suizids im Rock’n’Roll - auf der Bühne an. Wahlweise wird auch berichtet, er habe sich erschossen. Und nun: Schnitt: In Südafrika weiß man gar nichts über diesen Mann. Doch eine seiner Platten hat es nach Kapstadt geschafft. Es ist Anfang der siebziger Jahre. Der Kampf um die Apartheid tobt. Südafrika? Ein rassistisches Militärregime! Musik ist schwer zugänglich; zensiert oder verboten. Jimi Hendrix, Bob Dylan? Gibt’s nicht. Da kommt Rodriguez’ Klassenkämpfer-Sound aus der Autostadt Detroit einigen gerade recht - vor allem einer besonderen Gruppe von Leuten: Den Weißen, die das Apartheidssystem strikt ablehnen. Für sie hat Rodriguez’ Musik etwas Befreiendes sie wird zum Sound ihrer Demonstrationen und Partys. Damit aber gerät die Musik von Rodriguez auch gleichzeitig auf den Index. Keine Radiostation spielt den „Sugar Man“, was natürlich zur Popularität beiträgt. Den südafrikanischen Musikern wird beim Hören klar, was künstlerischer Widerstand für sie sein kann, was sie selbst mit ihrer Arbeit leisten können. Und das Publikum hat eine Musik, mit der es sich identifizieren kann. Die Platte wird unzählige Male vervielfältigt, man kennt die Texte auswendig. Aber in der hermetischen Gesellschaft gelingt es nicht, Fragen nach dem Dichter und Sänger zu beantworten. Außer seinem Bild auf dem Plattenover gibt es nichts über ihn. Man fragt sich: Was wurde aus seiner Musik außerhalb Südafrikas? Gibt es Verwandte oder Rechteinhalber? Und wenn er schon tot ist: Wo befindet sich sein Grab?

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Vielleicht gibt es gar keines. Das jedenfalls legen die Recherchen von zwei Fans nahe, denen sich Regisseur Malik Bendjelloul in seinem Film an die Fersen heftet. Die Suche beginnt Mittlerweile ist man im Internet-Zeitalter angekommen, und Plattenladenbesitzer Stephen Segerman - der auf Rodriguez stieß, weil man seinen Nachnamen zu „Sugar Man“ verballhornte - und Musikjournalist Craig Bartholomew-Strydrom haben eine Website geschaltet. Ob sich auf die Tour nicht jemand ausfindig machen lässt, der all die Jahre verschüttet war. Und in der Tat melden sich Menschen, die von dem verrückten Schicksal des Sängers mehr als berührt sind: Was wäre, wenn der Held ihrer musikalischen Vorlieben die letzten Jahre als Arbeiter in einem Abrissunternehmen zugebracht hätte, wenn er drei hinreißende Töchter aufgezogen hätte und während dessen auch noch ein Philosophie-Studium absolvierte? Wenn er nicht die geringste Ahnung davon hätte, was seine Person andernorts bedeutet? Und statt dessen seine Zeit mit sozialem Engagement verbringt und gar für das Amt des Bürgermeisters von Detroit kandidiert... Ein rührendes Finale würde dies bedeuten! Mit „Searching for Sugar Man“, der auf alles eine Antwort findet, hat Bendjelloul einen herzergreifenden Film über die Suche der beiden (Segerman und Batholomew) gedreht. Zudem ist daraus ein überzeugendes Porträt der siebziger Jahre entstanden. Aus den Statements vieler Zeitzeugen dieses besonderen Musikers und den Originalaufnahmen aus den USA und dem Südafrika der siebziger Jahre ist das zu Recht preisgekrönte Werk gelungen zusammengesetzt und mit dem nötigen Drive geschnitten. Es ist auf vielfältige Weise einfach unterhaltsam, anregend und mitreißend.

„Searching for Sugar Man“. SWE/GB 2012. Regie: Malik Bendjelloul. Kinostart: 27. Dezember 2012 Autor: Jürgen Kiontke, Redakteur des DGB-Jugend-Magazins Soli aktuell und Filmkritiker u. a. für das Amnesty-Journal.

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Unter dem Christbaum: Musik schenken leichter gemacht (Musikkritik) von Rhett Skai Die Filmmusik zum wiedergefundenen Pop-Star Am 27. Dezember startet der Film zum Musiker (s. Link). Die Filmmusik setzt sich aus den beiden Alben zusammen, die Sixto Rodriguez 1969 und 1971 veröffentlichte und die im letzten Jahrzehnt erneut herausgegeben wurden. Bei der Erstveröffentlichung waren beide Alben ein Flop. Beeinflusst von der Arbeiterstadt Detroit hat Rodriguez schöne Lieder geschrieben, die heute in die Kategorie Singer/Songwriter fallen würden. Dabei sind einige groovende Kleinode. Dazu gehört sicherlich das Titellied vom „Sugarman“, mit dessen Hilfe man der Realität entfliehen kann. Mit “This Is Not A Song, Its An Outburst: Or, The Establishment Blues” werden alle Leute kurz aber einprägsam zerpflückt, die einen nerven können: Bürgermeister, Wettermann, Mafiosi, Politiker, Papst etc. . Wunderbar ist ebenfalls das Lied „Street Boy“. Der Besungene ist am Ende ein süßer Junge – wie viele Underdogs bzw. Arbeiterklassejugendliche. Doch warum schlagen Biografie und Musik vom unbekannten Sixto Rodriguez nach 40 Jahren so ein? Motörhead und Lana del Rey bieten die Antwort: Unsere hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften sind durch die Jagd nach Profiten mit immer mehr Unechtem und Kompliziertem unheimlich anstrengend geworden. Dagegen bieten Lana del Rey und Motörhead einfache und ehrliche Urlaubsinseln – und Rodriguez eben auch. Doch der „Sugarman“ übt dabei noch Gesellschaftskritik – und die ist aktuell. Mein Tipp: Lana del Rey in den Plattenladen bringen und gegen Sixto Rodriguez eintauschen! Leider gibt es bei der einfach gestalteten CD-Hülle keine Booklets mit Texten, sondern nur Photos von Rodriguez! Sixto Rodriguez: Searching for Sugar Man, 2012 bei Legacy (Sony Music) erschienen. Querfälltein: Rap `n Roll, 2012 bei Soulplex Recordings (Groove Attack) erschienen. Rollende Wortartisten Das dritte Album der Gruppe Querfälltein heißt so wie die interessante Mischung, die sie machen: „Rap `n Roll“. Wunderbar beschrieben ist die musikalische Richtung mit dem Eingangssong „Bluesbrüder“ (Videolink), aber auch mit dem Titelsong.

