Ausgabe 28 Juli/August 2014
Wertschöpfung und neue Arbeit
Impressum Deutscher Gewerkschaftsbund Debattenmagazin GEGENBLENDE, Redaktion: Dr. Kai Lindemann/Redaktionsassistenz: Martina Hesse Henriette-Herz-Platz 2, 10178 Berlin Telefon +49 (0) 30 24 060 757, E-Mail kai.lindemann@dgb.de Hinweis:
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Inhaltsverzeichnis Seite Editorial ......................................................................................................................... 4 Web, Wert und Arbeit.................................................................................................... 5 von Sabine Pfeiffer Trotz Mindestlohn besteht noch weiterer Regulierungsbedarf bei den Werkverträgen .............................................................................................................. 13 von Dominik Haubner Brasiliens WM: Samba corrupti im Schatten des Zuckerhuts (Kolumne) ..................19 von Dieter Pienkny Gewerkschaften verstehen (Buchrezension) ............................................................... 22 von Kai Lindemann Europas Zukunft: Demokratische Zäsur oder Weiter-So? ......................................... 27 von Wolfgang Kowalsky Eine Platon-Steuer zur Verringerung der Einkommensungleichheit ........................ 35 von Hagen Krämer Hybride Wertschöpfung als Herausforderung für die Tarifpolitik ............................. 41 von Markus Helfen, Manuel Nicklich, Jörg Sydow Europäische Wirtschaftskrise und Demokratie .......................................................... 45 von Joachim Perels Es gibt Alternativen zur neoliberalen Sackgasse! (Gastbeitrag) ................................. 53 von João Antônio Felício Total Digital – Rationalisierung unter dem Deckmantel einer Revolution ............... 59 von Ralf Kronig
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Türöffnerin nach Rechts: Die „Alternative für Deutschland“ ..................................... 64 von Samuel Salzborn, Alexandra Kurth TTIP-Verhandlungen aussetzen! ................................................................................. 69 von Stefan Körzell 70 Jahre Bretton-Woods – die Geburtsstunde von IWF und Weltbank .................... 75 von Elmar Altvater Junge Unternehmen im Wandel der Erwerbsarbeit: Trendsetter oder Nachahmer? ................................................................................................................. 83 von Andreas Koch, Jochen Späth Von wegen nur Krise – Lernprozesse der Linken in Europa ...................................... 90 von Eva Völpel Die neue Macht der Sportkartelle am Beispiel der NFL ............................................. 96 von Erich Vogt Jung und naiv in die digitalen Arbeitswelten ........................................................... 103 von Stefan Müller Berufswahl als Metapher (Filmkritik) ....................................................................... 109 von Jürgen Kiontke Schöne neue Arbeit? Die Herausforderung: Clickworking ........................................ 113 von Dorothea Forch Wir brauchen eine weltweite Energietransformation................................................ 117 von Nina Netzer, Bärbel Kofler Marktwirtschaft statt Kapitalismus – Versuch einer Ehrenrettung ..........................122 von Andreas Siemoneit
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Editorial Die Digitalisierung greift in alle Arbeits- und Wirtschaftsbereiche ein. Sie hat Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Beschäftigten und auf klassische Felder gewerkschaftlicher Arbeitspolitik. Der Schwerpunkt der Ausgabe 28 behandelt einige zentrale Aspekte dieser Entwicklung. Aber auch die Debatten über Europa, Demokratie, Soziale Ungleichheit und den sozialökologischen Umbau werden in dieser Ausgabe weitergeführt. Viel Spaß bei der Lektüre der pdf-Ausgabe wünscht Kai Lindemann
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Web, Wert und Arbeit von Sabine Pfeiffer Alles neu macht das Web. Und erst recht das Web 2.0. Nicht nur die Politik setzt beharrlich seit Clintons Beschwörung des Datenhighways immer wieder unbegrenzte Hoffnungen in die ökonomische Allmacht des Internets. Auch die Ökonomen und vor allem die betriebswirtschaftliche Disziplin überschlagen sich mit immer neuen Diagnosen, die dem Internet das Potenzial für beeindruckende Umsatzsteigerungen, nie gekannte Geschäftsmodelle und eine – zumindest rhetorisch – revolutionierte Wertschöpfung zuschreiben. [1] Der ökonomische Erfolg wird weitgehend ungebrochen am Wieviel gemessen – üblicherweise operationalisiert im Begriff der Wertschöpfung. Wenn wir es mit einer neuen Wertschöpfungsära in der Internetökonomie zu tun haben, müssten sich demzufolge quantitative Effekte auf der Branchenebene und vor allem im ECommerce finden. Und die aktuellen Zahlen sind durchaus beeindruckend: So kaufen aktuell in Deutschland neun von zehn Internetnutzern regelmäßig online ein – und dies mehrheitlich und zunehmend mobil über Smartphones oder Tablets. [2] Der Online-Bruttoumsatz wird sich bis Ende 2014 gegenüber 2006 fast verfünffacht haben. [3] Das klingt nach traumhaften Wachstumsraten und einem virtuellen Perpetuum Mobile der webbasierten Wertschöpfung. Der Blick auf das Bruttoinlandsprodukt relativiert den Überschwang jedoch: eine internationale Vergleichsstudie sieht den Anteil der internetbasierten Wertschöpfung in Deutschland nur bei drei Prozent. [4] Und obwohl fast jedes fünfte Unternehmen in Deutschland Waren und Dienstleistungen online vertreibt, ist der Anstieg am Unternehmensumsatz schon wieder deutlich abgeflacht und lag in 2012 nur ein Prozent über dem Vorkrisenwert von 2008. [5] Wer angesichts dieser Zahlen nicht auch für Deutschland ein „eMarketParadox“ [6] abnehmender Umsätze und Gewinnspannen ausrufen will, der rechnet optimistisch und steil geschätzt so genannte ROPOs dazu. Die Abkürzung ROPO steht für „research online, purchase offline“ und rechnet der Internetökonomie auch offline-Umsätze zu, wenn die Kaufanbahnung (z.B. die Information über ein Produkt) mutmaßlich online erfolgte – in Deutschland 2010 sollen dies rd. 88 Mrd. Dollar gewesen sein. [4] Zumindest quantitativ scheint also noch offen, ob das Web lediglich einen Teil der bisherigen Wertschöpfungsformen ersetzt, ob es zu einer rein quantitativen Ausweitung der Wertschöpfung im virtuellen Raum kommt oder ob es um substanziell neue Quellen der Wertschöpfung geht. Die betriebswirtschaftliche Rhetorik zumindest legt letzteres nahe, deswegen lohnt ein genauerer Blick auf den Begriff der Wertschöpfung.
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Der heute in der Ökonomie vorherrschende Begriff der Wertschöpfung fragt nicht in erster Linie wo und/oder durch wen vorher nicht vorhandener Wert generiert wird, sondern nach der Höhe einer auf dem Markt erzielten Wertschöpfung. Vereinfacht gesagt geht es dabei immer nach dem mit bestimmten Produkten oder Dienstleistungen erfolgreich erzielten (nicht dem potenziell zu erzielenden) Umsatz bzw. Gewinn. Tiefer gehendes hat die Betriebswirtschaft zu ihren zentralen Begriffen kaum zu bieten und schätzt selbstkritisch ein: In Bezug auf die Quelle von Wertschöpfung in der Internetökonomie sei eine „common conceptual base [..] still lacking“ [7] und die Definition von Geschäftsmodell sei „murky at best“ [8]. Web und Wert revisited Um zu verstehen, ob im Web neue Quellen der Wertschöpfung entstehen, lohnt zunächst die klare wie simple Unterscheidung zwischen Wertgenese (als Prozess der eigentlichen Produktion von neuen, vorher nicht vorhandenen Werten) und Wertrealisierung (als Prozess, der die im Rahmen der Wertgenese entstandenen Produkte ökonomisch verwertbar macht und sie auf dem Markt in Geld oder andere Werte erfolgreich tauscht). In der Internetökonomie sind darüber hinaus die Dimensionen des digitalen Orts und der Wertform relevant. Für die Prozesse der Wertgenese und -realisierung können die Orte auseinander fallen. Das gilt für den geografischen Ort immer schon: Selten werden Maschinen, Autos, Bücher oder Kleiderstücke dort verkauft, wo sie produziert wurden. Sucht man aber nach einem qualitativen Unterschied, der erst mit der Internetökonomie auf den Plan tritt, so ist dies der Ort im Sinne der Unterscheidung von offline und online. Für jeden Prozessschritt im Rahmen der Wertgenese und der Wertrealisierung können unterschiedliche digitale Orte relevant sein: Manches kann – auch stofflich bedingt – nur offline oder nur online passieren, in anderen Fällen werden geografisch verteilte Offlineprozesse online verknüpft und in wieder anderen werden ehemalige Offlineprozesse komplett in Onlineprozesse verwandelt und es entstehen online völlig neuartige Prozesse. Die zweite relevante Unterscheidungsdimension ist die der Wertform (Commodity/Commons): Die Gegenüberstellung von Warenförmigkeit und Allgemeingut ist eine historisch alte Differenzierung, die aber nicht ohne Grund in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit erhalten hat. Denn mit dem Web wird erstens das Allgemeingut loslösbar aus seinem zuvor weitgehend lokal gebundenen Kontext, was zur Folge hat, das wesentlich mehr Menschen freiwillige Arbeit in gemeinsamer Kollaboration einbringen können. Zweitens können wesentlich mehr Menschen als früher und gleichzeitig an dem zugänglichen Allgemeingut, das nun global verteilt ist, partizipieren.
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Die OpenSource-Bewegung oder Wikipedia sind hierfür die eindrücklichsten Beispiele. Zum anderen aber weitet sich mit dem Web auch der warenförmige Zugriff auf Objekte aus, die sich außerhalb des Internets kaum in eine Ware überführen lassen. So werden im Netz durch Nutzung hinterlassene Datenspuren zur Ware und zum Gegenstand lukrativer Geschäfte – nicht ohne Grund gelten gerade die beiden Unternehmen, die nutzungsgenerierte Daten zur Basis ihres Geschäftsmodells erhoben haben, Google und Facebook, als die Giganten des Web 2.0. Und schließlich entstehen neue Mischformen aus Commons und Commodity, beispielsweise wenn in Open-Innovation-Prozessen freiwillige unbezahlte Kundenarbeit in die Entwicklung später als Ware zu verkaufender Produkte eingeht. Auch hier gilt: In Wertgenerierung und Wertrealisierung kann die Wertform zwischen den Polen Commons und Commodity vielfältige Mischformen annehmen. Web, Wert – und welche Arbeit? Mit der analytischen Unterscheidung von Wertgenese und Wertrealisierung, zwischen Offline und Online und zwischen Commons und Commodity entsteht ein dreidimensionales Modell, das unterstützen kann bei der Antwort auf die Frage: Wo genau in der Internetökonomie wird eigentlich Wertschöpfung betrieben und an welchen Stellen kann von qualitativen Veränderungen durch das Internet gesprochen werden? Überall entlang der Wertschöpfungskette finden sich unterschiedlichste Mischformen von Wertgenese und -realisierung. Empirisch lässt sich (nicht nur in der Internetökonomie) häufig zwischen beidem so leicht nicht trennen. In die Entwicklung eines Produkts (und damit schon vor dessen Produktion) gehen marktbezogene Informationen ein, die eine spätere Wertrealisierung sichern helfen. Gleichzeitig ist auch die Wertrealisierung nicht ein zeitlich punktueller Akt des Tauschs, sondern ein oft hochkomplexer Prozess: dazu zählen nicht nur Marketingstrategien und Werbeaktivitäten, sondern auch der Aufbau und die Pflege von Vertriebsnetzen, die Entwicklung neuer Vertriebswege und -formen, die Gestaltung neuer Pricing- und Servicemodelle – bis hin zu Rechnungsstellung und Bezahlsystemen. Das alles ist jeweils durchwoben von unterschiedlichen Transaktions- und Logistikaktivitäten. Auf der zweiten Differenzierungsebene geht es um die virtuelle und/oder stoffliche Qualität der Arbeit: Das je aufzuwendende Arbeitsvermögen und die verwendeten Mittel und Gegenstände der Arbeit können ebenso unterschiedlich stark informatisiert sein wie die organisationalen Settings, innerhalb deren diese Arbeit stattfindet. Die Gewinnung und Raffinierung von Erdöl, die Entwicklungsleistung für eine Software oder die Produktion eines Automobilteils, das Backen von Brot, die Entwicklung einer chemischen Formel oder eines pädagogischen Konzepts – all das
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sind Prozesse der Wertgenese. Nicht nur in den Prozessen der Wertgenese, sondern auch in den Prozessen der Wertrealisierung sind Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstände und die Organisation der Arbeit in vielfältigen und gleichzeitig dynamisch sich ändernden Melangen von offline/online und Commodities/Commons zu finden. Arbeitsprozesse, die Wertgenese oder Wertrealisierung ermöglichen, können mit Hilfe des Web in neuer Form zusammenfinden und sich gleichzeitig entlang des Globus ausdifferenzieren. Sehen wir uns mal ein typisches Beispiel für webbasierte Geschäftsmodelle an: auf der „nikeID“-Website von Nike kann jeder seinen Turnschuh bis in die einzelne Naht hinein gestalten. Die so personalisierten Unikate eines hippen „digital native“ aus Brooklyn kosten kaum mehr als ein normaler NikeTurnschuh und sind innerhalb von vier Wochen beim Kunden. Wo aber liegt dann die Wertschöpfung bei diesem Modell? Schließlich entstehen erst einmal mehr Kosten: zum einen für die aufwändig gestaltete und technisch zwangsläufig elaborierte Website, zum anderen für einen individuellen – und also wohl kaum stark automatisierten – Produktionsprozess, schließlich muss der Schuh, jenseits der online-gestützten Gestaltung, offline genäht und produziert werden. Sind also die rund eine Million offline und unter bekanntermaßen extrem ausbeuterischen Bedingungen Arbeitenden bei den asiatischen Kontraktfertigern von Nike die Quelle der Wertschöpfung? Allein in der Turnschuhproduktion von Nike sind aktuell – überwiegend in Südamerika und Asien – 460.134 Arbeiter/-innen beschäftigt, davon sind nach Unternehmensangaben 399.800 und damit fast 87 Prozent „line worker“, arbeiten also – offline – in der Produktion. [9] Natürlich ist das ein Teil der Antwort – aber ist es schon die ganze Antwort? Durch wen und was genau wird bei Nike eigentlich Wertschöpfung generiert? Resultiert im unbezahlten Gestaltungsbeitrag des Kunden aus Brooklyn Wertgenese? Realisieren die 48.000 direkt bei Nike Beschäftigten nur Wert oder generieren sie ihn auch? Was heißt das für die nur 8.000 Beschäftigten im Nike-Headquarter, die in Entwicklung, Design, Marketing oder Finanzen arbeiten? Warum weist Nike seine eCommerce-Umsätze nicht als einzelnen Posten aus, sondern zusammen mit denen der „brick and mortar stores“ in der Kategorie „direct to customer“? Und thematisiert gleichzeitig als mögliches Risiko die Kannibalisierung von Online-Umsätze und denen in den eigenen Offline-Läden? [10] Leider ist das auf Basis der zugänglichen Unternehmensdaten kaum zu beantworten. So ist nichts zu erfahren über die Zusammensetzung der Nike-Beschäftigten: Wie viele sind hochqualifizierte Wissensarbeiter, wie viele von ihnen arbeiten zu welchen Löhnen und Bedingungen in den Verkaufsläden? Wer konzipiert die OnlineMarketingstrategien, wer programmiert und designt die Websites dazu? Wer programmiert die Schnittstelle, die eine reibungslose Übergabe der
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kundengenerierten Daten von der Converse-Create-Website in das Auftragssystem des Kontraktfertigers in Bejing gewährleistet? Sind dies Beschäftigte der eCommerceAbteilung von Nike im Headquarter in Beaverton, gut bezahlte „digital natives“ aus Palo Alto oder Brooklyn, oder günstigere Offshoring-IT-Dienstleister in Bangalore? Wir wissen erst recht nicht, ob die Beschäftigten der Kontraktfertiger ausschließlich für Nike arbeiten und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Und noch weniger ist nachvollziehbar, welche On- und Offline-Logistikprozesse die Schuhproduktion selbst und die Lieferung von China zum Kunden in New York erfordert, zu welchen Bedingungen der Matrose auf einem Containerschiff unter taiwanesischer Flagge oder der UPS-Fahrer in Brooklyn arbeiten. Nimmt man die produzierenden Beschäftigten von Nike und den Kontraktfertigern zusammen, dann generieren die aktuell 889.177 Arbeitenden in 2013 insgesamt einen Umsatz von 25,3 Mrd. Dollar und einen Bruttogewinn von 11 Mrd. Dollar. Auf jeden Beschäftigten im Nike-Headquarter kommen 111 für Nike produzierende Beschäftigte weltweit. Für die Wertgenerierung – die eigentliche Produktion des Schuhs – sind wahrscheinlich die 111 Beschäftigten der Kontraktfirmen relevanter, für die Wertrealisierung aber ist es wohl eher der eine Beschäftigte in Beaverton. Das Problem aber ist: Genau wissen wir es nicht. Und das nicht nur deshalb, weil die Daten so einfach nicht zu bekommen sind, sondern: Weil wir es erstens an jeder Stelle mit spezifischen Verschränkungen von Wertgenerierung und -realisierung, von offline/online und Commodities/Commons zu tun haben. Und weil wie trotz Geschäftsberichten und interaktiven Webseiten zu den Kontraktfertigern und damit scheinbar viel Transparenz eines nicht zu sehen kriegen: die jeweils relevante – wertgenerierende und wertrealisierende – Arbeit und wer sie unter welchen Bedingungen erbringt. Der kreative Urban Customer aus Brooklyn übrigens kann beruhigt sein: der „Code of Conduct“ des Unternehmens sichert faire und gesunde Arbeitsbedingungen zu und das Recht, sich zur kollektiven Interessenvertretung zusammen zuschließen [11]. Umso erstaunlicher, dass Nike im jährlichen offiziellen Unternehmensbericht immer wieder stolz verkündet: „None of our employees is represented by a union“ [10]. Web, Wert – und nochmal Arbeit! Das Nike-Beispiel zeigt: Durch das Web wird möglich, was früher undenkbar war; Kundenwunsch, Produktentwicklung und Fertigungsdaten für den Produktionsprozess des Schuhs kommen zusammen, der virtuelle Arbeitsgegenstand des mitentwickelnden Kunden aus Brooklyn – also das individuelle Schuhdesign – verschmilzt mit dem Arbeitsmittel – eben den detaillierten Produktionsdaten – des Maschineneinrichters in China. Die webbasierte Wertschöpfung basiert ebenso auf dem Arbeitsvermögen der Programmierer, die mit virtuellen Arbeitsmitteln (z.B. einem CSS-basierten Framework) eine entsprechend elaborierte Website kreiert haben, wie auf der weitgehend stofflichen Arbeit derer, die den Schuh real nähen.
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Was abstrakt betrachtet näher zusammenrückt (Kunde/Produzent, Entwicklung/Produktion etc.), liegt aber nicht nur geografisch oft weit auseinander. Es braucht wenig Phantasie, um die verschiedenen Schritte entlang solcher Stratifizierungen wie Geschlecht und Bildungsniveau, Hoch- bzw. /Niedriglohn, USA/China etc. zuzuordnen. Die Gegenüberstellung – der webaffine „urban lifestyle customer“ auf der einen Seite und die schlecht bezahlte Näherin auf der anderen Seite des Globus – trifft den Kern der Sache alleine aber noch nicht. Das Ganze der Wertschöpfungskette gelingt weder ohne die virtuelle Datenübermittlung (von Brooklyn nach Bejing) noch ohne eindeutig stoffliche Transportanstrengungen (des fertiggestellten Schuhs wieder zurück nach Brooklyn). Und obwohl objektiv das eine für das Gelingen der Wertschöpfung so wichtig ist wie das andere, thematisiert die aktuelle Debatte zur Wertschöpfung im Web allenfalls und typischerweise nur die eine Seite: Das Neue der Wertschöpfung wird am Kunden und der Website festgemacht, die Programmier, Produktions- und Transportaufwände aber bleiben unbeachtete Blackbox. Hinter der virtuellen schönen Welt des kundenorientierten Web 2.0 verbirgt sich aber nicht nur die „dunkle“ Seite der stofflichen Produktion – also das Nähen des Turnschuhs. Es ist nicht nur die industrielle Produktion, die aus dem Blick verschwindet, sondern im selben Maße sind es die Aufwände für die Websiteprogrammierung oder deren Marketing und Pflege oder die für das Maintaining der nötigen Server und Netzinfrastrukturen; wir wissen ähnlich wenig über den Automatisierungsgrad der Schuhproduktion wie über die Datentechnik zur Koordination der Logistikprozesse; das Call-Center für den Kundensupport könnte in Dublin oder Bangalore stehen und dasselbe gilt für den Schreibtisch der Disponentin oder den PC des Schnittstellen-Programmierers. Durch all diese Unterschiedlichkeit zieht sich ein roter Faden, in all der Dynamik gibt es eine Konstante: Es ist letztlich immer menschliche Arbeit, die einerseits die Werte schafft und andererseits deren Realisierung gewährleistet. So wie im klassischen stofflichen Produktionsprozess finden sich freilich auch im Virtuellen vielfältige Formen der Automatisierung und der Rationalisierung menschlicher Arbeit – dies aber ändert nichts an der Tatsache, dass die eigentliche Wertgenese, die Schaffung des Neuen, immer und weiterhin auf menschlicher Arbeit beruht. Während Arbeit in ihrem Kern als Wertschöpfungsquelle wichtiger wird, scheint sie auf der Erscheinungsebene zu entschwinden. Nicht nur gerät das, was offline an Wertgenese und -realisierung passiert, beim oberflächlichen Blick auf die schillernde Online-Welt aus dem Blick. Ebenso bleibt verdeckt, dass weiterhin an vielen Stellen menschliche Arbeit die eigentliche Quelle der Wertschöpfung ist und bleibt. In der Internetökonomie bleibt menschliche Arbeit quantitativ und qualitativ relevant für die Wertschöpfung. Ihre Kommodifizierung
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nimmt einerseits erweiterte Formen an, andererseits eröffnen sich auch mehr Optionen, Arbeit jenseits von Erwerbsarbeit und Tauschbeziehungen einzubringen bzw. ihre Ergebnisse als Commons zu nutzen. Bezieht man die Entwicklung noch einmal auf die sektoralen Verschiebungen im Laufe der historischen Entwicklung, so könnte man sagen: In der Herausbildung der Industriegesellschaft war die Bedeutung von menschlicher Arbeit für die Wertgenese gesellschaftlich höchst sichtbar, während sie für Prozesse der Wertrealisierung vergleichsweise weniger sichtbar und in ihrer nicht kommodifzierten Form der Reproduktionsarbeit fast gänzlich unsichtbar war. In der Internetökonomie findet eine Ausweitung von Wertgenese und -realisierung statt – durch eine verstärkte Nutzung nicht kommodifizierter Arbeit und durch neue Verschränkungen zwischen Prozessen der Wertgenese und -realisierung. Obwohl damit menschliche Arbeit neue und erweiterte Quellen der Wertschöpfung erschließt und ihre Bedeutung qualitativ zunimmt, erscheint sie als gesellschaftlicher Topos noch weniger sichtbar.
Literatur/Quellen: [1] Ausführlich zum betriebswirtschaftlichen Diskurs über digitale Wertschöpfung und zum weiter unten vorgeschlagenen Modell vgl. Pfeiffer, S. 2013. Web, Wert Und Arbeit. In Internet, Mobile Devices und die Transformation der Medien. Radikaler Wandel als schrittweise Rekonfiguration, hrsg. von Ulrich Dolata und Jan-Felix Schrape, 177–98. Berlin: Edition Sigma. [2] Bitkom 2013. Trends im E-Commerce – Konsumverhalten beim OnlineShopping. Berlin: Bitkom. Retrieved from http://www.bitkom.org/files/documents/BITKOM_ECommerce_ Studienbericht.pdf [3] Handelsdaten 2014. http://www.handelsdaten.de/statistik/daten/studie/76745/tab/2/ umfrage/umsatzversandhandel-und-onlinehandel/ [4] David, D. et al. 2012. The Internet Economy in the G-20. Boston: Boston Consulting Group [5] Bundesamt für Statistik 2014; https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Unternehmen
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Handwerk/IKTUnternehmen/ Schlaglicht_ECommerce.html [6] Moon, J. 2004. A causal network analysis of e-market business models. In: Currie, W. (Hg.): Value Creation From E-Business Models, Oxford, Burlington: Butterworth- Heinemann, S. 131-157 [7] Zott, C./Amit, R./Massa, L. 2010. The Business Model: Theoretical Roots, Recent Developments, and Future Research. Working Paper WP-862, 26, http://www.iese.edu/research/pdfs/di-0862-e.pdf [8] Porter, M. E. 2001. Strategy and the Internet. In: Harvard Business Review, 79 (3) 63-78, 73. [9] Zahlen für Februar 2014, interaktiv abrufbar unter: http://nikeinc.com/pages/ manufacturing-map [10] Nike Annual Report 2013 http://investors.nikeinc.com/files/doc_financials/AnnualReports/2013/docs/nike2013-form-10K.pdf [11] Nike 2010. Ode of Conduct. http://nikeinc.com/system/assets/2806/Nike_Code_of_Conduct_original.pdf?1317 156854
Autorin: Prof. Dr. Sabine Pfeiffer, Professorin für Soziologie an der Universität Hohenheim
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Trotz Mindestlohn besteht noch weiterer Regulierungsbedarf bei den Werkverträgen von Dominik Haubner Die Verbreitung von Werkverträgen konfrontiert unterschiedliche Akteure auf divergierenden Ebenen in der Arbeitswelt mit diversen Veränderungen. Auf betrieblicher Ebene entstehen verschiedene „Teilbelegschaften“ nebeneinander. Stammbelegschaften, befristet Beschäftigte, Leiharbeiter mit eigenem Tarifvertrag und Stammbeschäftigte der Dienstleister, die im Rahmen eines Werkvertrags tätig sind und Solo-Selbstständige oder Scheinselbstständige, die mittels Werkverträgen Arbeiten übernehmen. Die damit verbundene Erosion der Flächentarifverträge durch sog. „atypische Beschäftigungsformen“ bedroht deren Bedeutung in allen Industriezweigen und Dienstleistungsbranchen. Das erschwert zunehmend die Verteidigung oder gar Erweiterung tariflicher Rechte der abhängig Beschäftigten. Werkvertrag ist nicht gleich Werkvertrag, es existieren unterschiedliche Typen. Der „Besteller“ des Werks ist normalerweise ein Unternehmen. Auftragnehmer können sowohl einzelne Selbstständige (Soloselbstständige) oder Unternehmen sein, die zur Erfüllung des Vertrags eigene Beschäftigte einsetzen. Bei einem Werkvertrag ist der Unternehmer verpflichtet, für den Besteller ein bestimmtes Arbeitsergebnis herbeizuführen. Er schuldet ihm einen Erfolg – und es wird auch nur dann bezahlt, wenn sich dieser Erfolg einstellt. Abgerechnet wird nicht nach Stunden, sondern nach Leistung. Darüber hinaus existieren keine tarifvertraglichen Regelungen für Werkverträge. Bei Werkverträgen entscheidet also prinzipiell das Unternehmen allein über die Ausgestaltung, die Bedingungen zur Ablieferung der Leistung und die Bezahlung. Im Folgenden soll eine Untersuchung vorgestellt werden, die die Vergabepraxis der Werkverträge im Saarland in vier ausgewählten Branchen untersuchte, sowie die daraus resultierenden zentralen politischen Handlungsanforderungen skizziert[1]. Dabei wurde deutlich, dass Werkverträge nicht isoliert von den jeweiligen Branchen-, Betriebs- und Tarifstrukturen betrachtet werden dürfen. In einigen stark internationalisierten Branchen wie dem Baugewerbe und der Fleischwirtschaft finden sich primär Werkverträge mit Soloselbständigen und Subunternehmerketten zumeist aus dem osteuropäischen Ausland, während z.B. im Einzelhandel Werkverträge zwischen Unternehmen im Inland dominieren. Gerade in den internationalisierten Branchen ist der allgemeine gesetzliche Mindestlohn einerseits zwar die Grundvoraussetzung, um die mit den Werkverträgen in Verbindung stehenden Niedriglöhne zu minimieren. Gleichzeitig bestehen jedoch nach wie vor Möglichkeiten über Formen der Soloselbständigkeit die Mindestlohnregelungen zu
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umgehen. Um die Problematik der Niedriglöhne in Zusammenhang mit Werkverträgen umfassend zu minimieren, bedarf es also darüber hinausgehender Initiativen. Die Fleischwirtschaft Die Arbeitsbedingungen in der Fleischwirtschaft werden sowohl in den Medien als auch in der Öffentlichkeit am engsten mit der Werkvertragsproblematik in Verbindung gebracht. Im Fokus stehen dabei insbesondere die – vor allem aus Osteuropa – entsandten ArbeitnehmerInnen. Vergleichbar mit der Bauindustrie ist die Branche durch starke ökonomische Internationalisierungstendenzen gekennzeichnet, allerdings mit einem fundamentalen Unterschied: Während der ökonomische Internationalisierungsdruck im Baugewerbe sich primär aus den veränderten gesetzgeberischen Entwicklungen aus Brüssel und deren Umsetzung vor Ort ergibt, wird der ökonomische Internationalisierungsdruck in der Fleischwirtschaft im Kern aus Deutschland heraus erzeugt. Neben den fleischproduzierenden Zentren in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen spielt auch das Saarland eine Rolle bei der Verbilligung der Fleischproduktion und der damit verbundenen „Lohndumping“-Politik in Europa. Die Werkverträge sind hier der entscheidende Bestandteil. Es handelt sich hierbei primär um Werkverträge zwischen Unternehmen und Solo-Selbstständigen, allerdings nicht nur um Werkverträge mit inländischen Unternehmen, sondern auch um Werkverträge mit ausländischen Subunternehmen bzw. Solo-Selbstständigen. Eine weitere Variante mit einem „zwischengeschalteten“ Akteur besteht darin, dass ein Werkvertrag an ein inländisches Personalunternehmen vergeben wird, das dann wiederum einen Werkvertrag an ein ausländisches Unternehmen „überträgt“. Diese Problematik der Subunternehmerketten ist in der Fleischindustrie und noch stärker in der Bauwirtschaft anzutreffen. Die umfassende Anwendung von Werkverträgen in der Fleischindustrie resultierte aus dem Umstand, dass die Fleischindustrie auf mehrere Weise im unteren Lohnbereich ungeschützt war. Es existierte kein Mindestlohn, die Fleisch produzierende Branche wurde bis Anfang des Jahres nicht ins Arbeitnehmerentsendegesetz aufgenommen und es existierten bis vor kurzem keine Tarifstrukturen, die eine Allgemeinverbindlichkeitsregulierung möglich machen. Der Wildwuchs bzgl. der Vergabepraxis von Werkverträgen in der Fleischwirtschaft konnte zuvorderst auf Grund dieser stark unterentwickelten tariflichen Strukturen entstehen. Seit dem 1. Juli 2014 ist nun der Mitte Januar vereinbarte tarifliche Mindestlohn für die rund 80.000 Beschäftigten der Branche in Kraft getreten. Die Grundlage dafür, dass er auch für die ausländischen Beschäftigten mit Werkverträgen gilt, schuf die Bundesregierung am 26. Februar – mit einem Gesetz zur Aufnahme der
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Fleischindustrie in das Entsendegesetz. Auf diese Weise kann der Mindestlohn auch für die in Subunternehmerketten beschäftigten (ausländischen) Werkvertragsarbeitnehmer – trotz der weitgehenden Tariffreiheit der Branche – zeitnah für allgemeinverbindlich erklärt werden. Es besteht die berechtigte Hoffnung, dass damit die Vergabe von Dumpinglöhnen über Werkverträge massiv minimiert werden kann. Jedoch zeigen Erfahrungen aus Branchen, die ebenfalls einem starken Internationalisierungsdruck unterliegen, dass sich erneut Schlupflöcher finden, die oftmals unter Anwendung von Werksvertragskonstruktionen entstehen. Exkurs über europäische Entwicklungen Die Werkvertragsvergabepraxis in den internationalisierten Branchen wie der Bauund der Fleischwirtschaft bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen den gesetzgeberischen Entwicklungen auf der europäischen Ebene und den Optionen der nationalen Ausgestaltung, die im Vergleich zu anderen Staaten in der Bundesrepublik vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Probleme bei der Werkvertragsvergabepraxis treten vor allem dann auf, wenn es sich nicht um eine Beschäftigung im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit, sondern aus der Dienstleistungsfreiheit handelt. Für alle EU-Mitgliedsstaaten gilt bereits seit Jahren die Dienstleistungsfreiheit, d.h. Unternehmer, Betriebe und Selbstständige aus den EU-Mitgliedsstaaten dürfen sich innerhalb des EU-Gebietes relativ frei bewegen und ihre Dienstleistungen in jedem anderen EU-Mitgliedsstaat anbieten. Dies kann zum Beispiel in Form grenzüberschreitender Leiharbeit geschehen oder wenn ein Unternehmen seine Beschäftigten im Rahmen eines Werkvertrags nach Deutschland entsendet. In der Regel müssen die Beschäftigten dann unter den Arbeitsbedingungen des Herkunftslandes arbeiten, denn entsandte Arbeitnehmer haben grundsätzlich ihren Arbeitsvertrag im Herkunftsland abgeschlossen und sind demnach auch arbeits- und sozialrechtlich an die Gesetze des Herkunftslandes gebunden. Das heißt, die Entlohnung orientiert sich in den meisten Branchen an den Lohnstrukturen des Herkunftslandes. Die Bauwirtschaft Auf dem Bau ist Leiharbeit gesetzlich verboten und es gibt einen Mindestlohn von derzeit 10,25 Euro in Ostdeutschland und 11,05 Euro in Westdeutschland. Die Bauwirtschaft spielt genau deshalb (auch) bei der branchenübergreifenden Vergabe von Werkverträgen eine so interessante Rolle, weil neben dem Verbot der Leiharbeit, seit Jahren gleich zwei, im Branchenvergleich sogar relativ hohe Mindestlöhne existieren. Wie passt all dies mit der Erfahrung zusammen, dass man auf nahezu jeder größeren Baustelle im Bundesgebiet alle Nationen Südosteuropas antreffen kann, die zu deutlich niedrigeren Löhnen als die vereinbarten Mindestlöhne arbeiten? Und schließlich, dass die Bauwirtschaft so massiv von der Werkvertragsund Lohnproblematik betroffen ist? Obwohl bei öffentlichen Ausschreibungen i.d.R.
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nur inländische Baufirmen an den Ausschreibungen partizipieren, übernehmen vor allem große Baukonzerne nur geringe Anteile an den letztendlich notwendigen Leistungen. Sie schreiben selbst einen Großteil der Leistungen wiederum aus. Die Ausschreibung der Verträge gewinnt naturgemäß der Subunternehmer, der den günstigsten Preis anbieten kann. Dies sind zunehmend Betriebe aus Südosteuropa. Die größeren Unternehmen fungieren als Planungs- und Verwaltungszentralen. Die wesentlichen Anteile der Wertschöpfung werden an kleinere Unternehmen vergeben, die oftmals mit Werkvertragsnehmern im Ausland zusammenarbeiten. Einfachgewerke werden hingegen unmittelbar an kleinere Baufirmen im In- und Ausland via Werkvertrag vergeben. In nicht wenigen Fällen wiederum werden einzelne Arbeiten immer weiter an andere Subunternehmer übertragen, so dass Subunternehmen von vier und mehr Werkvertragsfirmen kein Einzelfall sind. Die Personalauswahl bzw. die Verantwortung für den Umgang mit dem Personal liegt bei den jeweiligen Werkvertragsfirmen, was dazu führt, dass ein starker Lohndruck am unteren Ende der Wertschöpfungskette besteht. Viele Arbeiter aus Südosteuropa werden in Form der Scheinselbständigkeit mit Versprechungen von deutlich höheren Löhnen geködert, um in komplexen GbRStrukturen zu arbeiten. Hierbei handelt es sich um Zusammenschlüsse mehrerer, in diesem Falle meist ausländischer Personen zu einer Gesellschaft durch einen Gesellschaftsvertrag. Diese Strukturen bzw. die Partizipation der beteiligten Wanderarbeiter zu unterschiedlichen Zeitpunkten sind gerade für inländische Kontrollbehörden nicht immer einfach nachzuvollziehen. Diese GbRs sind das beliebteste Mittel, um die Mindestlohnregelungen in der Bauwirtschaft zu unterschreiten. Als eine wesentliche Ursache für die beschriebene Gesamtproblematik in der Bauwirtschaft wird eine zu lockere Umsetzung der europäischen Dienstleistungsrichtlinie in Deutschland gesehen, hier würden die Voraussetzungen zu lax kontrolliert. In Luxemburg oder Frankreich ist es deutlich schwieriger, sich als Betrieb niederzulassen. Hier müssen viel detailliertere Nachweise über die notwendige Ausstattung eines Unternehmens, Geschäftspartner und Umsatzzahlen geliefert werden. Ein Fortschritt bestünde darin, wenn die Handwerkskammern die Instrumente zur Kontrolle in verschiedenen Handwerksberufen noch zur Hand hätten, die ihr 2004 von der Politik mit der Novellierung der Handwerksordnung genommen wurden: Die Prüfung der Meisterqualifikation als Befähigungsnachweis und Voraussetzung für die Existenzgründung. Nach aktueller Rechtslage gilt heute: Wenn das Gewerbeamt die entsprechenden Betriebe geprüft und eingetragen hat, kann die HWK, soweit es sich nicht um einen Betrieb mit der Voraussetzung der Meisterqualifikation handelt, eine Eintragung ihrerseits in die Handwerksnovelle nicht verweigern. Hier gilt europäisches Recht. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie in Verbindung mit der HWO ist für die Handwerkskammer rechtlich bindend.
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Aus diesen Vorüberlegungen lassen sich einige Handlungsempfehlungen ableiten:
Die Entsenderichtlinie sollte so modifiziert werden, dass sie auch die Interessen der Arbeitnehmer berücksichtigt. Es gilt das Sozialdumping mittels häufigerer Kontrollen, härteren Strafen bei Verstößen und klar definierten Haftungsregeln zu minimieren. Die jüngsten Änderungen bei der sog. Durchsetzungsrichtlinie, die bestimmte Aspekte der Entsendung klären soll, verschlechterten jedoch die Position der Arbeitnehmer. Eine Ausweitung der Generalunternehmerhaftung, die dazu führt, dass die gängige Praxis mit Hilfe von Subunternehmerketten Ansprüche von Arbeitnehmern zu unterlaufen, ins Leere geführt wird. In Zusammenarbeit mit Banken sollte nach Wegen gesucht werden, die Lohnüberweisungen an ausländische Werkvertragsarbeiter direkt auf in Deutschland angelegte Konten, die ausschließlich auf die Namen der Werkvertragsarbeitnehmer zugelassen sind, zu tätigen. In Betracht zu ziehen wären Klauseln innerhalb eines Vergabegesetzes, nach dem die Auftraggeber nur einen oder gar keine Subunternehmer beauftragen dürften. So könnten z.B. inländische Unternehmen verpflichtet werden, Klauseln in Verträge aufzunehmen, die beinhalten, dass z.B. nur ein einziger Subunternehmer zugelassen werden darf. Klare Regeln für den Ausschluss von Scheinselbstständigkeit, etwa durch Aufklärungsarbeit und Infokampagnen der jeweiligen Gewerbeämter. Hier gibt es Möglichkeiten, die Anschriften der Gewerbeanmeldungen detaillierter zu überprüfen. In Luxemburg werden weit umfassendere Daten bei der Gewerbeanmeldung abgefragt, wie z.B. Referenzlisten von Kunden, der Nachweis von Angestellten, Qualifikationsanforderungen etc.
Der Einzelhandel Der Preiswettbewerb im deutschen Einzelhandel wird immer intensiver. Der Handel gilt nicht zuletzt durch die im internationalen Vergleich hohe Dichte an Märkten und eine gleichzeitig hohe Verkaufsfläche als gesättigt. Die reale Gesamtkaufkraft wächst auf Grund des demografischen Wandels in den kommenden Jahren nur noch gering und an den gestiegenen Konsumausgaben konnte der deutsche Einzelhandel in den zurückliegenden Jahren nur noch unterproportional teilhaben. Über lange Zeit wurde das Ziel verfolgt, im unteren Einkommensbereich die Löhne zu senken, um so insgesamt mehr Leute auf die Fläche zu bringen. Vor allem die großen Warenhausketten des Lebensmittelhandels weichen auf Werkverträge aus, weil sich damit Kosten reduzieren lassen. Waren früher Manteltarifverträge und komplette Lohn- und Gehaltstarifverträge, z.B. im Einzel- und Großhandel, für allgemeinverbindlich erklärt worden, so traf das bis Dezember 2013 auf keinen Tarifvertrag im Handel mehr zu. Der Rückgang der
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Tarifbindung ist ein wesentlicher Grund für die Nicht-Anwendung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Er führt dazu, dass das 50 Prozent-Quorum nicht mehr erreicht wird und die Regelung, selbst wenn man sie nutzen wollte, nicht greifen kann. Im Dezember 2013 kam es nach äußerst zähen Verhandlungen zu einem neuen Tarifabschluss. So sieht die Tarifvereinbarung vor, dass der von den Arbeitgebern gekündigte Manteltarifvertrag unverändert wieder in Kraft gesetzt wird. Für den hier primär betrachteten Umgang mit Werkverträgen bzw. deren zukünftige Entwicklung kann dieses neue Tarifergebnis weitreichende Folgen auch über den Einzelhandel hinaus haben. Neu innerhalb der geschlossenen Tarifvereinbarung ist eine Übergangslösung zur Rückführung der über Werkverträge ausgegliederten Auffüllkräfte in die Tarifstruktur. Bislang standen hierfür 10,99 Euro Stundenlohn im Tarifvertrag, was dazu führte, dass diese Arbeiten zunehmend an Werkvertragsbeschäftigte vergeben wurden. Das Tarifergebnis sieht vor, für wiedereingegliederte Beschäftigte eine Entgeltgruppe knapp unter 10 Euro die Stunde zu schaffen. Die niedrigere Tarifgruppe darf nur für Auffülltätigkeiten angewandt werden und nicht für Mischtätigkeiten, die in Zusammenhang mit dem Verkauf und dem Kassieren von Waren entstehen. Zudem verpflichten sich die Arbeitgeber, dass sie keine Werkverträge mehr für das Auffüllen von Regalen vergeben, wenn sie die Mitarbeiter innerhalb dieser neuen Tarifgruppe einstellen. Die Werkvertragsproblematik, die sich beim Handel primär auf die nächtliche Regalverräumung konzentriert, kann durch eine Aufnahme dieser Beschäftigten in Tarifverträge entscheidend minimiert werden. Ob sich diese Hoffnung dauerhaft erfüllt, wird sich zeigen. Vor allem lässt sich auch bei dieser Vereinbarung, wie innerhalb der anderen Branchen beobachten, wie eng die Ausgestaltung der Werkverträge, mit den jeweiligen branchenspezifischen Tarifstrukturen zusammenhängt. Zugleich wird sicherlich auch weiterhin nach neuen Schlupflöchern zur Umgehung von Mindestvereinbarungen mittels des Instrumentariums Werkverträge gesucht werden, so dass auch in Zukunft, trotz der Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns, vielfältige Anforderungen bei der Eindämmung des Niedriglohnsektors bestehen bleiben werden.
Literatur/Quellen: [1]Die vollständige Studie, die im Auftrag der Arbeitskammer des Saarlandes durchgeführt wurde, ist im Netz unter http://www.arbeitskammer.de/fileadmin/user_upload/ak_download_datenbank/P
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ublikationen/Online_Broschueren/AK_Bericht_Werkvertraege_01_2014.pdf zu finden. Literatur Haubner, Dominik (2014): (Schein-) Werkverträge im Spannungsfeld von Flexibilisierung und Regulierung der Arbeit. Eine branchenübergreifende Bestandsaufnahme im Saarland.
Autor: Dr. Dominik Haubner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft e.V. (ISO) in Saarbrücken mit den Themenschwerpunkten Dienstleistungstheorie sowie Dienstleistungspolitik und neue Technologien.
