Beverly & David Lewis
Niemals werd ich dich vergessen
Über die Autorin: Beverly Lewis wurde im Amisch-Land in Lancaster/Pennsylvania geboren. Ihre Großmutter wuchs in einer Mennonitengemeinde alter Ordnung auf. Sie hat drei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann David in Colorado.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-86827-595-7 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2014 by Beverly M. Lewis, Inc. Originally published in English under the title:
Child of Mine by Bethany House, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, USA All rights reserved. German edition © 2016 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH 35037 Marburg an der Lahn Deutsch von Tabea Klaus Umschlagbild: © dreamstime.com / Captblack Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH / Christian Heinritz Satz: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH Printed in Czech Republic www.francke-buch.de
Kapitel 1 Nervös saß Kelly Maines auf einer Bank am Rand des Spielplatzes. Die junge Frau, die nur so tat, als sei sie vollkommen in ihr Smartphone vertieft, verbarg ihre Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille. Die vergangene Nacht hatte sie in einem unbequemen Bett in einem heruntergekommenen Hotel verbracht. Am Morgen hatte sie sich für eine blonde Perücke und ein modisches Strick-Umstandskleid entschieden. Bordeauxrot war eigentlich keine Farbe, die Kelly gut stand, aber für den heutigen Tag war Bordeauxrot genau die richtige Wahl. Knapp zehn Meter von ihr entfernt spielte Sydney Moore – übersprudelnd vor Lebensfreude. Die Achtjährige trug rote Haarspangen, die perfekt zu ihrem Top und den teuren Jeans passten. Das kleine Mädchen tobte mit einem Dutzend anderer Kinder begeistert über den Spielplatz – von der Wippe zur Schaukel, dann auf das Klettergerüst und wieder zurück auf die Wippe. Sie ist wunderschön, dachte Kelly, während sie das ausgelassene, braunhaarige Mädchen beobachtete. Von dem Moment an, als Sydney den Park betreten hatte, war Kellys Blick nicht von ihr gewichen. Sie hatte beobachtet, wie die Kleine mit den Füßen trampelte, nachdem sie die Rutsche hinabgezischt war, wie sie übervorsichtig mit nach vorn ausgestreckten Händen herumlief oder wie ein Flummi auf dem weichen, mit Holzschnitzeln bedeckten Boden herumhüpfte, während sie ununterbrochen kicherte und lachte. Ihr braunes Haar glänzte in der Sonne und die ausdrucksvollen braunen Augen in dem sonnengebräunten Gesicht strahlten. Vervollständigt wurde dieser Anblick von unzähligen Sommersprossen, diesen wundervollen Punkten auf Stirn und Wangen. Genau wie ich in dem Alter, dachte Kelly. Dem Wetterbericht zum Trotz war es in Malibu ein herrlicher Frühsommernachmittag geworden. Immer wieder schimmerte die kalifornische Sonne durch zarte Schleierwolken hindurch. Der 5
Spielplatz am Rand der Steilküste, die einen guten Ausblick über den Strand bot, lag nicht weit entfernt von Sydneys Grundschule. Die großen California-Bäume, die den Spielplatz umgaben, wirkten sehr exotisch auf einen Menschen, der sein ganzes Leben in Ohio verbracht hatte, und die salzige Luft fühlte sich frisch an. Die übrige Landschaft hingegen sah eher trocken und langweilig aus, woran auch die einzelnen gelben und blauen Wildblumen in der Nähe des Spielplatzes nichts änderten. Kelly sah auf ihr Handy: 16.20 Uhr. Laut Ernies Bericht folgte Sydneys Mutter