Gel(i)ebte Nachbarschaft - 9783863531805

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„Was sie sagt“ Eines Wintermorgens gegen Ende unserer Zeit an der Ministry School saß ich an meinem üblichen Platz auf unserer gelben Couch am Panoramafenster. Unser treuer Hund lag zu meinen Füßen, ich hielt eine Tasse Kaffee in der Hand, hatte meine Bibel und mein Notizbuch bei mir und schrieb: „Ich würde gerne das, was ich hier lerne, mit anderen Menschen teilen.“ Das Notizbuch war bald randvoll mit Ideen, Themen und Versen, die ich gemeinsam mit dem Herrn erforschte ... doch ich hatte keine Ahnung, was ich mit dieser Liste anfangen sollte. Vielleicht, dachte ich, würde ja unsere Hündin einmal ganz heilig werden, denn sie war die Einzige, die diese Offenbarungen jemals zu hören bekam. Oben auf der Seite notierte ich mir die Internet­ adresse einer Frauenkonferenz mit Namen She Speaks (dt.: Was sie sagt)1. Auf der Internetseite hieß es, sie sei „für Frauen mit der Leidenschaft, die Botschaft in die Welt zu tragen, die Gott uns ins Herz gelegt hat“. Ich ging davon aus, dass mit der Welt Menschen und nicht Haustiere gemeint waren, also meldete ich mich an – nur um herauszufinden, dass sie ausgebucht war. Ich war auf Platz 250 der Warteliste für eine Konferenz, an der nur 650 Personen teilnehmen konnten – doch Gott bewegte ein paar Berge und ich konnte teilnehmen. Damals gab es noch keine Navis, also druckte ich mir die Karte bei Google Maps aus und landete prompt

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mitten in einem Maisfeld in North Carolina. Als ich endlich ankam, war ich abgehetzt, schlecht gelaunt und total am Ende. Endlich, nach monatelanger Planung und stundenlanger Autofahrt, nahm ich meinen Platz ein, holte tief Luft, sah mich um ... und brach in Tränen aus. Was tat ich hier? Ich war allein. Ich fühlte mich unterlegen. Ich war unterqualifiziert. Ich war unwürdig. Es war reine Geldverschwendung gewesen hierherzukommen. Das alles ging total über meinen Horizont. Doch auf dieser Konferenz sagte eine Sprecherin einen Begriff, der mein Herz höherschlagen ließ; kaum hatte ich den Begriff „Nachbarschafts-Café“ gehört, wusste ich, was ich mit meiner Liste anstellen würde. Zum ersten Mal konnte ich sehen, wie Gott meine Umkehr, meine Ausbildung, meine Prüfungen und meine Leidenschaft miteinander in Einklang brachte. Ich folgte ihm ernsthaft nach, ich verschlang sein Wort, ich war voller Liebe zu den Menschen, und ich konnte es kaum erwarten, mit jemandem darüber zu sprechen, was er bei mir getan hatte. Als ich von der Konferenz nach Hause zurückkehrte, hatte ich den Plan, meine Nachbarinnen zu Kaffee und Plätzchen einzuladen, um sie anschließend zu einer späteren Bibelstunde einzuladen. Ich würde es den „Rosewood-Bibelkreis“ nennen, denn wir wohnten im Rosewood Drive. Ich schlug mein Notizbuch auf und malte ein kleines Logo, notierte mir, was ich auf die Einladung schreiben würde, und setzte sogar ein Datum fest. Es gab nur ein kleines Problem

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bei meinem Plan, einen Nachbarschaftsbibelkreis ins Leben zu rufen: Ich kannte meine Nachbarinnen gar nicht.

Wollen Sie mein Nächster sein? Mein Mann und ich waren im Zeitraum von zwei Jahren dreimal umgezogen und hatten in der Zeit insgesamt in drei verschiedenen Staaten gelebt. In einem der Viertel, in denen wir gewohnt hatten, lebten schon seit vielen Jahren dieselben Familien – jeder kannte hier jeden und wusste, was jeder so trieb. Man konnte keinen Spaziergang machen, ohne dass sich jemand nach der Mutter oder dem Wasserrohrbruch im Keller erkundigte. An einem Wohnort hörte man eigentlich immer die Geräusche spielender Kinder und das Plaudern von Nachbarn, die sich in der Sackgasse trafen. Man konnte noch nicht einmal ungeschminkt zum Briefkasten gehen, weil man unterwegs garantiert eine freundliche Nachbarin traf, die sich anbot, Lebensmittel mitzubringen, weil sie sowieso einkaufen musste. Eine andere Wohngegend war ganz neu – niemand kannte irgendjemanden, und alle waren damit überfordert, sich an diesem fremden Ort zurechtzufinden. Nach diesen ganzen Umzügen landeten wir schließlich in einem Haus, das weniger als eine Meile von unserem ersten Haus entfernt lag. Unser neues Viertel war ruhig und friedlich ... sogar so ruhig,

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dass man an einem schönen Sonntagnachmittag einen ausgedehnten Spaziergang machen konnte, ohne eine Menschenseele dabei zu treffen. Ich hatte mehr als sieben Jahre lang aus meinem Panoramafenster an der Ecke Rosewood Drive und Longwood Drive geblickt und kannte doch nur eine Handvoll meiner Nachbarn. Ich erkannte ihre Autos und ihre Hunde, aber nicht ihre Gesichter. Ich wusste nicht, worüber sie sich freuten oder was sie bedrückte, ich konnte mir bei niemandem Zucker zum Backen ausleihen und ich hatte niemandem je von Jesus erzählt. Er war in meinem Haus eingesperrt ... und ich war mir nicht sicher, ob ich bereit war, ihn herauszulassen. Das Gebot Christi, meine Nächsten zu lieben, machte mir ein schlechtes Gewissen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele, mit ganzem Verstand!“ Das ist das erste und wichtigste Gebot. Das zweite ist ebenso wichtig: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Matthäus 22,37–39 Diese Aufforderung wird im Neuen Testament auch in den Büchern Markus, Lukas, Römer, Galater und Jakobus bekräftigt – dabei zitieren die Schreiber einen Vers aus dem dritten Buch Mose im Alten Testament.2 An manchen meiner Wohnorte hatte ich meine Nächsten noch nicht einmal gekannt, geschweige denn geliebt.

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