Brasiliens WM: Samba corrupti im Schatten des Zuckerhuts (Kolumne) von Dieter Pienkny Im Verlauf der Menschheitsgeschichte kristallisierten sich „ewige Wahrheiten“ heraus: eine davon hieß, die Erde sei eine Scheibe. Dies haben eindrucksvoll die portugiesischen Invasoren widerlegt, die vor 500 Jahren an der Küste des heutigen Brasilien landeten auf ihrer Fahrt nach Westen; eine andere lautet immer noch, Fußball und Politik müsse man trennen. So die aktuelle Eingebung der brasilianischen Präsidentin Rousseff, die jedoch seit Wochen daraus keinen Hehl macht, dass sie den anvisierten Weltmeistertitel der Selecao gerne in einen Wahlsieg ihrer Arbeiterpartei (PT) ummünzen möchte. Nun scheint alles anders, die anhaltenden Proteste quer durch die Bevölkerungsschichten stimmen die Staatschefin nachdenklich. Ihre Kollegin, Kanzlerin Merkel, sieht das Thema entspannter: Eine Staatsvisite wird mit dem Besuch des Fußballspiels DeutschlandPortugal abgerundet. Und wie der Zufall es will, hat Regierungssprecher Seibert ein Handy dabei, als die siegestrunkene Kanzlerin in der Kabine von „Schland“ auftaucht. Twitter sei Dank - nun weiß man rund um den Globus, wie symbolträchtig deutsche Politik sein kann. Merkels „sportliche“ Botschaft: so sehen Sieger aus!
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Die Protestbewegung aus Lehrern, Busschaffnern, Polizisten, Entwurzelten aus den Favelas, nutzt die Gunst der Stunde, um auf ihre soziale Lage aufmerksam zu machen: „Die WM bietet eine ideale Bühne, um Brasilien und seiner politischen Klasse den Spiegel vorzuhalten“, textet die Neue Zürcher Zeitung. Mit 10 Mrd. Euro an Baukosten stemmt Brasilien die teuerste Fußball-WM aller Zeiten. Ein Fest der Gigantomanie. 10 Mrd. Euro entspricht der jährlichen Finanzierung des Sozialprogramms „Bolsa Familia“ für 50 Millionen Menschen, das Brasilien aufgelegt hat. Entgegen dem staatlichen Versprechen, es würden vor allem private Investitionen in die Infrastruktur fließen, zahlen die Steuerzahler jetzt dafür die Zeche für die Sportbauten. Das soziale Engagement der deutschen Elf zugunsten einer Grundschule vor Ort in allen Ehren: aber mehr als ein Trostpflästerchen kann das nicht sein. Wer umgerechnet lediglich 250 Euro im Monat verdient, kann keine 20 Euro für eine Eintrittskarte zur WM aufbringen. Also bleiben Millionen von Fußballfans dank der FIFA nur Zaungäste im eigenen Land. Denn die Kartenpreise setzt die FIFA fest. Genauso wie die Zahl der überdimensionierten Stadien. Sie verfügt über die TVÜbertragungsrechte (und zensiert auch schon mal Stadionbilder), heuert Sponsoren an und schließt Werbeverträge ab; und verdoppelt gleichzeitig die Aufwandsentschädigung für ihre 24 Exekutivmitglieder. Bereits vor der WM wusste die FIFA, dass sie mit einem Plus von 3,6 Mrd. Euro aus dem Sportspektakel herauskommen wird. Und das auch noch steuerfrei. Denn nach Schweizer Recht gilt sie als gemeinnützig. Der Kapitalismus macht keine halben Sachen. Aber wo bleibt die Empörung des mächtigen DFB über diese Selbstbedienungsmentalität? Und muss eigentlich die ARD mit gigantischem Finanzaufwand ihre TV-Rechte künftiger Weltmeisterschaften jetzt sichern anstatt im Namen der Gebührenzahler die merkwürdige FIFA-Politik zu hinterfragen? Das öffentlich-rechtliche System spielt auch die Rolle des Anwalts der ZuschauerInnen. Ja, es gab Beiträge in Monitor und anderswo. Aber richtig Druck erzielt man doch nur auf der Finanzschiene. Das wissen gerade die Konsumenten, vulgo: die Fußballfans. In Brasilien fehlen mehr als 3000 Schulen und Kitas, knapp vier Millionen Kinder besuchen nie eine Schule, Hunderttausende wurden aus ihren Elendsquartieren vertrieben, damit das WM-Image geschönt werden konnte; das Gesundheitswesen schwächelt erheblich, Wohnungsmieten steigen im Umfeld der neuen Stadien um über 100 Prozent. Zehn Prozent der weltweit Superreichen leben in Brasilien, wo die größte Millionärsdichte herrscht. So sieht die soziale Wirklichkeit im Schatten des Zuckerhuts aus. Aber die Brasilianer lieben doch Samba und Fußball, werden unsere Medien nicht müde zu betonen. Wo bleibt dann die Begeisterung? Augenscheinlich geht es dem
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Gros der Brasilianer aber auch darum, ein Dach über dem Kopf zu haben, ihren Kindern Bildung angedeihen zu lassen und Löhne zu bekommen, von denen man nicht nur gerade mal überleben kann. Dafür hat sich auf den Großbaustellen der WM in den vergangenen Jahren übrigens die internationale Bauarbeitergewerkschaft stark gemacht. Also ganz so blauäugig scheinen die Südamerikaner nicht zu sein. Schließlich kommt die Hiobsbotschaft der Makroökonomen: Eine Fußball-WM rechne sich nicht, bringe kaum Wachstumsschübe. Selbst die WM in Deutschland habe die Wirtschaftsleistung nur um 0,4 Prozent ansteigen lassen. Brasilien habe seine Hausaufgaben nicht gemacht, heißt es. Die Landreform schleppt sich dahin, viele Landlose fühlen sich im Stich gelassen; eine „kafkaeske Bürokratie“ wirkt als Investitionsbremse; zu wenig Geld wurde in die marode Infrastruktur gesteckt, und das Land konnte sich nicht aus dem Würgegriff multinationaler Konzerne befreien. Schließlich hat die Korruption Brasilien seit Jahrzehnten im Griff, von der regierenden Arbeiterpartei (PT) bis zum Brasilianischen Fußballverband. Da scheint die FIFA in bester Gesellschaft zu sein, die sich etlicher Vorwürfe erwehren muss, einige ihrer Mitglieder träfen Entscheidungen nur gegen ein gewisses Handgeld: Samba Corrupti. Da Kritik und Medienschelte an der FIFA abperlen wie an einer Teflonpfanne, hier ein Vorschlag aus der Feder von „Terre des Hommes“: Wenn sich die FIFA wie ein Großkonzern aufführt, einerseits den veranstaltenden Ländern die Finanzierung der Sportinfrastruktur aufhalst und selbst keine Verantwortung für die sozialen Folgen trägt, muss das Geschäftsmodell radikal geändert werden. Genauso wie die Textilkonzerne oder Sportartikelhersteller muss auch die FIFA in die Pflicht genommen werden und Verantwortung für ihr „Produkt Fußball“ übernehmen: von der Steuerpflicht bis zur Mitverantwortung für die toten Bauarbeiter in Katar. Der Ball liegt im Feld des Weltverbandes.
Autor: Dieter Pienkny, geboren 1954 in Berlin-Schöneberg, Pressesprecher beim DGB Bezirk Berlin-Brandenburg, In der C-Jugend linker Verteidiger
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Gewerkschaften verstehen (Buchrezension) von Kai Lindemann Rezension über: Handbuch Gewerkschaften in Deutschland (Hrsg. Wolfgang Schroeder), Springer 2014, ISBN 978 – 3 – 531 – 19495 – 0 Mit der zweiten Auflage des „Handbuchs Gewerkschaften in Deutschland“ ist Wolfgang Schroeder als Herausgeber mal wieder ein umfassendes Standardwerk über die deutschen Gewerkschaften gelungen. Die größtenteils neuen oder aktualisierten 24 Beiträge bilden auch ein Stück deutscher Gewerkschaftsgeschichte ab. Ein Handbuch besitzt in der Regel keine ausgefeilte Dramaturgie, weshalb eine komprimierte Betrachtung verfehlt wäre. Deshalb lehnt sich die folgende Kommentierung am Inhaltverzeichnis an, durch das das umfassende Spektrum dieses Werkes umso deutlicher wird. Im ersten Teil des Bandes wird die Erfolgsgeschichte der deutschen Gewerkschaften unter Berücksichtigung der geschaffenen sozialen Institutionen von Klaus Schönhoven erzählt. Sein Beitrag „Geschichte der deutschen Gewerkschaften: Phasen und Probleme“ ist ein komprimierter Blick auf die Gewerkschaftsgeschichte, der nicht nur einer objektiven Darstellung verpflichtet ist, sondern auch durch die schlüssigen Bewertungen des Autors äußerst anregend wirkt. Schönhoven beendet seine Ausführungen mit den Worten: „Vorankommen werden die im DGB zusammengeschlossenen Verbände nur, wenn sie sich nicht mehr auf der nostalgischen Suche nach der verlorenen Zeit verzetteln, sondern sich stärker Berufsgruppen öffnen, die nicht zur klassischen Kernklientel der alten Arbeiterbewegung gehören, und wenn sie neue Strategien und programmatische Optionen entwickeln, die über die Verteidigung des Status Quo hinausgehen.“ Und weiter: „Sie müssen die richtige Balance zwischen Wertgebundenheit und Wandlungsfähigkeit finden. Es geht für sie um die Selbstbehauptung und Selbsterneuerung in einer Welt, die sich politisch, sozial und ökonomisch grundlegend verändert hat und kaum mehr der Welt ähnelt, in der die Gewerkschaftsbewegung vor mehr als anderthalb Jahrhunderten in Deutschland entstanden ist.“ (S. 80)
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Damit nimmt Schönhoven ein Thema vorweg, dass in den weiteren Aufsätzen des Bandes nur marginal erschlossen wird und gewiss einem separaten Beitrag gerecht gewesen wäre: Die Veränderungen der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsorganisation in neuen und alten Branchen. Die Schlagwörter des „Crowdworking“ in digitalisierten Arbeitsbereichen, der „indirekten Steuerung“ hin zu neuem „Selbstunternehmertum“ sind nur Beispiele aus der neueren Arbeitsforschung, die auch Veränderungen von Solidaritätsmustern mit sich bringen, auf die sich die Gewerkschaften in Zukunft einstellen müssen. Schließlich dürfen Gewerkschaften nicht zu alleinigen Sachwaltern des Sozialplans in alten Branchen werden. Der zweite Beitrag im Handbuch ist von Josef Esser. Er ist schon in der ersten Auflage erschienen und konnte leider aufgrund des frühzeitigen Todes des renommierten Politikwissenschaftlers nicht von ihm überarbeitet werden, was allerdings der Aktualität und Tiefe seiner Thesen keinen Abbruch tut. Essers Aufsatz „Funktionen und Funktionswandel der Gewerkschaften in Deutschland“ ist einer der wenigen Beiträge im Band mit einer gesellschaftstheoretischen Dimension, aus der die Rolle und Bedeutung der Gewerkschaften in modernen, kapitalistischen Gesellschaften differenziert hervorgeht. Esser klärt nicht nur über das Verhältnis der deutschen Gewerkschaften zum Staat und den Arbeitgeberverbänden in interessenpolitischen Konstellationen auf, er diskutiert auch den Klassencharakter und die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmerorganisationen. Gerade über diese verschiedenen Referenzpunkte erschließt sich der komplexe Vermittlungsprozess von Arbeitnehmerinteressen im Modell Deutschland. In der Gewerkschaftsforschung wird hier zwischen Einfluss- und Mitgliederlogik unterschieden – zwischen substantiellen Interessen, der institutionellen Einflusssphäre des Staates und vorausschauenden, aufklärerischen Ansprüchen, die der gesellschaftlichen und gewiss auch historischen Rolle der organisierten Arbeit entsprechen. Gerade in diesem Bedingungsgefüge bildet sich die tagespolitische Konstellation der Gewerkschaftspolitik ab. Ein historisch bedingtes Defizit an Essers Text ist zweifellos der fehlende Bezug auf neue klassenpolitische Herausforderungen durch das gewachsene Prekariat im Niedriglohnbereich, dafür klingen seine Schlussfolgerungen zur europäischen Währungspolitik und den damit verbundenen „Einschränkungen in der Sozial- und Tarifpolitik“ umso aktueller. Wolfgang Streeck schließt mit einem historischen Überblick der „Gewerkschaften in Westeuropa“ den ersten Geschichts-Teil des Handbuchs ab. Wobei hier angemerkt werden muss, dass auch die Beiträge in den folgenden Teilen des Bandes viele historische Bezüge haben. Streeck mahnt am Ende seines Aufsatzes an, dass die Gewerkschaften dem ökonomischen Strukturwandel offener gegenüber treten sollten. Sie müssten sich sowohl den „Gewinnern“, als auch den „Verlierern“ des ökonomischen Wandels öffnen. Die Gegenüberstellung dieser beiden Typen (Gewinner und Verlierer) impliziert den anonymen „Druck des Marktes“, der als
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unhinterfragbares Subjekt der Modernisierung über Gewinn und Verlust allenthalben richtet. Inwieweit aber hinter diesem vermeintlichen Markt - im Singular - Interessen stehen, analysiert Streeck nicht mehr. Denn die gegenwärtig kritisch diskutierten Privatisierungsoffensiven der vergangenen Jahre und ihre Bewertung unter Effizienzkriterien, machen deutlich, dass „Marktdruck“ mehr mit Lobbying zu tun hat, als mit vernünftiger und transparenter Wirtschaftspolitik. Auch in weiteren Texten des Handbuchs ist nur marginal von Outsourcing, Betriebsübernahmen, Kapitalverflechtungen und neuen Beteiligungsoffensiven über Produkte an den Finanzmärkten die Rede. Denn zweifellos besitzt der Wandel auch objektiv fassbarere Veränderungen. Zum Beispiel ist für die Gewerkschaftspolitik von entscheidender Bedeutung, wie sich die Struktur und Praxis der Kapitalseite als deren Kontrapunkt in den letzten Jahren gewandelt hat. Gerade die Analyse dieser neuen Gestalt des Kapitals bedingt das von Gewerkschaften häufig zitierte Verhandlungspostulat der „Augenhöhe“. Eine genaue Sicht auf diesen Transformationsprozess würde wohl Streeck für einen thematisch danach anders ausgerichteten Text ebenso anmahnen. Organize it! In Teil II geht es um die Organisationsentwicklung der Gewerkschaften, ihrem eigentlichen Hauptthema im 21. Jahrhundert, wie es Wolfgang Schroeder mit Bezug auf die Mitgliederorientierung schon in der Einleitung anspricht. Müller/Willke beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Multibranchengewerkschaften als Strategie für mehr Handlungsmacht und gegen Mitgliederrückgang. Das führt zwangsläufig zur Betrachtung der Fusionswelle zu Beginn des Jahrtausends. Die Intentionen dieser damaligen Strategie sind gewiss nach einem Jahrzehnt kritisch-differenziert zu betrachten. Die Grundintention der Fusionen steht aber auch heute nicht in Frage. Ebbinghausen/Göbel gehen schon konkreter auf das ganz zentrale Problem „Mitgliederrückgang“ ein. Auf Seite 217 werden die politisch-ideologischen Defizite bei der Betrachtung der Mitgliederfrage und des Organisationsgrades deutlich. Es geht (in meinen Worten) darum den Wertewandel zu erfassen, denn Aspekte der sozialen Normen, ideologischen Trends und politischen Stimmungen sind bei der Betrachtung von Solidarität maßgebend. Ihre Interpretation sollte nicht nur PRAgenturen unter Marketinggesichtspunkten überlassen bleiben, denn authentische Solidarität ist nicht marktgängig. Auf Seite 236 relativieren Ebbinghaus/Göbel zu Recht die ausnahmslose Orientierung auf die Dienstleistungsfunktion der Gewerkschaften und halten ihr die Beteiligungsorientierung entgegen. Das ist ein ganz zentraler Aspekt, denn die reine Mitgliederorientierung nach marktgängigen Dienstleistungsfunktionen macht Gewerkschaftspolitik zum reinen „Business“, dass schon Otto Kirchheimer in Bezug auf die amerikanischen Gewerkschaften folgendermaßen kritisierte:
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„Wenn die Gewerkschaft den Charakter eines rationalen Geschäftsbetriebs annimmt, ist das einzelne Mitglied ebenfalls geneigt, die Mitgliedschaft unter dem Blickwinkel des >Geschäfts< zu sehen. Wann immer es ihm vorteilhaft erscheint, trennt es seine Wege von denen der Gewerkschaft.“ (Zur Frage der Souveränität, in: Politik und Verfassung, Frankfurt am Main 1964, Seite 73) Die Mitgliederorientierung sollte aber auch nicht in einem reinen Klientelismus ausarten, denn auch die politische Einflussstrategie der Gewerkschaften bzw. ihre Erfolge haben eine enorme Auswirkung auf die Mitgliederbindung. Der nächste Beitrag „Innere Rechtsverfassung der DGB-Gewerkschaften“ von Gregor Asshoff ist allen hauptamtlichen Funktionären der Gewerkschaften wärmstens zu empfehlen. Hier wird unter anderem deutlich, warum die Gewerkschaften kein „Allerweltsverein“ wie der ADAC sind. Ihre vereinsrechtliche und gesellschaftliche Position geht deutlich über Partialinteressen hinaus. Die Politik der Gewerkschaften Berndt Keller eröffnet mit einem Beitrag über Interessenpolitik im Öffentlichen Dienst den dritten Teil des Handbuchs. Der Aufsatz relativiert in gewissem Maße den industriellen Schwerpunktbezug der vorherigen Texte. Wenn über Gewerkschaften geschrieben wird, sollte natürlich ihr gesellschaftlicher Gegenpart nicht außer Acht gelassen werden: die Arbeitgeberverbände. Schroeder/Silva thematisieren organisationssoziologisch die Gestalt der Verbände. Der Wandel der Arbeitgeberverbände ist wichtig und zentral auch für die Betrachtung der Gewerkschaften, auch in Hinblick auf Internationalisierungen, die in diesem Beitrag ein wenig zu kurz kommen. Danach folgt Josef Schmid mit einem Aufsatz über die Bedeutung bezirklicher Gewerkschaftsstrukturen für die innerorganisatorischen Prozesse. Das ist ein wichtiger Aspekt für die Betrachtung der föderalen Gewerkschaftsstruktur, um den demokratischen Aufbau der Arbeitnehmerorganisationen zu verstehen. Anschließend diskutiert Helmut Wiesenthal die Veränderung des „Modells Deutschland“. Im Vergleich zu Analysen von Paul Windolf, Josef Esser und Wolfgang Schroeder sind seine Befund eher schwach, weil er auf politisch-ökonomische Betrachtungen verzichtet, mit denen die Globalisierungsprozesse und neuen Machtverhältnisse im Finanzkapitalismus detaillierter erfasst werden könnten. Die partielle Eindimensionalität seiner Analyse wird auch daran deutlich, dass er den Niedergang der Sozialpartnerschaft im „Modell Deutschland“ an fehlender Flexibilität und Innovationsbereitschaft festmacht und weniger am impliziten Druck der Wettbewerbsfähigkeit und dem unternehmerischen Zwang zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität.
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Die Kernaufgabe Jürgen Kädtler eröffnet mit seinem Beitrag „Tarifpolitik und tarifpolitisches System“ den vierten Teil und macht äußerst präzise deutlich, welchen tarifpolitischen Herausforderungen die Gewerkschaften ausgesetzt sind. Im nächsten Aufsatz wird von Hanna Jeanrond die besondere, deutsche Sicherungsstruktur im Sozialsystem thematisiert. Danach folgt ein Aufsatz über „Gewerkschaftliche Betriebspolitik“ von Hans Joachim Sperling, der die Folgen der „Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen“ diskutiert. Er verliert allerdings kein Wort über den zunehmenden Rückgang der betrieblichen Integration in neuen und alten Branchen durch Auslagerung, Leiharbeit, Crowdworking, Werkverträge etc. . Müller-Jentsch erklärt in seinem folgenden Aufsatz „Mitbestimmungspolitik“ sehr differenziert und verständlich die Bedeutung der Mitbestimmung für die bundesdeutsche Gewerkschaftsdiskussion. Der unmittelbare Zusammenhang von betrieblicher und außerbetrieblicher Demokratie kommt dabei sehr anschaulich zum Tragen und wird die letzten Vertreter des „Herr im Haus“-Standpunktes in ihre autoritären Schranken weisen. Wer sich über die formalisierten Arbeitskampfinstrumente Streik und Aussperrung, ihre Entwicklung, Entstehung und Bedeutung informieren will, dem sei der nachfolgende Beitrag von Friedhelm Boll und Viktoria Kalass ans Herz gelegt. Internationale Solidarität Reutter und Rütter eröffnen mit ihrem Aufsatz über das internationale Engagement der Gewerkschaften den fünften und letzten Teil „Gewerkschaften im internationalen Umfeld“. Die Autoren merken kritisch an, dass die Gewerkschaften stets ihre nationalstaatliche Ausrichtung pflegten, was auch heute noch daran deutlich wird, dass nur annähernd ein Prozent der Einnahmen an internationale Organisationen abgeführt werden. Wolfgang Kowalsky stellt im nächsten Beitrag den Europäischen Gewerkschaftsbund detailliert dar. An seinen Ausführungen werden die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften im krisengeschüttelten Europa deutlich. Am Ende des fünften Teils beschäftigt sich Hans Wolfgang Platzer noch mit dem Zukunftsthema „Europäische Betriebsräte“ und dem Ausbau der europäischen Mitbestimmung. Nun folgt der sechste Teil mit „Zahlen, Daten und Fakten“ über die deutschen Gewerkschaften. Ein so komprimiertes Datenmaterial findet man in keiner anderen Publikation und erst recht nicht beim „Googeln“. Insgesamt ist das Handbuch eine runde und gelungene Zusammenstellung von wichtigen und zentralen Beiträgen über die deutschen Gewerkschaften. Auch wenn hier und da kritische Anmerkungen berechtigt sind und vielleicht auch Defizite erkennbar sind (zum Beispiel hätte man sich einen Aufsatz über den sozialen Wandel gewerkschaftlicher und anderer
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Lohnabhängigen-Milieus gewünscht) ist das Handbuch der Klassiker über Gewerkschaften in Deutschland und sei allen Personen, die sich für die Arbeitswelt interessieren, dringend empfohlen.
Autor: Dr. Kai Lindemann, Verantwortlicher Redakteur des Debattenmagazins GEGENBLENDE, geboren 1968 in Bremen
Europas Zukunft: Demokratische Zäsur oder Weiter-So? von Wolfgang Kowalsky Habermas, di Fabio, Scharpf und Streeck Es ist nicht verwunderlich, dass die Debatte um den neuen EUKommissionspräsidenten hohe Wellen geschlagen hat, denn es geht hinter der Personalie um Europas Zukunft. Das europapolitische Klima vor den EP-Wahlen bereitete den Nährboden für die Debatten. Interessant wäre es gewesen, wenn dann die laufenden Gespräche zum Koalitionsprogramm der großen Parteien im Europäischen Parlament transparenter abgelaufen wären. Die Sozialdemokraten hätten den Preis für ihre Zustimmung hochschrauben können, denn sie haben eigentlich insgesamt mehr Stimmen erhalten als die Europäische Volkspartei[1]. Die Höhergewichtung der Stimmen in den kleineren Ländern drehte allerdings das Wahlergebnis um. Die Europäische Volkspartei (EVP) hat in kleineren Ländern besser abgeschnitten, in denen weniger Stimmen benötigt werden, um einen Abgeordneten ins Europaparlament zu senden. Eine Lösung für dieses Dilemma ist langfristig nicht in Sicht. Die kurzfristigen Herausforderungen für die nächste Legislaturperiode des neuen Europaparlaments und der neuen Kommission sind allerdings bekannt: Bekämpfung der Jugend -und Massenarbeitslosigkeit, Regulierung des Finanzsektors, neue Sozialagenda, Europäisierung der Mitbestimmung, Austrocknen von Steueroasen, Einführung von Mindeststeuersätzen, Demokratisierung der economic governance, Konvent, Europäische Verfassung, Eurozonen-Parlament, wobei sich die Liste ohne weiteres verlängern ließe.
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Britische Diplomaten hatten vergeblich versucht zu erklären, daß das Europaparlament einen gefährlichen Machtkampf gegen den Rat der Staats- und Regierungschefs führe. Der ehemalige französische Premierminister Michel Rocard hingegen plädierte dafür, Großbritannien von dannen ziehen zu lassen. Sicherlich wird etwas leichtfüßig über den Brexit, den britischen EU-Austritt spekuliert, aber tatsächlich geht es wohl um ein Neuverhandeln der eingeschliffenen Spielregeln: Großbritannien hat sich in eine äußerst günstige Lage manövriert, mit britischem Rabatt, der weitreichenden Anwendung des Konsensprinzips unter Verzicht auf Mehrheitsabstimmungen im Rat mit den bekannten Folgen, daß von einer europäischen Sozialpolitik oder gar einer Sozialagenda nicht mehr die Rede ist, statt hard law nur von soft law auf den Tisch kommt und in Steuerfragen kein Vorankommen möglich ist. In dieser Gefechtslage hat Udo Di Fabio das Wort ergriffen. Aber auch weitere Kommentatoren haben sich in letzter Zeit über Europa zu Wort gemeldet: Jürgen Habermas, Fritz Scharpf und Wolfgang Streeck. Di Fabio Wer Udo Di Fabio als in der Regel seriös und abgewogen argumentierenden nachdenklichen Kopf kennen- und schätzen gelernt hat, reibt sich verwundert die Augen, daß er sich zum Habermas-Kritiker aufschwingt und die europapolitische Linie von Angela Merkel umstandslos unterstützt und billigt (FAZ 10.6.14, S.7). Seine Vorwürfe an Habermas lauten:
„gezielte Rechtsüberschreibung“ unter der Hand Verstaatlichung des Vertragsverbunds der EU Hochschreiben der Kommission zur Regierung Europas „wer den genetischen Code der Integration verändern will, geht in ungewisse, in eine gefährliche Zukunft“ kurzum: Habermas „will ein anderes Europa“
Der politisch-philosophische Beitrag von Habermas zur europapolitischen Debatte, stets weit über die bundesdeutschen Grenzen hinaus rezipiert, wird von Di Fabio ausgegrenzt und quasi als Rechtsübertretung gebrandmarkt. Wertekonservativ zu sein ist das eine, jeden Veränderungsvorschlag als potentiellen Rechtsbruch abzukanzeln, das andere, wobei das erste das zweite keinesfalls einschließt. Di Fabio liefert Schützenhilfe für eine konservative Linie, die der Strategie der britischen Konservativen gefährlich nahe kommt. Sodann unterschreibt er folgerichtig die Politiklinie der Kanzlerin, derzufolge es keine Alternative zu ihrer Politik gibt. Eine Debatte erübrigt sich somit eigentlich.
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Seine Unterstützungslinie für Angela Merkel geht folgendermaßen:
die Europawahl sei „keine personalisierte Richtungswahl“ Vorwürfe gegen „eine angeblich zaudernde oder lavierende Kanzlerin“ gehen ins Leere sie verhalte sich den Buchstaben und dem Geist der Europäischen Verträge entsprechend „rechtstreu“ es gehe um die „politische Richtungsentscheidung“, „ob der sechs Jahrzehnte währende Bund eines Europas der Grundfreiheiten, des Binnenmarkts und der offenen, sozialen Marktwirtschaft weiter gelten soll“ es gehe nicht um „bornierte Austerität“, sondern eine „Schuldenfalle“ „wir sollten nicht vergessen, daß es der Bruch der Stabilitätskriterien war, der die europäische Schuldenkrise maßgeblich verursacht hat“
Die Europawahl habe demnach keinen Bruch bedeutet und die Politik des Weiter-So (des Verhandelns hinter verschlossenen Türen zum Auskungeln des nächsten Kommissionspräsidenten) wäre nach Lage der Dinge die einzige akzeptable Politiklinie. Tatsächlich jedoch war die Europawahl von neuer, anderer Qualität, wie Habermas es bereits analysiert hat. Nie zuvor gab es eine solche Bipolarisierung einer Europawahl. Erstmals seit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament von 1979, als die Wahlbeteiligung noch bei 62 Prozent lag, ging sie nicht weiter bergab, vielmehr konnte die Abwärtsbewegung gestoppt werden. Viele hatten sich erhofft, durch die Bipolarisierung des Wahlkampfs eine Trendwende herbeizuführen, und es bleibt fraglich, ob ohne die Bipolarisierung auch nur ein Stop, eine Talsohle zustande gekommen wäre. Eine Extrapolation des Trends hätte ein Absinken der Wahlbeteiligung auf deutlich unter 43 Prozent (auf diesem Niveau lag die Wahlbeteiligung 2009) bedeutet. Wenn nun die Entscheidung über den Kommissionspräsidenten wie zuvor de facto dem Rat überlassen würde und das EP auf die Funktion des Ja-Sagers, des Abnickers beschränkt würde, wäre die Folge für die nächste Europawahl unabsehbar. Angesichts des großen Vertrauensverlusts, den die EU seit 2007 erleidet, ist die sich anbahnende Trendwende bei der Wahlbeteiligung bemerkenswert. Auch inhaltlich muß Di Fabio widersprochen werden: Die Schuldenkrise ist nicht maßgeblich vom Bruch der Stabilitätskriterien verursacht worden, sondern von deregulierten Finanzmärkten, die die Staaten zu nie dagewesenen Rettungsaktionen zwangen. Diese Rettungsaktionen sind zu einem permanenten Element der derzeitigen Austeritätspolitik und economic governance geworden und belaufen sich auf die gewaltige Summe von 1.839,5 Milliarden Euro von 2008 bis 2012 oder 14,2% des BIP von 2012[2]. Über die Kosten herrscht Transparenz, nicht jedoch über die Profiteure: Für Europa und die USA summierte sich die Bankenrettung auf 3,3 Billionen Euro – aber für 95 Prozent der Steuergelder ist nicht bekannt, welche Gläubiger gerettet wurden. Die Kampflinien sind klar: auf der einen Seite die Stütze
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für die Banken ohne klare Gegenleistung, auf der anderen Seite die Lobby der Finanzindustrie gegen Regulierung. Die ständigen Beihilfen für den Finanzsektor setzen sich fort wie business as usual. Die Regulierung der Finanzmärkte ist weiterhin ein Desiderat und eine Finanzkrise wie 2007/8 kann sich jederzeit wiederholen, wie Fachleute nicht müde werden zu betonen: Regierungen und Steuerzahler sind weiterhin in Geiselhaft. In diesem Bereich der Finanzmärkte herrscht nach der Zauderpolitik von Barroso-Merkel ein inkommensurabler Handlungsbedarf. Ebenso bei der Besteuerung. Wann werden Gewinne endlich dort besteuert, wo sie anfallen, anstatt daß die Staaten die unmöglichsten Konstruktionen zulassen, um Gewinne zu lächerlich geringen Sätzen zu versteuern oder ganz unversteuert zu lassen? Wann werden die ständigen Eingriffe in die Tarifautonomie gestoppt? Di Fabio betrachtet die Tarifautonomie als Weg zu einem sozialen Konsens für unabdingbar, schweigt sich aber dazu aus, daß die Kommission beispielsweise in Gestalt der Troika Eingriffe in sie für rechtens hält. Di Fabio behauptet, die Union hätte einen „fairen Rahmen“ geschaffen, doch genau diese Fairness sehen viele Europäer nicht und haben daher den Protestparteien ihre Stimme gegeben. Dieses Zeichen muß ernst genommen werden und ein erster bescheidener Schritt war die Benennung eines weitsichtigen Kommissionspräsidenten, der nun gefordert ist, die Weiter-So-Austeritäts-Politik zu beenden und der sozialen Gerechtigkeit und Solidarität den Weg zu bahnen. Ein Blick in die bahnbrechende Studie von Thomas Piketty zeigt, daß die Ungleichheiten in Europa auf einen neuen Höchststand zustreben, wie er seit der Belle Epoque im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert nicht mehr da war. Piketty zufolge wird die ungleiche Vermögensverteilung zum Regelfall, und eine winzige soziale Schicht ist dabei, sich einen stetig wachsenden Anteil am Weltvermögen anzueignen[3]. Die Finanzvermögen in Steuerparadiesen sind bereits bedeutender als die Auslandsschulden der „reichen Länder“ (USA, Japan, Europa). Diese Herausforderungen gilt es anzupacken, statt jenseits der tatsächlichen Probleme und Herausforderungen gegen einen „Politikwechsel“ zu polemisieren. Di Fabio zieht es vor, die Lage zu entdramatisieren. Der Skandal der Massenarbeitslosigkeit kommt gar nicht vor in seiner Lagebeschreibung. Er zieht es vor, eine Ergebenheitsadresse an „die verhandelnde Kultur der Regierungen im Rat“ abzuliefern. Intransparenz und Kungelei hinter verschlossenen Türen mutiert bei ihm zur „Kultur“. Schließlich beklagt Di Fabio, daß der Lissabonvertrag noch nicht überall umgesetzt sei. Da sollte er konsequenterweise logisch bleiben und die Regierungschefs ermahnen, das Wahlergebnis zu berücksichtigen, wie es der Vertrag vorsieht. Leider plädiert er aber genau für das Gegenteil und endet mit einer Lobhudelei auf die Kanzlerin: Auf sie richten sich „Hoffnungen und Erwartungen“ vieler weitsichtiger Europäer. Wo steht denn diese Bestimmung im Vertrag, daß die deutsche Kanzlerin eine solche zentrale Stellung einnehmen sollte?
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Streeck Wolfgang Streeck führt einen Großteil der Probleme Europas auf den säkularen Fall der Wachstumsrate zurück. Die Schwäche des Wachstums habe Regierungen und Zentralbanken verleitet, Druck auf die Lohnentwicklung auszuüben und eine Deregulierung der Finanzmärkte anzustoßen, eine Finanzialisierung der Ökonomie. Die Analysen von Piketty zeigen jedoch, daß die Annahme einer Korrelation zwischen Wachstum und gleichmäßiger Verteilung der Früchte nur in Ausnahmen gültig war. Vorherrschend ist vielmehr die Tendenz zur Abkopplung des auf Kapitaleigentum basierenden Vermögens von dem auf eigener Arbeit gebautem Reichtum. Mit anderen Worten: Den Rentiers fließen regelmäßig – nicht nur in Zeiten von Finanzkrisen – mehr Einkünfte zu als den arbeitenden Menschen. Höheres Wachstum bedeutet also stets auch höhere Zuflüsse für die „happy few“. Das Verhältnis von Markt und Staat verschiebt sich weiterhin zugunsten der Märkte. Das Austeritätsregime, das auf dem Zurückschneiden des Staates und der Privatisierung von Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen basiert, verstärkt diese Verschiebung zu Ungunsten staatlicher Organe. Mittlerweile stellt sich die Frage, ob im Falle einer weiteren Blase die Staaten überhaupt noch in der Lage sein werden, eine nötige „Rettungsaktion“ möglich zu machen. Der Trend zu stärkeren Ungleichheiten und die nicht enden wollende Selbstbereichung der Superreichen kann sich zu einem Problem für den sozialen Zusammenhalt und die demokratische Verfaßtheit kapitalistischer Gesellschaften auswachsen. Piketty schlägt eine jährliche progressive Kapitalbesteuerung vor, um die Ungleichheitsspirale zu stoppen. Er erinnert daran, daß der Höchstsatz der Einkommenssteuern in den Nachkriegsjahren in den USA und Großbritannien zeitweise bei 90 Prozent lag. Davon sind wir heute Lichtjahre entfernt, obwohl die Vermögensungleichgewichte höher sind als damals. Das Verhältnis von Kapitalvermögen zum BIP in der Welt lag in den fünfziger Jahren noch unter 300 %, könnte jedoch sich bis zum Ende des 21. Jahrhunderts der 700 % Marke nähern. Habermas Jürgen Habermas hatte sich lange vor der Europawahl klar positioniert zugunsten von europäischen Spitzenkandidaten, die für unterschiedliche, konkurrierende politische Programme stehen. Eine Europäisierung der nationalen Wahlkämpfe durch die erstmalige Aufstellung von Spitzenkandidaten führe endlich zu einer Überwindung der nationalen Beschränktheiten in der Auseinandersetzung. Anders als die eher langweiligen und faden Europawahlkämpfe der Vergangenheit könnte eine Polarisierung mobilisierend wirken und somit die Wahlbeteiligung vor einem weiteren Sinkflug bewahren oder sogar steigern. Eine wiedergefundene größere Legitimation des Europaparlaments ginge einher mit einem Machtzuwachs in der institutionellen Triangel von Kommission, Rat und Parlament. Ein durchaus
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erwünschter Nebeneffekt wäre eine Links-Rechts-Zuspitzung, damit der schale Geschmack einer Pseudowahl zwischen Pro- und Anti-Europäern vermieden würde. Die von Barroso versuchte Abkanzlung von Kritikern an der vorherrschenden Kommissionslinie als „Antieuropäer“ stieß schon vielen als unzulässige Verkürzung auf. Aus Sicht der Barroro-Kommission ist die Teilungslinie simpel: die Kommission verkörpert die legitime europäische Linie und so finden sich Kritiker unversehens im Lager der „Antieuropäer“ oder „Nationalisten“ wieder. Habermas kritisiert seit Jahren die europäische Krisenpolitik, bei der demokratische Verfahren und Einrichtungen ohne eine funktionierende Öffentlichkeit zu bloßen Fassaden verkommen. Kommunikationskreisläufe würden von jeglicher inhaltlicher Substanz geleert und von den tatsächlichen Entscheidungsprozessen abgekoppelt. Angesichts der Auswahl des künftigen Kommissionspräsidenten legte er noch nach[4]: Die Versammlung der Regierungschefs nehme in Europa eine halbkonstitutionelle Stellung ein und müsse Macht an das Europäische Parlament abgeben, so daß es zu einer durchgängigen Gleichberechtigung komme. Es müssten Verfahren eingerichtet werden, die schon bei der Aufstellung von Spitzenkandidaten mit dem Europäischen Rat abgestimmt sind – so der Rat von Habermas. Scharpf Fritz Scharpf[5] hat als Ausgangspunkt seiner Kritik den übergreifenden Konsens in der Europapolitik, also die weitgehende Einigkeit zwischen Merkelscher Bundesregierung, Oppositionskräften und „deutschen Europäern“. Dieser großkoalitionäre Konsens wird regelmäßig, auch von Habermas, in Frage gestellt. Bei Scharpf sind wir mit einer Reihe von Prämissen konfrontiert: Eine „heilige Kuh“ ist bei Scharpf die “nationale Souveränität“, die wie eine feststehende Größe behandelt wird, als unverzichtbar und bewahrenswert, unabhängig von den äußeren Rahmenbedingungen, die sich ändern. Ein möglicher, drohender oder realer Souveränitätsverlust wird schlichtweg mit „Verlust“ von Handlungsfähigkeit, mit der „Entmachtung nationaler Politik“ gleichgesetzt. Das mögliche Gegenstück, die Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit in einer globalisierten Welt, beispielsweise durch die teilweise Europäisierung der nationalen Souveränität, durch „pooling“, das unter dem Strich eine Gewinngemeinschaft kreieren kann, kommt nicht vor. Scharpfs zweite „heilige Kuh“ ist die Einschätzung der europäischen Integration als „Über-Integration von ökonomisch, sozial, institutionell und politisch viel zu heterogenen Mitgliedstaaten in einer Währungsunion“. Diese apodiktische Ansage wird nirgends durch einen Vergleich oder Maßstab untermauert (auch in den USA sind ökonomisch, sozial und politisch heterogene Mitgliedstaaten zu einem großen Ganzen zusammengefasst). Eine weitgehende „Homogenisierung“ scheint für ihn
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eine notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion zu sein, also eine „Harmonisierung“ der Ökonomie. Doch ist eine solche homogene Harmonisierung notwendig und politisch, ökonomisch, sozial und kulturell wünschenswert? Ein ausgleichender Effekt geht zum Beispiel in den USA von der einheitlichen Besteuerung aus. Scharpf manövriert sich vielmehr in das Dilemma, daß er eine politische Union und eine Vollendung der Währungsunion ausschließt und die Forderung nach einheitlichen Mindeststeuersätzen (und auch sozialen Mindeststandards) und damit nach freiwilligem Souveränitätsverzicht zugunsten vertiefter Integration ausblendet. Seine dritte „heilige Kuh“ ist die unhinterfragte Grundannahme eines quasi ökonomischen Determinismus, der Politik als mehr oder minder direkten Ausfluss der Ökonomie betrachtet. Die Ökonomie bestimmt gewissermaßen die Politik, was auf eine linke Spielart der TINA-Politik hinausläuft. Scharpfs Kritik am europapolitischen Konsens ist aber auch in manchen Punkten stichhaltig, so kritisiert er zurecht die Ideologie, die die Staatskreditkrise auf eine verantwortungslose Staatsverschuldung zurückführt. Die Entscheidung für eine Währungsunion zwischen ökonomisch heterogenen Mitgliedstaaten hält er hingegen für von Anfang an verfehlt. Konsequenterweise führt er die drei Hauptdimensionen der Eurokrise auf die verfehlte Konstruktion der Währungsunion zurück: die Staatskreditkrise der GIPSI-Länder (im Gefolge der Bankenrettung), die NachfrageDepression der GIPSI-Länder, Leistungsbilanzdefizite und der Zwang zur realen Abwertung. Scharpf zufolge ist jede einzelne der drei Ursachen zu bewältigen, aber die derzeitige Politik verschärfe die erste und dritte Ursache gegen die zweite, die sich zur Legitimationskrise ausweiten kann. Solange an der Währungsunion im „derzeitigen Zuschnitt“ festgehalten werde, gäbe es keine Lösung. Eine Intensivierung der europäischen Integration mit dem Ziel der „politischen Union“ ändere daran nichts, so Scharpf. Da eine nominale Abwertung nicht mehr zur Verfügung stehe und Deutschland nicht zur Steigerung der Lohnstückkosten gezwungen werden könne, bleibe den GIPSI-Ländern nur eine reale Abwertung, also eine Senkung der nominalen Löhne, wie es von der Troika vorgeführt wird. Scharpf führt alle makroökonomischen Ungleichgewichte einseitig auf die Differenz der Löhne zurück und übernimmt damit eine neoklassische Argumentation. Die insbesondere von der Troika verfolgte interne Abwertung durch Lohnkürzungen wird zwar von wirtschaftsliberalen Auguren als Erfolg der Austeritätspolitik gefeiert, hat jedoch keinen Nutzen gebracht, da die inzwischen eingetretenen Rückgänge der Zahlungs- und Leistungsbilanzdefizite weitgehend einem krisenbedingten Einbruch der Binnennachfrage geschuldet sind. Wenn allerdings Scharpf‘s Prämissen falsch sind, kann es um die Schlußfolgerungen nicht viel besser bestellt sein. Die Währungsunion war von Anfang an ein politisch gewolltes Konstrukt, ein Produkt politischen Voluntarismus und ihr Fortbestand ist ebenfalls das Ergebnis einer
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bestimmten Politik – und an diesem Punkt kommen die Alternativen ins Spiel: Soll die Währungsunion mit einer austeritätsfixierten Politik, einer Schuldenbremse, einer nur bedingt demokratischen Form der „economic governance“ ausgestattet und auf der Grundlage einer ad-hoc-Banken-Rettungspolitik weitergeführt werden oder ist ein Kurswechsel möglich, der mit dem Stichwort Europäischer Investitionsplan („Marschallplan“) zu charakterisieren ist? Scharpfs Ansatz hat – ähnlich wie Di Fabios Plädoyer – den Effekt, diese Alternativen unsichtbar statt sichtbar zu machen. Genau das Gegenteil ist wichtig. Nur von „sozialem Europa“ zu reden reicht nicht mehr aus. Es muss eine Abkehr von der Austeritätspolitik eingeleitet werden und eine Diskussion über eine ambitionierte europäische Sozialagenda in Gang kommen, die sich nicht auf weiche Ziele beschränkt, sondern harte Ziele aufgreift wie eine Europäisierung der Mitbestimmung, eine verfassungsgebende Versammlung, eine Stärkung der sozialen Grundrechte gegenüber den Marktfreiheiten und eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen Markt und Staat.