einem strengen Plan und erlaubte ihrer Tochter nur selten, länger als dreißig Minuten an einem Ort zu bleiben. Inzwischen waren sie bereits seit zwanzig Minuten auf dem Spielplatz. Kelly wusste, dass die Zeit knapp wurde. Sie versuchte, sich ihren ersten Schritt vorzustellen. Bei dem Gedanken daran, was alles schiefgehen konnte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Seit ihrem letzten Versuch waren gut vier Wochen vergangen, nur ein läppischer Monat, aber die verstrichene Zeit reichte trotzdem, dass Kelly sich eingerostet und unvorbereitet fühlte. Deborah Moore, eine blonde Frau mit rundem Gesicht, wies keinerlei Ähnlichkeit mit Sydney auf. Sie trug Riemchensandalen und ein geblümtes blaues Sommerkleid und saß nur wenige Meter von Kelly entfernt auf einer Parkbank. Auch sie war in ihr Smartphone vertieft. Kelly wusste, dass Deborah – geborene Sills – schon immer zur Oberschicht gehört hatte. Sie hatte Jeffrey Moore geheiratet, einen jungen Mann mit der glänzenden Aussicht, einmal die milliardenschwere Exportfirma seines Vaters zu übernehmen, an der Jeffrey bereits jetzt beteiligt war. Die dreiköpfige Familie beschäftigte rund um die Uhr fünf Personen, um ihr Acht-Millionen-Dollar-Anwesen am Strand von Malibu mit Ausblick auf den Ozean zu unterhalten. Deborah und Sydney verließen nie ohne ihren Bodyguard Bruce Stiles das Haus, einen muskelbepackten Schlägertyp in engen Jeans, lila Seidenshirt und schwarzer Lederjacke. Verborgen hinter seiner dunklen Sonnenbrille saß auch Bruce hier im Park, scheinbar desinteressiert an den Ereignissen um ihn herum. Gleichzeitig hätte er gar nicht auffälliger aussehen können. Aber vielleicht war genau das 6
seine Absicht. Einschüchterung. Wenn ja, dann hatte er auf jeden Fall Erfolg. Unter scheinbarer Anstrengung erhob sich Kelly, den einen Arm stützend unter ihren Bauch geschoben, während sie sich mit dem anderen von der Bank nach oben drückte. Sie wandte sich in Richtung von Deborahs Bank, die im Schatten einer Palme stand, und stützte sich schließlich mit der Hand an der Rückenlehne ab, während sie mit einem übertriebenen Seufzer ausatmete. „Du meine Güte, ist das warm in der Sonne.“ Deborah nahm kaum Notiz von ihr. „Ist das in Ordnung, wenn ich mich kurz hinsetze?“, fragte Kelly, während sie sich neben Deborah auf die Bank sinken ließ. Deborah warf ihr ein höfliches Lächeln zu, während Kelly ihr Gesicht der Sonne entgegenstreckte. Sollte sie noch mehr sagen? Sie spürte bereits die prüfenden Augen von Bruce auf sich gerichtet, der ihr Verhalten analysierte und interpretierte. Einige Minuten verstrichen, bis Deborah ihr einen Blick zuwarf, um gleich darauf noch einen weiteren Blick folgen zu lassen. „Ich liebe diese Farbe.“ Kelly lächelte. Das weiß ich doch. Sie strich über ihr Kleid. „Ich auch.“ „Wann ist Ihr Entbindungstermin?“ „Jeden Augenblick“, sagte Kelly und schnitt eine Grimasse, während sie über ihren runden Bauch strich. Deborah ließ ihr Handy in ihre Tasche gleiten und musterte Kelly voller Interesse. Hab ich dich, dachte Kelly. Sie warf einen flüchtigen Blick in Sydneys Richtung. „War es sehr anstrengend für Sie?“ Deborah zuckte mit den Achseln, offensichtlich nicht bereit zuzugeben, dass sie selbst noch nie ein Kind auf die Welt gebracht hatte. „An einem Tag wie heute“, fügte Kelly hinzu, „vermute ich, es wird mein erstes und mein letztes Mal sein.“ Deborah lächelte. In den nächsten Minuten drehte sich ihre Unterhaltung darum, wie es war, ein Kind großzuziehen. Während der gesamten Zeit gab Kelly vor, nicht zu merken, dass Bruce immer 7