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Die Rap-Reimer erzählen Geschichten, teilweise absurd-satirisch wie in „Spitz“ oder philosophisch wie in „Et kütt wie et kütt“. Mit letzterem Titel ist dann auch die regionale Verortung von Querfälltein geklärt. Kritik an überbordender Ordnung üben die Rheinländer mit „Herr Paragraf“, durchaus mit einer prägenden funky Gitarre. Auch härter – sowohl inhaltlich wie auch musikalisch ist „Jeder macht sein eigenes Ding“. Ziemlich Rock`n Roll ist die Erklärung allgegenwärtiger Paradoxien, die aus den gesellschaftlichen Widersprüchen entstehen – mit dem Song-Titel „Paradox“. Musikrichtungen, die mit Rap gemixt sind, haben seit Crossover in den frühen 90er Jahren ihren eignen Reiz. Mit Querfälltein hat die kölnische Rap-Szene einen wirklich interessanten Neuzugang, der sich bestimmt einmal mit Gentleman oder die Firma messen könnte. Mit dem Kauf dieser CD schafft man sich einen schön gestalteten Silberling an. Minuspunkte gibt es leider für die fehlenden Texte, die einfach zu textorientierter Musik gehört. Latin Quarter: Ocean Head, 2012 bei Westpark (Indigo) erschienen. Vielfalt und Engagement kommen zurück denn Latin Quarter haben sich 2011 wiedervereinigt und 2012 einen neuen Longplayer eingespielt: „Ocean Head“. Und mit dem sechsten Studioalbum ist auch der politische Pop zurück, der alles andere als langweilig ist. Denn sie mischen klassischen Rockpop mit Folk und Reggae. Eine gefällige Mischung, die durch den wechselnden Gesang Steve Skaiths und Yona Dunsfords noch gewinnt. Schon früher hat Latin Quarter die USA mit feiner Ironie überzogen – so auch mit „Miss Teen USA“ (Videolink). Das Video macht sowohl den Humor als auch die LiveQualitäten der britischen Band deutlich. „Even Superman“ macht deutlich, dass uns kein höheres Wesen zu retten vermag. Mit dem hymnischen „Legalise It“ fordert die Band illegalen Geschäften den Boden zu entziehen. Der zweite UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld wollte in Verteilungsauseinandersetzungen im rohstoffreichen Kongo vermitteln und fiel mutmaßlich einem Mordkomplott zum Opfer. An ihn erinnert Latin Quarter mit „The Last Flight Of Dag Hammarskjöld“. Mit „Ocean Head“ wendet sich die Band an jede/n Zuhörer/in, der/die etwas zum Guten hin verändern will. Das Cover ist schlicht mit Band-Photos gestaltet und mit einem Booklet versehen, das Texte enthält. Gut, dass Latin Quarter zurück sind. Hoffentlich erreichen sie auch ein jüngeres Publikum. Es wäre ihnen zu wünschen – beiden: der Band und den jüngeren Leuten. Firewater: International Orange!, 2012 bei Nois-O-Lution (Indigo) erschienen.

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Mit Feuer Im siebten Album „International Orange!“ verarbeitet Tod A seine musikalischen Inspirationen im Orient – sie sind unüberhörbar im Rock seiner Band Firewater eingebettet und durch Balkan Beat Box Mitglied Tamir Muskat kommt auch der Einfluss von dort zum Tragen. Der eindringliche Gesang von Tod As bricht die teilweise recht süßen Melodien. Auf dem Album finden sich sarkastische Texte, die sich beim ersten Hören nicht immer erschließen. So könnte man auf die Idee kommen, mit „A Little Revolution“(Videolink) würde man sich bescheiden. Mitnichten, denn es ist ja ironisch gemeint. Außerdem helfen manchmal auch kleine Sachen! Schön ist auch der Titel„Ex-Millionaire Mambo“, der die Kapitalmarktkrise aufarbeitet und an die Musik von Kurt Weil und Tom Waits erinnert. Mit südamerikanischem Rhythmus widerspricht Firewater wieder seiner Aussage „Feeling No Pain“. Angesichts der beschriebenen Verhältnisse wäre es ein Wunder! Eine verblüffende musikalische Wendung nimmt „Tropical Depression“ – ebenfalls vor Ironie triefend. Das fein gestaltete Cover enthält gute Musik, die sogar tanzbar ist und immer wieder überrascht. Aber erneut kommt hier die Unart zum Tragen, die Texte zu vergessen. Leider vermisst man dann auch ein Booklet mit weiteren Infos. Wer ist daran schuld: Firewater oder Indigo?

Autor: Rhett Skai, geboren 1970 in einem ArbeiterInnenviertel, arbeitet heute in Schaff-Enspausen

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