Literatur/Quellen: [1] Daniel Gros, Who won Europe? http://www.projectsyndicate.org/commentary/daniel-gros-rejects-the-view-that-jean-claude-junckerhas-a-democratic-mandate-to-lead-the-european-commission [2] Benchmarking Working Europe 2014, p. 7. Andreas Botsch spricht sogar von 5.100 Milliarden, in: Finanzmarktregulierung nach der Krise, Gegenblende 17. Juni 2014. [3] Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle; Paris 2013, Grafik 12.4 auf S. 738. [4] Jürgen Habermas, „Nationalistische Gespenster rumoren“, in: Kölner StadtAnzeiger 13.06.2014 [5] http://www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/die-zukunft-dereuropaeischen-union/artikel/detail/entmuendigung-als-loesung/
Autor: Dr. Wolfgang Kowalsky, geboren 1956 in Köln, Referent beim Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB)
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Eine Platon-Steuer zur Verringerung der Einkommensungleichheit von Hagen Krämer Das neue Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty „Capital in the TwentyFirst Century“ hat der Debatte um die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung neuen Auftrieb gegeben.[1] Bereits in seinen früheren Forschungsbeiträgen hatte Piketty auf die rasante Abkoppelung der obersten Einkommensschichten von der allgemeinen Einkommensentwicklung hingewiesen.[2] Bekanntlich hat sich vor allem in den USA und in Großbritannien der Anteil des Einkommens, der an die oberen 10% und an die oberen 1% der Haushalte geht, in den letzten Jahren enorm erhöht.[3] Wie die Arbeit von Anselmann (2013) belegt, haben aber auch in Deutschland vor allem die Zuwächse am obersten Ende der Verteilung zur Vergrößerung der Einkommensungleichheit beigetragen.[4] Aktuelle Umfragen zeigen, dass es einen weitverbreiteten Wunsch in der deutschen Bevölkerung gibt, die in den letzten Jahren entstandene Ungleichheit bei der Einkommensverteilung wieder zu korrigieren. Da die „unsichtbare Hand des Marktes“ hierfür nicht sorgen wird, erfordert eine Korrektur der Einkommensungleichheit staatliches Handeln. Hierbei müssen prinzipiell zwei verschiedene Ebenen unterschieden werden: Zum einen könnte auf der Marktebene direkt in den Prozess der Einkommensentstehung eingegriffen werden. So werden Mindestlöhne (oder auch Höchstlöhne) die Bildung von Markteinkommen (Primärverteilung) beeinflussen. Die meisten Ökonomen raten allerdings aus verschiedenen Gründen von direkten Eingriffen in die Primäreinkommensentstehung ab. Um bestimmte verteilungspolitische Ziele zu erreichen, wird daher vorwiegend durch eine Umverteilung der erwirtschafteten Einkommen eine gleichmäßigere Verteilung der Nettoeinkommen (Sekundärverteilung) angestrebt. Hierzu dienen einerseits Steuern und Abgaben sowie andererseits staatliche Transferzahlungen. Die Erhebung von Steuern und Abgaben dient vielerlei Zwecken. Einer davon ist die Umverteilung der erwirtschafteten Einkommen von den Einkommensstarken zu den Einkommensschwachen. Dass dies eine wichtige Aufgabe in einer sozialen Marktwirtschaft ist, offenbart ein Blick auf die empirischen Fakten. Die Einwicklung der Einkommensverteilung 2000-2010 Wie Abbildung 1 zeigt, gehört Deutschland zu den OECD-Ländern, in denen die Ungleichheit bei der Verteilung der Markteinkommen vergleichsweise groß
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ausfällt.[5] Sie ist fast so hoch wie in den USA. Nur dank einer ausgeprägten Umverteilung ist Deutschland bei der Verteilung der Nettoeinkommen (Einkommen nach Steuern, Abgaben und Transfers) deutlich egalitärer als die USA und einige andere Länder. Aber selbst das im internationalen Vergleich relativ große Ausmaß der Einkommensumverteilung hat in Deutschland nicht verhindern können, dass die in den letzten Jahren bei den Markteinkommen deutlich auseinandergegangene Schere zwischen Arm und Reich auch auf die Nettoeinkommen durchgeschlagen ist. Hätte man dies unterbinden wollen, wäre es erforderlich gewesen, das Ausmaß der Umverteilung noch weiter zu erhöhen.[6]
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Um zu verhindern, dass die Nettoeinkommensverteilung noch ungleicher wird, hat Nobelpreisträger Robert Shiller mit Kollegen eine Indexierung der Steuersätze an die Verteilung der Markteinkommen vorgeschlagen.[7] Bei einer solchen Koppelung würde die Progression und damit die Umverteilungswirkung des Einkommensteuersystems automatisch zunehmen, wenn sich die Ungleichheit der Markteinkommen vergrößert. Hintergrund dieses Vorschlags ist die Beobachtung, dass das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre in den USA (wie auch in Deutschland) nur den oberen Einkommensschichten zugutegekommen ist, während die unteren und mittleren Schichten reale Einkommensrückgänge hinnehmen mussten. Bezugnehmend auf ein Zitat von US-Präsident John F. Kennedy aus dem Jahr 1962 („A rising tide lifts all boats“) erhofft man sich von einem solchen „RisingTide-Tax-System“, dass „die Flut tatsächlich alle Boote anhebt und nicht nur die Yachten“[8]. Der Vorschlag von Shiller u.a. hat allerdings zur Folge, dass der Status-Quo der Nettoeinkommensverteilung auf Dauer fixiert würde. Wenn die bestehende Einkommensverteilung jedoch als unangemessen bzw. ungerecht empfunden wird, muss man darüber hinausgehen und die Umverteilungsmaschine auf höhere Touren bringen. Allerdings stellt sich dann nicht nur unter Anreiz- und Effizienzgesichtspunkten, sondern auch unter Gerechtigkeitsaspekten die Frage nach der Definition einer idealen Einkommensverteilung, die eine Gesellschaft anstreben sollte. Effiziente versus gerechte Einkommensverteilung Ökonomen tun sich schwer mit der Beurteilung von Einkommensungleichheit. Dies liegt zum einen daran, dass im heute dominierenden neoklassischen Paradigma vor allem Probleme der marktmäßigen Allokation und damit Effizienzfragen im Mittelpunkt stehen. Eine gleichmäßige Verteilung der Einkommen ist dabei kein Ziel an sich. Eher gilt das Gegenteil, weil davon ausgegangen wird, dass eine zu große Gleichheit der Einkommensverteilung negative Anreizwirkungen hat, die der Effizienz eines marktwirtschaftlichen Systems abträglich sind. Hinzu kommt, dass Gerechtigkeitsvorstellungen auf normativen Urteilen basieren und diese von den meisten Ökonomen als unzulässig angesehen werden. Daher hört man aus den Reihen der Wirtschaftswissenschaftler selten eine Aussage dazu, welche Verteilung gerecht sei. Überlegungen zur Gerechtigkeit der Einkommensverteilung überlässt die Wirtschaftswissenschaft daher eher anderen Disziplinen wie etwa der Philosophie, in der der Begriff der Gerechtigkeit traditionell eine bedeutende Rolle spielt. Der griechische Philosoph Platon beispielsweise hatte eine klare Vorstellung davon, was als eine angemessene Verteilung anzusehen sei. Er forderte: „[…] Nachdem der Gesetzgeber [die Grenze der Armut] als Maß hingestellt hat, mag er erlauben, seinen Besitz auf das Zwei-, Drei-, ja Vierfache hiervon auszudehnen. Wenn aber jemand
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noch mehr im Besitz hat, so soll er den Überschuss […] an den Schatz des Staates und seiner Schutzgötter abgeben.“[9] Anforderungen an eine „ideale Einkommensverteilung“ Auch wenn sich Platons Verteilungsnorm auf Vermögen bezog, soll aus diesem Vorschlag im Folgenden eine im Platon‘schen Sinne ideale Einkommensverteilung abgeleitet werden. Dabei wird die Sekundärverteilung (Einkommen nach Steuern, Abgaben und Transfers) auf der Ebene der privaten Haushalte zugrunde gelegt.[10] Das Ausmaß der Ungleichheit der Einkommensverteilung wird anhand der Verteilung auf Dezile betrachtet. Dafür werden die Haushalte nach der jeweiligen Höhe ihres Nettoeinkommens aufsteigend sortiert und in zehn gleich große Gruppen aufgeteilt. Das unterste (oberste) Dezil entspricht dabei dem Einkommensanteil der ärmsten (reichsten) zehn Prozent der Haushalte. Bei der Verteilung, die gegenwärtig in Deutschland existiert, nehmen die Einkommensanteile vom ersten bis zum zehnten Dezil jeweils überproportional zu. Ein einfaches Rechenbeispiel zeigt, dass bei einer derartigen progressiven Verteilung der Einkommen das zehnte Dezil zwangsläufig einen Anteil von mehr als 18,5% aufweisen wird. Je nach Ausmaß der Ungleichheit liegt der Anteil näher an oder weiter über diesem Wert.[11] Der realiter existierenden progressiven Dezilsverteilung soll im Folgenden das Idealmodell einer Einkommensverteilung im Sinne von Platon gegenüber gestellt werden, bei der der Abstand zwischen den Ärmsten und Reichsten ein definiertes Vielfaches nicht überschreitet. Dieses Verteilungsmodell einer idealen sozialen Marktwirtschaft zeichnet sich durch die folgenden drei wesentlichen Eigenschaften aus: 1. Die Einkommen sind zwar ungleichmäßig, aber nicht wie derzeitig extrem ungleich auf die einzelnen Dezile verteilt. Konkret soll angestrebt werden, dass die absoluten Einkommensunterschiede zwischen den Dezilen jeweils gleich groß sind (lineare Verteilung). Man könnte diesen Verteilungstypus als einen einigermaßen akzeptablen Kompromiss zwischen Markteffizienz und Verteilungsgerechtigkeit ansehen 2. Für die Festlegung eines Vielfachen zwischen dem ersten und zehnten Dezil lässt sich kaum ein rationales Kriterium festlegen. Das subjektive Empfinden über eine faire Verhältniszahl dürfte innerhalb der Gesellschaft stark variieren. Vermutlich würde die platonische Verteilungsnorm eines maximal vierfachen Einkommens (bzw. Vermögens) in der heutigen Zeit als zu eng angesehen werden. Für die folgenden Überlegungen soll daher die der Schweizer Volksabstimmung zur Begrenzung der Managergehälter aus dem Jahr 2013 „1:12 – Für gerechte Löhne“ zugrundeliegende Idee aufgenommen werden.
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Dieses Verhältnis leitet sich aus der Überlegung ab, dass der Bestbezahlte in einem Unternehmen in einem Monat nicht mehr verdienen sollte, als ein Geringverdiener in einem Jahr. Das Verhältnis zwischen dem untersten und dem obersten Dezil sollte demzufolge dem Faktor Zwölf entsprechen 3. Damit sichergestellt ist, dass das Einkommen des ersten Dezils oberhalb des Existenzminimums liegt, ist es darüber hinaus noch notwendig, das Modell mit der Bedingung zu verknüpfen, dass mit der absoluten Einkommenshöhe des ersten Dezils eine Grundsicherung gegeben ist. Eine Platon-Steuer auf Spitzeneinkommen Das folgende Zahlenbeispiel soll die Konsequenzen des Modells verdeutlichen. Für das Nettoeinkommen des ersten Dezils sei ein Wert von 100 Einkommenseinheiten angenommen, was einem Anteil von etwa 1,5% am Gesamteinkommen entspricht. Wenn die Einkommensdifferenz zwischen den einzelnen Dezilen konstant 123 Einkommenseinheiten beträgt, entfallen auf das zweite Dezil 223 Einkommenseinheiten, auf das dritte Dezil 346 Einkommenseinheiten usw. Auf das zehnte Dezil entfallen schließlich etwa 1.200 Einkommenseinheiten, was einem Anteilswert von 18,5% entspricht. Vergleicht man dies mit den tatsächlichen Werten für Deutschland, so zeigt sich, dass realiter der Anteil des Top-Dezils mit rund 24% hiervon deutlich nach oben abweicht, während insbesondere in der oberen Mitte der Einkommensverteilung die Anteile unterhalb der Referenzwerte liegen. Um eine lineare Einkommensverteilung gemäß dem hier vorgestellten Verteilungsmodell einer idealen sozialen Marktwirtschaft zu erreichen, wäre ein erhebliches Maß an zusätzlicher Umverteilung erforderlich. Dies ist angesichts der Einkommenshöhe, die das zehnte Dezil gegenwärtig im Vergleich zum Referenzwert für das oberste Dezil hat, nur durch deutlich höhere Spitzensteuersätze zu erreichen. Angesichts des klaren Befundes, dass in der jüngeren Vergangenheit fast ausschließlich die Einkommen der obersten Einkommensgruppen zugenommen haben, könnte eine Erhöhung der Spitzensteuersätze für die höchsten Einkommen eine mögliche Maßnahme sein, um die Ungleichheit der Einkommensverteilung nicht noch weiter anwachsen zu lassen bzw. um sie wieder zurückzuführen.[12] Aus einer Verteilungsnorm, die sich unter anderem an der Forderung des griechischen Philosophen Platon orientiert, dass der Abstand zwischen den unteren und oberen Einkommen ein bestimmtes Ausmaß nicht übersteigen sollte, lässt sich die Forderung nach einer „Platon-Steuer“ ableiten, die die höchsten Einkommen deutlich stärker als aktuell belasten würde.
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Literatur/Quellen: [1] Piketty, T. (2014): Capital in the Twenty-First Century. Cambridge, MA: Harvard University Press. [2] Vgl. z. B. Facundo A., Atkinson, A.B., Piketty, T., Saez, E. (2013): The Top 1 Percent in International and Historical Perspective, in: Journal of Economic Perspectives, Bd. 27(3), S. 3-20. [3] In den USA floss im Jahr 2010 fast die Hälfte der Bruttoeinkommen an die oberen 10% der Haushalte. Das obere 1 % der Haushalte bezog ca. 18% Prozent der Bruttoeinkommen. [4] Anselmann, Chr. (2013): Spitzeneinkommen und Ungleichheit. Die Entwicklung der personellen Einkommensverteilung in Deutschland. Marburg: Metropolis. [5] Das Ausmaß der Ungleichheit der Einkommensverteilung wird hier anhand des Gini-Koeffizienten dargestellt. Bei einem Wert von Null besteht eine maximale Gleichverteilung der Einkommen, während der Wert 100 die größtmögliche Ungleichverteilung anzeigt. Die Daten stammen aus: OECD (2013): OECD Income Distribution Database (Version September 2013), http://www.oecd.org [6] Insofern hat die sogenannte kalte Progression einen positiven Beitrag dazu geleistet, die Ungleichheit der Nettoeinkommen nicht noch weiter zu vergrößern. [7] Shiller, R. (2014): Better Insurance Against Inequality, in: New York Times, 13. April 2014, S. BU6. [8] Burman L., Rohaly, J., Shiller, R. J. (2006): The Rising Tide Tax System: Indexing (at Least Partially) for Changes in Inequality, http://aida.wss.yale.edu/~shiller/behmacro/2006-11/burman-rohaly-shiller.pdf , S. 4 (eigene Übersetzung). [9] Platon (1862): 5. Buch der Nomoi (Die Gesetze), in: Platons Werke, vierte Gruppe, neuntes bis fünfzehntes Bändchen (nach der Übersetzung von Dr. Franz Susemihl), Stuttgart: Metzler. [10] Konkret werden hier Haushaltsjahresnettoäquivalenzeinkommen betrachtet. Vgl. auch Krämer, H. (2014a): Verteilungsgerechtigkeit in einer sozialen Marktwirtschaft. Plädoyer für die Einführung einer Platon-Steuer, WISO direkt,
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Analysen und Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, Bonn: Friedrich-EbertStiftung, März. [11] Zur Herleitung der Zahlenwerte vgl. Krämer, H. (2014b): Ungleichheit, Marktversagen und Verteilungsnormen, in: Held, M., Kubon-Gilke, G., Sturn, R. (Hrsg.), Unsere Institutionen in Zeiten der Krisen, Jahrbuch Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik, Bd. 13, Marburg: Metropolis, S. 99-126. [12] Vgl. Bach, S., Haan, P. (2011): Spitzensteuersatz: Wieder Spielraum nach oben, in: DIW Wochenbericht Nr. 46 sowie Piketty, T., Saez, E., Stantcheva, S. (2014): Optimal Taxation of Top Labour Incomes: A Tale of Three Elasticities, in: American Economic Journal - Economic Policy, Bd. 6 (1), S. 230–271.
Autor: Prof. Dr. Hagen Krämer, Professor für Economics an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft
Hybride Wertschöpfung als Herausforderung für die Tarifpolitik von Markus Helfen, Manuel Nicklich, Jörg Sydow Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen als arbeitspolitische Herausforderung In jüngster Zeit sind neue Varianten altbekannter Beschäftigungs- und Kontraktformen wie Werkverträge (etwa als Regaleinräumer im Supermarkt, Handwerker in der Online-Versteigerung oder Programmierer im Crowdsourcing) und Leiharbeit (in der Krankenpflege genauso wie im Automobilbau) in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Debatte gerückt. Oftmals stehen dabei wissensintensive Tätigkeiten im Zentrum der Aufmerksamkeit wie z.B. die Softwareentwicklung, aber auch Forschung und Entwicklung, die schon immer auch jenseits der Standards des Normalarbeitsverhältnisses erbracht wurden. Jüngst aufgedeckte Skandale machen nochmal deutlich, dass die ethisch und politisch fragwürdige Nutzung von Werkverträgen auch in arbeitsintensiven, industrienahen Dienstleistungstätigkeiten anzutreffen ist. Solcherart einfache Tätigkeiten stehen zwar oft am Rande der öffentlichen und wissenschaftlichen Wahrnehmung, sind aber aus der deutschen Arbeitswelt keineswegs verschwunden (s. www.einfacharbeit.de ). Im Gegenteil ist im Zuge von Auslagerungen einzelner Dienstleistungen aus dem
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Wertschöpfungsverbund traditioneller Unternehmen ein Segment arbeitsintensiver Dienstleistungen mit mehr oder weniger fertigungsnahen Tätigkeiten entstanden, dessen Bedeutung in der Zukunft wohl eher noch zunehmen wird. So ist allein zwischen 2008 und 2012 die Anzahl der Beschäftigten der 15 größten Industriedienstleister in Deutschland um 18% angestiegen. Unsere Befunde aus dem von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Projekt „Tariflosigkeit auf dem Weg zum Normalzustand?“ an der Freien Universität Berlin zeigen, das in diesem Segment besondere Herausforderungen für Personalmanagement und Arbeitnehmervertretung bestehen. Bei (quasi-)externalisierter Arbeit kommt es regelmäßig dazu, dass sich unterschiedliche Vergütungsstandards im gleichen Arbeitskontext etablieren. Diese Fragmentierung arbeitspolitischer Standards resultiert aus den für Dienstleistungsproduktion typischen Dreiecksverhältnissen, bei denen die Beschäftigten einen Arbeitsvertrag mit einem Dienstleistungsunternehmen haben, allerdings im Arbeitskontext eines Kundenunternehmens tätig werden. Hierfür ist die Leiharbeit typisch. Allerdings zeigt sich triangularisierte Beschäftigung nicht nur bei der Erbringung von industrienahen Dienstleistungen aller Art, was dafür spricht - sie als ein allgemeines Phänomen zu verstehen.[1] Netzwerkförmige Reorganisation der Wertschöpfung Neben der bekannten Auslagerung von Produktionssegmenten durch transnational agierende Unternehmen, spielen die Aufspaltung, Zergliederung und Auslagerung von Unternehmensaktivitäten innerhalb Deutschlands eine ganz zentrale Rolle bei der Reorganisation der Wertschöpfung. Insbesondere die Auslagerung von industrienahen Dienstleistungen markiert in diesem Zusammenhang eine neue Stufe der Entwicklung. Zum Beispiel Facility Services (etwa Reinigung oder Werkschutz) und technische Services (wie etwa die Instandhaltung und Wartung von Anlagen und Maschinen bis hin zu sog. Betreiberdiensten) wachsen immer weiter in die Kernprozesse der Unternehmen hinein. Markante Beispiele sind etwa die ständige Präsenz der externen Serviceanbieter auf dem Werksgelände von produzierenden Unternehmen (sog. On-Site-Services). Für die produzierenden Unternehmen hat dies zunächst mehrere Vorteile: Einerseits können sie Lohnkosten einsparen und Risiken vermeiden, andererseits ergibt sich aus einer engen, wohl aber begrenzten Anbindung der Dienstleistungsunternehmen durch lange Vertragslaufzeiten und wiederholte Auftragsvergabe die Möglichkeit der Einflussnahme der Kundenunternehmen auf die Dienstleistungsunternehmen.[2] Aus der Perspektive der Service-Unternehmen lässt sich eine tendenzielle Entwicklung zum Generalisten erkennen, d.h. mehrere Dienstleistungen werden in gebündelter Form „aus einer Hand“ angeboten. Beispielsweise werden neben dem Werkschutz auch noch die Industriereinigung, die Kantine oder die Haustechnik für einen Kunden erledigt. Die Ausweitung des Dienstleistungsangebotes scheint unbegrenzt, in einzelnen Fällen werden auch Fitnessstudios oder Kindergärten von den Unternehmen gleich mit betrieben. Nimmt man das Gesamtgebilde aus Kundenbranchen und
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Dienstleistungen in den Blick, ergibt sich eine tertialisierte bzw. „hybride Wertschöpfung“, bei der die Leistungserstellung in einem Netzwerk koordiniert wird. Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen In dieser hybriden Wertschöpfung entwickeln sich generell sogenannte „MehrArbeitgeber-Beziehungen“, in denen die Beschäftigung aus Sicht der Arbeitnehmer jeweils von mehr als einem Arbeitgeber organisiert wird. Werden etwa mehrere unabhängige Arbeitgeber im selben Arbeitsprozess und am selben Arbeitsort tätig, spricht man von multi-employer sites. Der stetige Einsatz externen Personals – etwa in Form des Fremdbezuges von Teilleistungen – führt jedoch dazu, dass Arbeitnehmer im selben Arbeitskontext regelmäßig mit Unterschieden bei Vergütung und Arbeitsbedingungen - trotz ähnlicher Arbeitsaufgaben - konfrontiert sind. So arbeiten etwa in Chemieparks die unterschiedlichsten Firmen oftmals in einem Stoffverbund zusammen und nehmen dort jeweils die Rolle von produzierenden Unternehmen oder eben Serviceunternehmen ein. Die Beschäftigten in den Serviceunternehmen werden hierbei für verschiedene produzierende Unternehmen tätig und unterliegen dennoch nicht (mehr) den Tarifbestimmungen der chemischen Industrie, obwohl teilweise gleiche oder vergleichbare Tätigkeiten wie die der Chemie-Beschäftigten erledigt werden. Ein weiteres, prominentes Beispiel für ein solches Mehr-Arbeitgeber-Netzwerk ist das BMW-Werk in Leipzig, in dem ein großer Teil der im Wertschöpfungskontext tätigen Arbeiter nicht direkt bei BMW beschäftigt sind, aber für das Unternehmen ausgelagerte Tätigkeiten übernehmen. Arbeitspolitische Herausforderungen bei Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen Zentrale Herausforderungen bei der Entstehung von Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen ergeben sich vor allem für das Personalmanagement sowie für die kollektive Interessenvertretung. Diese lassen sich in erster Linie anhand von vier Aspekten verdeutlichen: 1. Ökonomisch: Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen erhöhen die Transaktionskosten, da die Unternehmen die entsprechenden Dienstleister suchen müssen, die qualitativ und bezüglich des Preises ihren Vorstellungen entsprechen. Zudem reduzieren die Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen Anreize für die Aus- und Weiterbildung von Beschäftigten und gefährden damit notwendige Investitionen in das Humankapital. Darüber hinaus können durch die Herauslösung und Abspaltung einzelner Prozessschritte Qualitätsrisiken für die Kundenunternehmen entstehen, da die Kontrolle über den gesamten Arbeitsprozess nicht mehr vorhanden ist. 2. Sozial: Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen erschweren die Integration der Arbeitsorganisation und führen beim Vergleich von Beschäftigten mit vergleichbaren Tätigkeiten aber unterschiedlicher Behandlung zu
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Unzufriedenheit in Bezug auf Vergütung und Arbeitsbedingungen (peer groups). 3. Psychologisch: Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen verursachen Identifikationsprobleme und Unsicherheitserfahrungen bei den Beschäftigten, da sich durch das Auseinanderfallen von Arbeits- und Beschäftigungsgeber die Frage der Zugehörigkeit bzw. des Zugehörigkeitsgefühls stellt. Dies kann sich ebenso wie der vorherige Aspekt negativ auf Motivation und Commitment auswirken. 4. Politisch: Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen erschweren eine geordnete Interessenaggregation, da die Entstehung von Produktions- oder Wertschöpfungsnetzwerken zu einer erschwerten Demarkation entlang von Branchen- oder Organisationsgrenzen führen, sodass sich ein Mismatch zwischen bisherigen institutionellen Settings (etwa dem branchenbezogenen Flächentarif) und der organisationalen Realität ergibt. Dadurch vervielfachen sich potentielle Konfliktherde und die Aushandlungsprozesse etwa bei der tarifpolitischen Standardsetzung werden aufgrund von Fragen der Zuständigkeit insgesamt erschwert. Damit steht auch das Einheitsprinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ in Frage. Die genannten Aspekte stellen große Anforderungen an das Personalmanagement, die Arbeitnehmervertretungen sowie die tarifpolitischen Kollektivakteure. Allerdrings zeigt sich auch, dass alle Akteure dieser Entwicklung nicht einfach nur ausgeliefert sind. Ansatzpunkte könnten zum Beispiel die Initiierung branchenübergreifender Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften (etwa bei der Leiharbeit oder einzelnen Industrie-Service-Unternehmen) oder die Neuausrichtung von Betriebsstrategien sein, um auf die netzwerkförmige Verbundenheit der Wertschöpfung mit netzwerkartigen Strukturen zu reagieren. Die arbeitspolitischen Akteure besitzen also durchaus Gestaltungsspielräume, mit denen auf die Herausforderungen aus Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen reagiert werden kann. Allerdings deutet sich auch an, dass die Sozialpartner Unterstützung vom Gesetzgeber im Umgang mit den Veränderungen durch die netzwerkförmige Reorganisation der Wertschöpfung benötigen. Ein gesetzlich verbindlicher, flächendeckender Mindestlohn ist dabei ein Anfang, um zumindest in den arbeitsintensiven Bereichen eine Gleichbehandlung bei der Vergütung in MehrArbeitgeber-Beziehungen zu gewährleisten.
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Literatur/Quellen: [1] Helfen (2014): Netzwerkförmige Tertialisierung und triangularisierte Beschäftigung: Braucht es eine interorganisationale Personalpolitik? In: Managementforschung, 24: 139-174. [2] Helfen/Nicklich (2013): Zwischen institutioneller Kontinuität und DeInstitutionalisierung: Industrielle Dienstleistungen als Parallelwelt überbetrieblicher Arbeitsbeziehungen. In: Berliner Journal für Soziologie 23(3-4): 471-491.
Autoren: Dr. Markus Helfen, geboren 1974, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Management-Department an der Freien Universität Berlin, Manuel Nicklich, geboren 1986, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Management-Department der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Jörg Sydow, geboren 1955, Professor für Betriebswirtschaftslehre am Management-Department der FU Berlin
Europäische Wirtschaftskrise und Demokratie von Joachim Perels Als unter der Regierung Papandreou im Herbst 2011 ein sogenanntes Reformprogramm zur Sanierung der griechischen Staatsfinanzen beschlossen wurde, plante die Regierung eine Volksabstimmung zum Sparpaket. Dieser Versuch einer demokratischen Legitimation der staatlichen Krisenbekämpfung rief die Staatschef Frankreichs, Nikolas Sarkozy und die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel auf den Plan. Sie lehnten offen die Volksabstimmung ab. Angesichts dieses massiven Drucks der wirtschaftlich mächtigsten Staaten Europas verzichtete der griechische Regierungschef auf die Volksabstimmung. Dieses Beispiel zeigt, dass die Bewältigung der kapitalistischen Wirtschafts-und Finanzkrise mit der Aufrechterhaltung der Prinzipien der Demokratie unter bestimmten Bedingungen nicht vereinbar ist. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass mit der großen Weltwirtschaftskrise 1929 und die mit ihr einsetzende hohe Arbeitslosigkeit, den zusammenbrechenden Kreditinstitutionen und dem Schwinden der Kaufkraft der starker Bevölkerungsschichten die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie in
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Deutschland nicht lange auf sich warten ließ. Damit wurden dann auch die persönlichen und politischen Freiheitsrechte, die der Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung einen legalen Handlungsspielraum gaben, massiv eingeschränkt. Es ging allein darum die Strukturen der kapitalistische Wirtschaft unter Krisenbedingungen politisch zu erhalten. Das geschah bekanntlich durch die Machtübernahme Hitlers, der in einer Rede vor führenden Industriellen am 18.Mai 1933 erklärte, dass sein Ziel darin bestehe, zur Überwindung der Wirtschaftskrise die „Gewerkschaften aufzulösen und das demokratische System zu liquidieren.“[1] Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 wurde das demokratische Gesetzgebungsverfahren durch ein autoritäres Exekutivrecht ersetzt. Im Jahr 1934 wurde dann das Betriebsrätegesetz der Weimarer Republik durch ein neues Arbeitsgesetz ersetzt, dass den Führergrundsatz im Betrieb installierte, womit die Arbeitnehmer direkt den Industrieherren unterworfen wurden. Franz Neumann, Justitiar des Parteivorstands der SPD 1932/33, hat die die Struktur der Krisenbewältigung präzise beschrieben: “Die Ziele der Monopolmächte konnten in einem System politischer Demokratie zumindest in Deutschland nicht erfüllt werden. Die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften waren, obwohl sie ihre streitbare Militanz verloren hatten, immer noch mächtig genug, um ihre Besitzstände zu verteidigen. Ihre defensive Stärke schloß es aus, den gesamten Staatsapparat in den Dienst einer partikularen Gruppe der Gesellschaft zu stellen...Die vollständige Unterjochung durch die industriellen Machthaber konnte nur mit einer politischen Organisation gelingen, in der es keine Kontrolle von unten gab, in der alle autonomen Massenorganisationen und jede Freiheit der Kritik beseitigt waren.“[2] Die Etablierung der Diktatur hatte zur Folge, dass sich das Lebensniveau der wirtschaftlichen Oberschichten verbesserte, während sich das der unteren Schichten verschlechterte: „Die Einkünfte aus Gehältern und Löhnen steigen von 1932 bis 1938 um 66,1,Przent, während das übrige Einkommen um 164,4 Prozent zunahm.“[3] Alternativen Für eine alternative Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftskrise, mit der die Demokratie bewahrt und ökonomisch erweitert wird, steht das Programm von USPräsident Roosevelt aus den dreißiger Jahren. Es beruht auf der zeitgenössischen Wirtschaftstheorie von John M. Keynes und zielte darauf durch staatliche Investitionsprogramme den Ausfall der Nachfrage zu kompensieren. Im Gegensatz zur gegenwärtig herrschenden Wirtschaftsdoktrin in der Eurokrise, ging es damals
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nicht darum durch öffentliches Sparen die Krise zu überwinden. Roosevelt ging davon aus, dass eine kreditfinanzierte Ankurbelung der Wirtschaft die Depression an der Wurzel treffen werde. Denn, wenn die Konjunktur in vollem Maße wiederhergestellt sei, kann der Staat so viel Geld einnehmen, dass auch die Kredite sukzessive zurückgezahlt werden können. Die keynsianische Überwindung der Krise, die in den USA in weitem Maße Ende der 30er Jahre gelang, war –im Unterschied zur Beseitigung der Demokratie und der Arbeiterorganisationen in Deutschland – dadurch bestimmt, dass die demokratischen Institutionen und die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften erhalten blieben.[4] Die Formen der jetzigen Krisenbewältigung in Europa werden in zentralen Fragen mehr und mehr von demokratischen Legitimationsformen abgekoppelt und exekutiven Instanzen überantwortet. Diese Politik hat ihren innersten Grund darin, dass die Handlungsstrategien der meisten Staaten sich am neoliberalen Paradigma staatlicher Sparpolitik orientieren. Damit unterwirft sich die öffentliche Gewalt weitgehend den Mechanismen der Privatwirtschaft, vor allem den finanzwirtschaftlichen Märkten. Die Formen demokratisch nicht oder nur halb legitimierter Krisenbewältigung sind vielfältig. Einige Exempel machen das deutlich: Von der Finanzkrise war in der Bundesrepublik die Bank HypoRealEstate wegen eines außerordentlichen Liquiditätslochs vom Zusammenbruch bedroht. Er wurde von der Regierung 2008 dadurch abgewendet, dass der Bank durch Bürgschaften und direkte Zahlungen am Ende etwa 150 Milliarden Euro in unterschiedlicher Weise zur Verfügung gestellt wurden. Das ist knapp die Hälfte des bundesdeutschen Haushalts in einem Jahr. Dieser exorbitante Betrag wurde damit gerechtfertigt, dass das Finanzunternehmen systemnotwendig sei. Die naheliegende Frage, ob angesichts der Teilfinanzierung der Bank durch öffentliche Gelder auch die Einbindung der Bank in das kapitalistische Regulationsprinzip der privaten Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Ertrags problematisiert werden müsste, tauchte in Politik und Öffentlichkeit nicht auf. Die Konzepte zur Überwindung der Finanzkrise werden allein unter den Repräsentanten der großen Banken und dem Bundesfinanzminister entwickelt. Peer Steinbrück berichtet in seinem Tagebuch über seine Tätigkeit am Sonntag, den 5. Oktober 2008: „Ich lud...kurz vor Mitternacht eine kleine Runde zu einem Gedankenaustausch über die Lage der Finanzmärkte in Deutschland ein. Nach meiner Erinnerung nahmen daran teil: Josef Ackermann (Deutsche Bank), Klaus-Peter Müller (als Präsident des Bundesverbands deutscher Banken), Martin Blessing(Commerzbank), Paul Achtleitner (Finanzvorstand der Allianz AG), Axel Weber (Bundesbank),
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Staatssekretär Jörg Asmussen und der Abteilungsleiter im Kanzleramt, Jens Weidmann.“[5] Zu diesem recht homogenen Kreis gehörte bezeichnenderweise kein Theoretiker keynesianischer Wirtschaftspolitik wie Prof. Peter Bofinger (Mitglied des Sachverständigenrates), der für die Überwindung der Krise durch staatliche Programme, die die Nachfrage ankurbeln, plädiert. Die politische Grundübereinstimmung der Besprechungsteilnehmer kommt in dem Bericht klar zum Ausdruck: “In diesem Kreis bestand Einigkeit, dass wir uns künftig in Deutschland nicht mehr von Krisenfall zu Krisenfall aufreiben können. Vielmehr müsste eine systematische, bankenübergreifende Lösung zur Stabilisierung des Finanzsystems gefunden werden. Von einigen Vorüberlegungen abgesehen war dieser Abend die Geburtsstunde des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes, dessen Entwurf bereits einen Woche später im Kabinett beschlossen wurde.“[6] Die Konzeption des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes wurde außerhalb der demokratischen Institutionen (wie Ausschüssen des Deutschen Bundestags) überwiegend von demokratisch nicht legitimierten Spitzenvertretern der großen Banken übereinstimmend mit dem Finanzminister entwickelt. Wie stark damit der partikulare Bezugsrahmen der Finanzwirtschaft dominiert, der mit dem wirtschaftlichen Wohl aller unversehens gleichgesetzt wird, ohne dass auch nur von einem Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Banken und der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung ausgegangen wird, zeigt sich in der Eintragung von Steinbrück in seinem Tagebuch am 10. Oktober 2008. Dort berichtet er über eine Konferenz der G7-Finanzminister, auf der die Erhaltung des privatwirtschaftlichen Bankensystems zum einzigen Bezugspunkt erklärt wird. Steinbrück schreibt: „Die Finanzminister bestärkten... ihre Erklärung..., dass sie in ihrer jeweiligen Verantwortung allein oder gemeinsam jede Bank stabilisieren würden, die für die internationale Finanzwelt systemrelevant sei.“[7] Das Stabilisierungsmechanismusgesetz vom 28. Februar 2010 unterlag einer vergleichbar ähnlich aushöhlenden Logik. Das Gesetz sah vor, dass unter bestimmten Bedingungen ein geheim tagendes Sondergremium des Parlaments von neun Abgeordneten über die Verwendung der exorbitanten Geldsumme von 211 Milliarden Euro entscheiden kann. Diese Regelung war Gegenstand eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht, das am 28. Februar 2012 das genannte Gesetz für verfassungswidrig erklärte. In den Entscheidungsgründen des Verfassungsgerichts wird die Denaturierung der parlamentarischen Demokratie minutiös sichtbar. Das Bundesverfassungsgericht konstatierte, dass das Gesetz „die nicht im Sondergremium vertretenen Abgeordneten von wesentlichen, die haushaltpolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestags berührenden Entscheidungen
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aus(schließt) und bewirkt dadurch eine Ungleichbehandlung hinsichtlich der aus dem Abgeordnetenstatus folgenden Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen der parlamentarischen Arbeit. Dadurch wird in die Rechte der im Sondergremium nicht vertretenen Abgeordneten eingegriffen, über eine Angelegenheit des Deutschen Bundestags zu beraten und zu ihr das Frage-und Informationsrecht des Parlaments auszuüben und schließlich darüber abzustimmen.“[8] Die in dem Gesetz negierte haushaltspolitische Verantwortung des Gesamtparlaments begreift das Bundesverfassungsgericht als notwendiges Funktionselement der parlamentarischen Demokratie, das nicht abdingbar ist: „Es ist dem Bundestag...untersagt, seine Budgetverantwortung derart auf andere Akteure zu übertragen, dass nicht mehr überschaubare budgetwirksame Belastungen ohne seine vorherige konstitutive Zustimmung eingegangen werden.“[9] Die äußerst eingeschränkte demokratische Repräsentanz des Sondergremiums wird dadurch noch verstärkt, dass unter bestimmten Bedingungen die Ausschaltung der Öffentlichkeit vorgesehen ist. Diese Regelung legt die Axt an die Wurzel des parlamentarischen Systems. Denn: „Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus. Entscheidungen von erheblicher Tragweite muss grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen in öffentlicher Debatte zu klären. Vor diesem Hintergrund ergibt sich der Grundsatz der Budgetöffentlichkeit aus dem allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie.“[10] Kurz: „Das Budgetrecht des Parlaments gehört zu den Grundlagen der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit im Verfassungsstaat.“[11] Das heißt: „Die Exekutive soll nicht im Wege der Kreditaufnahme und/oder der Gewährleistungsermächtigung das Budgetrecht des Parlaments aushöhlen oder umgehen.“[12]
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Gefährdungen der Demokratie Die Prozesse der Gefährdung der Demokratie durch die herrschenden, exekutiven Formen der Krisenbewältigung folgen einer Logik, die mit demokratischer Legitimation vielfach nicht vereinbar sind. Tatsächlich bezeichnet der (kritisch gemeinte) biblische Satz - „Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird noch genommen was er hat“(Mt.13, 12) – die Richtung einer im Kern an den Interessen der wirtschaftlichen Oberklassen orientierten Politik in der Krise. Die Strategie besteht darin, staatliche Unterstützungsprogramme in Form hoher Bürgschaften für privatwirtschaftlich organisierte Banken, die weiter nach Profitprinzipien arbeiten, mit der Herabsenkung des Lebensniveaus der ärmeren, auf Sozialleistungen angewiesen Schichten zu verbinden. Während der demokratisch nicht legitimierte Bereich der privaten Wirtschaft hohe Zuwendungen aus Steuergeldern erhält, um dessen Selbstreproduktion nach den Grundsätzen der betriebswirtschaftlichen Logik wieder in Gang zu bringen oder zu stabilisieren, wird die Masse der von staatlichen Unterstützungsleistungen Abhängigen ungeachtet kleinerer Verbesserungen zu einem niedrigeren Lebensniveau angehalten. Dies geschah, um einen für die Gesamttendenz wichtigen Indikator zu nennen, dadurch, dass die Kinderarmut, die vor der Hartz IV-Gesetzgebung 500.000 Kinder betraf, in Folge dieser Gesetzgebung mittlerweile auf 2,5 Millionen Kinder angestiegen ist. Ihr prekärer Status ist durch eine Begrenzung des staatlichen Unterstützungssystems für minderbemittelter Familien bedingt.[13] Das System der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums nimmt in der Krise eine verschärfte Form an. Der Staat nimmt, anders als in Prosperitäts- und Konjunkturperioden, in denen sich die private Wirtschaft relativ autonom marktvermittelt entwickelt, die Form eines tendenziell realen Gesamtkapitalisten ein, der die Abstützung und das Fortwirken des privaten Finanzsystems gewährleistet. Die dadurch für den öffentlichen Haushalt entstehenden zusätzlichen Kosten in der Größenordnung von mindestens 350 Milliarden Euro können nur bewältigt werden, wenn der Sozialhaushalt verschlankt wird. Die durch den Staat induzierte Verschärfung des Interessengegensatzes zwischen den privat über den Wirtschaftsprozess Verfügenden und den vom Großeigentum ausgeschlossenen breiten Schichten der Bevölkerung, die den größten Teil der Wähler ausmachen und in der Demokratie potentiell den größten Einfluss auf die Politik haben, erzeugt ein strukturelles Legitimationsproblem. Weil sich die demokratischen Legitimationsformen und die praktische Regierungstätigkeit in einem unauflöslichen, die Privilegierten privilegierenden und die Unterprivilegierten benachteiligen Widerspruch befinden, liegt es nahe, die Formen der Krisenbewältigung durch semiautoritäre Formen vor der öffentlichen Diskussion und Kritik zu schützen. Dies geschieht durch die Verlagerung von demokratisch zu legitimierenden Entscheidungen auf vertraulich tagenden, dem argumentativen Druck einer öffentlichen Debatte entzogenen Instanzen.