näher und näher rückte. Falls sie ihm nur den Hauch eines Hinweises gab, dass sie wusste, welche Funktion er in Deborahs Leben übernahm, würde sie sich in seinen Augen nur noch verdächtiger machen. Kelly ignorierte das ansteigende Gefühl der Beklemmung, dass sich in ihr ausbreitete, und lenkte Deborah allmählich behutsam in Richtung der sorgfältig vorbereiteten Falle: Kellys vermeintliche frühere Tätigkeit als Assistentin eines Zauberers. So abgedroschen das auch klingen mochte – es funktionierte immer. Vielleicht entsprach Kelly dem Bild, das sich die meisten Menschen von der Mitarbeiterin eines Zauberers machten. Oder sich eine jetzt hochschwangere Frau als knapp bekleidete Assistentin vorzustellen, war einfach zu bizarr, um die Geschichte nicht zu glauben. „Wie war es?“, fragte Deborah, offensichtlich amüsiert. „Um ehrlich zu sein, war ich es leid, immer in zwei Teile gesägt zu werden.“ Deborah lachte. „Am Ende habe ich sogar selbst ein paar Sachen gelernt“, sagte Kelly. „Kartentricks, eine Münze verschwinden lassen – solche Sachen.“ Als Deborahs Augenbrauen sich fragend hoben, begann Kelly damit, ihre Geldbörse zum Schein nach einem Vierteldollar zu durchsuchen. „Warten Sie, ich habe einen“, sagte Deborah, während sie nach ihrer eigenen Tasche griff, ihr Blick voll gespannter Erwartung. Sie nahm einen Vierteldollar heraus und reichte ihn Kelly. Bruces Miene gefror. Mit zusammengepressten Lippen kam er wieder einige Schritte näher. Falls er den Abstand noch weiter verkleinerte, würden sie seinen Atem in ihren Nacken spüren. Kelly konnte den Blick seiner Augen hinter den Brillengläsern spüren und seine Bereitschaft, sich beim geringsten Anzeichen von Gefahr auf sie zu stürzen. Kelly ließ die Münze durch ihre Finger gleiten, vor und zurück, vor und zurück – ein Trick, für den sie sechs Monate gebraucht hatte. Und dann … voilà! Unvermittelt ließ sie die Münze verschwinden. Sie hielt ihre Hände nach oben und drehte sie hin und her, 8
sodass man sowohl die Handfläche als auch den Handrücken sehen konnte. Deborahs Augen weiteten sich. „Nicht schlecht.“ Als Nächstes griff Kelly hinter Deborahs Ohr und holte dort – sehr zum Erstaunen von Deborah – die Münze wieder hervor. Als Kelly den Vierteldollar zurückgeben wollte, lehnte Deborah ab. „Mein kleines Mädchen wäre begeistert von diesem Trick.“ Sie rief nach ihrer Tochter, die im Schatten eines Kletterfelsens flüsternd mit ihren Freunden zusammenstand. „Ich komme, Mom.“ Jetzt war der Augenblick gekommen, in dem Bruce alle Täuschungsmanöver aufgab, direkt neben Deborah trat, sich über die Lehne beugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ohne Zweifel war er äußerst besorgt um diese merkwürdige Frau. Deutlich zeichnete sich sein Bizeps unter der Lederjacke ab. Sogar von ihrem Platz aus konnte Kelly sein aufdringliches Alpha-Männchen-Rasierwasser riechen. Sie sah die leichte Ausbuchtung unter seinem Arm. Offensichtlich hatte Ernie recht mit seiner Bemerkung, dass Bruce das Haus niemals ohne seine Glock verließ. Doch Deborah wischte seine Einwände, scheinbar verärgert, mit einer Handbewegung beiseite. Nur widerstrebend trat Bruce ein paar Schritte zurück, richtete aber nach wie vor seinen eisigen Blick auf Kelly. Deborah verdrehte die Augen und erklärte flüsternd: „Das ist unser Bodyguard Bruce – einfach nur lästig, aber mein Mann besteht darauf.