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Angesichts der Demokratiegefährdung in der ökonomischen Krise durch die „private Mobilisierung staatlicher Macht“[14] ist die Frage nach einer angemesseneren Struktur der Gesellschaft, die Ernst Wolfgang Böckenförde aufgeworfen hat, besonders relevant. Böckenförde gibt eine Antwort, die der Sache nach an die Vorstellungswelt zentraler europäischer Nachkriegsverfassungen Frankreichs, Italiens und der Bundesrepublik anknüpft.[15] Er plädiert für eine Demokratisierung der Wirtschaft, durch die letztlich die undemokratischste Variante aus Nazideutschland - das Bündnis zwischen Hitler und der Großindustrie - ein für alle Mal ausgeschaltet werden sollte.[16] Böckenförde schrieb mit Blick auf die Finanzund Wirtschaftskrise: „Der Kapitalismus...krankt nicht allein an seinen Auswüchsen, nicht an der Gier und dem Egoismus der Menschen, die in ihm agieren. Er krankt an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Idee und deren systembildender Kraft.“[17] Im Gegensatz zur herrschenden Akzeptanz des Kapitalismus, die in Steinbrücks Bemerkung zugrunde liegt, dass man keine definitive Ursache für den Ausbruch der Krise angeben könne,[18] entwickelt Böckenförde den Gedanken einer Überwindung des Systems der privaten Gewinnmaximierung: „An die Stelle eines ausgreifenden Besitzindividualismus, der das als natürliches Recht proklamierte Erwerbsinteresse des Einzelnen, das keiner inhaltlichen Orientierung unterliegt, zum Ausgangspunkt und zum struktureigenen Prinzip nimmt, müssen ein Ordnungsrahmen und eine Handlungsstrategie treten, die davon ausgehen, dass die Güter der Erde, dass heisst Natur, Umwelt, Bodenschätze, Wasser und Rohstoffe, nicht denjenigen gehören, die sie sich zuerst aneignen und ausnützen, sondern zunächst allen Menschen gewidmet sind, zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse und der Erlangung der Wohlfahrt.“[19] Eine derartige Perspektive verändert die fremdbestimmten, durch das System der privaten Verfügung bestimmte Stellung der Menschen im Produktions-und Reproduktionsprozess der Gesellschaft von Grund auf. Dann erscheint „Solidarität...als strukturierendes Prinzip auch im ökonomischen Bereich…(Die Menschen) werden Subjekte und Partner im Bereich von Nutzung, Handel und Erwerb statt Objekte möglicher Ausbeutung.“[20]
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Literatur/Quellen: [1] E.Czichon, Wer verhalf Hitler zur Macht? Köln 1967, S.3, siehe auch J. Perels, Kapitalismus und politische Demokratie, Frankfurt/M 1973, S.73 ff [2] F. Neumann, Behemoth .Struktur und Praxis des Nationalsozialismus, (1942/44), übersetzt von G. Schäfer, Köln 1977, S. 313 [3] Ebenda, S. 504 f. [4] R. Sering, Jenseits des Kapitalismus, Nürnberg 1947, S. 89, siehe auch Keynes` General Theory nach 75 Jahren, hrsg. von J. Kromphardt, Weimar bei Marburg 2011, C. u. M. R. Beard, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, Amsterdam 1949, S.429 ff [5] Peer Steinbrück, „Ich fühle mich getäuscht“. Das Krisentagebuch, Der Spiegel H.37/2010, S. 51 [6] Ebenda [7] Ebenda [8] BVerfG vom 28.2.2o12 –2 BvE 8/11 BecksRS 2o12, 4786, S. 23 [9] Ebenda, S.17 [10] Ebenda [11] Ebenda [12] Ebenda, S.18 [13] Der Stern, Familien in Not, 2.12.2011; Der Spiegel, Zahl der Woche 30.01.2012; Spiegelonline 29.05.2012; Zur Struktur der Hartz IV-Gesetzgebung s. J. Perels, Der Sozialstaat im Widerstreit, in ders., Recht und Autoritarismus, Baden-Baden 2009, .S.185 ff [14] H. Heller, Staatslehre,(1934), Leiden 1963, S. 113 [15] Vgl. J. Perels, Die historischen Wurzeln der europäischen Einigung und die Konstituierung einer länderübegreifenden Verfassung, in: Perels(Fn.13), S. 231ff
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[16] Vgl. George W.F. Hallgarten, Hitler, Reichwehr und Industrie, Frankfurt 1962, S. 81ff [17] E.-W. Böckenförde, Woran der Kapitalismus krankt. Die Krise liegt im System, Süddeutsche Zeitung 24.4.2009 [18] Steinbrück (Fn.6), S. 52 [19] Böckenförde (Fn.17) [20] Ebenda
Autor: Prof. Dr. Joachim Perels, geboren 1942, Prof. Dr. (em.) für Politische Wissenschaften an der Leibniz Universität Hannover
Es gibt Alternativen zur neoliberalen Sackgasse! (Gastbeitrag) von João Antônio Felício Für einen neuen und progressiven Konsens In dem Positionspapier Working for the Few [1] weist die Nichtregierungsorganisation Oxfam auf einen besorgniserregenden Trend hin: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über ein Vermögen von 110 Billionen US-Dollar – 65 mal soviel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. In den letzten 25 Jahren wuchs die Konzentration des Reichtums in den Händen Weniger mehr und mehr an. Eine kleine Elite besitzt nun 46% des Weltvermögens. Verschärfend kommt hinzu, dass diese Vermögen, wie kürzlich der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem viel beachteten Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ gezeigt hat, überwiegend aus Gewinnen aus Kapital, Vermögen oder Anlagen und nicht aus Lohneinkommen resultieren. Ein großer Teil hoch profitabler Geschäfte wird häufig zu niedrig besteuert. Dies ist ein inakzeptabler Trend, der die Anlagemärkte weltweit betrifft. Es trägt letztlich zu ökonomischer Ungleichheit bei und schafft eine neue
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Belle Époque, in der die soziale Mobilität der Arbeiterklasse durch das System eines „patrimonialen Kapitalismus“ erheblich eingeschränkt wird. Der Preis der Ungleichheit Das Anwachsen der Ungleichheit bleibt nicht folgenlos. Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit hat dies auch erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen: die Ungleichheit verringert die Kaufkraft und die Nachfrage der Konsumenten, begrenzt das binnenwirtschaftlich nachhaltige Wachstum und gefährdet die Fortschritte bei der Armutsbekämpfung. Darüber hinaus wird in der gegenwärtigen Form des Kapitalismus die Kontrolle über die Wirtschaft innerhalb der Oberklasse mehr oder weniger vererbt. Die anhaltende Ungleichheit schafft so eine unsichtbare Barriere, die eine soziale Mobilität der weniger bevorteilten Klassen verhindert. Piketty entlarvt ein oft wiederholtes Argument konservativer Diskurse, die heißt: die Einkommensunterschiede wären gerechtfertigt durch die Leistungen außergewöhnlich fähiger Individuen: die Top-Manager großer Unternehmen. Piketty hält dagegen, dass die Wirtschaft durch Familiendynastien beherrscht wird, deren Imperien quasi vom Vater zum Sohn weiter gegeben werden, wobei Talent und Leistung (bzw. Arbeit) oft keine Rolle spielen.[2] Dies begründet eine Art grundlegende Ungerechtigkeit gegenüber denjenigen, die sich sisyphusartig und ohne Aussicht auf nennenswerte Einkommensverbesserungen in einem Job engagieren, dazu mit Arbeitsplatzverlust und sozialen Einschnitten aufgrund „widriger Umstände“ konfrontiert sind, während sie beobachten können, wie die Top-Manager weiterhin mit dem Hubschrauber zur Arbeit kommen und neue Posten mit unverschämt hohen Einkommen erhalten. Die alten Versprechungen des Neoliberalismus Das Gefühl einer solchen Ungerechtigkeit fand einen starken Ausdruck in den Reaktionen (z.B. Occupy) auf die Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Menschen sind enttäuscht von den politischen Antworten, die den überkommenen neoliberalen Vorstellungen folgen: die Kürzung „exzessiver“ Staatsausgaben und öffentlicher Investitionen, die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und der Ruf nach einem „schlanken“ Staat, die Senkung von Löhnen, Lohnersatzleistungen und Renten sowie der Ausgaben für Gesundheit und Bildung. Die Wiederbelebung dieser alten Rezepte treibt heute immer noch Länder in die Rezession und schafft 27 Millionen Arbeitslose, darunter eine große Zahl junger Menschen in der Europäischen Union. Die Austeritäts-Befürworter sagen: “lasst uns weiter voran schreiten, wir brauchen nun schmerzhafte Maßnahmen, um wieder Wohlstand zu erreichen.“ Wohlstand für wen? Dieselben Konzepte, die die Krise verursacht haben, sollen nun zu deren Überwindung beitragen: Steuervergünstigungen und Subventionen für große Unternehmen im Namen der Wettbewerbsfähigkeit, staatliche Garantien für Banken,
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die als zu groß angesehen werden, um sie für ihre strategischen Managementfehler verantwortlich zu machen. Die Lasten dieser Politik tragen wieder die Beschäftigten, die die Zeche zahlen und den „Gürtel enger schnallen“ sollen. Die Occupy-Bewegung ging auf die Straße, um diese „gefährliche Schieflage“ anzuprangern, die umso skandalöser ist, wenn die Bevölkerung für die Launen des Finanzkapitals bezahlen soll. Die Bewegung verlieh dem Ärger und der Enttäuschung der 99% der Bevölkerung eine Stimme. Sie sind es leid unter der unsichtbaren Barriere gefangen zu sein und die Schuldenlast infolge falscher Politiken zu tragen. Trotz dieser Demonstration öffentlichen Unmuts propagieren Ratingagenturen und die Mainstream-Medien (z.B. The Economist, die Financial Times, Der Spiegel, El Mercurio) weiterhin den Neoliberalismus als Lösung. Schlimmer noch, sie betreiben eine regelrechte Offensive gegen Staaten, die einen anderen Weg verfolgen, die neoliberalen Rezepte ablehnen und sich um die Entwicklung einer verantwortungsvolleren, kooperativen und egalitäreren Antwort auf die Krise bemühen. Ungleichheit ist nicht gottgegeben Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa zeigt, dass Versuche, die Antworten der Linken zu diskreditieren, ohne alternative Lösungen anzubieten, sehr gefährlich werden. Diese neue Rechte nutzt die Woge des öffentlichen Unmuts, um ihre nationalistische Agenda voran zu treiben. Ungleichheit und soziale Schieflagen lassen sich in der heutigen, globalisierten und vernetzten Ökonomie jedoch nicht national bekämpfen, und sicherlich nicht durch reaktionäre Formen der Abschottung. Es gibt allerdings auch gute Nachrichten in der an Bedeutung gewinnenden jüngeren Debatte. Ungleichheit ist kein unvermeidbares Nebenprodukt der Globalisierung, der freien Bewegung von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen oder eines technologischen Wandels, der besser qualifizierte und ausgebildete Beschäftigte begünstigt. Staatliche Politiken können eine entscheidende Rolle dabei spielen, um zu bestimmen, in welche Richtung sich die Gesellschaft entwickelt. Staaten können eine ausgeglichene Verteilung des Reichtums begünstigen, wenn sie das Steuersystem reformieren und eine Besteuerung der Vermögen betreiben. Staatliche Politiken können menschenwürdige Arbeit und gleiche Chancen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Klasse oder sexuellen Neigungen, fördern. Und sie können die politische und wirtschaftliche Teilhabe größerer Teile der Gesellschaft begünstigen. Kurzum, nur der Primat der Politik kann soziale, ökonomische, ökologische sowie politische Nachhaltigkeit definieren. Um jedoch Systemänderungen zu erreichen, müssen vorhandene Interessen und Einflusspotentiale wachgerüttelt werden. Es wird nur mit einer weitreichenden und starken Unterstützung durch verschiedene gesellschaftliche Kräfte möglich sein:
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soziale Bewegungen, Studierende, organisierte Beschäftigte, Nichtregierungsorganisationen, Feministinnen, Umweltschützer, Menschenrechtsaktivisten, progressive Akademiker und Ökonomen, alternative Medien, etc. Kurz gesagt, wir müssen mit zahlreichen Elementen der Gesellschaft in einen Dialog treten und den politischen ebenso wie den ideologischen Kampf für ein progressives Entwicklungsprojekt aufnehmen, das Verteilungsgerechtigkeit und den Faktor Arbeit wertschätzt, Menschenrechte respektiert und die massiven Ungleichheiten reduziert, welche unsere gegenwärtige gesellschaftliche Realität prägen. Die Entwicklung solcher Alternativen und die Bildung von Koalitionen sind auch wichtige Herausforderungen der internationalen Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaften und die Entwicklung von Alternativen Wir leben in einer globalisierten Welt, in der sozialer Widerstand alle Länder betrifft. In der gleichen Weise wie das Kapital grenzüberschreitend agiert, benötigen auch die Gewerkschaften Mechanismen, die dieser Herausforderung standhalten können und politischen Druck auf die Vereinten Nationen (UN), die Welthandelsorganisation (WTO), die G 20 oder die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ausüben. Die Arbeiterbewegung muss aus der Nische der eigenen Organisation heraus und sich selbst für weitere Problemperspektiven öffnen. Wie können wir der informellen Arbeit begegnen und die Beschäftigten organisieren? Wie positionieren wir uns gegenüber transnationalen Unternehmen als globale Arbeiterbewegung? Wie organisieren wir die Interessen der gesamten Arbeiterklasse und bilden Bündnisse, die sich für systemrelevante politische Reformen einsetzen – z.B. bezüglich des Steuersystems und der sozialen Menschenrechtsgarantie im internationalen Kontext? Und grundlegend, wie können wir einen Strategieplan für einen umfassenden Kampf entwickeln, Alternativen zum Neoliberalismus gestalten und kommunizieren und Druck für einen Richtungswechsel der Politik aufbauen? Lateinamerika litt mehr als jeder andere Kontinent unter den Folgen der fehlgeleiteten neoliberalen Politiken in den 1980er und 1990er Jahren. Dieser Kontinent war konfrontiert mit Hyperinflation, der Privatisierung staatseigener Unternehmen und von Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Instabilität. Die schweren Zeiten machten der Linken und insbesondere der Arbeiterbewegung jedoch bewusst, dass es starker Bündnisse zwischen den progressiven Akteuren bedarf, um gegen den neoliberalen Mehrheitsdiskurs anzukämpfen. Nur so ist es möglich, robuste und überzeugende Alternativen zu entwickeln. Diese Kooperationen bereiteten einen fruchtbaren Boden für einen Machtwechsel in unserer Region und öffnete ein „Window of Opportunity“, um über Alternativen nachzudenken, wie mit der neoliberalen Philosophie umgegangen werden kann und dabei ökonomische, soziale, ökologische und politische Dimensionen integriert werden.
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Es ist kein Wunder, dass Brasilien auf die Krise von 2008/9 mit einer Rückkehr zu öffentlichen Investitionen und dem sozialen Dialog reagierte. Die aus den Kämpfen der 1980er und 1990er Jahre hervorgegangenen Bündnisse ermöglichten diesen Dialog und öffneten den Gewerkschaften Türen im Zusammenhang mit einer in sozialer Hinsicht sensibleren Regierung. Die Etablierung einer nationalen Politik, die den Mindestlohn real erhöht, war ein Erfolg für die brasilianischen Gewerkschaften und die Einheit aller Gewerkschaftsverbände, deren Druck dazu führte, dass diese Politik heute gesetzlich garantiert ist. Die Development Platform for the Americas (PLADA) des amerikanischen Gewerkschaftsbundes (TUCA) ist ein weiteres gutes Beispiel für den Einfluss einer strategischen Gewerkschaftspolitik. Ziel von PLADA ist es, in einem kollektiven Abstimmungsprozess mit der Basis einen Vorschlag zu präsentieren, wie die strukturellen Ungleichgewichte in der Region abgebaut und die in den letzten Jahren durch emanzipatorische politische Projekte ereichten Veränderungen weiter geführt werden können. Die Plattform wird der Organisierung und Mobilisierung gegenhegemonialer Kräfte dienen. Das Ziel ist die Konstruktion einer Demokratie, in der die große Mehrheit die Möglichkeit hat, sich sowohl durch ihre Repräsentanten als auch durch Partizipationsmechanismen zu artikulieren. Was auf internationaler Ebene notwendig ist, ist nichts Geringeres als ein neuer progressiver Konsens, der Gewerkschaften, soziale Bewegungen und die Linke zusammen bringt – all diejenigen, die es wagen, eine Politik voran zu treiben, die sich ernsthaft mit den historischen Ungleichheiten befasst und eine Gesellschaft mit gleichen Möglichkeiten schafft, in der der Wohlstand von allen und nicht nur von wenigen geteilt wird. Mit dem Internationalen Gewerkschaftsbund (ITUC) kann und sollte die internationale Arbeiterbewegung ein Vehikel für die Entwicklung einer entsprechenden Agenda und für Annäherungsprozesse haben. Der letzte IGBKongress in Berlin war ein guter Start und zeigte den gemeinsamen Antrieb der Arbeiterklasse, Neoliberalismus und Austeritätspolitiken zu bekämpfen. Lasst uns nun „Gas geben“!
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Literatur/Quellen:
[1] ( http://www.oxfam.org/sites/www.oxfam.org/files/bp-working-for-few-politicalcapture-economic-inequality-200114-en.pdf ) [2] Diese Wirtschaftseliten lassen anderen nur wenig Raum für Aufwärtsmobilität und fürchten sich davor, dass die Arbeiterklasse selbstbewusst wird, die Privilegien der Eliten hinterfragt und genau darauf schaut, wer bei wichtigen politischen Entscheidungen das Sagen hat (z.B. gegen ein Gesetz, das menschenwürdige Arbeit garantiert, die Beschäftigungsflexibilität reduziert oder den Mindestlohn für junge Beschäftigte erhöht).
Dieser Beitrag erscheint hier erstmals in Deutsch und wurde zuerst in englischer Sprache in der Global Labour Column, Nr. 175, Juni 2014, http://column.globallabour-university.org/2014/06/there-are-alternatives-to-neoliberal.html veröffentlicht. (Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Beck)
Autor: João Antônio Felício, Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes (ITUC) und Sekretär für internationale Beziehungen der Central Única dos Trabalhadores (CUT) in Brasilien
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Total Digital – Rationalisierung unter dem Deckmantel einer Revolution von Ralf Kronig Die Marketingmaschinerie läuft heiß. Eine Erfolgsmeldung jagt die nächste. Wissenschaftler, Verbandsvertreter und Industriebosse prognostizieren milliardenschwere Marktpotentiale für eine industrielle Revolution, wie wir sie noch nie gesehen hätten. Die totale Vernetzung und menschenlose Steuerung durch Softwareprogramme im Zeitalter von „Industrie 4.0“. Die FAZ schreibt großspurig „Die Industrie 4.0 kommt schneller, als viele glauben“ und Deutschland müsse „darauf achten, nicht ins Hintertreffen zu geraten. Viel Zeit bleibe nicht.“ Spätestens jetzt müsste ein Aufschrei kommen. Verspricht technologischer Fortschritt auch mehr Lebens- und Arbeitsqualität für die Menschen? Rationalisiert zum prekären Gesundheitszustand Noch schneller und noch effizienter sind die Ziele von Rationalisierungsinstrumenten. Wir kennen schon die Methode „Lean Production“ für die Fließbandproduktion, die zum Beispiel beim Weltmarktführer für Unternehmenssoftware SAP SE auch bei dessen Herzstück der Software-Entwicklung eingesetzt wird. Im Jahr 2008 befahl der damalige Vorstand Léo Apotheker ein rigoroses Kostensparprogramm: „Viel mehr Tempo. Wir brauchen deutlich mehr Tempo“. Später musste er das Unternehmen ohne Lobeshymnen und mit vielen Millionen Euro Ablösung verlassen. Sein früherer Vorstandskollege Henning Kagermann meinte bereits auf der CeBIT 2007: "Jetzt wollen wir mal sehen, wie wir die Menschen wegbringen". Zu Hunderten von Software-Ingenieuren meinte er, dass die Software-Produktion wie die Fließband-Produktion funktionieren sollte. Seine Vision: Eine hochautomatisierte Fabrik, mit dessen Hilfe die Produktion praktisch ohne Mitarbeiter, jedoch mit „Rationalisierungssoftware“ auskommen soll. Lean sollte nun die Produkte schneller an den Markt bringen. Es wurden Hierarchieebenen abgebaut, tägliche Kurztreffen der Teams vereinbart, der Entwicklungszyklus auf zwei bis vier Wochen verkürzt, usw. Das empfanden viele Software-Entwickler als sehr befremdlich. Es stellte sich ein Gefühl von Fremdbestimmung ein, das menschliches Verhalten dramatisch ändert, weil man sich permanent kontrolliert und beobachtet fühlt. Intervallsprints auf Marathonstrecken, permanenter Termin- und Leistungsdruck, tägliche Bewährung und indirekte Arbeitskontrolle waren Teil der Rationalisierungsmethode und führten nicht unerwartet zu erheblichen Belastungen und Erschöpfungszuständen bei den Beschäftigten.
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Im Sog der technischen Machbarkeit Das dominierende Thema auf der letzten CeBIT und Hannover Messe war „Industrie 4.0“, die „vernetzte 4.0 Fabrik“. Noch mehr „Flexibilität und Effizienz“ bei immer weniger Personal wurde von den Industriebossen prognostiziert. Diese Rationalisierungswelle verschweigt die potentiellen Gefahren und Risiken, verstärkt durch gierige Renditeziele und in Aussicht gestellte Millionen-Boni und -Dividenden. Wenn nicht einmal bestehende Probleme wie bei der Lean-Production vom Management gelöst werden, kann der Blick in die Zukunft nur pessimistisch sein. Das „Internet der Dinge und Dienste“ wird über die Menschen hinwegrollen, weil die meisten von ihnen dabei nicht mitgenommen werden und mit ihren betriebsbedingten Problemen alleine gelassen werden. „Gut 50 Milliarden Geräte und Dinge werden, so prognostizieren Fachleute, im Jahr 2020 im Internet der Dinge miteinander kommunizieren. Dabei kann man sich die Vorboten dessen, was wie Science Fiction klingt, in der Automobilproduktion oder in Logistikzentren bereits heute ansehen. Und eines ist klar: Wenn Produktionsgüter künftig selbst wissen wie sie bearbeitet werden wollen, dann bleibt das nicht ohne Auswirkungen auf die menschliche Arbeitskraft. (…) Nicht mehr die Maschine sagt, was passiert, sondern der Rohling weiß, wie er bearbeitet werden möchte“ so erklärte Wolfgang Wahlster, Vorsitzender der Geschäftsführung des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz, die Grundidee der „Industrie 4.0“. Und weiter: „Das Werkstück oder sein Träger besitzt einen Chip, in dem alle Anforderungen an die Fertigung festgelegt sind und der als digitales Produktgedächtnis auch alle Bearbeitungsschritte aufzeichnet.“ Hardware- und Softwareanbieter, IT-Dienstleister und Startups wollen nun die Arbeitswelt zu einer drahtlosen Kommunikations- und Informationswelt, einer „flexiblen und intelligenten Fabrik der Zukunft“ umkrempeln. Dazu werden dann weniger Menschen gebraucht. Die Verbliebenen sollen jung, innovativ und leistungsorientiert sein. Prof. Bauernhansl meint: „Der Produktionsmitarbeiter wird zum Dirigenten der Wertschöpfung werden, seine Arbeitsinhalte anspruchsvoller und interessanter.“ Sind das nicht Absichtserklärungen, die wir aus der Vergangenheit kennen? "Maschinen verdrängen Menschen", titelte Spiegelonline kürzlich und zitierte Andrew McAfee , Director des Center for Digital Business am berühmten Forschungsinstitut MIT: "Das ist aber bislang alles nur ein Vorgeschmack, in den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir den Wandel weltweit erst richtig zu spüren bekommen." Es drohe "eine tektonische Verschiebung in der Arbeitswelt". Die „Industrie 4.0“ soll als Heilsbringer die „vierte industrielle Revolution“ werden. In der "intelligenten Fabrik" sollen Menschen, Maschinen und Ressourcen
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miteinander kommunizieren. Das jeweilige Produkt soll, gefüttert mit Informationen über sich selbst, seinen eigenen Fertigungsprozess optimieren können. "Demnächst verbindet sich die virtuelle Welt mit der realen Welt, dann potenzieren sich die Probleme", warnt der Wissenschaftler Mattern. Digitale Arbeit bedeutet einen revolutionär harten Schnitt in der Arbeitsorganisation, weil die von Arbeitnehmern geleistete Arbeit nun im Netz der Quantität und Qualität nach transparent messbar ist. Bislang gibt es noch viele Büroarbeitsplätze, bei denen man acht Stunden täglich sein bestes gibt oder bei denen man am Fließband mit den vorgegebenen Takt mithält. In der digitalisierten Welt sind die Arbeitsplätze vielfach ganz entkoppelt, jeder kann eher für sich selbst so viel leisten, wie er will oder mag. Die großen Leistungsunterschiede zwischen Mitarbeitern werden immer transparenter. Dadurch entsteht ein bisher ungekannter psychischer Druck auf Führungskräfte und Arbeitnehmer, weil nun alle indirekt fast wie in der Fußballbundesliga ständig um Auf- und Abstieg kämpfen. Die ganze BurnoutProblematik entsteht genau hier! Die Führungskräfte und Mitarbeiter müssen neue soziale Umgangsformen entwickeln. Jeder muss wohl lernen, mit dem eigenen transparent sichtbaren Leistungsniveau psychisch ausgeglichen zu leben. Das wird derzeit durch aggressive Leistungsvergleiche zum Zwecke des Antreibens durch das Management aus ökonomischen Erwägungen heraus absichtlich verhindert. Man SOLL ja immer ein schlechtes Leistungsgewissen haben! Dieser immense psychische Druck steigt durch die Transparenz der digitalen Welt immer mehr an. Zum Beispiel sollen im Rahmen von „Big Data“ riesige Mengen von Daten verarbeitet und ausgewertet werden. Das ist suspekt und gefährlich zugleich. Prof. Pias meint dazu: "Der Erwartungshorizont wird, als das was als Erinnerung des eigenen und fremden Wissens abrufbar ist, und das was uns von der Zukunft als künftigem Erfahrungsraum abschließt, in digitalen Kulturen zu einer neuen Form von Gegenwart zusammenschnurren." Die weitreichende Digitalisierung, Virtualisierung und Neuorganisation von Produktionsabläufen erfordert eine neue Technikgestaltung. Dabei wird die „digitale Fabrik“ selbst zum Produkt. Menschen sind und bleiben aber die Schnittstelle für Erfolg- und Misserfolg dieser modernen Industriekonzepte. Industrie 4.0 bedarf deshalb eines ganzheitlichen und umfassenden Qualifizierungs- und Personalentwicklungsansatzes, um die Rationalisierungseffekte positiv und nicht motivationshemmend für die Entwicklung der industriellen Produktion und einer humanen und sozialen Arbeitswelt zu gestalten. Maschinen, IT und Software sollen verschmelzen bzw. integriert werden. Intelligente Fabriksysteme, „Smart Factory“ als Teil des Internets, steuern den arbeitenden Menschen, geben ihm Anweisungen, entmündigen ihn des Denkens und Handelns, fördern die Fremdbestimmung durch programmierte Software-Systeme von
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virtueller und realer Fertigung und machen den Menschen im Produktionsprozess größtenteils unnötig. Zusätzlich besteht die Gefahr der Zerschlagung des klassischen Betriebs durch die Auslagerung von Arbeit. Eine Zusammenarbeit zwischen den Beschäftigten wird eher schwieriger und komplizierter. Das dürfen wir nicht zulassen! Wie gefährlich das Spiel mit „selbstdenkenden“ und selbsthandelnden Maschinen sein kann – davon bekommt man auf folgender Seite einen Eindruck: www.plattform-i40.de Düstere Zukunftsprognose Das aktuelle Buch „Rücksichtslos gegen Gesundheit und Leben“ von Klaus Pickshaus, dem Erfinder des Humanisierungsinstruments „Gute Arbeit“, beschäftigt sich ausführlich mit den maßlosen Anforderungen an die Beschäftigten - verursacht durch eine neue Maßlosigkeit in der Ökonomie, die durch extreme Renditeerwartungen der Finanzmärkte angetrieben wird. Er attestiert der Wirtschaft‘ bzw. dem Finanzmarktkapitalismus eine prekäre Gesundheitsbilanz. Je höher die Arbeitsgeschwindigkeit insgesamt wird, umso höher entwickelt sich ein schleichender Substanzabbau beim Menschen und somit eine Burnout-Gefahr. Besonders wenn kein „Drehzahlbegrenzer“ vorhanden ist, sondern immer mit hoher „Drehzahl“ gearbeitet werden muss. Das Dilemma zwischen den Notwendigkeiten „des Marktes“ und der Gesundheit der Menschen bleibt somit weiterhin bestehen. Diese alten Probleme sind noch nicht gelöst und schon kommen neue Herausforderungen auf die Beschäftigten zu. Bei mangelnden Leitplanken für humane Arbeitsbedingungen sind die Beschäftigten nur noch ein kleines Rädchen im virtuellen Netz, eine unmenschliche Cyberfabrik – ständig gesteuert und irgendwann gefeuert. Wollen wir wirklich in der Befehlskette einer software-unterstützten Maschine nur noch angeleitet werden, indem unser Verhalten, die Arbeitsleistung und die Reaktionszeit ständig kontrolliert wird? „Industrie 4.0“ muss für eine gesellschaftliche Harmonisierung stehen. Das heißt jedoch, dass bestehende Missstände wie zum Beispiel entgrenzte Arbeitszeiten, unsichere Arbeitsverhältnisse und die deutliche Zunahme von Belastungen bei den Beschäftigten reduziert werden. Weiter müssen Mitbestimmungsrechte von den politischen Volksvertretern gestärkt und Lösungsansätze für eine „Humanisierung der Arbeit 2.0“, für „gute digitale Arbeit“, schnellst möglich verpflichtend umgesetzt werden. Wir brauchen eine Technikfolgenabschätzung und eine Beschäftigungssicherung, die in tariflichen Regelungen oder Betriebsvereinbarungen verankert werden muss. Die
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Menschen sollen den Anforderungen in der digitalisierten Arbeitswelt in Zukunft gewachsen sein und gesund in Rente gehen können. Angesichts der verheerenden Daten zum Gesundheitszustand von Beschäftigten stimmt dies nicht optimistisch. Zum Beispiel leidet die Qualifizierung und Weiterbildung von Beschäftigten unter dem Einfluss der Digitalisierung. Wie soll das auch funktionieren, wenn die totale Vernetzung ohne Zeit und Raum die Menschen vereinnahmen. Oder interessiert den Kunden bei einem Problem wirklich, ob sein Ansprechpartner gerade ein virtuelles Training besucht. Wer immer erreichbar ist und in einer globalen, entgrenzten Produktion ohne Arbeitszeiten beschäftigt ist, wird in einer reinen Anwesenheitskultur als Verlierer dastehen. Die IG Metall sieht daher einen hohen Handlungs- und Gestaltungsbedarf: Alternsgerechte Arbeitsgestaltung, Ausbau von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten, Nutzung und Ausbau arbeitsorganisatorischer Innovationskompetenzen, Bedingungen für Flexibilität und Flexibilisierung klären, Arbeits- und Gesundheitsschutz. Nicht zu vergessen sind ein umfassender Beschäftigten- bzw. Arbeitnehmerdatenschutz, ein Persönlichkeitsschutz und stärkere Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte. Die Beschäftigten, die Betriebsräte und die Gewerkschaften müssen viel mehr zu Wort kommen. Sie müssen mehr beteiligt werden, sonst werden sie so übergangen und überrollt wie in der Vergangenheit. Maschinen, Kommunikationssysteme und Software-Programme kennen keinen Feierabend und nehmen keine Rücksicht auf den Menschen. Es reicht nicht, wenn das Management nur über Chancen und globale Herausforderungen diskutiert, ein Milliardengeschäft wittert und sich zeitgleich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten immer mehr destabilisieren.
Literatur/Quellen: Helmut Becker: Phänomen Toyota - Erfolgsfaktor Ethik , 2006 Christiane Benner: Wer schützt die Clickworker? FAZ, 19.3.2014 Deutscher Bundestag: Achter Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“: Wirtschaft, Arbeit, Green IT, Drucksache 17/12505 vom 13.03.2013 Ekkhard Frieling, Karlheinz Sonntag : Lehrbuch Arbeitspsychologie, 1999
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Detlef Gerst: Ganzheitliche Produktionssysteme im Büro – Herausforderung für den Gesundheitsschutz, Gute Arbeit, 1/2014 Constanze Kurz: Industrie 4.0 - Zur Zukunft der Arbeit. Mensch und Maschine, Einblick 21/2013, DGB Baden-Württemberg Michael Schwemmle, Peter Wedde: Digitale Arbeit in Deutschland – Potenziale und Problemlagen. Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, 2012, Bonn. Viktor Steinberger: Arbeit in der Industrie 4.0, Computer und Arbeit, 6/2013 Eberhard Ulrich: Arbeitspsychologie, 2006 Links www.itk-igmetall.de www.sapler.igm.de
Autor: Ralf Kronig, geboren 1964 in Oberbayern, Stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei der SAP AG
Türöffnerin nach Rechts: Die „Alternative für Deutschland“ von Samuel Salzborn, Alexandra Kurth Bei der Europawahl im Mai hatte die „Alternative für Deutschland“ (AfD) in der Bundesrepublik 7,1 Prozent der Stimmen erhalten und ist damit mit sieben Sitzen in das Europäische Parlament (EP) eingezogen. Ob sich die Partei damit bereits etabliert hat, ist fraglich, weil es politisch ähnliche, dezidiert europafeindliche Projekte am rechten Rand des Parteienspektrums schon oft gegeben hat (wie den „Bund freier Bürger“, die „Republikaner“ oder die „Pro DM-Partei“). Diese „Vorgänger“ haben allerdings über deutlich weniger Finanzmittel und weniger medialen Einfluss verfügt als die AfD. Insofern ist eine kritische Auseinandersetzung in jedem Fall notwendig.
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Im vorliegenden Beitrag sollen Eckpunkte der programmatischen Äußerungen der AfD skizziert werden, bei denen man nicht missverstehen darf, dass sie oft widersprüchlich und logisch inkonsistent sind – gerade das ist ein zentrales Merkmal für die Anschlussfähigkeit der AfD in vielen Teile des politischen Spektrums, weil die weltanschauliche Diffusion eine Voraussetzung dafür ist, dass die AfD sich als Projektionsfläche für Ressentiments und Stereotype eignet. Zugleich besetzt die AfD damit eine funktionale Rolle im politischen System, bei der sie als Türöffnerin fungiert – einerseits für rechte Themen, die in der Mitte der Gesellschaft weiter etabliert werden können, andererseits für die weitere Einflussnahme anderer rechter Organisationen und Gruppierungen, auch und gerade außerhalb des Parteienspektrums, die eine antisoziale, gewerkschaftsfeindliche und antifeministische Interessenpolitik betreiben. Ideologie der Ideologiefreiheit Das programmatische Gerüst der AfD basiert auf der Illusion der Ideologiefreiheit. Die AfD inszeniert sich als Partei des Sachverstands und der Wirtschaftskompetenz, allein schon der biografische Zusammenhang von Parteichef Bernd Lucke als neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler und frommer evangelisch-reformierter Christ verweist auf ideologische Konglomerate. Die Ideologie der AfD setzt sich aus heterogenen Versatzstücken unterschiedlicher Denkschulen des Neoliberalismus und des Konservatismus zusammen, die durch ihre marktradikalen und staatsfeindlichen Prämissen miteinander verbunden sind. Sie sind antiegalitär und antisozial.[1] Die ideologische Grundposition der AfD ist nicht nur neoliberal, sondern inkorporiert zugleich auch Elemente des Konservatismus, denn ihrem Marktradikalismus entspricht kein politischer Liberalismus. Während die Freiheit der Wirtschaft und die Freiheit zur Realisierung von Unternehmensprofiten radikal eingefordert wird (gepaart mit verschwörungstheoretischen Zügen gegen Banken und Staaten), soll die Freiheit des Individuums extrem eingeschränkt werden – dies zeigt sich beim Thema Migration ebenso wie bei der Ablehnung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften verbunden mit der Glorifizierung der traditionellen Familie. Meinungsfreiheit wird von der AfD nur für den eigenen politischen Kampf eingefordert. So erging es zahlreichen Bürgerinnen und Bürgern, die von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch machten, und sogleich von Hans-Olaf Henkel mit hahnebüchenen RAF-Anspielungen diffamiert wurden. Zugleich will die AfD, ganz in der Tradition von Adam Smith, Gewinne privatisieren und Risiken und Verluste verstaatlichen und so vordergründig den „kleinen Mann“ entlasten, faktisch aber die Gewinne der Konzerne steigern. Den arroganten Hochmut zieht die Partei aus dem Selbstverständnis, sie wäre die Partei der Ideologiefreien, der gelernten Sachverständigen und der praxiserfahrenen Experten. Der Politikwissenschaftler David Bebnowski hat zurecht darauf hingewiesen, dass
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Ökonomie nie „unideologisch“ sei. Die ökonomischen Flügel, für die die AfD weltanschaulich steht, tragen sogar die Verantwortung für die gegenwärtige Wirtschaftskrise. Es gibt, so Bebnowski, keine „neutrale ökonomische Expertise“, keine „unideologische wirtschaftswissenschaftliche Wahrheit“. Antiparlamentarischer Nationalgallismus Zugleich kokettiert die Ideologe des wirtschaftswissenschaftlichen Expertentums, das sich auf einen vermeintlich neutralen Sachverstand stützt, auch mit der weberianischen Idee der gelenkten und gesteuerten Demokratie, in der vermeintlich neutrale Experten Entscheidungen treffen – und nicht Mehrheiten. Die AfDForderung nach mehr direkter Demokratie klingt in diesem Zusammenhang umso widersprüchlicher, was allerdings strategisch nicht verwunderlich ist, schließlich glauben sie an einen unterdrückten, wahren „Volkswillen“, den sie meinen zu repräsentieren. Ideengeschichtlich fußt dieses Argument auf Überlegungen von Carl Schmitt, der den Weimarer Parlamentarismus scharf kritisierte und ein zentrales Motiv gegen die repräsentative Demokratie in Stellung brachte: Die Einforderung von mehr direktdemokratischen Momenten in Verbindung mit einer Person, die diesen „Volkswillen“ zu erspüren in der Lage sei, so dass das Volk gar nicht mehr abstimmen muss, weil sein Wille „erfühlt“ werden kann. Im Ergebnis ist ein solches Modell also nicht nur die Suspendierung von Partizipation, sondern auch die Installation einer mächtigen Führungsperson gegen die Demokratie. Die Ökonomisierung von Politik ist ein wesentliches Element einer solchen antidemokratischen Suspendierung. Die Grundlage von Demokratie ist wiederum der Konflikt, ist die Einsicht, dass es widerstreitende Interessen innerhalb einer Gesellschaft gibt, die nicht neutralisiert werden können. Wer einer Ökonomisierung der Politik das Wort redet, will damit die demokratische Macht der legitimierten Akteure – Parteien, Parlamente, Regierungen – einschränken. Am deutlichsten kommt diese Haltung in dem Wahlslogan der AfD zum Ausdruck, der im Europawahlkampf eingesetzt wurde: „Alle Macht geht vom Volke aus. Wann bei uns?“ Hiermit suggeriert die AfD, dass in Deutschland nicht alle Macht vom Volke ausgehe, ignorierend, dass gerade der Parteienpluralismus Ausdruck der Volkssouveränität ist. Wer Entscheidungen in eine vermeintlich neutrale Expertokratie delegieren will, verschafft einem Pseudo-Sachverstand exorbitante Macht gegen den demos. In europäischer Relation zielt die AfD dann auf ein „leistungsfähiges und selbstbewusstes Deutschland“, wie es im Europawahlprogramm heißt, dessen politische und vor allem ökonomische Dominanz national gegen die Europäische Union gestärkt werden soll, wobei man letztlich nur von den europäischen Chancen profitieren, nicht aber die Risiken mittragen möchte, wie ein anderer Wahlplakatslogan – mit Verschwörungsphantasie unterlegt – illustriert: „Griechen leiden. Deutsche zahlen. Banken kassieren.“
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Antifeminismus Die AfD schlägt als Allheilmittel für das vom Untergang bedrohte Europa „Subsidiarität statt [...] Zentralismus“ und „Wettbewerb statt Gleichmacherei und Homogenisierung“ vor. Das von ihr postulierte „Europa der Vielfalt“ ist eigentlich ein Europa der zementierten, extremen Ungleichheit. Besonders signifikant zeigt sich das an ihren geschlechter- und familienpolitischen Positionen. Die AfD lehnt eine „Gleichstellungspolitik nach EU-Vorgaben“ ab und strebt stattdessen „die Gleichberechtigung der Geschlechter unter Anerkennung ihrer unterschiedlichen Identitäten, sozialen Rollen und Lebenssituationen an.“ Damit verortet sie sich programmatisch und ideologisch in der Tradition des im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in der europäischen Philosophie entwickelten und vergleichsweise schnell popularisierten Konstruktion von der Polarität der Geschlechter, mit der die sozialökonomischen und politischen Geschlechterhierarchien naturrechtlich legitimiert worden sind. Aus solch einer Perspektive ist es nur konsequent, dass die AfD „Gender Mainstreaming“ ablehnt, denn dieses ziele auf eine „Aufhebung der Geschlechteridentitäten“. Entsprechende finanzielle Fördermaßnahmen sollen offen gelegt und eingestellt werden. Die EU dürfe ihren Mitgliedsstaaten das „Gender Mainstreaming“ nicht aufzwingen. Gemeint ist damit nicht weniger als die Forderung nach einer Aufhebung aller verfassungsrechtlichen (national und international) und einfachgesetzlichen Regelungen zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit. Die Bundesregierung ist seit der Grundgesetzänderung von 1994 nach Art. 3, Abs. 2, Satz 2 GG zur tatsächlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männer verpflichtet. Der Gender-Mainstreaming-Ansatz wurde auf EU-Ebene im Amsterdamer Vertrag, der am 1. Mai 1999 in Kraft getreten ist, rechtlich ebenso verbindlich festgeschrieben wie im Vertrag von Lissabon über die Arbeitsweise der EU von 2008. Gender-Mainstreaming bedeutet – so formuliert es das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – „bei allen gesellschaftlichen Vorhaben die unterschiedlichen Lebenssituationen und Interessen von Frauen und Männern von vornherein und regelmäßig zu berücksichtigen“. Da „es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt“ können „Männer und Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen und administrativen Entscheidungen betroffen sein. […] Das Leitprinzip der Geschlechtergerechtigkeit verpflichtet die politischen Akteure, bei allen Vorhaben die unterschiedlichen Interessen und Bedürfnisse von Frauen und Männern zu analysieren und ihre Entscheidungen so zu gestalten, dass sie zur Förderung einer tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter beitragen. Ein solches Vorgehen erhöht nicht nur die Zielgenauigkeit und Qualität von politischen Maßnahmen, sondern auch die Akzeptanz der Ergebnisse bei Bürgerinnen und Bürgern.“
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Dies lehnt die AfD ebenso ab wie die vom Ministerium explizit benannten Ziele des Gender-Mainstreaming: Allen soll, so das Familienministerium, „ein gleichermaßen selbstbestimmtes Leben“ ermöglicht werden, ohne den Menschen vorzuschreiben, wie sie leben sollen. Niemand soll gezwungen werden, sich an Geschlechterstereotype anzupassen. Außerdem dürfen an das Geschlecht und an Geschlechterrollen keine Vor- oder Nachteile geknüpft werden. Und das Familienministerium formuliert weiter: „Rollenverteilungen, die zu einer höheren Belastung oder sonstigen Nachteilen für ein Geschlecht führen, dürfen durch staatliche Maßnahmen nicht verfestigt werden. Faktische Nachteile, die typischerweise ein Geschlecht treffen, dürfen durch begünstigende Regelungen ausgeglichen werden.“ Insgesamt sollen durch Gender-Mainstreaming Diskriminierungen abgebaut, gleiche Partizipation gefördert und eine von tradierten Rollenmustern freie, selbstbestimmte Lebensgestaltung beider Geschlechter ermöglicht werden. Von Seiten der AfD werden solche und andere geschlechtergerechte Positionen und Forderungen als „Genderismus“, „Gender-Ideologie“ oder gar als „Genderunfug“ und „Gender-Wahn“ diffamiert, denn die „simple Wahrheit“ sei: „Männer und Frauen sind verschieden.“ Die AfD bekennt sich – klassisch konservativ – zur traditionellen „Familie als Keimzelle der Gesellschaft“ und fordert eine familien- und kinderfreundlichere Politik. Die „heutigen Jungen“ erfüllen den Generationenvertrag nicht, kritisierte Bernd Lucke im Gespräch mit der FAZ, denn sie bekämen nicht genügend Kinder. Letztere sollten stärker bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden. Resümee Die programmatischen Positionen der AfD sind alles andere als kohärent und stimmig – gerade darin liegt aber ihr Potenzial nach Rechts: mit zahlreichen Positionen, die von konservativen bis hin zu marktradikalen Formeln reichen, aber eben auch Anleihen an explizit antidemokratischen und demokratiefeindlichen Argumentationen nehmen. Diese Argumente sind in der extremen Rechten anschlussfähig und vor allem – das mag der vielleicht sogar noch wichtigere Punkt sein –reine ideologische und weltanschauliche Positionen, die das konservative Lager weiter nach Rechts radikalisieren. So oder so liefert die AfD eine unsolidarische und antiemanzipatorische Programmatik, von der ausgehend soziale Ungleichheiten in der Gesellschaft und Politik verschärft werden sollen und das universelle Gleichheitspostulat der Aufklärung, das auch rechtliche Basisnormen wie das Grundgesetz oder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte prägt, in Frage stellt.
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Literatur/Quellen: [1] Folgt man den wenigen bisher vorliegenden programmatischen Dokumenten der Partei
Autoren: Dr. Alexandra Kurth, geboren 1970, Studienrätin im Hochschuldienst an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Prof. Dr. Samuel Salzborn, geboren 1977, Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen
TTIP-Verhandlungen aussetzen! von Stefan Körzell Wir brauchen eine transparente, soziale und gerechte Handelspolitik Die transatlantischen Beziehungen sind in aller Munde. Nicht nur häufen sich Abhörund Spionageskandale, auch die europäischen Wirtschaftsbeziehungen stehen im Fokus der öffentlichen Debatte: Seit bekannt wurde, dass die Europäische Union (EU) und die USA ein Freihandelsabkommen anstreben, fragen immer mehr Menschen misstrauisch, was eigentlich hinter den Verhandlungen um „TTIP“, die „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ steckt. Das Misstrauen richtet sich längst nicht mehr allein gegen die USA, gegen die dort zugelassenen „Chlorhühnchen“, den Genmais oder die Internetmonopolisten. Mit der Debatte um TTIP rückt der Verhandlungsmodus der internationalen Handelspolitik ins Interesse der Öffentlichkeit. Hierbei stehen nicht nur die Inhalte im Fokus, sondern auch die intransparente Verhandlungsstruktur. Formulierungen, die von der EU-Kommission bislang wie selbstverständlich in Handelsabkommen integriert wurden, werden auf einmal in der Bevölkerung diskutiert und hinterfragt. Tageszeitungen, die früher allenfalls kurz über die eine oder andere Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) berichteten, widmen sich jetzt ausführlich den handelspolitischen Besonderheiten. Neben TTIP beherrschen längst auch andere Abkürzungen die Titelzeilen: TiSA – das geplante multilaterale Dienstleistungsabkommen oder CETA – das EU-Handelsabkommen mit Kanada.
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Der Deutsche Gewerkschaftsbund plädiert dafür, die Probleme in der Handelspolitik grundsätzlich anzugehen. Wir brauchen einen ganz neuen Ansatz, der das Wohl der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Anstelle von einem einseitigen Fokus auf Marktliberalisierung und Deregulierung brauchen wir eine Debatte über die Folgen der Handelsregulierung. Wie kann Handelspolitik fair gestaltet werden? Wie setzen wir die Rahmenbedingungen für eine gerechte Globalisierung? Wie sorgen wir dafür, dass die positiven Effekte des Welthandels auch tatsächlich bei den Menschen ankommen? Auf diese Fragen geben die TTIP-Verhandlungen bislang keine Antwort. Wir sollten sie deshalb aussetzen und in eine andere Richtung lenken. Transatlantische Gespräche und die öffentliche Aufmerksamkeit um TTIP sollten dazu genutzt werden, einen neuen Ansatz in der Handelspolitik zu etablieren. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass das alte Schema in der Handels- und Investitionspolitik zu vielen Problemen geführt hat. Wenn nicht umgesteuert wird, werden die Fehler bisheriger Abkommen mit CETA, TiSA und auch mit TTIP wiederholt. TTIP darf alte Fehler nicht wiederholen Der erste Fehler wäre zu glauben, dass ein freier Markt automatisch zu guten Ergebnissen führt. Sicherlich – der Abbau von Handelsbarrieren kann viele Vorteile mit sich bringen. Er reduziert die Kosten für Unternehmen. Er ermöglicht den Zugang zu neuen Produkten, erhöht dadurch den Wettbewerb und kann dazu beitragen, dass sich bessere Produkte am Markt durchsetzen. Der höhere Wettbewerb, der mit dem Freihandelsabkommen einhergeht, kann sogar die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen (laut Berechnungen der EU-Kommission würde das Bruttoinlandsprodukt in der EU in den kommenden 10 bis 15 Jahren aber nur um insgesamt 0,5 Prozent zusätzlich wachsen). Doch zusätzliches Wachstum sagt noch nichts über dessen Verteilung aus, denn unklar bleibt dabei, in wessen Taschen das zusätzliche Einkommen am Ende fließt. Auch der höhere Wettbewerb kann schnell zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder der Umwelt gehen. Wenn beispielsweise Unternehmen eines Landes nur dadurch kurzfristige Kostenvorteile besitzen, weil dort die Arbeitnehmerrechte eingeschränkt oder Umwelt- und Verbraucherstandards niedriger gehalten werden. Das darf nicht sein, ein derartig unfairer DumpingWettbewerb muss verhindert werden. Bevor Märkte liberalisiert werden, muss deshalb sichergestellt sein, dass gleiche Schutzrechte unter den Handelspartnern existieren und dass diese nicht im Zuge eines Handelsabkommens abgebaut werden. Die USA und die EU besitzen aber in vielen Bereichen sehr unterschiedliche Schutzstandards. Die USA haben beispielsweise sechs der acht grundlegenden Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) nicht ratifiziert,
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darunter ist die für Gewerkschaften so bedeutende Konvention zur Vereinigungsfreiheit und zum Recht auf Kollektivverhandlungen. Immer wieder wird aus den USA berichtet, dass Kolleginnen und Kollegen in ihren gewerkschaftlichen Aktivitäten behindert werden. Einige US-Bundesstaaten betrachten antigewerkschaftliche Gesetze als Standortvorteil. In Chattanooga im Bundesstaat Tennessee übte die Politik massiven Einfluss auf Medien und die Bevölkerung aus, um im örtlichen VW-Werk die Etablierung eines Betriebsrats zu stoppen. Eine solche Politik verhindert fairen Wettbewerb auf Kosten der Beschäftigten. Verbesserungen bei Arbeitsstandards verbindlich festschreiben Das Handelsabkommen muss deshalb garantieren, dass es zu einer Annäherung bei Umwelt-, Verbraucher-, und Arbeitnehmerstandards mit den USA auf dem jeweils höchsten Niveau kommt. Beide Vertragspartner müssen sich verpflichten, internationale Übereinkünfte in den Bereichen Umwelt, Arbeit und Verbraucherschutz schnellstmöglich zu ratifizieren und umzusetzen. Dazu gehören die IAO-Kernarbeitsnormen, weiterer wichtiger IAO-Arbeitsnormen und die OECD Rahmenvereinbarungen für multinationale Unternehmen. Ähnliche Verpflichtungen wurden auch schon früher in vielen Handelsabkommen festgelegt – oft in so genannten Nachhaltigkeitskapiteln. Diese Regelungen waren aber bislang sehr schwammig ausformuliert und unverbindlich. Vielmehr müssen sie auch mit Sanktionen ausgestattet werden, genauso wie der Verstoß gegen Liberalisierungsvorschriften in Handelsabkommen oft empfindliche Sanktionen nach sich ziehen. Die Verstöße gegen bisher festgelegte Nachhaltigkeitskapitel bleiben in der Regel ohne große Konsequenzen. Ein Vertragswerk zur Beseitigung von Handelsschranken zwischen den USA und der EU muss einen konkreten Zeitplan für die Verbesserung von Arbeitnehmerrechten enthalten. Die Einhaltung von Arbeitsund Sozialstandards muss in Konfliktfällen mindestens genauso wirkungsvoll sichergestellt sein, wie die Einhaltung anderer Regeln des Abkommens. Idealerweise muss ein Handelsabkommen bei allen beteiligten Handelspartnern zu höheren Schutzstandards für Beschäftigte, Umwelt und Verbraucher führen – dadurch würde gewährleistet, dass die Vorteile des globalen Handels sich tatsächlich in Verbesserungen für die breite Masse der Bevölkerung niederschlagen. Viele Dienstleistungen sind schützenswert Ein Bereich, der von einer uneingeschränkten Handelsliberalisierung besonders betroffen sein kann, ist der Dienstleistungssektor. Hier gelten in vielen Bereichen bisher gut begründete Zulassungsregeln, Ausbildungs- und Qualitätsanforderungen für die Erbringung spezieller Dienstleistungen. Die Gewerkschaften fordern deshalb,
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dass in jedem Fall jeder einzelne Teilbereich der Dienstleistungswirtschaft genau betrachtet wird und dann gemeinsam mit Gewerkschaften und anderen Betroffenen entschieden werden muss, ob diese Bereiche liberalisiert werden können. Auf keinen Fall darf es den beabsichtigten Negativlistenansatz geben, bei dem alle Bereiche liberalisiert werden, die nicht explizit aufgelistet sind. Auch sind Vertragsklauseln abzulehnen, die stets das höchste erreichte Liberalisierungsniveau unumkehrbar festschreiben und keine Reregulierung mehr zulassen. Solche Klauseln, die dazu führen, dass Schutzstandards immer weiter eingeschränkt werden, gibt es leider bereits in vielen bestehenden Handelsabkommen. Veröffentliche Textbausteine deuten darauf hin, dass sie auch in CETA und TTIP einfließen sollen. Öffentliche Dienstleistungen und Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen überhaupt nicht in die TTIP-Diskussion einbezogen werden. Zu groß ist die Gefahr, dass dadurch der Privatisierungsdruck wächst, der breite öffentliche Zugang zu diesen Gütern und Dienstleistungen erschwert wird und deren Qualität vermindert wird. Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheitsversorgung, soziale Dienste, aber auch Wasserversorgung, Postdienstleistungen oder der öffentliche Nahverkehr dürfen nicht Gegenstand der Verhandlungen sein. Auch eine Rekommunalisierung muss weiter möglich sein, wenn sich Privatisierungen als massive Fehler herausgestellt haben. Es ist erfahrungsgemäß problematisch, wenn in Handelsabkommen die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen durch entsandte Arbeitskräfte geregelt wird. Hier bestand in der Vergangenheit immer wieder die Gefahr, dass das nationale Arbeitsrecht verletzt wurde. Eine Ahndung dieser Verstöße war oft kaum möglich. Dieser Bereich darf deshalb nicht verhandelt werden. Was Unternehmen nutzt, nutzt nicht immer auch der Allgemeinheit Bei TTIP geht es weniger um den Abbau von Zollschranken, schließlich sind die Zölle bereits sehr niedrig. Vielmehr stehen Vorschriften und Regulierungen im Fokus, die als „Nichttarifäre Handelshemmnisse“ bezeichnet werden, weil sie zusätzliche Kosten für Unternehmen verursachen. Ein Abbau von Regeln könne ausnahmslos Kosten sparen und den Handel antreiben, meinen die Vertragsgestalter. Wie im Dienstleistungsbereich, sind allerdings auch in anderen Bereichen viele Regeln aus gutem Grund geschaffen worden. Sie bringen Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger – weil sie beispielsweise gute Arbeitsbedingungen, eine intakte Umwelt oder sichere und gesunde Produkte gewährleisten. Wenn technische Normen zwischen den USA und der EU vereinheitlicht werden sollen, die keinerlei Auswirkungen auf den Verbraucher-, Umwelt-, oder Arbeitsschutz haben, kann das sinnvoll sein und im Einzelfall debattiert werden. Es darf aber nicht zu einer flächendeckenden Deregulierung auf Kosten wichtiger
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Sozialstandards kommen. Es darf auch nicht sein, dass starke Schutzstandards im Umweltbereich auf einem niedrigen Niveau vereinheitlicht werden. Beispielsweise wird in Europa das so genannte Vorsorgeprinzip angewendet, das eine Einschränkung der Zulassung von Produkten oder Verfahren auch dann zulässt, wenn eine Schädlichkeit oder Gefährlichkeit nicht vollkommen nachgewiesen wurde. In den USA ist die Marktzulassung hingegen viel einfacher möglich. Das europäische Vorsorgeprinzip darf deshalb nicht im Zuge von TTIP ausgehebelt werden. Investitionsschutz ausklammern Ein weiterer Bereich, in dem die Rechte von Unternehmen und Investoren in den vergangenen Jahren ausgeweitet wurden und dadurch negative Effekte für die Bevölkerung entstanden, ist der Bereich des Investitionsschutzes. Es gibt mittlerweile rund 3.000 Investitionsschutzverträge auf der Welt – die meisten sind bilaterale Abkommen zwischen zwei Staaten. Allein in der EU wurden rund 1.400 davon abgeschlossen. Deutschland hat davon mehr als 130 ratifiziert. Diese Abkommen geben ausländischen Investoren zusätzliche Rechte gegenüber einheimischen Unternehmen. Viele enthalten dabei spezielle Klagerechte, mit denen die Investoren gegen Staaten im Rahmen des so genannten Investor to State Dispute Settlement (ISDS) rechtlich vorgehen können. Wenn ein Investor sich in seinen Rechten eingeschränkt sieht, muss er also nicht vor einem ordentlichen Gericht klagen, sondern kann ein internationales Schiedsgericht anrufen, das hinter verschlossenen Türen tagt. Unter Umständen haben die Schiedsrichter, die über die Fälle entscheiden, dabei Interessenkonflikte, weil sie zum Teil an anderer Stelle als Anwälte von Investoren auftreten. Investoren haben vor solchen Schiedsgerichten gute Aussichten auf Erfolg. Denn das Grundproblem des Investitionsschutzes in seiner bisherigen Form ist, dass die garantierten Investorenrechte ungenaue Definitionen von Ansprüchen, wie den auf „Faire und Gerechte Behandlung“ oder auf Kompensation bei „indirekter Enteignung“ enthalten. Das kann dazu führen, dass beliebige staatliche Regulierungen als Verstoß gegen diese Investorenansprüche gewertet werden können. Entsprechend sind immer mehr Staaten mit den hohen Kosten für Entschädigungen und Gerichtsverfahren konfrontiert. Die Bundesrepublik Deutschland wird gegenwärtig auf Basis eines Investitionsschutzes im Rahmen des Europäischen Energiecharta-Vertrages wegen des Atomausstiegs auf Schadensersatz in Milliardenhöhe verklagt. Die Bundesregierung hat hierfür bis heute bereits 700.000 Euro an Prozess- und Anwaltskosten bezahlt, weitere 5,8 Millionen an Verfahrenskosten sind für die nächsten zweieinhalb Jahre eingeplant. Es ist zu befürchten, dass Staaten aus Angst vor Verfahren und Entschädigungen, sinnvolle Regulierungen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger erst gar nicht vornehmen.
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Das Investitionsschutzsystem hat sich von seinem ursprünglichen Zweck schon lange entfernt. Ursprünglich sollte Ländern, die bei Investoren wenig Vertrauen genießen, der Zugang zu ausländischem Kapital erleichtert werden. Mittlerweile sind die ISDSKlagen zu einem einträglichen Geschäft geworden. Es gibt sogar spezialisierte Finanz-Unternehmen, die ISDS-Klagen finanzieren und sich ausschließlich durch die Kompensationszahlungen der Staaten refinanzieren. Die Zahl der Klagen hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Es ist zu erwarten, dass reiche Industrieländer künftig verstärkt verklagt werden. Auch die EU-Kommission bestreitet nicht mehr, dass das Investitionsschutzsystem einige Probleme gebracht hat. Sie hat deshalb einen reformierten Ansatz präsentiert, den sie in CETA und in TTIP einbringen will. Der DGB hat sich intensiv mit diesem Ansatz befasst und musste leider feststellen, dass auch die angestrebten Änderungen Fehlentwicklungen, Missbrauch und schädliche Auswirkungen auf das Gemeinwohl nicht verhindern können. Ganz ähnlich haben sich mittlerweile 120 Investitionsschutzexperten und Handelsrechtler verschiedener Universitäten geäußert. Das TTIP braucht keinen Investitionsschutz. ISDS und breit auslegbare Investorenschutzrechte sind grundsätzlich abzulehnen. Dennoch ist es gut, dass die Kommission die Konsultation zum Investitionsschutz gestartet hat. Denn sie ermöglicht eine grundsätzliche Diskussion über Sinn und Ausgestaltung von Investitionsschutzregeln. Eine ähnliche Debatte brauchen wir aber auch für die Handelspolitik insgesamt. Es ist überstürzt, trotz des öffentlichen Widerstands gegen TTIP, CETA und TiSA einfach weiter zu verhandeln. Die TTIPVerhandlungen sollten ausgesetzt werden, damit Zeit für eine intensive Debatte besteht. Wir müssen endlich konstruktiv und ideologiefrei darüber nachdenken, wie eine Globalisierung gestaltet werden kann, die den internationalen Handel und seine Vorteile fördert, ohne schädliche Nebenwirkungen auf ganze Gesellschaften zu haben. Der Handel muss dem Menschen dienen.
Autor: Stefan Körzell, geboren 1963, seit Mai 2014 Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB
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70 Jahre Bretton-Woods – die Geburtsstunde von IWF und Weltbank von Elmar Altvater Vor 70 Jahren tagten vom 1. bis zum 22. Juli 1944 in dem kleinen Ort Bretton Woods im US-amerikanischen Bundesstaat New Hampshire Vertreter aus 44 Staaten, um eine neue Weltwährungs- und Finanzordnung zu beschließen. Es gelang den Beteiligten trotz harter Gegensätze, dem Chaos, das im August 1914 die “Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mit bedingte, ein Ende zu machen. Der Goldstandard des 19. Jahrhunderts ging in die Brüche und der Versuch, ihn nach dem Frieden von Versailles 1922 wieder zu beleben, scheiterte in der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 kläglich. Die USA entwickelten sich zum „Supergläubiger“, dem alle anderen Nationen Schuldendienst leisten mussten. Insbesondere die deutschen Reparationen waren ein Hindernis für den so notwendigen Ausgleich der Leistungs- und Kapitalbilanzen. Davor hatte John Maynard Keynes im Jahr 1931 in einem Artikel über das „German Transfer Problem“ schon weitsichtig gewarnt. In den 30er Jahren kamen Weltwirtschaft, Welthandel und die globalen Finanzbeziehungen fast völlig zum Erliegen. Autarkie war für viele Länder die einzige Alternative zum Welthandel. Doch wie können rohstoffarme Industrieländer autark werden? Sie folgten jener Linie, die vom kolonialen Eroberer Cecil Rhodes schon im 19. Jahrhundert vorgegeben wurde: Wenn unsere Waren die Grenzen nicht überschreiten können, müssen es unsere Armeen tun. Autarkiepolitik schlägt in Aggressionspolitik um: in Ostasien verleibt sich Japan die Mandschurei und andere Gebiete Chinas ein, in Nord- und Ostafrika besetzt das faschistische Italien Territorien von Libyen bis Äthiopien, und Osteuropa wird vom nationalsozialistischen Deutschen Reich erobert und ausgeplündert. Das war die „Zeit der fürchterlichen Extreme“, die Epoche des Faschismus und der nationalsozialistischen Verbrechen und die Fortsetzung des schrecklichen Ersten Weltkriegs im noch schrecklicheren Zweiten Weltkrieg. Dem sollte in Bretton Woods mit der Errichtung einer neuen Weltwirtschaftsordnung ein Ende bereitet werden. Absichtlich wählte man für die Konferenz eine USamerikanische Kleinstadt aus und keinen traditionsreichen Königs- oder Kaiserpalast einer europäischen Siegermacht. Das „amerikanische Jahrhundert“ begann 1944 mit diesem Ereignis im Hotel Mount Washington in Bretton Woods, nachdem die Hegemonie des britischen Empires im Chaos von Terror, Krieg und Zerstörung versunken ist. Es war von Anfang an für die meisten Beteiligten klar, dass das neue
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Währungssystem nicht mehr auf Gold und britischem Pfund gründen konnte, sondern in Zukunft auf dem US-Dollar. Die neue Weltwährung Die Wechselkurse der am neuen „Bretton Woods-System“ beteiligten Währungen wurden also an den US-Dollar gebunden, der seinerseits zu einem festen Kurs von 35 US-Dollar je Feinunze jederzeit in Gold konvertiert werden konnte. Die Goldbestände von Fort Knox gaben dem System zunächst eine hohe Sicherheit und Stabilität, die allerdings einen Preis hatte. Das war die sogenannte „Dollarlücke“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Daran zeigte sich schon früh ein Konstruktionsfehler des Systems: Wenn das neue Weltgeld US-Dollar sicher und wertbeständig sein sollte, musste es knapp gehalten werden. Sollte es entsprechend dem Bedarf in einer expandierenden Weltwirtschaft verfügbar sein, durfte es aber nicht knapp sein. Das war das sogenannte „Triffin-Dilemma“. Doch zunächst war das Dilemma nicht brisant. Denn die Dollarlücke konnte in Europa mit umfassender finanzieller Unterstützung der neuen Hegemonialmacht USA geschlossen werden. Die nach dem US-Außenminister benannte „MarshallHilfe“ für das kriegszerstörte Westeuropa betrug ca. 16 Mrd. $. Selbst Großbritannien hing (mit etwa 3,5 Mrd. $) an den Marshall-Hilfen und zeigte damit aller Welt, dass in der neuen Weltordnung die Muskelspiele eines britischen Empire nur mit DollarInjektionen aus den USA möglich waren. Das Bretton Woods-System funktionierte in den 1950er Jahren zunächst sehr gut. Das war kein Wunder, denn die westliche Wirtschaft boomte nach Kriegsende. Die drei Jahrzehnte bis Mitte der 1970er Jahre entstanden Wirtschaftswunder in Deutschland, Italien bis Ungarn, Polen und mit Zeitverzögerung auch in anderen Weltregionen. Später wurden diese drei Jahrzehnte als die „goldenen Jahre“, als die „trente glorieuse“ verklärt. Die Rekonstruktion der zerstörten Wirtschaften und der Nachholbedarf nach Jahrzehnten der Not waren die Treiber des Wachstums. Kein Wunder, dass die Bretton Woods-Institutionen ihre Aufgaben leicht bewältigten. Die Weltbank (offiziell: „Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung“) sollte ursprünglich den Wiederaufbau Europas finanzieren, doch das geschah umfänglicher und effektiver im Rahmen der Marshall-Hilfe. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bis die Weltbank sich als Entwicklungsbank für die „Entwicklungsländer“ in der seit der Bandung-Konferenz 1955 so genannten „Dritten Welt“ positionierte. Seitdem ist die Weltbank die bedeutendste entwicklungspolitische Institution. Für den Wiederaufbau Europas war sie unerheblich.
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Austeritäts-Politik wird das Markenzeichen des IWF Der Internationale Währungsfonds (IWF) sollte für die Stabilität der fixierten Wechselkurse und für die Finanzierung des Ausgleichs der Leistungsbilanzen sorgen. Dabei zeigte sich ein weiterer Fehler der Bretton-Woods-Architektur: Die Anpassungsleistungen beim Ausgleich der Leistungsbilanzen sollten die Defizitländer, also die Schuldner erbringen, nicht die Überschussländer, also die Gläubiger. Der US-amerikanische Verhandlungsführer in Bretton Woods, H. D. White, hatte dies gegen die britische Delegation mit John Maynard Keynes durchgesetzt. Er folgte dabei den Interessen der USA. Es kam hier bereits die bis heute wirksame Doppelrolle des US-Dollar zum Ausdruck: Er war das nationale Geld der USA und gleichzeitig Weltgeld im Rahmen des Bretton-Woods-Systems. Die USA als das einzige große Überschussland hatte kein Interesse daran, ihre Überschussposition und den Gläubigerstatus aufzugeben. Schuldner sollten sich anstrengen und durch Exportüberschüsse die Devisen einnehmen, mit denen sie ihre Verpflichtungen gegenüber den Gläubigern, das waren aber bis in die 1960er Jahre in erster Linie die USA, begleichen konnten. Diese Regel, die von Anbeginn das Währungssystem und seine Institutionen, vor allem den IWF mit einer Peitsche gegen Schuldner ausstattete, wurde seit der „Schuldenkrise“ der Dritten Welt in den 1980er Jahren durch die „Konditionalität“ der Strukturanpassung verschärft. Von verschuldeten Ländern wurde „austerity“ verlangt: Druck auf Löhne und Sozialleistungen, Konsumverzicht, Kürzung der öffentlichen Investitionen und sozialen Transferleistungen, Privatisierung öffentlicher Güter. Von diesen Maßnahmen blieben die USA als Schuldnerland später verschont. Denn anders als alle anderen am Bretton Woods System beteiligten Länder waren die USA in ihrer eigenen Währung verschuldet, die sie selbst „drucken“ konnten. Der Widerspruch zwischen Weltgeld und nationaler Währung war für die USA ein Segen, aber auch für die schweren Währungs- und Schuldenkrisen seit den 1960er Jahren verantwortlich. Das erste Austerity-Opfer war Italien, als das Land 1976 zur Bewältigung der „Ölkrise“ (Enorme Preissteigerungen des Rohstoffs) einen IWF-Kredit benötigte. Seit 1982 waren es die Regierungsvertreter vieler Länder der sogenannten „Dritten Welt“, die in Washington bei den Bretton-Woods-Institutionen um Kredite anklopfen mussten. Von ihnen wurde immer wieder verlangt, die Auflagen des IWF (Konditionalität) zu erfüllen und diese als „freiwillige“ Leistung in einem „letter of intent“ zu deklarieren. Eigentlich grenzt dieses Verfahren an eine Erpressung von Schuldnern mit der Macht des Geldes. Offiziell wurde es als „Konsens von Washington“ verklärt. Beteiligt waren daran IWF, Weltbank, US-Regierung, aber auch die vielen Think Tanks und internationalen Einrichtungen mit Sitz in Washington. Auch die Wall Street war und
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ist eng verzahnt mit diesen Institutionen, denn die Gläubiger auf den internationalen Finanzmärkten waren inzwischen nicht mehr allein andere Staaten, sondern auch private Banken, die im Gegenzug zur Rettung überschuldeter Länder durch den IWF auf die Stundung fälliger Kredite verpflichtet wurden. Diese Pflicht ließen sie sich mit Zinsaufschlägen („spreads“) und hohe Sicherheiten vergolden. Zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts verfügt der IWF also über jahrzehntelange Erfahrungen mit Instrumenten der Sparpolitik. Diese Expertise ist, so sagt es der ehemalige deutsche Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen, ein Beleg für seine Eignung als Mitglied der europäischen Troika. Die Verfahren der Troika konnte der IWF im Management der Schuldenkrise der Dritten Welt entwickeln. Die Folgen sind in Europa ebenso desaströs. Der Zusammenbruch von Bretton-Woods Man konnte schon während der Ausnahmeperiode der drei “glorreichen Jahrzehnten“ bis Mitte der 1970er Jahre beobachten, dass es für Gläubiger keineswegs vorteilhaft sein muss, wenn Defizitländer Leistungsbilanzüberschüsse zur Bewältigung des Schuldendienstes erwirtschaften. Denn in einem System kommunizierender Röhren sind die Überschüsse der einen die Defizite der anderen. Das hatte John Maynard Keynes schon 1931 an der deutschen Verschuldung infolge der Reparationsverpflichtungen gezeigt und deshalb konsequent für einen Schuldenerlass plädiert. Spiegelbildlich verwandelten sich auch in der Nachkriegszeit die zunächst hohen US-amerikanischen Überschüsse in immer drückender werdende Defizite. Die dann folgende Abwertung des US-Dollar betraf aber keine nationale Währung sondern das Weltgeld. Das ganze Bretton-Woods-System geriet ins Wanken, als 1971 die Goldkonvertibilität des Dollars, die als Stabilitätsanker wirkte, aufgehoben werden musste. Als dann 1973 das Defizit der US-Leistungsbilanz strukturell zu werden drohte, wurde auch das System der fixen Wechselkurse aufgegeben. Das war die Stunde der von Milton Friedman so genannten „neoliberalen Konterrevolution“, die Chance für neokonservative Hardliner wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan, nach Bretton Woods mit dem „big bang“ der Liberalisierung der Kapitalmärkte den multinationalen Banken, den Investmentfonds und transnationalen Unternehmen die Bildung der Wechselkurse und Zinssätze zu überlassen. Diese zentralen Preise in einer Weltwirtschaft wurden nun nicht mehr von offiziellen, staatlichen Institutionen politisch festgelegt, sondern von profitorientierten privaten Akteuren. Dies war einer der ersten Akte der Privatisierung, die in den folgenden Jahren wie ein politischer Tsunami über die ganze Welt fegte.
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Die neuen privaten Akteure verwendeten die ihnen gewährte Freiheit sofort, um neue Finanzmarktprodukte zu kreieren: neue Instrumente zur Steigerung ihrer Gewinne und zur Öffnung regulierter Märkte, um ihre Geschäftsfelder zu erweitern. Die politisch begründete Regulierung gilt den spekulierenden Finanzakteuren als „financial repression“, die in einer Welt „freier Märkte“ nichts zu suchen habe. Seit ihrer Liberalisierung haben die Finanzmärkte ihre eigenen Methoden der Unterdrückung gelernt: gegen die reale Wirtschaft und gegen soziale Systeme zum Zwecke des Transfers von Einkommen zu den Finanzakteuren. Dies ist die Umkehr der Keynes’schen Forderung, dass finanzielle Renditen unterhalb der realwirtschaftlich erzielbaren Profit- und Wachstumsraten liegen sollten. Diese finanzielle Unterdrückung („oppressive powers of capitalists“) wird seit den 1980er Jahren zu einem Hauptkennzeichen moderner neoliberaler Politik im globalen Raum. Das hat sich bis in die Gegenwart nicht grundlegend geändert. Eine Abfolge der Schuldenzyklen Die Entwicklung seit dem Zusammenbruch von Bretton Woods kann als eine Sequenz von Schuldenzyklen gedeutet werden, in denen immer ein Schuldneraustausch stattfand. Als sich ein anderer Schlüsselpreis der Weltwirtschaft, nämlich der Ölpreis schon einige Monate nach dem Zusammenbruch des Bretton Woods Systems infolge des koordinierten Vorgehens der OPEC nach dem arabischisraelischen Oktoberkrieg 1973 von etwa 2 US-Dollar pro Barrel auf etwa 11 USDollar mehr als verfünffachte, stiegen die „Petrodollareinahmen“ der ölexportierenden Länder rapide an, während die Defizite der ölimportierenden Länder ebenso abrupt größer wurden. Dieses Ereignis hatte radikale Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen der industrialisierten, westlichen Welt und der "Dritten Welt". Denn auf den liberalisierten Finanzmärkten konnten nun die Institute die "Petrodollars" aus dem Nahen Osten gewinnträchtig an ölimportierende Länder ausleihen, deren Exporteinnahmen wiederum zur Bezahlung des Öls nicht ausreichten. Durch dieses „Recycling“ wurde ein gewaltiger Schuldenberg im Verlauf weniger Jahre aufgetürmt. Das war weniger problematisch, solange die realen Zinssätze niedrig waren. Als aber 1979 das US-Federal Reserve-System die Zinssätze verdreifachte (das war der so genannte „Volcker Schock“, benannt nach dem damaligen Chef der „Fed“), um die Abwertung des US-Dollar zu stoppen, bekamen die hochverschuldeten Länder Probleme mit dem Schuldendienst. Mexiko musste 1982 die Schuldendienstzahlungen einstellen, Brasilien und fast alle anderen Länder der Dritten Welt folgten. Durch diese Pleiten wurden die 1980er Jahre für die Entwicklungsländer ein „verlorenes Jahrzehnt“. Das Bretton Woods System brach zwar in den siebziger Jahren zusammen, aber die Bretton Woods Institutionen (IWF, Weltbank) wurden danach mächtiger als jemals
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zuvor. Ihre Aufgabe war nun nicht mehr die Stabilisierung von Währungen, denn die Bildung der Wechselkurse war den „Märkten“, d.h. den großen Spekulanten übertragen worden, sondern die Sicherung privater Geldvermögen vor drohenden Pleiten. Der dem neoliberalen Dogma verpflichtete IWF sorgte nun dafür, dass der Schuldendienst mehr oder weniger verstaatlicht wurde, damit die privaten Forderungen der privaten Banken, Fonds, Versicherungen und transnationalen Unternehmen nicht abgewertet werden mussten. Schuldner mussten dazu angehalten werden, den Schuldendienst zu leisten. So wurde die verschuldete „dritte Welt“ unter die Kuratel von IWF und Weltbank gehalten und das war zugleich eine der Bedingungen dafür, dass die US-amerikanische Hegemonie, die nach der Niederlage in Vietnam 1975 und dem Verfall des Dollar in den 1970er Jahren gefährdet war, wieder wie Phönix aus der Asche neu erstehen konnte. Reformen der Bretton Woods-Institutionen, wie es vielfach von NichtRegierungsorganisationen gefordert wird, waren mit den USA und den Verantwortlichen in IWF und Weltbank nicht zu machen. Dann folgten in den 1990er Jahren die „Schwellenländer“ in die Schuldenfalle, die – das war bereits eine Finanzinnovation – nun nicht mehr Kredite aufnahmen und sich gegenüber einzelnen Banken oder Konsortien per Bankkredit verschuldeten, sondern verbriefte Anleihen platzieren konnten, mit denen Banken und Fonds einen schwunghaften Wertpapierhandel betreiben konnten. Dieses Spiel endete mit hohen Verlusten für die verschuldeten Länder. Einige Höhepunkte waren die Asienkrise 1996 und die Argentinienkrise 2001, wodurch ganze Gesellschaften verarmten. Nur die privaten Fonds retteten ihre Finanzvermögen. Auf den liberalisierten Finanzmärkten wurde die Kapitalflucht in sichere Häfen leicht gemacht. Immer neue Schuldner mussten gesucht werden, wenn die alten ausfielen. Geld können die Finanzakteure nur dort machen, wo jemand bereit war, Schulden zu machen und dafür Zinsen oder Renditen zu zahlen. Es folgte also die Verschuldung der „New economy-Start-ups“. Als diese New economy-Blase um die Jahrhundertwende platzte, folgte der durch „monetary easing“ ausgelöste SubprimeImmobilien-Boom, der 2008 explodierte. Die Subprime-Krise löste dann eine globale Bankenkrise aus. Denn Banken haben höchst windige Wertpapiere aus verbrieften Forderungen (Konsumentenkredite, Ausbildungsdarlehen etc.) „designed“ und weltweit verkauft. Und Rating-Agenturen haben die Papiere bewertet. Sie dienten als Basis, um mit einem großen Hebel Fremdkapital aufzunehmen und so die Eigenkapitalrendite zu steigern. Auch das Risiko wurde entsprechend größer und mit ihm stiegen die Zinsen und Renditen bis zu dem Punkt, an dem die Schuldner insolvent werden. Wenn deren „Systemrelevanz“ hoch eingestuft wird, mussten nun die Staaten die drohenden Verluste abschirmen oder bereits eingetretene Verluste ersetzen und zugleich jene Papiere, die sich als toxisch herausgestellt hatten, abschreiben. Woher hatten die Staaten das Geld für diese Rettungsaktionen? Vom
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Steuerzahler. Die Verluste der privaten Akteure auf den globalen Finanzmärkten wurden also nationalstaatlich sozialisiert. Die Bankenkrise wurde also in eine Staatsschuldenkrise transformiert und als solche auch politisiert. Nun galten die Sachzwänge der Finanzmärkte, mit denen „die Politik ins Schlepptau“ (Ex-Vorstandschef der Deutschen Bank Rolf Breuer) genommen wurde. Für die Banken ist das ein fantastisches Geschäft. Sie erhalten Geld von der Zentralbank fast zum Nulltarif, um es zu hoher Rendite an die Nationalstaaten zur Finanzierung der Schulden auszuleihen. Die Renditen sind vom Risiko abhängig und dieses wird wiederum durch Rating-Agenturen eingeschätzt. Die Bretton WoodsInstitutionen sind in diese Prozesse der neoliberalen Umverteilung eingebunden. Auswege Wie kann dieser unhaltbare Zustand überwunden werden? Im Prinzip sind drei Lösungswege denkbar. Der erste führt auf einen Pfad hohen wirtschaftlichen Wachstums. Allerdings gelingt dies nicht, weil erstens die gleichzeitig verordnete Sparpolitik eine wirtschaftliche Depression mit rückläufiger Nachfrage und dem Abbau von Beschäftigung auslöst. Zweitens muss an die Grenzen des Wachstums erinnert werden, an die vielen „Peaks“ bei der Energie- und Rohstoffversorgung. Von Peakoil ist heute weniger die Rede, weil immer mehr Quellen von „unkonventionellem“ Öl, Gas und unkonventioneller Kohle angezapft werden – mit extrem hohen ökologischen Schäden. Wenn das Cancún-Klimaziel, die Erdmitteltemperatur nicht mehr als um 2 Grad in diesem Jahrhundert ansteigen zu lassen, erreicht werden soll, darf ab 2017 kein Kraftwerk auf der Basis fossiler Energieträger mehr ans Netz gehen. „Grünes Wachstum“, für das die OECD, die Bretton Woods-Institutionen und viele „Grüne“ plädieren, ist bei näherer Betrachtung eine Illusion, weil es den notwendigen Rückbau der fossilen Infrastrukturen nicht kompensieren kann. Eine zweite Möglichkeit wäre der Tausch finanzieller Schulden in reale Werte. Die Finanzvermögen, deren Werthaltigkeit infolge der Insolvenz von Schuldnern in Frage gestellt ist, werden in Realaktiva getauscht, „debt for nature“-, „debt for equity“. Diese Swapgeschäfte waren das Thema während der Schuldenkrise der 1980er Jahre. Schwerwiegende Einwände sind dagegen formuliert worden: wegen der Folgen der Swaps für die nationalstaatliche Souveränität, wegen der Verteilungswirkung, wegen der ökologischen Belastungen. Zum Beispiel wurde zur Reduzierung der griechischen Schulden von Boulevardblättern in Deutschland der Tausch von „debt for beaches“ oder „debt for beautiful islands“ ins Spiel gebracht. Wer den sozialen und politischen Frieden will, sollte diesen Weg aber besser nicht beschreiten. Aber keine Sorgen, Finanzinvestoren wollen Rendite sehen, und die ist beim Tausch von Schulden in „equity“, also in reale Werte nur bei langfristigem Engagement der volatilen Spekulanten zu erzielen.
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Auf einem dritten Weg findet eine gewisse Kontraktion der Forderungen des Finanzsektors durch Regulation der Finanzmärkte statt: durch eine Finanztransaktionssteuer, um kurzfristige, spekulative Kapitalbewegungen zu verteuern, durch eine höhere Transparenz des Finanzsektors, um Geldwaschanlagen, Schattenbankenparadiese, Offshore Finanzzentren entweder zu schließen oder zur Kooperation zu verpflichten. Bestimmte Geschäfte mit spekulativen Papieren müssen verboten werden. Das Investment Banking ist vom Detailgeschäft wieder zu trennen. Banken müssen generell restrukturiert werden, damit sie nicht losgelöst von der realen Ökonomie ihre Bilanzen aufblähen und dann irgendwann „too big to fail“ sind. Wenn Reformen dieser Art durchgeführt werden, braucht niemand die heutigen übermächtigen Rating-Agenturen, die durch nichts legitimiert sind und ein Fremdkörper in der demokratisch strukturierten Gesellschaft bleiben. Die politische Formierung des globalen Südens Besonders schwierig, aber besonders wichtig ist die Regelung der Insolvenz von souveränen Schuldnern. Diese Frage ist seit der Schuldenkrise der „Dritten Welt“ auf der Tagesordnung der Bretton Woods-Institutionen. Sie ist zuletzt während der Argentinienkrise zu Beginn des neuen Jahrhunderts von der Vizedirektorin des IWF Anne Krueger aufgeworfen worden – und sie ist jedes Mal wieder nach kurzer Zeit verschwunden. Auch Anne Krueger verfolgte ihre öffentlich geäußerte Idee von der Möglichkeit einer Insolvenzregelung für souveräne Schuldner nicht weiter. Offenbar wurde sie zurückgepfiffen. Aber die Idee kehrt gerade zurück, seitdem Argentinien vor kurzem von einem Provinzrichter aus New York zur Ableistung des Schuldendienstes an einige klagende Hedgefonds verurteilt wurde. Ein Ausgleich zwischen Schuldner- und Gläubigerinteressen ist also immer unausweichlich und er muss international politisch geregelt erfolgen. Das Recht des finanziell scheinbar Stärkeren muss sich an der politischen Legitimation und einer ethischen Rechtfertigung brechen. Das internationale Finanz- und Währungssystem, für dessen Stabilität die Bretton Woods-Institutionen seit 1944 Verantwortung tragen, steht also 70 Jahre nach der Gründung vor einer Aufgabe, die schon oft in der Geschichte der Menschheit zu bewältigen war: die Spaltung der Gesellschaften in Schuldner, die Schuldendienst leisten müssen, und Gläubiger, die ihr Geldvermögen mehren. Das ist komplizierter als die Verteidigung von Wechselkursen wie im Jahr 1944. Große Staatsmänner, Philosophen, ja Religionsstifter haben sich damit beschäftigt, von Hammurabi, Solon von Athen, Aristoteles, Augustin und vielen anderen bis zu Fidel Castro. Dieses Problem ist eigentlich so groß, dass es ganz weit oben auf die Tagesordnung des IWF gehört, auf eine Reformagenda des internationalen Geld- und Finanzsystems.
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Fehlanzeige…..die Mächte, die in IWF und Weltbank das Sagen haben, sind zu durchgreifenden Reformen nicht bereit. Sie müssten Macht abgeben, weil sie dann nicht mehr den Mächtigen folgen würden. Also wird ihnen die Erneuerung des Währungssystems zu dessen 70. Geburtstag im Juli 2014 von den BRICS-Ländern (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) nahegelegt. Auf ihrem Gipfeltreffen in Brasilien beschlossen sie die Gründung einer BRICS-Entwicklungsbank und eines eigenen Währungsfonds. Die explizite Begründung für diesen Schritt ist die Unfähigkeit der Bretton Woods-Institutionen zu notwendigen Reformen. Um die Abhängigkeit von IWF, Weltbank und Wall Street zu verringern und mehr Entwicklungsspielraum zu erhalten, werden daher gegen den Währungsfonds und die Entwicklungsbank des globalen Norden ähnlich strukturierte Organisationen des globalen Südens gegründet. Der 70. Geburtstag des Bretton Woods System ist möglicherweise das Datum, von dem spätere Historiker einmal schreiben werden, es sei die Geburtsstunde einer autonomen politischen Formierung des globalen Südens gegen den globalen Norden.
Autor: Prof. Dr. Elmar Altvater, geboren 1938 in Kamen, Emeritierter Professor für Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin,
Junge Unternehmen im Wandel der Erwerbsarbeit: Trendsetter oder Nachahmer? von Andreas Koch, Jochen Späth Im Zuge der immer rascheren technologischen Entwicklung und der zunehmenden internationalen Verflechtung der Wirtschaft verändert sich auch die Arbeitswelt. Drei Entwicklungen können dabei identifiziert werden: Die Zunahme so genannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse (z.B. geringfügige Beschäftigung, Befristungen, Werkverträge, Leiharbeit); ein Trend hin zu mehr (Solo-)Selbständigkeit und zu Unternehmensgründungen; sowie schließlich auch in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen eine wachsende Eigenverantwortung und Autonomie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (Subjektivierung der Arbeit, Arbeitskraftunternehmer). Insgesamt zeigen sich damit eine erhöhte Flexibilität in der Arbeitswelt und ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben sowie zwischen verschiedenen Tätigkeitsformen.
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Auch die Debatte über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen und die Förderung von Unternehmensgründungen gehört in diesen Kontext. Jungen Unternehmen und selbständigen Unternehmerinnen und Unternehmern wird dabei unter anderem eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Arbeitsplätzen zugeschrieben (vgl. Fritsch/Noseleit 2013). Dabei wird allerdings meist außer Betracht gelassen, welche Arten von Arbeitsplätzen entstehen und inwiefern damit neue Unternehmen zu den oben beschriebenen Veränderungen der Arbeitswelt beitragen. Im Folgenden werden diese Aspekte diskutiert, insbesondere welche Rolle junge Unternehmen in diesem Wandel der Erwerbsarbeit spielen: Nutzen sie andere Formen der Erwerbsarbeit, z.B. flexiblere Arbeitsformen, als etablierte Unternehmen? Welchen Beitrag leisten junge Unternehmen zu den Veränderungen in der Arbeitswelt? Welche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen für Akteure aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften? Einflussfaktoren bei der Wahl der Arbeitsformen Das Unternehmensalter spielt eine wichtige Rolle für die Formen und die Organisation der Arbeit in Unternehmen, zudem sind vor allem die Branche und der Innovationsgrad zentrale Einflussfaktoren.1[1] Während beispielweise in der Pflegebranche aufgrund der hohen externen Regulierungsdichte (z.B. Pflegesätze, Hygienestandards) auch junge Unternehmen nur sehr geringe Gestaltungsspielräume haben, ist die Wahl der Arbeitsformen im Maschinenbau vom Innovationsgrad abhängig: Innovative Unternehmen haben u.a. höhere Anforderungen an die Flexibilität ihrer Belegschaften und organisieren die Arbeit entsprechend; verstärkt wird dies noch, wenn die Unternehmen in neuen Bereichen, etwa in der Umweltwirtschaft, tätig sind. Im Maschinenbau ließ sich aber auch ein brancheninterner Diskurs beobachten, der zu Restriktionen in der Wahl der Arbeitsformen beiträgt. Dieser Diskurs speist sich aus dem hohen gewerkschaftlichen Durchdringungsgrad und der vergleichsweise hohen Regulierungsdichte (z.B. Umweltauflagen, Standards und Normen). Ein hoher Stellenwert eines ähnlichen Diskurses ist auch in der Werbebranche festzustellen. Die Gespräche mit den dortigen Beschäftigten und Unternehmerinnen und Unternehmern zeigten unter anderem, dass sich Arbeitszeiten und Arbeitsauffassung zu einem bedeutenden Teil aus dem Selbstverständnis der Zugehörigkeit zur Werbebranche speisen („wir in der Werbebranche haben sehr lange Arbeitszeiten“) und dass diese Verhaltensmuster meist nicht hinterfragt werden. Auch Neugründungen und junge Unternehmen folgen diesen Mustern, zumal wenn sie von bereits in der Branche erfahrenen Personen gegründet werden.