“ Kelly tat, als bemerke sie Bruce zum ersten Mal, und musterte ihn flüchtig von Kopf bis Fuß. „Ich bin mir sicher, Ihr Mann hat gute Gründe dafür“, antwortete sie schließlich leise. „Die Welt ist gefährlich.“ „Sie haben recht“, stimmte Deborah zu. Sydney war in der Zwischenzeit anscheinend abgelenkt worden und konnte sich nicht von ihren Freunden losreißen. „Liebes, komm, wir wollen nach Hause“, rief Deborah. Kelly hielt frustriert den Atem an. Sollte sie etwa so nah herangekommen sein, nur um dann ihre Chance zu verpassen? 9
Nach einem kurzen Wortwechsel kam Sydney schließlich herbeigerannt. „Sorry, Mom! Taylor hat ein riesengroßes Geheimnis!“ Kelly musste bei diesen Worten und bei der Erinnerung an ihre eigene glückliche Kindheit unwillkürlich lächeln. „Du musst dir unbedingt diesen Zaubertrick ansehen“, sagte Deborah und wies mit dem Kopf in Kellys Richtung. „Das ist Mrs …“ Sie hielt inne. „Michaels“, log Kelly und streckte Sydney ihre Hand entgegen. „Schön, Sie kennenzulernen“, erwiderte Sydney mit einem höflichen Lächeln und schüttelte Kellys Hand. Sie setzte sich zwischen Kelly und ihre Mutter und lehnte ihre Wange an Deborahs Schulter, den Blick erwartungsvoll auf Kelly gerichtet. Mit leiser, sanfter Stimme führte Kelly ihr Kunststück vor und bewegte die Münze zwischen den Fingern. Mit weit aufgerissenen Augen rückte Sydney zentimeterweise in ihre Richtung. Als der Vierteldollar schließlich verschwand, nur um kurz darauf hinter dem Ohr ihrer Mutter wieder aufzutauchen, brach Sydney in lautes Lachen aus und klatschte begeistert in die Hände. „Noch mal!“ Noch mal – dieser universelle Refrain aller Kinder. Und wie süß Sydney war! Kelly wiederholte den Trick und das kleine Mädchen klatschte noch lauter. Als der Vierteldollar wieder verschwand, griff Sydney nach Kellys Händen und drehte sie aufgeregt hin und her. „Wo ist er hin?“ Die unerwartete Berührung durchfuhr Kelly wie ein Stromstoß. Voll Besorgnis, ihre Reaktion könne sie verraten, zwang sie sich mit aller Kraft, Ruhe in ihre Stimme und Bewegungen zu legen. Sie atmete tief ein und aus. Als sie die Münze hinter Sydneys Ohr hervorholte, kicherte das Mädchen entzückt. „Möchtest du noch einen anderen Trick sehen?“, fragte Kelly und suchte Deborahs Blick. Diese nickte zustimmend. Bruce, offensichtlich verärgert, trat unruhig von einem Bein auf das andere. Jetzt begann Kelly mit dem allerwichtigsten Trick, dem alles entscheidenden Streich, dem „Wie platziere ich ein Wattestäbchen im Inneren des Mundes“-Trick. Dabei sah das, was sie Sydney in den Mund stecken wollte, nicht aus wie ein Wattestäbchen, sondern ähnelte vielmehr einem roten Lolli. Kelly holte ihn aus ihrer Tasche 10
und entfernte die Plastikhülle. Und noch bevor Bruce irgendetwas einwenden konnte – obwohl er protestierend die Hand hob –, bot sie den Lutscher Sydney an, die ihn sofort in den Mund steckte. Zu spät, dachte Kelly. Der frühe Vogel fängt den Wurm, Bruce. Dann bat Kelly die Kleine, den Lutscher aus dem Mund zu nehmen, strich mit ihrer Hand in der Luft darüber und „Simsalabim!“ – plötzlich war der Lolli blau. Sydney und Deborah stießen begeisterte Ohs und Ahs aus. Kelly gab Sydney den Lutscher zurück, die ihn sofort wieder in den Mund steckte. Der Trick war vollkommen reibungslos über die Bühne gegangen. Natürlich war es nicht derselbe Lolli. Kelly hatte den roten schnell beiseitegeschafft. „Stell dir vor, wir wären heute nicht in den Park gekommen“, murmelte Deborah. „Ja, ich weiß!