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Nur in wenigen Ausnahmefällen findet sich eine explizite Abgrenzung von diesen Verhaltensweisen. Auch in der Biotechnologie spielen branchenspezifische und innovationsbezogene Faktoren eine große Rolle bei der Wahl der Arbeitsformen: Die oft hochqualifizierten Beschäftigten kommen vielfach aus dem sehr autonomiegeprägten universitären Umfeld. Erst mit fortschreitender Etablierung der Unternehmen beginnt hier auch eine Formalisierung der Arbeitsverhältnisse. Neben den genannten Faktoren ist natürlich auch die Unternehmensgröße ein bedeutender Faktor mit Einfluss auf die Arbeitsformen, da mit dem Wachstum zahlreiche Mechanismen innerhalb des Unternehmens stärker formalisiert werden können oder müssen. Insgesamt zeigen die qualitativen Fallstudien, dass vor allem die Größe, das Fehlen von Routinen und die noch geringe Reputation (Kundenbeziehungen) wichtige Einflussgrößen bei der Zusammensetzung der Arbeitsformen in jungen Unternehmen sind. Charakteristisch ist darüber hinaus, dass junge Unternehmen tendenziell auch jüngere Beschäftigte haben, die per se eine größere Risikobereitschaft und eine Offenheit für neue Arbeitsformen haben. Unterschiede zwischen jungen und etablierten Unternehmen Weiteren, quantitativen Analysen zufolge greifen junge Betriebe signifikant häufiger (und stärker) auf Vertrauensarbeitszeit und Überstunden zurück als etablierte Unternehmen. Gleiches gilt für einige der atypischen Beschäftigungsverhältnisse, wenngleich nicht für alle: Während freie Mitarbeiter, Befristungen und zu einem gewissen Grad auch Midi-Jobber in den jungen Betrieben häufiger anzutreffen sind, ergeben sich bei Leiharbeitern und Beschäftigten in Teilzeit keine signifikanten Unterschiede (Abb. 1). Bei den geringfügig Beschäftigten ergibt sich gar das Gegenteil: junge Betriebe haben eine deutlich geringere Neigung zu geringfügigen Beschäftigten als die meisten etablierten (in Abb. 1 nicht enthalten).2[2]
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Abbildung 1: Nutzung ausgewählter Arbeits- und Beschäftigungsformen in jungen Betrieben
Wie sind diese Befunde zu erklären? Verschiedene Studien haben bereits darauf hingewiesen, dass sich mit dem Alter eines Unternehmens viele grundlegende Faktoren ändern, die nicht zuletzt auch einen starken Einfluss auf deren Sterblichkeit ausüben können. Junge Unternehmen, wurde vermutet, besäßen im Gegensatz zu etablierten Unternehmen unreife interne Strukturen, nicht hinreichend ausgebaute Vertriebswege und nur unzureichenden Zugang zu Wissen und Netzwerken. Außerdem litten sie unter einem deutlichen Mangel an Reputation, um nur die wichtigsten Argumente zu nennen (sogenannte liability of newness, vgl. hierzu Penrose 1959 und Garnsey 1998). Der Schluss liegt nahe, dass infolge dieser strukturellen Nachteile junge Unternehmen häufiger aus dem Markt ausscheiden müssten im Gegensatz zu etablierten Unternehmen, da mithin der auf ihnen lastende Druck besonders hoch sein muss. Um dem zu begegnen, können Unternehmen verschiedene Strategien wählen. Eine davon kann unseren Analysen zufolge in der Wahl flexiblerer und kostengünstigerer Beschäftigungs- und Arbeitsformen bestehen, was die höhere Tendenz junger Betriebe zu Freelancern und befristeter Beschäftigung sowie Vertrauensarbeitszeit und Überstunden erklärt.
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Warum aber werden dann nicht alle atypischen Beschäftigungsformen, also auch Leiharbeiter und geringfügig Beschäftigte, vermehrt von jungen Unternehmen nachgefragt? Es ist richtig, dass diese Beschäftigungsformen klare Kosten- und Flexibilitätsvorteile gegenüber dem Normalarbeitsverhältnis aufweisen, sie können aber aus Sicht junger Unternehmen mit einem entscheidenden Nachteil behaftet sein: Sie helfen mittelfristig nicht, die oben angesprochenen Defizite zu beseitigen, da dies ein hohes Maß an Einbindung in den Betrieb voraussetzt und nicht nur ein „Arbeiten auf Zuruf und genaue Anweisung“. Zu mehr Einbindung kommt es aber in der Regel nicht, einerseits aufgrund des geringen Stundenumfangs (Mini-Jobber) und des ungewissen Arbeitsmarktstatus (Leiharbeiter), andererseits, weil dazu Mitarbeiter mit einer entsprechenden Ausbildung benötigt werden (die in diesen Beschäftigungsformen eher selten anzutreffen sind). Das in jungen Unternehmen vorherrschende geringe Ausmaß an Routinen und den damit verbundenen Tätigkeiten mag ihnen Leiharbeit und Mini-Job zusätzlich weniger attraktiv erscheinen lassen[3]. Freelancer und befristet Beschäftigte (und ebenso Vertrauensarbeitszeit und Überstunden) können ein geeignetes Instrument darstellen, um die substantiellen Herausforderungen junger Unternehmen zu meistern. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Handlungsmöglichkeiten Gerade weil jungen Unternehmen und Neugründungen auch bezüglich ihrer Beschäftigungswirkungen vielfach ein hoher Stellenwert beigemessen wird, ist es aus gesellschaftspolitischer Sicht wichtig, diese potenziellen Beschäftigungswirkungen genauer zu betrachten. Während bisherige Studien sich hauptsächlich mit dem Ausmaß der Beschäftigungswirkungen befasst haben, lenken unsere Analysen den Blick auf die Beschaffenheit der Arbeits- und Beschäftigungsformen. Insgesamt zeichnen sie ein gemischtes Bild der Rolle junger Unternehmen für den Wandel der Erwerbsarbeit: einige flexible und/oder kostengünstige Arbeits- und Beschäftigungsformen werden dort stärker nachgefragt als in etablierten Unternehmen; dies gilt aber keineswegs für alle der unter dem Begriff der „atypischen Beschäftigungsverhältnisse“ zusammengefassten Formen der Erwerbsarbeit. Die Gründe hierfür sind zunächst als genuin zu bezeichnen: Junge Unternehmen stehen vor spezifischen Herausforderungen, die sie auf dem Weg zu einem etablierten Unternehmen bestehen müssen und die ihnen kaum abgenommen werden können. Das hier in aller Kürze dargestellte Wissen über die Zusammensetzung der Belegschaften, über die Formen der Erwerbsarbeit und über deren Zusammenhänge kann dennoch für die Organe der Mitbestimmung von Interesse sein. Den Zugang zu jungen Unternehmen und deren Beschäftigten zu intensivieren, um auf diese Weise mit Beratungs- und Aufklärungsangeboten rund um das Thema Arbeitsformen den Dialog mit den Unternehmen zu verstärken und eventuell vorhandene
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Handlungspotenziale aufzuzeigen, kann wichtige, nicht nur reaktive Impulse für die Ausgestaltung des Wandels der Erwerbsarbeit liefern. Dafür geeignete Strategien zu finden, dürfte zwar angesichts der relativ „mitbestimmungsfreien“ jungen (und meist auch kleinen) Unternehmen eine große Herausforderung darstellen, sollte aber dennoch mehr denn je versucht werden.
Literatur/Quellen: Fritsch, M. und Noseleit, F. (2013) Investigating the Anatomy of the Employment Effects of New Business Formation. Cambridge Journal of Economics 37, 349-377 Penrose, E. T. (1959): The Theory of Growth of the Firm. New York: Oxford University Press. Garnsey, E. (1998): A Theory of the Early Growth of the Firm. Industrial and Corporate Change 7(3), 523-556. Ranger-Moore, J. (1997): Bigger May Be Better, But Is Older Wiser? Organizational Age and Size in the New York Life Insurance Industry. American Sociological Review 62(6), 903-920.
Veröffentlichungen der Autoren zum Thema: Koch, A., Pastuh, D. und Späth, J. (2013) New Firms and New Forms of Work. IAW Discussion Paper No. 97. Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Tübingen. http://www.iaw.edu/tl_files/dokumente/iaw_dp_97.pdf Koch, A., Rosemann, M. und Späth, J. (2011) Soloselbstständige in Deutschland. Strukturen, Entwicklungen und soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit. WISO Diskurs. Expertisen und Dokumentationen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung Koch, A. Späth, J. und Strotmann, H. (2013) The role of employees for post-entry growth. Small Business Economics 41 (3), 733-755
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Späth, J. (2013): Firm Age and the Demand for Marginal Employment in Germany. IAW Discussion Paper 94, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Tübingen. http://www.iaw.edu/tl_files/dokumente/iaw_dp_94.pdf Späth, J. (2013a): Non-Standard Employment, Working Time Arrangements, Establishment Entry and Exit. IAW Discussion Paper 98, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Tübingen. http://www.iaw.edu/tl_files/dokumente/iaw_dp_98.pdf
[1] Die im Folgenden geschilderten Ergebnisse basieren auf etwa 50 leitfadengestützten Interviews mit Unternehmerinnen und Unternehmen und Beschäftigten in jungen und etablierten Unternehmen. Diese wurden in vier beispielhaft ausgewählten Branchen durchgeführt (Maschinenbau, Biotechnologie, Werbung und ambulante Pflege). Siehe dazu auch Koch/Pastuh/Späth (2013). [2] Die Ergebnisse unserer Untersuchungen zeigen, dass sich insgesamt betrachtet die höchsten Anteile an geringfügig Beschäftigten in den Betrieben im Alter zwischen vier und sechs Jahren ergeben, sowohl die der jüngeren als auch die der etablierten Betriebe fallen teils deutlich niedriger aus (der Verlauf kann am besten als umgekehrtes U beschrieben werden). [3] Hingegen spielen Routinetätigkeiten bei zunehmendem Unternehmensalter eine immer wichtigere Rolle (Hypothek des Alterns bzw. liability of aging, vgl. z.B. Ranger-Moore 1997), was die von uns beobachtete vermehrte Neigung etablierter Betriebe zu geringfügiger Beschäftigung erklären mag.
Autoren: Dr. Andreas Koch, Wissenschaftlicher Referent am Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in Tübingen, Jochen Späth, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in Tübingen
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Von wegen nur Krise – Lernprozesse der Linken in Europa von Eva Völpel Kein Etappensieg in Sicht – wer auf die dominanten Krisenbearbeitungsstrategien in Europa und auf die Stimmengewinne rechter Parteien bei den Europawahlen blickt, kann leicht in Defätismus verfallen. In der Tat ist das Panorama beunruhigend: auch im siebten Jahr nach Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Möglichkeit eines erneuten Bankencrashs nicht gebannt, wächst im Euroraum die Gefahr einer Deflation und stecken Länder wie Portugal, Spanien oder Griechenland immer noch tief in der Wirtschaftskrise. Die Krise wird dabei für einen tiefgreifenden und demokratisch nicht legitimierten Umbau der Wirtschaft und des Sozialstaates genutzt. Um bis zu 40 Prozent geschrumpfte Einkommen, horrend hohe Arbeitslosenzahlen, eine massiv unterfinanzierte Gesundheitsversorgung und Privatisierungen von gesellschaftlichem Reichtum sind nur einige Folgen. Auf europäischer Ebene wird derweil mit dem Fiskalpakt und der sogenannten New Economic Governance die Vertiefung der neoliberalen Integration der Europäischen Union bzw. ihr Umbau im Sinne eines „autoritären Wettbewerbsetatismus“ (Lukas Oberndorfer) voran getrieben. Bleibt es also beim business as usual ohne erfolgversprechende Gegenwehr? Solch eine naheliegende Sicht auf die Dinge ignoriert die Lernprozesse der Widerstandsbewegungen gegen den austeritätspolitischen Kahlschlag über die eine Neuformierung der gesamten gesellschaftlichen Mosaik-Linken stattfindet. Die Beschäftigung mit ihnen ist grundlegend für eine weiterführende Debatte über linke und nicht zuletzt gewerkschaftliche Strategien gegen das Spardiktat und für eine gesellschaftliche Transformation in Europa. In diesem Sinn will das Buch „Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland“[1] dreierlei leisten: es fächert die Vorgeschichte und Ausgangsbedingungen des neuen Bewegungszyklus auf, der seit 2011 mit Occupy Wall Street in den USA und den „Empörten“ in Europa eingesetzt hat. Außerdem stellt es Thesen zur Diskussion: wie gesellschaftliche Transformationsprozesse in Gang gebracht werden können, welche neuen Beziehungen zwischen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteien nötig sind.
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Spanien – von den Plätzen zur gesellschaftlichen Alltagsmobilisierung In Spanien, wie kurz darauf auch in Griechenland, verdichteten sich Wut und Widerstand gegen die Krisenpolitik der Regierung in der Bewegung der Indignados (Empörten), die am 15. Mai (15M) 2011 zum ersten Mal auf die Straße gingen und bald darauf zahlreiche Plätze besetzten (wie den Puerta del Sol im Zentrum Madrids). Diese Bewegung des gewaltfreien zivilen Ungehorsams baute auf Organisierungsansätze der Prekarisierten auf. Die Plätze, auf die Millionen in den Städten mobilisiert wurden, standen auch für eine neue Demokratiebewegung: Die Empörten symbolisierten als Versammlung der Ausgeschlossenen die tiefe Krise des Systems politischer Repräsentation. Dem entgegen setzten sie direktdemokratische Entscheidungsprozesse in großen Vollversammlungen. Dabei fanden sie Wege, dass eine größtmögliche Beteiligung einzelner nicht dazu führt, Entscheidungsprozesse endlos auszudehnen oder zu blockieren. Als die Plätze schließlich geräumt wurden, streute die Bewegung in die Viertel und bildete dort stabile Netzwerke, Nachbarschaftskomitees und übergeordnete, koordinierende Strukturen aus. In Spanien ist so ein beeindruckendes Geflecht von institutionellen Initiativen und eine politisch aktive Zivilgesellschaft entstanden. Ein Beispiel dafür sind die mareas, umfassende gesellschaftliche und gewerkschaftliche Protestwellen, die sich vor allem im öffentlichen Sektor abspielen. Unterschiedlich Farben symbolisieren dabei Teilbereiche einer marea: orange steht für die sozialen Dienste, schwarz für die öffentliche Verwaltung, grün für die Bildung. Die weiße Protestwelle im Gesundheitsbereich erreichte landesweit die größte Aufmerksamkeit im November 2012. Pflegepersonal, Ärzte, PatientInnen, Angestellte von Forschungseinrichtungen und Gesundheitsverbänden traten für fünf Wochen in einen unbefristeten Streik und besetzen Gesundheitseinrichtungen und Plätze, um gegen Einsparungen, Privatisierungen und Schließungen zu protestieren. Die Bewegung errang einen Teilerfolg: die Regierung der autonomen Region Madrid nahm die geplante Privatisierung von sechs Krankenhäusern und 27 Gesundheitszentren zurück. Den mareas, die bis heute regelmäßig stattfinden, gelang eine neue Mobilisierung mit AnwohnerInnen, Betroffenen und Mitgliedern linker Parteien wie etwa der Izquierda Unida (Vereinigte Linke, IU), die den Kampf der Gewerkschaften unterstützen. Immer wieder werden so, nicht nur in Madrid, Privatisierungen verhindert. Die Krise führt dabei auf allen Seiten zu weitreichenden Lernprozessen und neuen Kooperationen: Teile der neuen Demokratiebewegung überprüfen ihre ablehnende Haltung gegenüber den Gewerkschaften oder Parteien wie der IU, bei diesen wiederum führt die Öffnung zu strategischen Neuorientierungen, etwa einem Abrücken vom Modell der Sozialpartnerschaft, einer Distanzierung von der sozialistischen Partei PSOE oder zu neuen Aktions- und Politikformen und
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Diskussionen über die nötige Redemokratisierung der eigenen Strukturen. Vorreiter für die Zusammenarbeit waren dabei u.a. Kooperationen zwischen gewerkschaftlichen und autonomen Jugendorganisationen wie der Juventud sin Futuro (Jugend ohne Zukunft). Erste Siege gegen Zwangsräumungen Die neue Zusammenarbeit zeigt sich auch an der Bewegung der „Plattform der Hypothekenbetroffenen“ (Plataforma de Afectados por la Hipoteca PAH), die in Spanien gegen die Zwangsräumungen (weit über eine Million seit Ausbruch der Krise), das alte Hypothekengesetz und für sozialen Wohnungsbau kämpft. Ableger der PAH haben sich in unzähligen Städten Spaniens gegründet. Sie koordinieren sich überregional. Die PAH versteht sich als direktdemokratische, horizontal organisierte Struktur. Sie kämpft mit Aktionsformen wie Blockaden von Räumungen und spektakulären Besetzungen von ganzen Wohnblöcken, aber auch einem spanienweiten Referendum für ihre Ziele. Rund 1,4 Millionen Personen sprachen sich in diesem Referendum für ein Recht auf Wohnraum und einen Schuldenerlass für diejenigen aus, die ihre Wohnung bereits verloren haben. Die PAH, in der GewerkschafterInnen und VertreterInnen der IU zusammen mit BasisaktivistInnen und Betroffenen arbeiten, hat bis heute über 1.000 Zwangsräumungen verhindert, Neuverhandlungen mit Banken erzwungen und der konservativen Regierung einen Teilerlass der Schulden für Hypothekengeschädigte abgerungen. In Andalusien verabschiedete die Linksregierung aus IU und Sozialisten, gestützt auf die Proteste, ein neues Gesetz. Es ermöglicht unter anderem, den Eigentümern für maximal drei Jahre das Gebrauchsrecht für ihre Wohnung zu entziehen, wenn Zwangsräumungen anstehen und die BewohnerInnen gefährdet sind. Es sind bisher nur kleine Erfolge, die die PAH errungen hat, doch sind diese als kraftspendende Motivation für die Bewegung umso wichtiger. Dabei ist die PAH über ihre breite zivilgesellschaftliche Mobilisierung zu einem der derzeit wichtigsten Kristallisationspunkte der Organisierung geworden. Die Perspektive – ein verfassunggebender Prozess Für die Bewegungen im Widerstand ist das weiterreichende Ziel nicht nur ein Ende der Austeritätspolitik, sondern ein proceso constituyente – eine demokratische Transformation des politischen Systems und seiner gesellschaftlichen, auch ökonomischen Grundlagen, die in einer neuen Verfassung münden sollen. Wie der Weg dorthin aussehen kann, ist Gegenstand von zum Teil kontroversen Debatten. Die Skepsis gegenüber dem jetzigen parlamentarischen System und seinen Parteien ist in weiten Teilen der Bewegung groß. So wurde bisher weniger auf die (Re-)Organisation einer Partei neuen Typs gesetzt, sondern auf eine Frente Cívico, eine zivilgesellschaftliche Bürgervereinigung. Sie soll eine übergreifende politische
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Organisation von gesellschaftlichen, parteipolitischen und gewerkschaftlichen Kräften ermöglichen. Die Frente will selbst nicht zu Wahlen antreten, aber durch ihre Mobilisierungsfähigkeit wirken. Auch bei dieser deuten sich nach den Europawahlen weitere Veränderungen an. So ringen die IU, die ihren Stimmenanteil von 3,7 auf knapp zehn Prozent steigern konnte, und die nur wenige Monate vor den Wahlen gegründete Partei Podemos („Wir können es“) derzeit um Formen einer Zusammenarbeit, die sich nicht in den alten Politikmustern erschöpft. Podemos, hervorgegangen aus der Bewegung 15M, erhielt bei den Europawahlen auf Anhieb knapp acht Prozent der Stimmen. Griechenland – vom Syntagma zu Syriza Auch in Griechenland hat der Widerstand diverse Etappen durchlaufen und strategische Neubestimmungen vorgenommen. Augenfälligstes Ergebnis ist der seit 2012 gewachsene Zuspruch zur Linkspartei Syriza. Sie errang vor der Wirtschaftskrise vier bis fünf Prozent der Wählerstimmen. Im Juni 2012 holte sie 27 Prozent und verpasste hinter der amtierenden konservativen Nea Dimokratia (ND) nur knapp den Wahlsieg. Im Mai 2014 schließlich ging Syriza mit rund 27 Prozent siegreich aus den Europawahlen hervor, die ND erhielt als zweitstärkste Kraft 23 Prozent, die einst mächtige sozialdemokratische Pasok, die in der Regierung die Austeritätspolitik mit voran treibt, schrumpfte auf magere acht Prozent. Auch in Griechenland erreichte der Widerstand im Mai 2011 mit der direktdemokratischen Bewegung vom Syntagma, dem Platz der Verfassung vor dem griechischen Parlament in Athen, und den Protesten in anderen Städten eine neue Qualität. Nach etlichen Generalstreiks, Blockaden und Massendemonstrationen reorganisierte sich die Bewegung während und nach der endgültigen Räumung der Plätze. Jung und Alt, politisch erfahrene AktivistInnen diverser außerparlamentarischer linker Gruppen und die neuen Empörten schufen BoykottInitiativen gegen neue Steuern oder Bewegungen gegen die Wasserprivatisierungen in Athen und Thessaloniki. Die Bewegung der Plätze hatte rasch ihre anfängliche Ablehnung gegenüber den Gewerkschaften abgelegt und kooperiert vor allem mit BasisgewerkschafterInnen. Doch der Kampf gegen die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und gegen Entlassungen steht in Griechenland vor schwierigen Herausforderungen: die Gewerkschaften sind stark zersplittert, z. B. Parteigewerkschaften wie die PASKE sind durch ihre enge Verwobenheit mit der sozialdemokratischen PASOK, die die Austeritätspolitik mitträgt, weitgehend diskreditiert. Und die Regierung geht nicht nur sehr repressiv, sondern auch nach und nach gegen einzelne Beschäftigtengruppen vor. Ihnen gelingt es nur selten, breite Solidarisierungen und gegenseitige Unterstützung zu mobilisieren.
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Räume sozialer Transformation – selbstverwaltete Solidaritätsstrukturen Eine besondere Entwicklung stellt in Griechenland die Herausbildung selbstverwalteter Solidaritätsstrukturen dar: in der Not halten beispielsweise Hunderte von ehrenamtlichen ÄrztInnen und Freiwilligen in über 40 solidarischen Kliniken des Landes eine Gesundheitsversorgung für diejenigen aufrecht, die massenhaft aus dem öffentlichen Gesundheitssystem heraus gefallen sind. Die Solidaritätsstrukturen, die keine Gelder von staatlichen oder kirchlichen Stellen oder NGOs annehmen und sich basisdemokratisch organisieren, dienen nicht nur der Linderung der ärgsten Not, sie bilden auch ein Bollwerk gegen den erstarkenden Neofaschismus. Die Solidaritätsbewegungen funktionieren auch als Labore sozialer Transformation: in ihnen werden neue Konzepte der Daseinsvorsorge und der (Re)Produktion erprobt. Das ist nicht zuletzt für den gesellschaftlichen Wandel von Bedeutung, den die Linkspartei Syriza im Falle einer Regierungsübernahme und in enger Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen anstrebt. Syriza – eine Partei neuen Typs Syriza, ist 2004 aus unterschiedlichen linken Organisationen und Parteien entstanden. Sie erhält in der Krise nicht nur wegen der klaren Opposition zur Austeritätspolitik, sondern auch aufgrund des Programms für eine ökonomische und politische Alternative viel Zuspruch. Sie ist mittlerweile auch für weite Teile der Mittelschichten wählbar geworden. Syriza blickt dabei auf eine auch schon vor der Krise einsetzende Öffnung zu den sozialen Bewegungen und auf eine jahrelange Strategiedebatte über den Charakter gesellschaftlicher Umbrüche zurück. In dieser undogmatischen, pluralistischen Linkspartei herrscht das Verständnis vor, dass gesellschaftliche Transformationen nur durch basisdemokratisch organisierte Umbruchprozesse und starke soziale Bewegungen auf der Straße vorangetrieben werden können. Das gilt auch im Falle einer Regierungsübernahme, die allenfalls als ein erster Schritt in Richtung Veränderung gesehen wird. Die Partei hat sich dabei aus tiefer Überzeugung auch dem Kampf gegen einen zutiefst undemokratischen und korrupten Staat verpflichtet. Ein linkes Regierungsprojekt? Durch die jahrelangen Kämpfe und das kluge Zusammenspiel der Bewegungen auf der Straße und im Parlament ist in Griechenland eine Situation entstanden, in der sich die Kräfteverhältnisse weit nach links verschoben haben. Das erklärte Ziel von Syriza und einem großen Teil der Bevölkerung ist die Regierungsübernahme. Die Gefahr des Scheiterns einer solchen Regierung, und das aus vielen möglichen
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Gründen, ist allen bewusst. Doch immer wieder hört man darauf in Griechenland die Entgegnung: „Was ist die Alternative?“ Syriza und die Bewegungen streiten nicht nur mittel- und langfristig für einen verteilungs- und wirtschaftspolitischen, sozialen und politischen Wandel, der das Land stabilisieren, demokratisieren und zu einem tatsächlichen Wirtschaftsaufschwung führen soll, sondern in einem ersten Schritt für ein Ende der Austeritäts- und Privatisierungspolitik, eine schnelle Linderung der größten sozialen Not und eine Neuverhandlung und Minderung der Schuldenlast. Ihr Programm für einen Kurswechsel versteht die Partei, die sich in überwiegender Mehrheit klar zum Euro bekennt, dabei ausdrücklich als europäisches Projekt. Ein Ende der verheerenden Sparpolitik, der ungerechten Verteilung der Krisenlasten sowie die neoliberale Hegemonie könne nur über die europäischen Grenzen hinweg erkämpft werden. Syriza lässt dabei keinen Zweifel daran, dass man im Falle eines Wahlsiegs in eine scharfe Konfrontation mit den europäischen Institutionen und Regierungschefs treten wird und sich, soweit das möglich ist, auf die Mittel vorbereitet hat, mit denen eine linke Regierung in Griechenland unter Druck gesetzt werden könnte. Klar ist aber auch: ohne eine starke Unterstützung seitens sozialer Bewegungen, linker Parteien und Gewerkschaften aus den anderen europäischen Ländern ist eine Linksregierung in Griechenland gescheitert, bevor sie ins Amt kommt. Lernprozesse und strategische Neubestimmungen Die Krise hat in Spanien und Griechenland zu einer breiten gesellschaftlichen Mobilisierung und ReOrganisierung der Linken geführt. So unterschiedliche Akteure wie Gewerkschaften, linke Basisorganisationen, die Empörten sowie Parteien sind bei allen Differenzen aufeinander zugegangen und in eine fruchtbare Auseinandersetzung und Neubestimmung ihrer Positionen und Strategien eingestiegen, von denen alle Seiten profitieren. Dabei konnten kleine Teilerfolge erreicht werden. Angesichts dessen rückt erneut die Debatte um die „Eroberung der Hauptquartiere der Macht“, über das Verhältnis von Partei und Bewegung, die Voraussetzungen für Organisierungserfolge, die Herausbildung einer pluralistischen gesellschaftlichen Transformationslinken in den Fokus. Auch dazu liefert das Buch „Plätze sichern!“ einen Debattenbeitrag. Fest steht: es gibt viel zu diskutieren, sowohl allgemeine strategische Fragen, als auch mögliche europäische und transnationale Bündnisse und lokale Politikansätze. Dafür ist hierzulande der Austausch mit den Erfahrungen und Debatten in anderen Ländern ebenso unverzichtbar wie Diskussionen darüber. Wichtig wäre dabei auch eine Auseinandersetzung darüber, wie Akteure in Deutschland auf einen möglichen Wahlsieg Syrizas reagieren wollen. Vorgezogene Neuwahlen sind zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht gänzlich auszuschließen. Und mit dem Sieg einer linken Regierung in Griechenland stünde zumindest die Möglichkeit im Raum, die
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Kräfteverhältnisse in Europa zu verschieben. Das Programm von Syriza und den Bewegungen in Griechenland ist dabei in hohem Maße anschlussfähig für hiesige Initiativen, Gewerkschaften, die Linkspartei, die SPD und die Grünen – sofern letztere die austeritätspolitische und postdemokratische Zurichtung Europas stoppen wollen und eine Alternative dazu entwickeln. Die Gesellschaften Europas haben solch einen Umbruch nötiger denn je.
Literatur/Quellen: [1]Mario Candeias/Eva Völpel: Plätze sichern! ReOrganisierung der Linken in der Krise. Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spanien und Griechenland. VSAVerlag, Hamburg 2014.
Autorin: Eva Völpel, Pressesprecherin beim ver.di-Bundesvorstand
Die neue Macht der Sportkartelle am Beispiel der NFL von Erich Vogt Dieser Sommer gehörte König Fußball. Die ‘Copa’, die Fußballweltmeisterschaft, präsentierte sich vor herrlicher Kulisse in prächtigen Stadien und mit mitreißender Stimmung der Fans. Das Spektakel ließ sich Gastgeber Brasilien eine Menge kosten. An die zehn Milliarden Dollar pumpte das Land in die WM, davon allein über 4 Milliarden Dollar in den Neu- und Umbau von 12 Stadien, um sich und der Welt ein berauschendes Fest zu bereiten. Die Mittel wurden größtenteils von der landeseigenen Entwicklungsbank BNDES gestellt. Das Ziel war, nicht nur der Selecao, der brasilianischen Nationalmannschaft vor dieser Kulisse den Weg zur Weltmeisterschaft zu ebnen. Das Ziel war auch, mit der erfolgreichen Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft zu zeigen, dass das Land inzwischen zur fünftstärksten Wirtschaftsnation der Welt aufgestiegen und ein ernstzunehmender ‘Player’ auf dem internationalen Parkett ist.
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Nun ist letztlich Deutschland Weltmeister im historischen Maracana-Stadion geworden und nicht die Selecao. Die Schmach der 7:1 Niederlage im Halbfinale wird den Brasilianern wohl ebenso in Erinnerung bleiben wie den Deutschen der hart erkämpfte 1:0 Sieg gegen entfesselt aufspielende US-Amerikaner. Über 90 Minuten lieferten die von Jürgen Klinsmann betreuten Amerikaner den Deutschen ein Spiel auf Augenhöhe. Ob die Amerikaner deshalb nach vielen erfolglosen Anläufen nun auch eine ernstzunehmende Fußballnation werden, ist alles andere als sicher. Zwar haben Millionen am heimischen Bildschirm die Spiele bestaunt und Zehntausende in den Großstädten beim Public Viewing ihr Team lautstark unterstützt, aber mit dem frühen Ausscheiden aus dem Turnier wird das Land in einigen Wochen wohl wieder ausschließlich der amerikanischen Version des Fußballs, dem American Football, seine volle Aufmerksamkeit widmen. Wenn Peyton Manning, Quarterback der Denver Broncos, zum Saison-Beginn der National Football League am 4. September wie ein Feldherr seine dickgepolsterten und mit Helmen ausgerüsteten Mannen mit Millimeter genauen Pässen zur Touchdown-Linie der Indianapolis Colts dirigiert und James Develin, der Fullback der Boston Patriots, sich mit Wucht und Eleganz durch die massiven Abwehrreihen der Miami Dolphins windet, dann wird die amerikanische Version des FußballSommermärchens schnell zu einer fernen Erinnerung werden. Dann wird König Football das Land wieder bis zum 1. Februar 2015 mit dem Endspiel um den Superbowl in Phoenix ganz in seinen Bann ziehen. Vom Fußball wird dann keine Rede mehr sein. Möglich macht die fünfmonatige vollständige Monopolisierung der amerikanischen Sportszene eine über Jahrzehnte gewachsene Verwurzelung der National Football League/NFL mit der Politik, der Finanz- und Unterhaltungsindustrie, mit zwei Handvoll Milliardären und Millionen begeisterter Fans, die Sonntag für Sonntag die Stadien der Football-Hochburgen von Seattle bis New York bis zum Bersten füllen. Über 10 Milliarden Dollar setzte die NFL in den fünf Monaten der vergangenen Saison um. Only in America? Ist diese unbegrenzte Kommerzialisierung nur in den USA möglich? Inzwischen kann man sagen, dass auch Englands Premier League, Spaniens Primera Division, Italiens Prima Divisione und Deutschlands Bundesliga auf dem besten Weg dorthin sind. Auch dort funktioniert inzwischen das Zu- und Zusammenspiel mit der Politik und der Wirtschaft, der Unterhaltungsindustrie sowie den Medien in einem Maße, dass dessen ‘public goods’-Charakter immer mehr an den Rand gedrängt wird und nur noch bei ausgewählten Benefizveranstaltungen zu erkennen ist. Dass Football zu einer Ware und damit zu einem Business par excellence geworden
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ist, zeigt keine Profiliga in den Vereinigten Staaten besser als die National Football League/NFL. Spielort Minnesota: Der Eigentümer der ‘Minnesota Vikings’, der in Deutschland geborene Filmproduzent Zygmunt Wilf, drohte dem Staat mit seiner Mannschaft in eine andere Stadt zu ziehen, falls dieser nicht 50 Prozent der Kosten für ein von ihm gefordertes neues Stadion, das knapp über 1 Milliarde Dollar kosten sollte, übernehmen würde. Gouverneur und Landesparlament, die sich bereits mit einem 1.1 Milliarden Dollar Budgetdefizit konfrontiert sahen, gaben den Drohungen Wilfs nach und spülten über 500 Millionen Dollar an Steuergelder in die Kasse des ‘Vikings’Eigentümers. Spielort Kalifornien: Die York-Familie, mehrfache Milliardäre und zugleich Eigentümer der ‘San Francisco 49er’, ließen die Stadtväter von Santa Clara im Silicon Valley wissen, dass sie mit ihrem Team San Francisco den Rücken kehren würden, wenn die Stadt dem Club nicht ein neues, größtenteils vom Steuerzahler finanziertes Stadion bauen würde. Angesichts knapper öffentlicher Kassen auch im Silicon Valley, wurde der York-Familie zunächst ein öffentlicher Zuschuss von 116 Millionen Dollar gewährt; der Rest des 1,3 Milliarden teuren Stadions sollte über den Kapitalmarkt finanziert werden. Die Konstruktion sah vor, dass die Stadtregierung eine Gesellschaft, die ‘Santa Clara Stadium Authority’, gründen und diese wiederum einen Kredit von 950 Millionen Dollar von einem von Goldman Sachs geführten Konsortium aufnehmen würde. Die Stadt stellte de facto also über 1 Milliarde Dollar zur Verfügung, und nahm den „Steuerzahler“ in Haftung für der Fall, dass die ‘Privatfinanzierung’ scheitern sollte. Und die Gegenleistung der ‘San Francisco 49er’Eigentümer? 24 Millionen Dollar pro Jahr an Miete wollte die York-Familie für die Nutzung des Stadions über vier Jahrzehnte zahlen. Damit würden sie weniger als 1 Prozent Zinsen für das 40-Jahresdarlehen zahlen. Zur Zeit der Aufnahme des Darlehns verkaufte die Federal Reserve Bank, die Zentralbank der Vereinigten Staaten, Schuldanleihen für 3 Prozent; die Stadtväter von Santa Clara gaben dem NFL-Footballteam also eine bessere Bonität als der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika. Spielort New Orleans: Nur ein Jahr nachdem der Hurrikan Katrina hunderttausend Menschen obdachlos machte und den Superdome verwüstete, spielten die ‘New Orleans Saints’ dort schon wieder zur Begeisterung des Landes Football. Bezahlt wurde der 1 Milliarde Dollar teure Wiederaufbau des MercedesBenz-Superdome primär vom Steuerzahler. Der Eigentümer der ‘New Orleans Saints’, der Milliardär Tom Benson, hatte den Wiederaufbau öffentlichkeitswirksam zur nationalen Pflicht erklärt. Dass Louisiana zu einem der ärmsten Bundesstaaten des Landes gehört, störte weder Benson noch den Gouverneur.
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Vielmehr wurde dem Eigentümer der „Saints“ versprochen, dass ihm jedes Jahr 6 Millionen Dollar aufs Konto überwiesen werden, wenn er mit der Mannschaft in New Orleans bleibt. Auch diese Zahlung kommt vom Steuerzahler. Sport, Steuern, Brot und Spiele Von den 32 NFL-Footballteams haben zwölf allein schon durch öffentliche Subventionen für den Bau ihrer Football-Stadien Profit gemacht; und zwar dadurch, dass sie mehr Geld vom Staat bekommen haben als zum Bau der Stadien erforderlich war. Ob beim amtierenden Superbowl-Champion ‘Seattle Seahawks’ - das dem Microsoft Co-Gründer Paul Allen gehört, einem der reichsten Männer der Welt -, oder bei den ‘Pittsburgh Steelers’: Steuergelder von Hunderten Millionen Dollar für den Bau von Stadien für die durchweg Milliardären gehörenden NFLFootballmannschaften werden von der Politik ohne Diskussion durchgewunken. Judith Grant Long, Harvard-Professorin für Stadtplanung, hat errechnet, dass die öffentliche Hand im Durchschnitt 70 Prozent der Kosten für den Neu- oder Umbau aller NFL-Footballstadien trägt, die Städte darüber hinaus in der Regel die zum Betrieb der Stadien erforderliche Energie-, Wasser- und Abwasserinfrastruktur bereit stellen und bezahlen sowie die Wartungs- und Modernisierungskosten der Stadien übernehmen. Nutznießer dieser öffentlichen Investitionen sind jedoch einzig und allein die Privateigentümer der NFL-Teams. Damit aber nicht genug. Die NFL-Eigentümer, die immer wieder auf das große wirtschaftliche Risiko hinweisen, dass sie mit den Footballmannschaften eingehen, haben es bisher immer wieder geschafft, ihre Steuerverpflichtungen gegen Null zu drücken. Jerry Jones, der Eigentümer der ‘Dallas Cowboys’, dessen Team in einem 1 Milliarden Dollar teuren, futuristischen Stadion spielt, müsste nach den von der Stadt Arlington festgelegten Steuersätzen für sein Stadion jährlich 6 Millionen Dollar zahlen. Er wurde jedoch vom Stadtrat von der Zahlung befreit. Die Stadt hat wiederum Steuersätze für die Bürger erhöht, um das durch die Befreiung entstandene Budgetdefizit auszugleichen. Der moderne Sportverband – mal Privatunternehmen, mal Rotes Kreuz und manchmal Staatslotterie Es ist die Aufgabe von Roger Goodell, dem von den 32 NFL-Eigentümern berufenen ‘Commissioner’ der National Football League, dafür zu sorgen, dass deren Geschäftsinteressen nicht nur gewahrt sondern Schritt für Schritt weiter entwickelt werden. Der Wolfgang Niersbach (DFB Präsident) der NFL, der mit seinem 30 Million Dollar Jahresgehalt der weitaus bestbezahlte Sportfunktionär in den Vereinigten Staaten ist, positioniert und dirigiert denn auch seinen Mitarbeiterstab
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von der fürstlichen Park Avenue in Manhattan entsprechend aggressiv. Nachfragen ob der enormen Höhe des Gehaltes werden von den NFL-Eigentümern mit dem Hinweis auf die marktgängigen Einkommen vergleichbarer Chief Executive Officers abgeschmettert; wobei sie offensichtlich vergessen, dass die NFL kein auf dem freien Markt operierendes Wettbewerbsunternehmen ist. Mehr spricht dafür, dass die NFL-Eigentümer mit dem enormen Jahreseinkommen die politischen Beziehungen von Roger Goodell eingekauft haben. Denn der ehemalige republikanische Kongressabgeordnete kennt sich aus in der Welt der politischen Einflussnahme. Er weiß, was zu tun ist und mit wem die nötigen Vorabsprachen getroffen werden müssen, damit auch in Zukunft das Non-ProfitUnternehmen NFL mit seinem 10 Milliarden Dollar Jahresumsatz steuerbefreit bleibt. Die Steuerbefreiung einerseits und das Fehlen jeglicher Anti-Trust-Auflagen andererseits wurden den 1960 noch als Duopol operierenden beiden Footballligen National Football League und American Football League - vom Kongress gewährt. Die Anti-Trust-Befreiung sah u.a. vor, dass auch für den Fall eines Zusammenschlusses der beiden Ligen der daraus entstehenden Monopolliga keinerlei Beschränkungen mit Blick auf die Geschäftspraktiken auferlegt werden würden. Somit durfte die nach dem vollzogenen Merger übrig gebliebene National Football League fortan den gesamten nationalen Spielermarkt dirigieren und die so wichtigen und lukrativen Fernsehrechte mit den großen Medienkonzernen verhandeln. Mitbewerber um das Aushandeln der milliardenschweren Dollar-Deals wurden vom Kongress ausdrücklich ausgeschlossen. Apple und Exxon Mobil können von solch einem ‘playing field’, das nichts weniger ist, als eine Lizenz, Geld zu drucken, nur träumen. Und die Gegenleistung der Monopolliga für diesen Deal ist das Versprechen, keine Spiele an Freitagen und Samstagen auszutragen; weil an den Tagen traditionsgemäß die Footballmannschaften der High Schools und Universitäten spielen. Die vom Kongress gewährte Steuerbefreiung gilt ausschließlich für die National Football League, nicht für die Eigentümer der NFL-Mannschaften. Da jedoch diese mit einer einzigen Ausnahme das Eigentum von Privatpersonen sind, und diese laut Gesetz nicht verpflichtet sind, ihre Umsätze, Einkünfte und Transaktionen offenzulegen, kann nicht nachweislich dokumentiert werden, ob und wieviel Einkommenssteuer ‘die Paul Allens der NFL’ an den Fiskus abführen. Die NFL-Eigentümer geben denn auch keinen Einblick in ihre Steuerzahlungen. Offenherziger sind sie dagegen, wenn es darum geht, allwöchentlich während der Übertragung der Footballspiele mitzuteilen, wie wichtig ihnen die ‘corporate social responsibility’ ist. So wurde ausgewählten Soldateneinheiten zum Veteranenfeiertag
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für jeden Punkt, der in NFL-Ligaspielen erzielt wurde, ein bestimmter Dollarbetrag von der NFL gestiftet. Zusammen kamen am Ende 440.000 Dollar. Die mit den Übertragungsrechten ausgestatteten Fernsehanstalten waren voll des Lobes über die ‘großzügige’ Spende der NFL. Hätten die Anstalten näher hingeschaut, wäre ihnen aufgefallen, dass dieser Betrag weniger als ein Zehntel von einem Prozent der Summe ausmachte, den die 32-NFL-Eigentümer Jahr für Jahr an öffentlichen Subventionen (etwa 1Milliarde Dollar) erhalten. Medien und Sport, das Herz der Kulturindustrie Neben den öffentlichen Subventionen, der gesetzlich verbrieften Anti-Trust- und Steuerbefreiung der NFL, sowie der de facto massiv reduzierten Steuerveranlagung der Eigentümer der Footballmannschaften sind die in die Milliarden gehenden Erlöse aus den mit den Fernsehanstalten ausgehandelten Übertragungsrechten ein weiterer Baustein des überaus erfolgreichen Geschäftsmodels der National Football League. Die terrestrischen Networks CBS (3,73 Milliarden Dollar), NBC (3,6 Milliarden Dollar) und FOX (4,27 Milliarden Dollar) sowie der Kabelsender ESPN (8,8 Milliarden Dollar) haben also insgesamt über 20 Milliarden Dollar für die 2013 ausgelaufene Übertragungsperiode an die NFL überwiesen. Dieser Betrag wird mit Beginn der Anfang September anlaufenden neuen Saison fast verdoppelt. Insgesamt 39,6 Milliarden Dollar werden dann diese Networks der NFL für die Übertragungsrechte bis 2022 zahlen. Dazu kommen noch bis zu 3,5 Milliarden Dollar vom DirectTV-Sender sowie mehr als 1 Milliarde Dollar der Telekom- und Internetunternehmen Verizon, Sprint und Yahoo für bestimmte Übertragungsrechte. Diese Milliarden, die erspielt werden in primär mit Steuergeldern finanzierten Stadien gehen ausschließlich in die privaten Kassen der NFL und deren Eigentümer. Ebenfalls ausschließlich in ihre Kassen fließt der Erlös aus dem Kartenverkauf, der Getränke- und Speiseumsatz sowie die Parkgebühren. Die Manager, Trainer und Spieler der Mannschaften können damit praktisch aus der Portokasse bezahlt werden. In die Kassen der öffentlichen Hand fließt von den getätigten Investitionen dagegen kein Cent zurück. Sport und Politik – wer hat wen im Griff? Man sollte glauben, dass die Zahlung von Milliarden Steuergelder in das Privatunternehmen National Football League und die sich daraus speisende Privatisierung der Gewinne zumindest zu einem populistischen Aufschrei der politischen Klasse führen würde. Immerhin sind aller Orten die öffentlichen Kassen leer und schmerzhafte Investitionskürzungen in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und Arbeit an der Tagesordnung. Nichts dergleichen ist bisher geschehen. Allein schon der Hinweis eines Eigentümers, er überlege sich derzeit, den Standort seiner NFL-Mannschaft zu verlegen, reicht, um jede Überlegung über die
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Reform der NFL im Keim zu ersticken; obwohl seit 1998 kein NFL-Eigentümer mehr mit seiner Mannschaft in eine andere Stadt gezogen ist. Gleichwohl ist kaum ein Politiker, egal welcher politischen Couleur, bereit, sich den möglichen Zorn der Footballfans – und Wähler - aufzuhalsen. Im Gegenteil. Die Politiker sind stehen traditionsgemäß Schlange für Einladungen in die VIP-Logen der Stadien und Gelder für immer teurer werdende Wahlkampagnen. Der letzte Politiker von Rang, der versucht hat, die NFL neu zu ordnen, war der inzwischen verstorbene republikanische und demokratische Senator aus Pennsylvania, Arlen Specter. Er sah in den Eigentümern vor allem arrogante Menschen, die, wenn sie von der Politik und öffentlichen Meinung nicht gestoppt werden, das öffentliche Interesse am Sport gnadenlos zur Maximierung ihrer privaten Interessen instrumentalisieren. Die NFL hat die Politik fest im Griff, und sie ist nicht bereit, diesen im Interesse einer ausbalancierten Kosten-Nutzen-Verteilung zu lockern. Und der politische Champion, der die NFL und ihre Eigentümer herausfordert und die bestehende Anomalie versucht zu korrigieren, ist nicht in Sicht. Auch das derzeit einzig sichtbare Gegengewicht, die Spielergewerkschaft, ist nicht willens, systemische Änderungen anzustoßen. Sie konzentriert sich ausschließlich darauf, höhere Gehälter für ihre Mitglieder auszuhandeln und die Gesundheitsfürsorge zu verbessern. Es wird wohl eines politischen Erdbebens bedürfen, die Verhältnisse in Amerikas Nationalsport neu zu ordnen. Derweil versuchen die Eigentümer, mit der ihnen eigenen Selbstverständlichkeit ihr Geschäftsmodell zu exportieren. Auf Seminaren und Konferenzen erklären sie die Philosophie und Strategie ihrer NFL und ermutigen ihre Zuhörer, ihr so profitträchtiges Modell zu kopieren. Eine bessere Investition, so die Botschaft, gibt es nicht. Wie erfolgreich ihre Mission sein wird, wird die Zukunft zeigen. Die machtvolle Position der nationalen und internationalen Verbände populärer Sportarten gegenüber der Politik und Zivilgesellschaft lässt sich nicht nur am Protest der brasilianischen Bürgerinnen und Bürger gegen die FIFA ablesen, auch an dem jüngst geschehenen Skandal in Deutschland, wo ein Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft vom DFB von Bremen nach Nürnberg verlegt wurde, weil der Bremer Senat den DFB gebeten hat Kosten für den Polizeieinsatz zu übernehmen. Ebenso wie bei der NFL steigen die Einnahmen der FIFA, der Bundesliga und auch des IOC stetig. Ob die öffentlichen Kassen davon profitieren, ist zu bezweifeln. Die NFL ist die reichste Liga der Welt und scheint das Modell für die Zukunft der populären Sportarten zu sein. Autor: Dr. Erich Vogt, lehrt Internationale Entwicklungspolitik, Klimawandel und Nachhaltige Entwicklung, derzeit an der Universität Toronto, Kanada
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Jung und naiv in die digitalen Arbeitswelten von Stefan Müller Anmerkungen zum Microsoft-„Manifest für ein neues Arbeiten“ Die 30jährigen wollen flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, auch von zuhause zu arbeiten. Umgarnt werden sie dabei von Konzernen wie Microsoft, der in seinem „Manifest für ein neues Arbeiten“ die Abkehr von den üblichen 9 to 5-Jobs propagiert. Das ist durch hosentaschenkleine Computer möglich geworden. Ist diese Generation Y für die Gewerkschaften bereits verloren? Um diese Frage zu beantworten, hilft ein Blick in die jüngste Literaturgeschichte. Im Roman „Generation X“ von Douglas Coupland aus dem Jahr 1991 ist der Begriff „McJob“ bekannt geworden. Der kanadische Autor spielte damals auf den Niedriglohnsektor bei Firmen wie McDonalds an, die zumindest in den USA ohne Sozial- und Rentenversicherung, Kündigungsschutz oder Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung Arbeitnehmer beschäftigen. Im Roman beschrieb Coupland bereits damals die Prekarisierung in seinem (erfundenen) „Lexikon einer neuen Arbeitsgesellschaft“. Man hätte es also schon Anfang der neunziger Jahre ahnen können: „McJobs“ würden in den kommenden Jahrzehnten sehr real werden. Die Coupland'sche „Generation X“ ist jene, die sich mit weniger Wohlstand und ökonomischer Sicherheit begnügen muss als die Elterngenerationen, aber andererseits für deren ökonomische und ökologische Sünden büßt. In diese Altersgruppe fällt aber auch die Entwicklung vom Personalcomputer als Alltagsgerät, das in den Folgejahren immer kleiner, handlicher und für die Arbeitswelt bedeutender wurde. Der Begriff „McJob“ bekommt somit eine ganz neue Prägung, was sein Schöpfer bereits ahnte. Microsklaven arbeiten Tag und Nacht Mitte der neunziger Jahre war es wiederum Coupland, der die Entwicklungsgeschichte des Computersystems „Windows 95“ in seinem brillanten Roman „Microsklaven“ treffend beschrieben hat. Es ist eine penibel genau recherchierte Innenansicht der Firma Microsoft in ihrer erfolgreichsten Phase. Eine Horde von Programmierern ernährt sich fast rund um die Uhr von Cola und Pizza, um nebenbei das Herzstück des Microsoft-Konzerns zu erschaffen, eine grafische Benutzeroberfläche namens Windows. Diese Nerds aus dem Roman waren eigentlich schon Vorläufer der heutigen Generation Y.
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Erste Erkenntnis: die Lektüre von sogenannter Popliteratur – wie in diesem Fall über die Arbeitsgesellschaft – kann nur von Vorteil sein. Auch im gewerkschaftlichen Kontext. Wir kennen die Entwicklung des Personal Computers seit seiner Erfindung, weil wir ihn privat und im Büro selbst nutzen. Wir wissen, was es bedeutet, wenn „Windows XP“ auf die nächste Generation „migriert“ werden muss und hinterher nicht mehr alle Programme funktionieren. Wir merken, wie abhängig der Büroalltag vom Platzhirsch Microsoft längst ist. Daran haben auch viele Versuche nichts geändert, die proprietären und teuren Lizenzen durch freie und quelloffene Open-SourceVarianten auszutauschen. Die Firma Microsoft verdient weiter prächtig an uns bzw. an ihren Produkten. Und trotzdem weiß sie: da treten junge Menschen mit ihren Laptops und Smartphones ins Berufsleben ein, die technisch auf dem gleichen oder sogar einem besseren Stand sind. Diese Menschen hassen den klobigen Personalcomputer auf dem Büroschreibtisch mit seinem eigentlich hoffnungslos veralteten Betriebssystem. „Nicht arbeiten wie die Eltern“ Was macht Microsoft in einer Situation, in der die eigenen Produkte nicht mehr zeitgemäß sind? Man tritt als Sponsor der jährlichen Fachveranstaltung „re-publica“ in Berlin auf und kauft sich zugleich eine ganze Diskussionsveranstaltung. Weil man bei Microsoft weiß: hier treffen sich die wichtigen Multiplikatoren, Menschen wie Markus Herrmann (27), der von sich selbst sagt: „Ich komme aus einer Arbeiterfamilie vom Dorf“. Was gleichzeitig impliziert: der Pro7-Macher („Circus Halligalli“) und Autor („Aaarfz“) will genau das nicht mehr: so arbeiten wie seine Eltern. Als Lobbyist hat Microsoft auch den Journalisten und Blogger Richard Gutjahr eingekauft, der in der Internet-Szene eine außergewöhnlich hohe Wertschätzung besitzt. Er pendelt zwischen den Arbeitsorten München, Köln und dem Wohnort seiner Familie, Tel Aviv. Schon aus diesem Grund ist Gutjahr ein Paradebeispiel für einen hyperflexiblen und hypermobilen Jobnomaden. Wie oft er seine beiden Kinder in Israel pro Monat tatsächlich sieht, verrät er hingegen nicht. Vermutlich erledigen mehrere Nannys den Betreuungsjob, damit Gutjahr weiterhin so flexibel arbeiten kann, wie im Manifest beschrieben. Ausgerechnet McKinsey-Mann Holger Haenecke bricht auf dem Microsoft-Podium eine Lanze für die vielbeschworene Familienfreundlichkeit des Konzepts „für ein neues Arbeiten“: man könne ja flexibel von zuhause arbeiten, wenn die Kinder mal krank seien. Das würde er mit seiner eigenen Familie jedenfalls so umsetzen. Als Personaler bei McKinsey ist Haenecke markige Schlagworte gewohnt: nicht mehr „Work-Life-Balance“ sei gefragt, sondern „personal balance“. Wie er das konkret anstellt, ein „Projekt fertigzustellen“ und gleichzeitig Kinder zu bändigen, bleibt sein Geheimnis.
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„Alles in der Hosentasche“ „Wir arbeiten gerne, motiviert und engagiert, stoßen aber täglich an Grenzen, die wir nicht länger akzeptieren“ - so lautet ein Satz aus dem sogenannten „Manifest für ein neues Arbeiten“. Die „Grenzen“ beschreiben aber keinesfalls die Bereiche Prekarisierung oder Arbeitsverdichtung. Es geht vielmehr um die „Gähnen“verursachende Situation im Büroalltag: „Wir wollen nicht mehr länger am Schreibtisch festgehalten werden, wenn wir doch alles, was wir zum Arbeiten brauchen, in der Hosen- oder Aktentasche mit uns rum tragen“. Das Microsoft-Manifest greift also die vermeintlichen Wünsche der Generation Y auf und mischt sie gnadenlos mit gewinnorientierten Eigeninteressen. Man ist bei Smartphones und Tablets im Hintertreffen gegenüber den Mitbewerbern, also gilt es aufzuholen. Die Generation Y ist oft noch kinderlos – da kann man im „Manifest“ behaupten: „Wir wollen unsere Kollegen und Mitarbeiter treffen, auch wenn wir selber zuhause, mit unseren Kindern auf dem Spielplatz oder in der Pause auf der Wiese sitzen“. Der Smartphone-Papa lässt grüßen, wie man ihn schon heute auf etlichen Spielplätzen beispielsweise im Prenzlauer Berg begutachten kann. Was haben die Kinder davon? Nichts. Hauptsache Papa (oder Mama) sind „always on“ überall online. Und es klingt ja auch so schön: „Wir lehnen starre, unflexible Arbeitsverhältnisse ab. Wir können nichts mit festen Hierarchien anfangen, die naturgegeben scheinen, aber mit natürlicher Autorität nichts zu tun haben. Und wir wollen auch nicht länger mit der Technik und den Werkzeugen von gestern arbeiten“. Viele 30jährige werden diese Sätze aus dem „Manifest für ein neues Arbeiten“ ohne die Wimpern zu zucken unterschreiben. Und da liegt die Crux: wer so denkt, der hält auch die Errungenschaften der Gewerkschaften für veraltet. Tarifverträge? Von gestern. Auch der Microsoft-Mann Thorsten Hübschen unterstreicht diese unreflektierte „Trend-Ideologie“, wenn er davon redet, die Betriebsräte seien oft „Teil der verkrusteten Strukturen“. Carmen Hildebrand, Socialmedia-Frau bei Metro, pflichtet ihm bei. Klar, wir befinden uns nicht auf einem Gewerkschaftskongress, sondern auf dem Bloggerkongress „re-publica“. Das Stimmungsbild ist eindeutig: Microsoft ist progressiv – gemeinsam mit der Generation Y, an die man sich unter dem Einsatz sämtlicher viralen Kampagnenkunst ranschmeißt. Gewerkschaftsarbeit? Tarifverträge? Von gestern.
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Zweite Erkenntnis: der Besuch sogenannter Hipstertreffen – wie in diesem Fall der „re-publica“ - empfiehlt sich, um ein Stimmungsbild der entsprechenden Szene zu bekommen. In seinem Erfahrungs- und Praxisbericht hat SAP-Betriebsratsmitglied Ralf Kronig in der Gegenblende 24 auf die Schattenseiten der Flexibilisierung hingewiesen. Der immense Leistungs- und Erwartungsdruck sei wie ein Sog, dem niemand entkomme, auch am Feierabend, in der Nacht und am Wochenende nicht. Den Beschäftigten werde eine ungeheure Flexibilität und unmenschliche Veränderungsfähigkeit abverlangt. Kronig: „Oftmals sind psychiatrische und therapeutische Einrichtungen die letzte Hilfemöglichkeit für Betroffene, die unter Burnout, Depressionen oder Angststörungen leiden“. Im „Circle“ gibt es keine Chefs mehr Die Belletristik kann auch hier wieder weiterhelfen, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. In der Fortschreibung der Romane von Douglas Coupland hat aktuell der USAutor Dave Eggers sein Buch „Der Circle“ vorgelegt. Es ist ein Update der Lebensund Arbeitsverhältnisse im Silicon Valley. Die Hauptfigur ist eine 24-jährige Kalifornierin, die einen Job beim „Circle“ ergattert hat. Das ist ein freundlicher Internetkonzern, der sämtliche Geschäftsfelder von Google, Apple, Facebook und Twitter geschluckt hat. Es gibt dort, so wie es im Microsoft-Manifest gefordert wird, keine vermeintlichen Chefs mehr. Und was bedeutet das? Klar, die Arbeitszeit kann gar nicht mehr von der Freizeit getrennt werden. Die gesamte Person, nicht nur ihre Arbeitskraft, wird dem Zugriff des cheflosen Ganzen ausgesetzt. Da wird dann abends in der Kneipe beim Bier Tacheles geredet. In den USA hat dieser Roman bereits im vergangenen Jahr ein großes Aufsehen erregt. Eggers habe darin eine Erzählform für die Arbeitstatsachen der digitalen Avantgarde gefunden, die hinter der erfahrungsgesättigten Transparenz klassischer Industriegesellschaftsliteratur nicht zurückstehe, wie etwa „Hard Times“ von Charles Dickens oder einigen Dramen des Naturalismus, so kommentierte ihn die FAZ. Geheime Geschichte des modernen Arbeitsplatzes Dass die realen Entwicklungen im Silicon Valley die erfundene Geschichte von Dave Eggers aus dem Roman „Der Circle“ längt eingeholt haben, ist nicht verwunderlich. Man kann die „Geheimgeschichte des modernen Arbeitsplatzes“ sogar nachlesen unter dem Titel „Cubed“ im neuen Buch des „n+1“-Redakteurs Nikil Saval. Untertitel: „Eine geheime Geschichte des Arbeitsplatzes“. Rezensenten sind bereits vollauf begeistert, weil sie wissen was Saval dort am Beispiel der IT-Industrie beschreibt, denn es scheint klar, dass es künftig auf fast alle anderen Sparten der Arbeitswelt
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ausgeweitet wird. Julie Ann Horvath, eine Protagonistin im Buch, verlässt desillusioniert ihren Arbeitgeber (die Open-Source-Schmiede „GitHub“), weil sie mit dem versprochenen hierarchiefreien Arbeiten nicht mehr klarkommt und weil die Übergänge zwischen Freizeit und Arbeit verschwimmen. Ann wusste nie, wie privat die abendlichen Kneipengespräche unter Kollegen eigentlich waren. Als man sie schließlich um „klärende Treffen“ bat – es waren ja keine Chefs, die sie da einbestellten, es machten sich nur Freunde Sorgen –, begann sie, den Kuschelbetrieb als einengend zu empfinden. Im Endeffekt hat Horvath ihrem Arbeitgeber massive Einschüchterungsversuche zum Vorwurf gemacht. Die Situation eskalierte, als die Ehefrau des Firmengründers sie privat einlud, um dann ihre Situation in der Firma zu thematisieren. Die Factory in Berlin-Mitte kopiert San Francisco Unweit des alten Mauerstreifens in der Bernauer Straße in Berlin hat vor wenigen Wochen die „Factory“ eröffnet, ein „Start-Up-Campus“ nach dem Vorbild von Google oder Facebook mitten in Berlin. Google hat eine Million Euro in diese Start-UpFabrik investiert und unterstützt die Gründer mit Mentorenprogrammen und Beratungen. Der Audiodienst „Soundcloud“ ist Hauptmieter des Start-up-Zentrums. Deren Produktmanagerin Jennifer Beecher ist ebenfalls Verfechterin des Microsoft„Manifests für ein neues Arbeiten“. Sie selbst finde ihr Stück Privatheit, indem sie einfach mal die Benachrichtigungsoption für neue Mails („Push notifications“) auf ihrem Smartphone abstelle. Beecher erinnert vom Typ her an die weiblichen Hauptfiguren Mae aus „Der Circle“ und Ann aus „Cubed“. Wie könnte ihr Leben also weiter verlaufen? Wird sie eine Familie gründen? Wird sie jemals in eine Gewerkschaft eintreten? Wir werden es sehen, wenn Jennifer als typische Vertreterin der Generation Y 15 Jahre älter ist. Vielleicht ist sie dann so desillusioniert vom flexiblen Arbeiten ohne Hierarchien wie heute bereits ihre Kollegin Ann Horvath aus der GitHub-Reportage im Buch „Cubed“. Es lohnt jedenfalls zum besseren Verständnis der Hintergründe des vermeintlich so progressiven „Manifests für ein neues Arbeiten“, zunächst mal die Werke von Eggers und Saval zu lesen. Und sich vielleicht hinterher zu sagen: „so jung und naiv – nein Danke!“.
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Literatur/Quellen: Literatur Douglas Coupland: „Generation X“ und „Microsklaven“. Galgenberg Verlag, Hamburg, 1992; Hoffmann & Campe 1996. Dave Eggers: Der Circle. Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. ISBN: 978-3-462-04675-5; 560 Seiten, gebunden; erscheint am 14.08.2014. Nikil Saval: „Cubed - A Secret History of the Workplace“. Randomhouse 2014. Links: http://www.microsoft.com/de-de/news/pressemitteilung.aspx?id=535059 http://1drv.ms/QTNyBB http://re-publica.de/session/manifest-ihr-nennt-es-arbeit-wir-nennen-es-unserleben-einfachmachen-0
Autor: Stefan Müller, Journalist und Moderator bei WDR und hr
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Berufswahl als Metapher (Filmkritik) von Jürgen Kiontke Der Übergang von der Schule in das Berufsleben und die damit verbundenen Probleme sind für das populäre Kino selten der klassische Filmstoff. Sicher bilden Zeiten jugendlicher Unsicherheit, wie Sitzenbleiben, erste Liebe, Ende der Schule, Beginn des Studiums, öfter die Rahmenhandlung für herzerweichende Filmplots („Transformers“, „Godzilla“, „Titanic“, „Starship Troopers“). Aber, dass der Berufseinstieg mal dezidiert mit Arbeitsamt, Maßnahmensystem und allem "Pipapo" im Mittelpunkt steht, ist nicht die Regel. Denn es ist unschön, weshalb sich das Kino so etwas nur in Ausnahmen antut. Trotzdem ist es guter Stoff für eine Tragikomödie. Die Regisseurin Ute Wieland („Freche Mädchen“, D 2008) hat sich mit dem Film „Besser als nix“ dieses Thema vorgenommen. Dieses kleine Werk, das auf dem gleichnamigen Roman von Nina Pourlak basiert, konzentriert sich auf den Lebensabschnitt Ausbildung. Tom (François Goeske), der Grufti seiner Klasse in einer Schule der ostdeutschen Kleinstadt Grieben, steht kurz vor dem Schulabschluss. Wie so oft gibt es auch hier einen Anteil von Schülern, die sich eher vom "Dunklen" angezogen fühlen. Bei Tom hat die depressive Seite einen familiären Hintergrund: „Mutter hat uns verlassen“, antwortet er auf die Frage nach seinen Eltern gewohnt routiniert. Anders gesagt: Sie hat Selbstmord begangen. Oma Wally (Hannelore Elsner), die im Seniorenstift wohnt, ist von derselben Baustelle. Die alte Dame kann aber die dunklen Gedanken mit ihrem recht exaltierten Kleidungsstil überdecken - noch. Toms Vater Carsten (Wotan Wilke Möhring) kommt über den Tod seiner Frau nicht hinweg. Er kompensiert die katastrophale Lage sehr männertypisch. Die Clique Der arbeitslose Fußballtrainer des SV Grieben, bei dem Tom Torwart ist, lässt sich regelmäßig volllaufen. Um die Fußballer herum gruppiert sich die Clique. Die Jugendlichen treffen sich am Flussufer zu Dosenbier und Rumhängen. Zentralgestirn von Verein und Gruppe ist der Mittelstürmer Mike (Jannis Niewöhner), bei dem vordergründig alles blendend läuft und der natürlich die Klassenschönste Maren (Emilia Schüle) zur Freundin hat. Mike wird sein Leben in der Autowerkstatt verbringen. Der Ausbildungsplatz ist schon fest eingeplant. Das hätte er jedenfalls gern. Eines Tages werden die, die noch nichts haben, ins Arbeitsamt bestellt, denn die Lage auf dem Stellenmarkt ist alles andere als rosig („Ick wer‘ Germany’s next Topmodel“). Als Tom, der mit seinen schwarzen Klamotten rein optisch den dunklen Seiten des
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Lebens schon sehr zugetan ist, beim Berater dann dran ist, gibt es nur einen Vorschlag: Du wirst Leichenbestatter. „Besser als Schlachter“, kommentieren die Kumpels. Und eine sichere Bank, denn „Gestorben wird immer.“ Hier wird die Berufswahl zur Metapher aufs Leben - für irgendwen ist es eigentlich immer schon zu Ende. Und das Bild hält: Denn der einzige große Arbeitgeber in der Region ist der Schlachthof. Tom denkt sich: der Tod ist schon okay und hier eh unausweichlich. Aber Töten muss nicht sein. Zukunft und Tod Ein schöner Nebeneffekt des Besuchs beim Arbeitsamt ist, dass Tom die Referendarin Sarah kennenlernt. Auch sie trägt eher dunkle Klamotten, ist dabei aber ungemein schön und lebhaft. Man ahnt es schon: hier entsteht was Ernsteres. Eine wunderbare Verbindung ist in diesem Film aber vor allem die Berufswahl mit dem Tod, denn letzterer scheint im Teenie-Alter ebenso allgegenwärtig zu sein. Oft sieht man die Clique am Fluss rumhängen und darüber diskutieren, was die Zukunft bringe - Glück oder Tod? Tom nimmt hier eine zentrale Position ein, denn der Suizid der Mutter hat ihn schon früh auf das Thema gelenkt. Leben ist für ihn immer das, was schnell vorbei sein kann. Der Rumhänger hat aber auch einen Riesenrespekt vor dem neuen Job, und gleichzeitig Versagens- und Zukunftsangst. Sollte er nicht abhauen aus Grieben? Sarah lebte schon mehrere Jahre in Berlin. Die anderen Jugendlichen können nicht verstehen, warum sie wieder aus der Großstadt zurückkehrte[1]. Sie hat ein Geheimnis - ohne Zweifel. Auch in ihrem Leben ist der Tod präsent. Der Weg in die Branche und ins Leben Toms erste Schritte im Business sind holprig: da landet die Asche von Ingenieur Schmidt als Zuckerersatz im Kaffee und da wird der trauernden Kundschaft die Urnenkollektion präsentiert: „Die Bunten sind vor allem bei jüngeren Leuten beliebt.“ Mit der verdammten Führerscheinprüfung will es auch nicht klappen. Nachhilfestunden bei Mike enden regelmäßig im Kreisverkehr. Für seinen Job ist der Lappen unabdingbar, schließlich muss er den riesigen Leichenwagen fahren. Das bleibt erst mal dem Leichenwäscher Hans (Clemens Schick) überlassen. Hans weiß beim Aufstehen schon, dass heute einer stirbt. „Ich weiß auch nicht, warum das bei mir so ist“, sagt der bizarre, stille Typ. In der Dämmerung wartet er schon vor Toms Haustür. Unterwegs kommt dann der Anruf von der Polizei, es sei jemand abzuholen. Hans ist der Geselle des Todes, der Toms künftige Arbeit darstellt. Als das Telefon das nächste Mal klingelt, kann Tom seinem Arbeitgeber entscheidend helfen. In Omis Seniorenstift ist jemand tot umgefallen. „Nicht unser Gebiet“, sagt Hans. Das gehört
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dem Sarg-Discounter. Aber mit Toms Verbindungen, schließlich kennt ihn jeder in dem Haus, gelingt es dem Edelbestatter, ein Bein in die Tür zu kriegen. Gleichzeitig ist dies die Wende für Tom: Das Geschäft ist nun seines. Er sieht, dass er hier erfolgreich sein kann. Nun eignet er sich die Arbeit an. Bisher ist er nur mitgelaufen, ab sofort wird er zum Kollegen. „Besser als nix“ ist voller solcher Momente und Beobachtungen aus dem Berufsalltag. Zuerst wurde Tom von den Kumpels verlacht, doch dann erscheint er kompetent auf seinem Gebiet. Den viel zu kleinen schwarzen Anzug, den man ihm zur Verfügung gestellt hat und der eigentlich für eine Leiche bestimmt war, trägt er zusehends mit Selbstbewusstsein. Es ist jetzt der Zeitpunkt für die erste große Liebe, den Eintritt ins Geschäftsleben und die größere Verantwortung. Und auch die extremen Auseinandersetzungen mit dem alkoholkranken Vater spitzen sich nun zu. Er gibt Tom indirekt die Schuld an seinem Suff, weil er ihn an seine verrückte Ehefrau erinnert. Es stimmt: Tom trägt Züge seiner Mutter: extreme Gefühlsschwankungen bis hin zum Borderline-Syndrom mit dem "Arme schlitzen" einerseits und der Fähigkeit zu besonderer Aufmerksamkeit und Sorge andererseits. Irgendwer muss den betrunkenen Alten ja ins Bett bringen. Mit der Toten hat er so viel mehr gemein als mit dem Vater, den er bedauert. Durch all diese Facetten hindurch muss der Film auf seinen Höhepunkt hinsteuern: Mike, der die Ausbildung als Autoschrauber doch nicht bekommen hat, fährt sich mit der getunten Kiste an den Alleebaum. Vor Jahren gab es mal eine ver.diJugendkampagne, mit jenem Film, in dem Jugendliche davon erzählten, sich umzubringen, weil sie ohne Ausbildungsplatz keine Zukunft sähen. Hier feiert sie ihre Wiedergeburt. Natürlich muss Tom den Freund "von der Straße kratzen". Fast hätte dies seinen eigenen Selbstmord zur Folge, doch die Freunde fangen ihn auf. Stattdessen gibt es eine große Party im Leichenzimmer des Beerdigungsinstituts. Es wird gesoffen, geraucht, gekifft und getanzt. Mikes Leiche wird mit Emoticons verziert, getaggt mit Grüßen verabschiedet. Am nächsten Morgen kann Hans sehen, wie er das alles wieder abkriegt. Kein Wunder, dass sich erstmal einer der verkaterten Jugendlichen im Fußball-Sarg auf dem Friedhof wiederfindet. Reiner Blödsinn ist das hier aber ganz und gar nicht. Schon weil „Besser als nix“ eine ganze Riege sehr guter Schauspieler und Schauspielerinnen mit großer Leinwandpräsenz präsentiert. Schüle, Fischer und Goeske zuzuschauen ist eine Freude, man ist traurig, dass der Film nicht drei Stunden dauert. Auch Niewöhner in der Rolle des prolligen und vermeintlichen Supercheckers Mike ist eine Besonderheit. Obendrauf kommen langjährige Profis wie Hannelore Elsner und Nicolette Krebitz,
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die die HIV-positive Bestatterin Olga gibt („Die Stimmung war so romantisch, die wollte ich nicht mit einem Kondom zerstören“). In diesem Film knallen fast zu viele skurrile Diskurse aufeinander. Dass hier manche Sachen leider recht schlecht funktionieren, macht den Film eigentlich noch sympathischer: So ist der Einsatz der Musik oft etwas eindimensional. Wenn einer weint, gibt’s traurige Gitarrenmusik, haben alle gute Laune, läuft irgendein Feel-Good-Kram. Am besten hätte man sie weggelassen außer in der Szene rund um Mikes Leiche im Beerdigungsinstitut, die dann wieder zu den besten Disko-Szenen im deutschen Kino gehört. Wo Licht ist, da klappt es eben auch mit dem Schatten. Eine seltsam aussehende Bierwampe, wie man sie Wotan Wilke Möhring unters T-Shirt getackert hat, ist auch nicht der Weisheit letzter Schluss, wer mag bloß auf diese Idee gekommen sein... An einigen Stellen scheint die Geschichte in die fürs deutsche Kino typische Lachhaftigkeit zu verfallen, droht manchmal wie Rosamunde-Pilcher zu trivialisieren. Aber in den meisten Fällen kriegt „Besser als nix“ die Kurve. Schließlich wird man lange nach einem Spielfilm suchen müssen, in dem die Darstellung eines Ausbildungsgangs, der sich ganz gewöhnlich in der Datenbank des Bundesinstituts für Berufsbildung befindet, mit solcher Aufmerksamkeit für die Fragen nach beruflicher Orientierung gelungen ist. Die Jugend träumt vom schönen Leben - sie muss es. Auch wenn regelmäßig die Erdung kommt: „Besser als nix“ „Besser als nix“. D 2013. Regie: Ute Wieland, Darsteller: François Goeske, Anna Fischer u.a. Kinostart: 21. August 2014
Literatur/Quellen: [1] Filme über junge Menschen in Deutschland sind in der Regel Berlinfilme. „Besser als nix“ ist in dieser Logik vielleicht der beste Berlinfilm seit Jahren: Weil Berlin im Weiteren so gut wie garnicht vorkommt.
Autor: Jürgen Kiontke, Redakteur des DGB-Jugend-Magazins Soli aktuell und Filmkritiker u.a. für das Amnesty-Journal.
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Schöne neue Arbeit? Die Herausforderung: Clickworking von Dorothea Forch Was ist ein Guru? In der analogen Welt ist ein Guru entweder ein anerkannter Vertreter einer Heilslehre oder manchmal auch ein Konzernchef - jedenfalls ein Mensch mit Seltenheitswert. Das ist vorbei. Heute gibt es massenhaft Gurus, unerkannt, digital - es kann jede sein; die Studentin an der Ampel, die Autofahrerin im Stau, oder die Kollegin in der Mittagspause. Es ist eine neue Gruppe von Arbeiterinnen, die manchmal Gurus heißen, manchmal Mechanical Turks, manchmal Clickworker: Menschen, die im Netz Mikroaufgaben erledigen, für Minuten, für Stunden, für Tage, und sehr oft für wenig Geld. Sie sind die Vorreiterinnen für eine neue Arbeitswelt, Tausende in Deutschland, Hunderttausende in anderen Ländern, und ihre Arbeitswelt ist eine neue Herausforderung für Politik und Gewerkschaften. Ein Teil dieser neuen Arbeitswelt ist die "Crowd Guru GmbH". Mit dem Slogan "Wir halten Ihnen den Rücken frei" bietet die 2008 gegründete Firma "maßgeschneiderte Komplettlösungen für ihre ungelösten Aufgaben". Damit spricht das Unternehmen, ein Vermittlungsportal im Bereich Crowdsourcing, vor allem Onlinekaufhäuser oder größere Unternehmen an. Denn all die winzigen Textbausteine, die Nutzer sehen, wenn sie Online gehen, Beschreibungen von Gegenständen, wie Haushaltsgeräten, Autos, Häusern, Schuhen oder Adressverzeichnisse werden nicht von Computern gemacht - sondern von Menschen. Auftrag: Mikrotask Die Vorgehensweise im Clickworking ist komplex. Die Aufgaben werden aufgeteilt in Mikrotasks, die von der Crowd, bei Crowd Guru den sogenannten Gurus, erledigt werden. Anschließend werden die Mikrotasks wieder zusammengesetzt und der Kundin die fertige qualitätsgeprüfte Lösung übergeben. Die Gurus arbeiten dabei nicht als Festangestellte, sondern als Selbstständige. Für jeden Auftrag gibt es eine Honorarvergütung - je nach Anforderung oft nur einige Cents, mal mehr, mal weniger. Seinen Gurus verspricht Crowd Guru einen "Seriöse[n] Nebenjob, Arbeiten von zuhause aus, Selbstbestimmte Arbeit, Abwechslungsreiche Aufgaben, [sowie eine]Geregelte Bezahlung [und eine]Freundliche Community". Seinen Kundinnen neben "preiswerten und schnellen Lösungen auch "Persönliche[n] Service, Individuelle Lösungen, Alles aus einer Hand, Automatisierung der Abläufe, [eine]Qualifizierte und motivierte Crowd [sowie] Hohe Qualität".
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Mitmachen kann theoretisch jede. Das macht die Mikrojobs so attraktiv. Die Qualifikation der Clickworkerinnen wird von Crowd Guru selbst mittels eigener Tests geprüft. Formale Qualifikationen wie Berufsausbildungen oder Schulabschlüsse werden dabei bedeutungslos. Für die Arbeit als Crowdguru muss man noch vor der Anmeldung einen Einstiegstest bestehen. Dieser besteht aus Fragen zur deutschen Grammatik sowie aus Rechercheaufgaben. Wird der Test nicht bestanden - zu den Fehlern bekommt die Bewerberin keinerlei Rückmeldung - kann er nicht wiederholt werden. Wenn der Test bestanden wurde und die Anmeldung erfolgt ist, kann man anfangen zu arbeiten. Im sogenannten Crowdmodul werden die aktuellen Jobs angezeigt. Der Arbeitsvertrag bei Crowd Guru ist in den AGBs geregelt und gilt, sobald man sich angemeldet hat. Ein Vertragsverhältnis entsteht immer dann, wenn eine Clickworkerin einen Auftrag annimmt. Die AGBs regeln die Einrichtung und Führung des Benutzerkontos als Arbeitsgrundlage, den Ablauf der Auftragsabwicklung, Gutschrift der Vergütung sowie die Frage nach Urheberrechten und Verschwiegenheit. Besonders häufig kommen Aufträge im Bereich Texterstellung vor. So müssen zum Beispiel Texte mit Produktinformationen erstellt, oder Online-Shops beschrieben werden. Die Texte sind dabei nicht lang, sie schwanken zwischen 40 und 500 Wörtern. Die Textabschnitte sind bezüglich Inhalt und Zeichenzahl vorstrukturiert, und es müssen bestimmte Schlüsselwörter im Text auftauchen. Hinzu kommen Recherchejobs, bei denen beispielsweise aktuelle Ansprechpartnerinnen von Unternehmen recherchiert werden müssen. Arbeit mit Countdown Wird ein Job im Crowdmodul per Mausklick ausgewählt, öffnet sich zunächst das sogenannte Briefing. Hier sind alle relevanten Informationen zum Job zu sehen. Was genau zu bearbeiten ist, also Informationen zum konkreten Produkt, werden erst mit der Annahme des Jobs bekannt. Wird ein Auftragsteil, eine sogenannte Unit, gestartet, dann zählt ein Countdown die Zeit rückwärts. Wird die Zeit überschritten, so wird der Job abgebrochen und die bisher geleistet Arbeit verfällt. Es besteht die Möglichkeit einzelne Units zu überspringen. Wenn eine Unit erledigt ist, beginnt die Kontrolle - meist durch Kolleginnen, die die Arbeit bewerten. Sie geben ein Feedback per E-Mail, welches "gut", "bearbeitet" oder "nicht angenommen" lauten kann. Bei Ersterem wurde alles ohne Änderungen übernommen. Lautet die Bewertung "bearbeitet" wurden vom Qualitätsmanagement Veränderungen vorgenommen. Das können Rechtschreibfehler oder Formulierungen sein. Die Bewertung "Nicht angenommen" führt dazu, dass die Unit zurück an die Crowd geht. Auch für nicht angenommene Units erhält die Clickworkerin bei der Firma Crowdguru eine Vergütung - das ist nicht überall so. Werden zu viele Units eines Jobs nicht ordnungsgemäß erledigt, kann die Guru durch Mitarbeiterinnen des
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Qualitätsmanagements für den betroffenen Job gesperrt werden. Die Bewertungssysteme sind von Plattform zu Plattform verschieden, führen aber bei schlechter Leistung, also fehlerhafter Arbeit, in letzter Konsequenz immer zu weniger Geld. Was sich nach einem einfachen Job anhört, ist im Praxistest mitunter schwierig. In der Regel ist es mit dem Schreiben allein nicht getan. Häufig ist eine umfangreiche Recherche zu den Produkten oder Webseiten nötig, und das Einarbeiten der Schlüsselwörter und sonstigen Vorgaben erschwert auch geübten Schreiberinnen die Arbeit. Wieviel Honorar es gibt, lässt sich nicht nach Anforderungen berechnen - die Bezahlung kann bei gleichem Zeitaufwand unterschiedlich hoch ausfallen. Wieviel Arbeit es gibt, bestimmt das Unternehmen - damit ist weniger die Selbstständige wie versprochen flexibel, sondern vor allem die Vermittlungsbörse, der sogenannte Intermediär. Im wahren Clickworkerinnenleben kommt es nicht selten zu tagelangen Flauten. Crowdworking als Innovation Crowdworking kann als neue Form der Erwerbsarbeit und als Spiegel einer vernetzten Gesellschaft gesehen werden. Die spezielle Form des Clickworking kann dabei als symptomatisch für eine immer stärker wettbewerbs- und marktförmig organisierten Gesellschaft betrachtet werden. Es scheint die populäre Verwirklichung der "digitalen Bohéme"[1] und ihrer Vorstellung von Leben und Arbeit zu verkörpern: frei, flexibel und selbstbestimmt - ein Ausbruch aus den starren Gebilden hierarchisch strukturierter (Groß-)Unternehmen. Der Arbeitsort der Clickworkerinnen bildet diese Forderungen gut ab: Die Cloud ist im Vergleich zu herkömmlichen Betrieben zunächst ein nahezu hierarchie- und rechtsfrei erscheinender Raum, in dem nur die Gesetze der Marktwirtschaft und der Innovation gelten. Spätestens der Blick auf das Qualtitätsmanagement macht jedoch deutlich, dass das Gegenteil stimmt - die AGBs sind durchaus Gesetze - nur eben zum Vorteil der Arbeitgeber. Zur Erledigung der Aufträge ist Kreativität gefragt – wenn bei zunächst stupide anmutenden Aufgaben wie Adressrecherchen, Informationen in die Auftragsformulare eingepasst werden müssen – nur ist das wohl eine andere Kreativität als sie sich die meisten vorgestellt haben. Wenn die Clickworkerinnen dabei noch von den Communitymanagerinnen angefeuert werden und unter dem andauernden Druck stehen, den Ansprüchen des Qualitätsmanagements zu genügen, ist die schöne freie Arbeit endgültig ins Gegenteil verkehrt. Nur wenige Clickworkerinnen bleiben ernsthaft am Ball und arbeiten regelmäßig. Nicht selten kann man im Netz auch schon „Aussteigerinnen“ begegnen. Ausbeutung par excellence
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Die schöne Crowd-Welt bröckelt besonders, wenn man die internen Diskussionen auf den Diskussionsplattformen von Clickworkerinnen analysiert. Scharf kritisiert werden häufig Willkür und Höhe bei der Bezahlung - denn was der Arbeitgeber zahlt, bestimmt allein er und "Ausbeutung par excellence" ist kein seltener Begriff. Unzufrieden sind viele Clickworkerinnen auch mit der extrem schwankenden Auftragslage - woran sich zeigt, dass es den Texterinnen zwar auch darum geht, dabei zu sein, und kreativ zu arbeiten, aber auch ebenso oft um die Sicherung oder Verbesserung des Lebensunterhalts. Kritisch bewerten viele Teilnehmerinnen auch die Korrektur der Mikrotasks durch Kolleginnen, die häufig als willkürlich, oder gar als Schikane empfunden werden. Die Clickworkerinnen gehen sehr verschieden mit diesen Problemen um. Manche geben diese Art von Arbeit auf, weil sie nicht ihren Vorstellungen entspricht und aus ihrer Sicht höchsten frei von fairem Verdienst und fairer Behandlung ist. Andere sehen sie als Herausforderung, versuchen sich mit Verbesserungsvorschlägen und konstruktiver Kritik einzubringen und ihre Arbeitswelt zu gestalten. Eine Machtbasis, um Forderungen durchzusetzen gibt es dabei kaum. Die Clickworkerinnen agieren im Grunde eher vereinzelt und das Communitymanagement nimmt nur die Kritik an, die aus unternehmerischer Sicht als gelegen erscheint. Es scheint symptomatisch für die Gesellschaft: Allein in der Crowd. Nicht wenige versuchen dabei einfach nur irgendwie ein Stück vom angepriesenen Kuchen ab zu bekommen. Im angelsächsischen Raum ist das Clickworking längst weit verbreitet, schließlich können die englischen Texte weltweit bearbeitet und eingesetzt werden. Konzerne wie Amazon haben mit "Mechanical Turk" (mturk) ein Clickworker-Modell aufgezogen, dass längst für Hunderttausende zu einer wichtigen Einkommensquelle geworden ist. Andere Plattformen wie odesk haben den Trend erkannt, dass gänzlich freie Clickworkerinnen keine gute Basis für kontinuierliche Arbeit sind und haben ein eigenes Sozialversicherungssystem entwickelt. All dies führt zu wissenschaftlichen Debatten. In Deutschland steckt Clickworking noch in den Anfängen - allerdings hat eine Sendung in dem Fernsehmagazin "Galileo" über das Modell dazu geführt, dass sich Tausende bei der beschriebenen Firma anmeldeten. Dennoch ist in Deutschland die Erforschung solcher Entwicklungen bisher auf die Wirtschaftswissenschaften und die Informatik beschränkt. Die Arbeitssoziologie, die sich klassischerweise auch mit den Menschen hinter der Arbeit befasst, sucht erst langsam den Anschluss. Auch die Gewerkschaften kommen erst neuerlich zu diesem Thema und erarbeiten Positionen. Das aber wird dringend notwendig. Autorin: Dorothea Forch, geboren 1983, M.A. Gesellschaftstheorie, B.A., Politikwissenschaften, Jena. Zur Zeit freie Autorin und Trainerin in der politischen Bildungsarbeit.
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Wir brauchen eine weltweite Energietransformation von Nina Netzer, Bärbel Kofler Das globale Energiesystem steckt tief in der Krise. Die jahrhundertelange Abhängigkeit von fossilen Energieträgern hat zu schweren Umweltschäden sowie zentralistischen Erzeugungs-, Verteilungs- und Eigentumsstrukturen geführt, von denen nur wenige Menschen profitieren. Während in einigen Regionen elektrische Energie regelrecht verschwendet wird, haben große Teile der Weltbevölkerung nach wie vor keinen Zugang zum Stromnetz. Außerdem trägt unser derzeitiger Energieverbrauch entscheidend zur menschengemachten Erderwärmung bei. Ganze 57 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen kommen durch die Nutzung fossiler Energieträger zustande.[1] Dennoch scheint ein Paradigmenwechsel in der Klimapolitik nicht in Sicht. Wir befinden uns mit einem Anteil von 82 Prozent Kohle, Öl und Gas an der weltweiten Energieversorgung weiterhin auf einem fossilen Wachstumspfad,[2] der zu stark steigenden Treibhausgasemissionen und einer permanenten Übernutzung natürlicher Ressourcen führt. Der Energiehunger einer wachsenden Weltbevölkerung wird immer größer und befördert neue, extreme Formen der Energieförderung, da konventionelle Energieträger immer schwieriger zu erschließen sind. Diese vermeintlichen Lösungsstrategien sind viel zu kurzfristig gedacht und Ausdruck eines auf Wachstum fokussierten Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells, das weiterhin kaum infrage gestellt wird. Allen voran die Gesellschaften in Europa und Nordamerika haben in den vergangenen Jahrhunderten ihren heutigen Wohlstand durch ein Entwicklungsmodell erzielt, welches auf der Ausbeutung endlicher und schmutziger Ressourcen und Rohstoffe, auf ständigem Wachstum und auf Überkonsum basiert. In den letzten Jahrzehnten wurde diese expansive und energieintensive Lebensweise zunehmend von einer wachsenden Mittel- und Oberschicht in Schwellen- und Entwicklungsländern kopiert, was ein Umsteuern immer schwieriger macht. Die Notwendigkeit einer Energietransformation Wir brauchen eine globale Energietransformation. Wir müssen weg von fossilen und nuklearen Energieträgern, hin zu 100 Prozent erneuerbarer Energie, einer dezentralen und lokal verwalteten Versorgung, höherer Effizienz und einer Reduktion des absoluten Verbrauchs.
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Eine solche Energietransformation ist ein komplexes Unterfangen. Produktionssysteme müssen angepasst, neue Infrastrukturen aufgebaut und Produktinnovationen geschaffen werden. Auch die Arbeitsbeziehungen und das Konsumverhalten werden sich zwangsläufig verändern. Die Umstellung auf erneuerbare Energien kann aber nur dann eine nachhaltige, entwicklungsfördernde und demokratische Alternative darstellen, wenn sie partizipativ und sozial gerecht organisiert wird. Dazu gehört vor allem, dass alle Betroffenen, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den traditionellen Energiesektoren, frühzeitig einbezogen werden. Nur so können Jobverluste in den traditionellen Sektoren - alleine in der Kohleindustrie sind weltweit sieben Millionen Menschen beschäftigt - abgefedert und die Übergänge sozialverträglich gestaltet werden. Außerdem muss die Energieversorgung grundlegend demokratisiert werden, damit kleine Versorgungseinheiten wie Gemeinden ihre Energieversorgung eigenverantwortlich und dezentral organisieren können. Eine Energietransformation wird nicht ohne Konflikte und Reibung möglich sein, denn Marktanteile, Eigentumsverhältnisse und Machtstrukturen müssen zum Wohle der Menschen verändert werden. Die zentrale Konfliktlinie verläuft zwischen zwei offensichtlich unvereinbaren Zielen: Dem Erhalt des fossilen Kapitalismus und dem Erhalt unseres Planeten, der eine weitaus weniger machtvolle Lobby hinter sich vereint als die Energiekonzerne. Nur selten sind es unverrückbare Fakten oder technische Konflikte, die den Ausbau erneuerbarer Energien be- oder gar verhindern. Insbesondere die Profiteure des momentanen Systems betonen stets die schwierigen Herausforderungen einer Energietransformation und stützen damit ihre eigene (Markt-) Macht. Macht und Märkte Während also eine kleine, aber machtvolle Minderheit von dem derzeitigen Energiesystem profitiert, ist die überwiegende Mehrheit von den negativen Konsequenzen der fossilen Energieerzeugung jetzt und noch viel mehr in der Zukunft betroffen. Die Verlierer des derzeitigen Systems sind allen voran arme Menschen in den ressourcenreichen Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika, die unter den gesundheitlichen und sozialen Folgen der Energieförderung leiden und gleichzeitig in großer Zahl vom Zugang zu Energie ausgeschlossen sind. Dies betrifft in besonderer Weise die indigenen Bevölkerungsgruppen, die häufig aufgrund von Megaprojekten der fossilen Energiegewinnung aus ihrer Heimat vertrieben werden. Auch die Arbeitsbedingungen in der dortigen fossilen Energieindustrie sind oft lebensgefährlich. Zudem ist die Arbeit in den meisten Ländern schlecht bezahlt, unsicher und die Beschäftigten sind häufig gezwungen über lange Zeiträume weit weg von ihren Familien zu leben.
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In den Entwicklungsländern sind wiederum Frauen von diesem System am stärksten betroffen, da sie die Hauptverantwortung für die beschwerliche und zeitaufwendige Energiebeschaffung haben. Ihre Situation wird sich nicht verbessern, solange die Profiteure des Systems Veränderungen mit aller Macht aufhalten wollen. Den größten Nutzen aus diesem System zieht die Energiewirtschaft und hier vor allem große Energiekonzerne, die Öl-, Gas- und Atomunternehmen sowie Kohleminen besitzen, Plantagen für industrielle Biomasse und Agrartreibstoffe betreiben oder Mega-Staudämme und Müllverbrennungsanlagen finanzieren. In zweiter Reihe profitieren Bauunternehmen, welche die Infrastruktur dieser Energie-Megaprojekte bereitstellen, sowie energieintensive Unternehmen der Chemie-, Papier-, Keramik-, Zement-, Eisen-, Stahl- und Aluminium-Industrie, die von der billigen fossilen Energie profitieren. Diese Branchen schaffen hauptsächlich in Schwellen- und Entwicklungsländern schlechte und zum Teil unmenschliche Arbeitsbedingungen, verursachen dort eklatante Umweltschäden, unter denen die lokale Bevölkerung massiv leidet, und tragen erheblich zur globalen Erwärmung bei. Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat gezeigt, dass 90 Großkonzerne für 63 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich sind.[3] Die Unternehmen kommen fast ausschließlich aus der fossilen Energiewirtschaft und fördern Öl, Kohle und Gas darunter sind bekannte Konzerne wie Chevron, ExxonMobil, BP und Royal Dutch Shell oder Kohleproduzenten wie British Coal, Peabody Energy und BHP Billiton. Diese unregulierten Entwicklungen sind auch eine Folge der zunehmenden Privatisierung und Liberalisierung der Energiemärkte. Die gegenwärtigen Investitionen in den globalen Energiesektor und die Bereitstellung von Energie werden nicht vom Ziel geleitet, saubere und bezahlbare Energie für alle bereitzustellen. Die Energiewirtschaft hat sich vielmehr zu einem schwer kontrollierbaren Machtakteur entwickelt, der vielfach von den staatlichen Eliten protegiert wird. Dies ist besonders ausgeprägt in der Atomindustrie zu beobachten: Hier gibt es kaum ein Kraftwerk, das nicht durch staatliche Stellen projektiert und geplant, massiv mit staatlichen Mitteln gefördert und durch staatliche oder staatsnahe Konzerne betrieben wird. Und auch in der fossilen Industrie profitieren Regierungen und politische Eliten vor allem in rohstoffreichen Ländern vom Geschäft mit den Ressourcen: Durch Besteuerung, Produktions- und Gewinnbeteiligungsverträge oder Regierungsabkommen sichern sie sich den Zugang zu Rohstoffen und maximale Gewinne. Häufig gehen multinationale Gas- oder Kohleunternehmen sogar rechtsverbindliche Partnerschaften mit den Regierungen ressourcenreicher Länder ein, welche den Regierungen eine Produktionsbeteiligung und den involvierten Unternehmen spezielle finanzielle Anreize gewähren.[4] Das Nutzenverhältnis funktioniert dabei in beide Richtungen. Nicht selten versorgt die Energieindustrie die Politik mit Spenden oder PolitikerInnen nach ihrer Karriere mit Posten. Im Gegenzug werden politische Entscheidungen im Sinne der Energiekonzerne getroffen und den Lobbyisten der Energiekonzerne großzügig Zugänge in politische Entscheidungszirkel gewährt.
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Eine erste Herausforderung besteht deshalb in der Opposition gegen das gegenwärtige globale Energiesystem: neue, extreme Formen der fossilen Rohstoffgewinnung wie Tiefseebohrungen, Bohrungen in der Arktis, TeersandÖlförderung und Hydrofracking müssen verhindert werden. Außerdem müssen Subventionen für fossile Energieträger bekämpft sowie Emissionen reguliert und begrenzt werden, zum Beispiel durch die Einführung von CO2-Steuern. Doch damit ist es nicht getan, denn es muss gleichzeitig die Frage beantwortet werden, wie die Alternative zum fossilen, exportorientierten und wachstumsfixierten Energiesystem aussehen kann. Alternativen Weltweit gibt es viele interessante Ansätze und Projektbeispiele im Energiebereich, die auf unterschiedliche Weise versuchen, andere Wege zu gehen. In Deutschland wird eine einzigartige Energiewende umgesetzt, die gleichzeitig den Atomausstieg und die Dekarbonisierung des Energiesystems zum Ziel hat und den Anteil erneuerbarer Energien bis 2050 auf 80 Prozent erhöhen möchte. Dies macht deutlich, dass eine Energietransformation auch in Industriestaaten mit etablierten Energiesystemen angestoßen und vorangebracht werden kann. Auch in Dänemark gibt es große Potenziale für erneuerbare Energien, die bereits 2011 über 40,2 Prozent an der Stromversorgung ausmachten, bis 2035 sollen 100 Prozent erreicht werden. Doch nicht nur in Europa finden sich Beispiele: Erwähnenswert sind auch Länder wie Äthiopien, Costa Rica oder Uruguay mit einem Anteil von 70 bis über 90 Prozent Wasserkraft an der Energieversorgung[5] oder Marokko, wo erneuerbare Energien 2012 bereits 33 Prozent am Strommix ausmachten und neben Wasserkraft auch einen steigenden Anteil von Solar- und Windenergie beinhalten. Die sozialen und ökologischen Konsequenzen mancher erneuerbarer Energien-Projekte, insbesondere im Fall größerer Wasserkraftprojekte, sind dabei überaus kritisch zu betrachten. Dennoch zeigen diese unterschiedlichen Versuche, dass eine Energiewende auchohne klassische Industrialisierung bzw. mit einer frühzeitigen Abkehr davon und dem Überspringen traditioneller fossil-basierter Entwicklungsstufen möglich ist. Das Beispiel Deutschland macht zudem deutlich, dass ein starkes Bürgerengagement für die Veränderung zentraler Strukturen entscheidend sein kann. Denn um eine weltweite Energietransformation umzusetzen, bedarf es Akteure, die diese initiieren und tragen, auch gegen Widerstände. Es gibt bereits viele soziale Bewegungen, die für ein gerechtes und nachhaltiges Energiesystem kämpfen. Damit sie erfolgreich sind, braucht es eine kontinuierliche Debatte zwischen sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Politik darüber, wie die Welt aussehen soll, in der wir in Zukunft leben wollen. Zudem gilt es, den Machtinteressen der Konzerne etwas entgegenzusetzen und die demokratische Kontrolle über die Entscheidungen, die unsere Energiesysteme betreffen, zurückzugewinnen. Gelingt dies nicht, werden die bestehenden Bewegungen nur kleine Ausnahmeerscheinungen bleiben. Daher
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müssen wir kontinuierlich an einer gemeinsamen Vision und Strategie für eine Energietransformation bauen und alle beteiligen, die ein Interesse daran haben, das gegenwärtig ungerechte und ausbeuterische Energiesystem abzuschaffen. Dazu gehören betroffene lokale Gemeinden, Bevölkerungsgruppen ohne Zugang zu Energie, VerbraucherInnen, ArbeiternehmerInnen aus der Energieindustrie, UmweltaktivistInnen, WissenschaftlerInnen und PolitikerInnen. Gemeinsam können wir ein Energiesystem schaffen, das gerecht und nachhaltig ist, die Rechte und unterschiedlichen Lebensweisen verschiedener Bevölkerungen weltweit respektiert und das Grundrecht auf Energie für alle sichert. Der Artikel basiert auf den Ergebnissen einer ausführlichen Studie zu den Voraussetzungen einer globalen Energietransformation in Kooperation mit dem Wuppertal Institut und Germanwatch. Diese ist abrufbar unter: http://www.fes.de/cgi-bin/gbv.cgi?id=10751&ty=pdf. Nina Netzer ist wird auf der diesjährigen De-Growth-Konferenz in Leipzig referieren, bei der GEGENBLENDE Medienpartner ist.
Literatur/Quellen: [1] Vgl. Friends of the Earth international (2013): Good Energy – bad energy? Transforming our energy system for people and the planet. [2] IEA 2013: World Energy Outlook 2013. Paris, OECD/IEA. [3] Vgl. Heede, Richard (2013): Tracing anthropogenic carbon dioxide and methane emissions to fossil fuel and cement producers, 1854ff, in: Climatic Change (2014) 122: 229–241. [4] Vgl. Friends of the Earth international (2013): Good Energy – bad energy? Transforming our energy system for people and the planet. [5] Äthiopien: 83 Prozent Wasserkraft an der Energieversorgung 2012; Costa Rica: 94 Prozent Erneuerbare Energien 2012, hauptsächlich Wasserkraft. Vgl.: Renenewable Energy Policy network (2013): Renewables 2013 – Global Status Report. Paris.
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Autorinnen: Nina Netzer, Referentin für Internationale Energie- und Klimapolitik im Referat Globale Politik und Entwicklung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, Bärbel Kofler, Mitglied des deutschen Bundestags und entwicklungspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion
Marktwirtschaft statt Kapitalismus – Versuch einer Ehrenrettung von Andreas Siemoneit Marktwirtschaft hat in systemkritischen Kreisen einen schlechten Ruf, ebenso wie Geld und Zins, Profitstreben und Wettbewerb. Aus diesem Misstrauen resultieren eine Vielzahl von Vorschlägen und Initiativen, wie unser Wirtschaftssystem umzubauen sei. Viele dieser Vorschläge bewegen sich um das klassische Verhältnis von Moral und Ökonomie. Allerdings haben wir nicht in erster Linie ein moralisches Problem, sondern ein ökonomisches, und ein relativ schlichtes dazu. Marktwirtschaft ist meines Erachtens die beste Wirtschaftsform, die es gibt, Geld eine soziale Errungenschaft ersten Ranges, Zins eine ökonomische Notwendigkeit und Kooperation nicht notwendig besser als Konkurrenz. Marktwirtschaft kann ein sehr menschliches, einfaches und robustes System sozioökonomischer Beziehungen sein. Allerdings haben wir derzeit keine Marktwirtschaft, sondern puren Kapitalismus. Was den einen wie Wortklauberei erscheint, war für viele Kritiker des Kapitalismus wie Fernand Braudel, Herman Daly oder Gerhard Scherhorn nie ein Thema: Natürlich sind Marktwirtschaft und Kapitalismus nicht das Gleiche. Was könnte eine echte Marktwirtschaft bedeuten, wenn wir ihre Grundgedanken wirklich ernst nehmen würden? Und warum wäre sie dann die beste aller ökonomischen Welten? Die Landkarte der Systemkritik Der privatwirtschaftlichen Marktwirtschaft wird besondere Effizienz unterstellt: Mit geringem Aufwand sorgen die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, Geld und Preis, Kapital und Zins für die optimale Verteilung der knappen Ressourcen wie Rohstoffe, Kapital und Arbeitskraft, so dass es keine andere Verteilung gibt, welche die Menschen noch besser stellen würde. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht erfahrungsgemäß anders aus: Soziale Ungerechtigkeit, ökologischer Raubbau, entfremdete Arbeit, Lobbyismus, Korruption und Gier sind nur einige der wahrgenommenen Schattenseiten der Ökonomie, und viele machen gerade das
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System der Marktwirtschaft mit seinem privaten Eigentum und individuellen Gewinnstreben dafür verantwortlich. In der Systemkritik kann man mehrere „große“ Positionen gemäß ihrer Annahme über die Webfehler des Kapitalismus’ unterscheiden. Die angebotenen Lösungsvorschläge unterscheiden sich in ihrer Radikalität und Marktnähe oder ferne, wobei der größte Teil der Vorschläge explizit darauf ausgerichtet ist, die „normale“ ökonomische Marktlogik auszuhebeln. Verschiedene Positionen schließen sich dabei nicht aus.
Die Kritik am privatwirtschaftlichen Eigentum Die Kritik am Geldsystem Die Kritik an der gesellschaftlichen Verteilung der Gewinne Die Kritik an nationalen Grenzen angesichts einer globalisierten Wirtschaft Die Kritik an der rein monetären wirtschaftlichen Erfolgsmessung, sowohl auf der Ebene des Unternehmens als auch der ganzen Volkswirtschaft Die Kritik an „Anreiz“-Strukturen, die Verantwortungslosigkeit begünstigen
Wer hat nun Recht? Häufig wird die Pluralität der Debatte betont, und die meisten derjenigen Autoren, die sich nicht dogmatisch auf eine Position festgelegt haben, gehen von einem multiplen Versagen des Kapitalismus aus. Meines Erachtens gibt es allen Grund, die Systemkritik ihrerseits einer Kritik zu unterziehen, insbesondere diejenigen Positionen, die Eigentum, Geld oder Markt grundsätzlich in Frage stellen, als sei alles falsch gewesen, was sich in den letzten 12.000 Jahren ereignet habe. Ich bin überzeugt, dass Märkte, Geld und Zins, Gewinnstreben und Wettbewerb etwas völlig Natürliches sind in dem Sinne, dass sie unserer mentalen Struktur entsprechen. Die Frage, die allerdings beantwortet werden muss, lautet: Wieso ist das Ganze dann so dermaßen aus dem Ruder gelaufen? Tatsächlich tragen viele Gründe zum derzeitigen Desaster bei. Allerdings sollten diese Gründe unterschieden werden in Gründe erster und zweiter Ordnung. Oder anders gesagt: Es gibt einen Hauptwiderspruch, und daraus folgen eine ganze Reihe Nebenwidersprüche. Die bisherige Debatte hat den Hauptwiderspruch nicht erkannt und stattdessen die Nebenwidersprüche thematisiert. Ein Schlüsselthema ist der Konsum. Ich sehe einen gesellschaftlichen Zwangsmechanismus, einen sogenannten Lock-in, in welchem sich alle Beteiligten gegenseitig unter Druck setzen, an der Wettbewerbsgesellschaft weiter teilzunehmen. Die Konsumenten befinden sich in einer ganz ähnlichen Wettbewerbssituation wie die Unternehmer, nur dass ihre Zwangslage selten als solche wahrgenommen wird. Produzenten und Konsumenten kaufen beständig (und begeistert) Produkte, die ihre Arbeit und ihr Leben effizienter machen – beim Konsumenten spricht man meistens von Lebensstandard. Er wird immer bequemer oder findet etwas praktisch. Aber alle werden immer effizienter, und diese höhere Effizienz hat durchschlagende
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Verteilungsfolgen, denen sich keiner entziehen kann. An diesem Teufelskreis der Moderne sind meines Erachtens im Wesentlichen drei Mechanismen beteiligt. Erstens: Effizienzkonsum Produzenten und Konsumenten streben prinzipiell das Gleiche an: Erhöhung ihres Umsatzes, vor allem aber Kostensenkung, und zwar durch Automatisierung, durch Standardisierung und Abnahme großer Mengen. Ein Haushalt automatisiert beispielsweise das Wäschewaschen. Die Standardisierung und Abnahme großer Mengen erfolgen über ALDI, OBI und IKEA, der Kostendruck auf die Lieferanten wird über Schnäppchenjagd, Sonderpreise und Suchmaschinen erzeugt, Outsourcing wird vorgenommen über Tagesmütter, Tiefkühlkost und Transportdienste. Es gibt keinen guten Grund, Produzenten und Konsumenten hier prinzipiell zu unterscheiden. Als Voraussetzung dafür müssen Konsumenten bestimmte Produkte nutzen, die sie zeitlich entlasten, flexibler machen und Zugangsmöglichkeiten verschaffen: Waschmaschine, Auto, Computer, Smartphone sind die Hardware, welche die Nutzung von facebook, ebay, Paypal, amazon und Online-Banking ermöglichen. Der entscheidende Punkt ist: Die Nutzung dieser Produkte wird zunehmend von außen eingefordert. Sie werden der Standard, den alle erwarten, sie definieren die gesellschaftlichen Schnittstellen. Wer diese Standards und Netzwerke nicht nutzt, gerät in Legitimationsnot, steht abseits – und zahlt zunehmend höhere Preise. Denn die Kosten der Verweigerung steigen rasant, und irgendwann werden „traditionelle“ Produkte und Verkaufswege eingestellt oder zur teuren Nische. Dem Wachstumszwang der Wirtschaft entspricht ein Wachstumszwang im Privaten. All diese Produkte werden zu Angeboten, die man nicht ablehnen kann. Wer beispielsweise Zeitschriftenartikel über die Mobilität der Zukunft liest, wird bemerken, dass das Smartphone in allen diesen Konzepten eine zentrale Rolle spielt: Für die Verfügbarkeitsprüfung, die Buchung, die spätere Abrechnung. Studenten berichten von Professoren, die zusätzliche Unterlagen zur Vorlesung nur noch bei facebook einstellen. Wer zur Nutzung dieser Produkte nur sagt: „Das muss jeder selbst entscheiden“, der übersieht den sozialen und auch ökonomischen Druck, der dadurch ausgeübt wird. Dieser von mir so genannte „Effizienzkonsum“ hat nicht-intendierte Nebeneffekte. Zum einen gibt es eine Rückkopplung auf der Anbieterseite. Erst der moderne Lebensstil hat weitere Spezialisierungen und Innovationen in der Industrie in Reichweite gebracht. Immer kleinere Firmen können immer spezieller qualifizierte Mitarbeiter aus einem weiteren Umkreis als früher anziehen, sie können preiswerte Grundstücke abseits der Siedlungen nutzen, und für eine neue Arbeitsstelle kann man auch mal mit dem ICE in eine andere Stadt pendeln. Das Internet ermöglicht ganz neue Vertriebs- und Arbeitswege. Industrie und Handel reagieren auf die
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zunehmende Individualisierung und Technisierung der Gesellschaft mit weiteren Verfeinerungen der Wertschöpfungsketten, die ihrerseits wieder bestimmte effizientere Alltagstechnologien erst begünstigen, später einfordern. Die andere Rückkopplung findet im eigenen Alltag statt. Je effizienter wir werden, desto höher wird der Zeitdruck, weil wir alle Zeitpuffer des Alltags nach und nach abschaffen. Ehemals „unproduktiv“ verbrachte Wartezeiten, Fahrzeiten oder auch langweilige Sitzungen können mittlerweile nahtlos beruflich und privat genutzt werden. Das ist der Beschleunigungszirkel, wie ihn der Zeit-Soziologe Hartmut Rosa beschreibt. Wir leben heute buchstäblich „mehr“ in unserer Lebensspanne. Zwar ist der Zeitgewinn durch Technik nicht zwingend, es gibt durchaus auch einen sogenannten „Zeit-Rebound“. Aber der Gesamtnutzen scheint überragend zu sein, wie die schnellen Wachstumsraten all dieser Produkte zeigen. Wir versuchen ebenso verzweifelt wie begeistert, immer weitere private Produktivitätslücken zu schließen, um ökonomisch und sozial mithalten zu können. Zweitens: Wettbewerbsvorteile durch Ressourcenverbrauch Die größten Effizienzsprünge werden durch sogenannte Basis-Innovationen erzeugt: Dampfmaschine, Elektrifizierung, Verbrennungsmotor, Mikroelektronik – um nur einige zu nennen. Der überragende Effizienzgewinn, den diese Technologien ermöglichen, führt sehr schnell zu ihrer Verbreitung. Doch was passiert an dieser Stelle eigentlich ökonomisch, im Sinne der Erbringung einer Marktleistung? Wer genau erbringt bei einer Innovation dieses Mehr an ökonomischer Leistung? Die meisten behaupten, dass von genialen Menschen eine Innovationsleistung erbracht und auf dem Markt verkauft wird. Doch tatsächlich steckt etwas Größeres dahinter, und es hat viel weniger mit selbst erbrachter Leistung zu tun, als wir das gemeinhin annehmen. Der Ge- und Verbrauch natürlicher Ressourcen ist der Dreh- und Angelpunkt der Ökonomie schlechthin, weil er dem Menschen ermöglicht, sein eigenes Leistungsspektrum zu erweitern – physisch und mental. Man kann das mit dem normativen Begriff „Fortschritt“ belegen, man kann diesen Fortschritt aber auch ganz nüchtern als ökonomische Leistung analysieren, „strikt positiv ökonomisch“ (Karl Homann): Zunächst einmal liegt hier eine exogene Leistungsförderung vor, die eine Tätigkeit erleichtert oder erst ermöglicht. Der Nutzer greift zum leistungsfähigeren Produkt, weil der Produzent ihm damit ein Angebot macht, welches er unter Zeit- und Kostengesichtspunkten gar nicht ablehnen kann. Der Wettbewerbsvorteil der Produzenten besteht darin, dass ihre Produkte in der Lage sind, originär biologische Arbeitsleistung auf Maschinen zu verlagern. Deren Arbeitsleistung wird praktisch „kostenlos“ erbracht: Ein Liter Erdöl, ein Halbleiter-Chip, ein Stück Eisenbahnschiene müssen während ihrer
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Nutzungsdauer nicht entlohnt werden. Es fallen lediglich die Beschaffungskosten an, häufig nur ein Bruchteil dessen, was das Material ökonomisch zu leisten vermag. Dies ermöglicht es den Produzenten, die ökonomische Leistungsfähigkeit von Produkten zu steigern, ohne den Preis auch nur annähernd in gleichem Maße erhöhen zu müssen, und genau das ist jene berühmt-berüchtigte „Wettbewerbsfähigkeit“. Leider hat unser gesellschaftlich akzeptierter Verteilungsmechanismus für Einkommen damit nicht Schritt gehalten. Der größte Teil ökonomischer Leistung wird heute durch Materialnutzung und Verbrauch erbracht, die damit verbundenen Einkommen gehen jedoch an diejenigen Menschen, die (mehr oder weniger zufällig) diese Leistung am Markt zur Verfügung stellen. Wir haben ein systematisches (und zunehmendes) Auseinanderfallen von Leistungserbringung und Leistungszuschreibung. Die menschliche Leistung wird über-, die materiale Leistung unterbewertet. Diese prinzipielle (und uralte) Diskrepanz zwischen der ökonomischen Wertschöpfung und dem gesellschaftlichen Verteilungsmechanismus bestand im Grunde „schon immer“. Neu ist die massive Schieflage seit dem Beginn der Industriellen Moderne, die mit jeder technischen Basis-Innovation und der Nutzung der fossilen Energierohstoffe sprunghaft zugenommen hat. Wir können mit dem „Schneller, höher, weiter“ nicht aufhören, weil wir nicht aufhören, riesige Mengen von Material neu in den Kreislauf einzuspeisen und in Leistung umzuwandeln, die wir zu einem Bruchteil ihres Wertes am Markt anbieten können. Arbeitslosigkeit auf der Basis technischen Fortschritts ist so gesehen weder Schicksal noch „natürlich“. Intuitiv ahnten dies verschiedene Generationen von Maschinenstürmern, die durch Vernichtung der verhassten Automaten die Schumpeter’sche „Schöpferische Zerstörung“ aufzuhalten versuchten, da diese Innovationen sie zu sozialen Verlierern machte. Stets wurde jedoch von der Mehrheit (vorübergehende) Arbeitslosigkeit als „Kollateralschaden“ wirtschaftlicher Entwicklung akzeptiert. Letztlich wurde in den Industriegesellschaften dieses Dilemma nie gelöst, sondern stets durch Wirtschaftswachstum umgangen – eine „Lösung“, die heute an ihre Grenzen stößt. Drittens: Vermögenskonzentration Die dritte Zutat zur Wachstumsgesellschaft ist Vermögenskonzentration, also große Unternehmen und Konzerne, aber auch große Privatvermögen. Durch das Wachstum einzelner erfolgreicher Unternehmen, über Fusionen und Beteiligungen entstehen im Laufe der Zeit große wirtschaftliche Strukturen, meist als Kapitalgesellschaften organisiert, die unter einer einheitlichen Kontrolle stehen. Nach einer Studie der ETH Zürich von 2011 werden 40 % der internationalen Unternehmen weltweit durch nur 147 Konzerne kontrolliert (Vitali et al. 2011). In der freien Wirtschaft ist unbegrenzte Machtkonzentration nicht nur akzeptiert, sondern Ausdruck wirtschaftlichen Erfolges und höherer Effizienz. Wenn solche Zusammenballungen
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wirtschaftlicher Macht heutzutage kritisch gesehen werden, dann in der Regel unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes, den große Unternehmen gerne missachten. Jedoch sind „Große wirtschaftliche Organisationen“ (GWO) aus einer ganzen Reihe von Gründen ein quasi natürlicher Gegenpol zur Demokratie und damit zu Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Die wichtigsten Kennzeichen von GWOs sind der Gewinn an Effizienz und der Verlust an Pluralität. Eine GWO ist innerhalb der Gesellschaft eine entschlossene und gut organisierte Minderheit von Menschen, die ihre Energie auf ein gemeinsames Ziel richten. Dieses gemeinsame Ziel entwickelt eine Eigendynamik und bezieht sein Umfeld mehr und mehr mit ein. Anstatt vom Markt geformt zu werden, formt eine GWO den Markt zunehmend selbst, und aufgrund ihrer höheren Effizienz hat sie dazu auch die Mittel. Nach außen wirkt eine solche Organisation als ökonomische Monokultur. Regional oder überregional wächst der Druck diese Organisation und ihre Arbeitsplätze zu erhalten. Zulieferfirmen werden abhängig vom Auftraggeber. Im schlimmsten Falle wird das Auslastungs- und Absatzrisiko einer ganzen Industriesparte zu einer „nationalen Aufgabe“, wie im Falle Deutschlands bei der Abwrackprämie. International hat eine GWO viele Möglichkeiten, Staaten gegeneinander auszuspielen. Die Größe der GWO macht ihren Lobbyismus lohnender, ihre höhere Effizienz stellt die Mittel für ihren Lobbyismus bereit, ihre gesellschaftliche Bedeutung macht ihren Lobbyismus hoffähig. Das Interesse einer privatwirtschaftlichen Organisation wird damit zum gesellschaftlichen Interesse, mit der Bereitschaft, Kosten zu vergesellschaften und Nachhaltigkeitsziele zu ignorieren, da zusätzlicher Ressourcenverbrauch Wettbewerbsvorteile erzielt. Die Gesellschaft hat sich selbst in eine Lock-in-Situation manövriert, indem sie Größe zulasten von Pluralität und Flexibilität zugelassen hat. Der Kapitalismus ist hier nicht mehr flexibel im ursprünglichen Sinne, er hat gesellschaftliche Garantien erhalten. Innerhalb der Organisation führen Hierarchien, der Bedeutungsverlust des Einzelnen und die hohe Spezialisierung zum Verlust von Verantwortungsgefühl. Der Sinn beginnt, sich innerhalb der Organisation zu definieren, also endogen. Es kommt es zu einer einseitigen Wahrnehmung von Fakten – kritische Fakten werden ignoriert und beschönigt, positive überbewertet. Die Organisation wird zunehmend immun gegen Kritik, weil Kritik die Identität von zu vielen Menschen in Frage stellt. Ein Geschäftsmodell wird zu einer Identitätsfrage von Mitarbeitern, Familienangehörigen, Zulieferinnen. Hinzu kommt noch ein besonderer Effekt, die „automatische“ Konzentration von Reichtum: Ungleichheit in einer Gesellschaft tendiert zur Selbstverstärkung, weil reiche (natürliche oder juristische) Personen mehr und bessere Gelegenheiten für Handel, Investition und Spekulation haben. Die beiden französischen Physiker Jean-
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Philippe Bouchaud und Marc Mézard haben diese Effekte im Jahr 2000 numerisch simuliert und herausgefunden, dass unter bestimmten Bedingungen die Ungleichheit sprunghaft ansteigt und zu einer Konzentration von Vermögen in den Händen weniger führt. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat unlängst aufgezeigt, dass der Kapitalismus instabil wurde, weil die Kapitalrendite über längere Zeit höher war als die Produktivitätssteigerung. Der Finanzexperte der Grünen, Gerhard Schick, hat in seinem jüngsten Buch beschrieben, wie stark große Konzerne international verflochten sind und im Verbund mit einer willfährigen Politik Markt und Wettbewerb zu ihren Gunsten aushebeln. „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“ ist die dazugehörige Volksweisheit. Mit Marktwirtschaft hat das alles nichts mehr zu tun. Das gesellschaftliche Dilemma Wir stehen also vor einem intelligent arrangierten gesellschaftlichen Dilemma. Indem wir zugelassen haben, dass Technologie zunehmend das meritokratische Prinzip unterläuft, ohne jedoch die gesellschaftlichen (Verteilungs)Konsequenzen daraus zu ziehen, haben wir uns als Gesellschaft über Arbeitsplatzsicherung erpressbar gemacht. Diese Erpressbarkeit hat unsere „mentalen Infrastrukturen“ (Harald Welzer) tief durchdrungen. Aber ist wirklich „der Markt“ schuld? Verdient die Marktwirtschaft als solche diese Schuldzuweisung? Wie also könnte stattdessen eine echte Marktwirtschaft aussehen? Ich halte nach wie vor das Leistungsprinzip „Wer mehr leistet, soll auch mehr Wohlstand haben“ für einen der wichtigsten und besten ökonomischen Grundsätze. Doch wo liegen seine Grenzen, und warum? Kein gesellschaftliches Prinzip lässt sich widerspruchsfrei in die Extreme denken, denn Gesellschaft und gutes Leben lassen sich nicht mit einem einzigen Prinzip begründen. Das Leistungsprinzip ist vor allem die normative Grundlage von Eigentum. Entsprechende Gedanken findet man bereits bei Aristoteles, später bei John Locke (Arbeitstheorie des Eigentums), Jean-Jacques Rousseau, David Hume, Adam Smith, Karl Marx und anderen. Die Gedanken sind letztlich ähnlich: Eigentum basiert auf Arbeit. Es stellt sicher, dass wer sät, auch ernten kann. Eigentum stellt Verantwortung sicher und wirkt der Vernachlässigung entgegen. Allerdings hatten die genannten Autoren durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die Grenzen des Eigentums. Eigentum findet meines Erachtens seine Grenze nach oben dort, wo es nicht mehr auf Leistung beruht, und nach unten, wo die Leistung nicht ausreicht, um ein Leben in Würde zu führen. Ungeachtet seiner Leistungsfähigkeit hat jeder Mensch ein Recht auf Würde, und das bedeutet ein materielles Minimum. Die fehlende Grenze nach oben ist sicherlich das schwerste Versäumnis des Kapitalismus, denn für eine Obergrenze gibt es gute Gründe.
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Zum einen gibt es allen voran zwei Gütergruppen, deren Wert überwiegend nicht auf individueller (privater) Leistung beruht: Natürliche Rohstoffe sowie Grund und Boden. Regulierungen in diesen Bereichen stellen keine „Eingriffe in den Markt“ dar, sondern sind die Voraussetzung dafür, dass überhaupt so etwas wie ein (leistungsorientiertes) Marktgeschehen stattfinden kann. Zum anderen haben wir oben gesehen, wie unbegrenztes Eigentum eine gesellschaftliche Machtposition definiert, die Markt und Wettbewerb aushebelt. Unbegrenzte und unlegitimierte Macht ist in einer Demokratie, deren wesentliches Prinzip Machtbegrenzung ist, nicht akzeptabel. Schon Walter Eucken wusste: „Es sind also nicht die sogenannten Missbräuche wirtschaftlicher Macht zu bekämpfen, sondern wirtschaftliche Macht selbst.“ (Eucken 1947) Die Begründung ist letztlich einfach: Macht macht unvernünftig. Sie verzerrt die Wahrnehmung zugunsten der eigenen Position und führt zu einem Verlust an Empathie (Robert Trivers). Sie bildet konzentrische Kreise von größeren und kleineren Nutznießern aus, welche die Macht stützen und dafür mit Vorteilen belohnt werden – weit jenseits persönlicher Leistung (Heinrich Popitz). Macht ist das pure Gift für einen Leistungswettbewerb. Demokratie und Marktwirtschaft Demokratie und Marktwirtschaft sind eigentlich das Gleiche. Es sind zwei Seiten einer Medaille. Die eine Seite betrifft die öffentlichen Güter, die andere das Privateigentum. Der Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich beide Konzepte als Teil des gleichen Bemühens sehen: Ein gutes Leben für den Einzelnen und die Gemeinschaft, von welcher der Einzelne ein Teil ist. Zu einem guten Leben gehören Güter, individuelle (mit Geld bewertbare) Güter und öffentliche Güter. Der Markt ist für die Bereitstellung der individuellen Güter zuständig, der Staat – also die Gemeinschaft – für die Bereitstellung der öffentlichen Güter. Das Konzept der politischen Demokratie kennen wir ja nun schon ein bisschen länger. Es gibt derzeit kein besseres Verfahren, im Bereich der öffentlichen Güter die gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess sicherzustellen. Aber Marktwirtschaft (Leistungstausch) ist im Kern auch ein demokratisches Konzept: Es gibt derzeit kein besseres Verfahren, im Bereich der individuellen Güter die gerechte Beteiligung des Einzelnen am Entscheidungsprozess sicherzustellen. Der entscheidende Punkt ist: Während in der Marktwirtschaft keine anderen Organe als die Beteiligten benötigt werden, da sie für sich sprechen und handeln können, müssen wir in der Demokratie dem Staat, also „der juristischen Person Gemeinschaft“, Organe geben, um Handlungsfähigkeit zu erreichen. So kommen wir beispielsweise zur repräsentativen Demokratie mit ihren Institutionen. Das wichtige Prinzip ist dabei die Machtbegrenzung durch die Gewaltenteilung und das System von „Checks and Balances“. Wir teilen die Macht des Staates in verschiedene Bereiche auf. Im Marktindividuum fallen wiederum alle „Repräsentanten“ in ein und derselben Person zusammen: Es gibt keine Repräsentanten, weil außer den
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Individuen niemand weiter betroffen scheint. Diese können sich selbst vertreten, und eine unabhängige Gewaltenteilung in Handeln, Moral und Gewissen ist nicht im Ansatz vorhanden. Das bedeutet: Der Mensch ist im Markt sich selbst und seiner Vernunft oder Unvernunft ausgeliefert. Er kann in der Warenwelt die absolute Macht erringen. Aber Geld ist keine reine Privatangelegenheit: Geld ist Leistungserwartung an die Gemeinschaft. Beim Individuum ist die Gewaltenteilung ganz offensichtlich nicht ansatzweise so gut möglich wie im Gemeinwesen. Wir müssen daher das mit Geld bewertbare Vermögen absolut begrenzen gegenüber der Gemeinschaft. Es gibt keinen Grund für die Unbegrenztheit dieser Leistungserwartung, bei allem Verdienst des Einzelnen. Es ist schlichtweg zu gefährlich, denn es führt in die Diktatur des Mammons, so wie der autoritäre Staat zur Diktatur des Einzelnen führt. Absolute Begrenzung bedeutet: Es gibt eine Obergrenze für privates Vermögen, die zu überschreiten niemand das Recht hat. Es gibt eine Kappung. Die Höhe dieser Obergrenze ist Teil des demokratischen Entscheidungsprozesses. Fazit Damit haben wir die wichtigsten Bedingungen für eine leistungsorientierte Marktwirtschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft definiert: Gesellschaftliche Obergrenzen für Ressourcenverbrauch und Vermögenskonzentration sowie Marktregulierungen in bestimmten Bereichen. Über diese begrenzenden Institutionen könnten Individuum und Gesellschaft wieder in eine „mentale Balance“ gebracht und nachhaltiges Handeln, aber auch Solidarität jenseits des Marktes ermöglicht werden. Dies ist das Modell der Gleichgewichtsökonomie nach dem USÖkonomen Herman Daly. Ein liberales System bedeutet wenige kluge Grenzen. Klug sind Grenzen, wenn sie normativ sparsam sind, auf der obersten Ebene der Verfasstheit angesiedelt sind und den ökonomischen Kern des Problems direkt angehen. Sie ermöglichen Makrostabilität mit Raum für Mikrovariabilität (Daly 1973). Innerhalb solcher Grenzen wären viele Regulierungen einfach überflüssig, weil Exzesse systemisch ausgebremst würden. Lobbyismus würde viel von seiner Wirkmacht verlieren. Preise könnten ohne zentrale Ordnungsmacht die „ökologische Wahrheit“ sagen, und viel mehr Menschen als bisher könnten wieder wirtschaftlich eigenständig tätig werden: regional, landwirtschaftlich, handwerklich, sozial. Der technische Fortschritt müsste sich unter Ressourcenbegrenzung erstmals einer wirklichen Kosten-Nutzen-Rechnung stellen – und würde diese Prüfung in vielen Bereichen nicht bestehen. Geld könnte seine Rolle als genial einfaches Kommunikationsmedium spielen. Der Zins, dessen Selbstverständlichkeit heute die Selbstverständlichkeit der Wachstumserwartung widerspiegelt, würde auf seinen ökonomischen Sinn als Risikoausgleich und Aufwandsentschädigung zurückgeführt. Konkurrenz und Kooperation würden ausgewogen nebeneinander existieren und dafür sorgen, dass sich niemand auf Kosten anderer zurücklehnt.
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Es ist – ganz im Sinne Kant’scher Autonomie – ein Modell der Selbstbegrenzung, mit welchem wir unser Selbstübertölpelungspotential effektiv in den Griff bekommen können. Effizienz und Nachhaltigkeit sind komplementäre Ziele und stellen ein Optimierungsproblem dar: Die Wirtschaft der Moderne ist zu effizient geworden. Erst der Abschied von der „unendlich großen Versuchung“ Ressourcenverbrauch wird Gerechtigkeit möglich machen, denn solange dieses scheinbar unerschöpfliche Angebot unsere schlechtesten und egoistischsten Eigenschaften immer wieder neu beflügelt, werden zentrale Widersprüche menschlicher Existenz kaum überwunden oder gemildert werden können. Andreas Siemoneit wird auf der diesjährigen De-Growth-Konferenz in Leipzig referieren, bei der GEGENBLENDE Medienpartner ist. Literatur/Quellen: Homann, Karl: Anreize und Moral – Gesellschaftstheorie, Ethik, Anwendungen. Hg. von Christoph Lütge. Lit Verlag Münster 2003 Vitali, Stefania; Glattfelder, James B.; Battiston, Stefano: The network of global corporate control. Public Library of Science PLoS ONE October 2011 | Volume 6 | Issue 10 Welzer, Harald: Mentale Infrastrukturen – Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam. Heinrich-Böll-Stiftung: Schriften zur Ökologie, Band 14 Trivers, Robert: Deceit and Self-Deception – Fooling yourself the better to fool others. Penguin Books 2011 Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Acht Abhandlungen. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 2. stark erweiterte Auflage 1992 Bouchaud, Jean-Philippe; Mézard, Marc: Wealth condensation in a simple model of economy. Physica A 282 (2000) 536-545 (Elsevier-Verlag) Daly, Herman E.: The Steady-State Economy: Toward a Political Economy of Biophysical Equilibrium and Moral Growth. In: Daly, Herman E. (Hg.): Toward a steady-state economy. W. H. Freeman and Company, 1973 Autor: Andreas Siemoneit, geboren 1967, Physiker, Wirtschaftsingenieur und Software-Architekt und Geschäftsführer des Fördervereins Wachstumswende
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