“, rief Sydney und griff erneut nach Kellys Arm. Ihr zarter Kinderduft rührte Kellys Herz. „Zeig uns noch einen Trick!“ Wie gerne wäre sie länger geblieben! Kelly hätte noch Stunden dort verbringen können, aber sie wollte ihr Glück nicht überstrapazieren – vor allem nicht mit Bruce in der Nähe, der sie weiterhin mit Argusaugen betrachtete. Also täuschte sie ein krampfhaftes Ziehen in ihrem „schwangeren“ Bauch vor, sodass Deborah sofort voller Besorgnis meinte: „Sie sollten längst zu Hause sein und sich ausruhen.“ Kelly erwiderte, sie sei so aufgeregt über ihre Schwangerschaft und voll Vorfreude darauf, Mutter zu werden, dass sie manchmal Stunden damit verbrächte, andere Kinder zu beobachten. „Oh, Sie werden schon noch auf Ihre Kosten kommen, glauben Sie mir.“ Deborah lachte und wuschelte Sydney durchs Haar. Nach einigen weiteren Nettigkeiten verabschiedeten sie sich schließlich voneinander. Bruce schien etwas entspannter zu atmen. „Vielleicht treffen wir uns ja mal wieder“, sagte Deborah und winkte, während sie Sydney folgte, die davonhüpfte. Kelly winkte zurück. „Ganz bestimmt!“ Sie riskierte ein Kopfnicken zu Bruce hinüber, der nach wie vor misstrauisch aussah. Ich werde wiederkommen, dachte sie. Und ihr werdet nicht glücklich darüber sein. Kelly schob sich scheinbar schwerfällig in ihr Auto und sank auf 11
den Vordersitz. Sie schloss die Augen. Noch immer sah sie Sydneys kleines Gesicht deutlich vor sich. Endlich, dachte Kelly und schob die Erinnerung an acht Jahre voller Sackgassen und Dutzende von Lutscher-Kunststückchen beiseite, denen ebenso viele negative Laborergebnisse gefolgt waren. Kelly startete den Mietwagen und fuhr los, während sie sich nach Kräften bemühte, Bruces anhaltenden, prüfenden Blick ebenso zu ignorieren wie ihren eigenen unvernünftigen Wunsch, ihm ein strahlendes „Hab ich dich!“-Grinsen zum Abschied zuzuwerfen. Er ahnt etwas, dachte sie. Später wird er sich die Haare raufen vor Wut. Anstatt auf der Autobahn in Richtung Osten zurück zu ihrem billigen Hotel zu fahren, steuerte Kelly den Wagen auf direktem Weg zur nächsten Post. An der ersten Ampel entfernte sie das unbequeme Schwangerschaftspolster und warf es auf den Rücksitz. Als Kelly auf dem Parkplatz der Post ankam, stellte sie den Motor aus und holte den roten Lutscher aus ihrer Tasche. Sie legte ihn in einen vorbereiteten Behälter und packte alles zusammen in einen Labor-Versandumschlag, dann betrat sie das Gebäude. Ein junger Mann mit blauen Strähnchen in seinem blonden Haar nahm ihr das Päckchen ab, versah es mit dem entsprechenden Klebeetikett und legte es für den Versand an das Labor in Akron, Ohio, beiseite. Dann druckte er ihre Quittung aus und deutete auf eine Zahlenfolge auf dem Zettel. „Das ist Ihre Vorgangsnummer, mit der Sie die Sendung verfolgen können.“ Meine Nachverfolgungs-Nummer, dachte Kelly, die angesichts der Ironie unwillkürlich grinsen musste. Der Angestellte registrierte ihre Erheiterung und schenkte ihr ein freundliches Lächeln. Auf dem Rückweg ins Hotel kämpfte Kelly die aufsteigenden Tränen nieder. „Auftrag erfüllt“, sagte sie zu sich selbst. Trotz des einlullenden Geräuschs der Wellen schlief sie unruhig.
WW Am nächsten Morgen checkte Kelly aus dem Hotel aus und fuhr den kurzen Weg zum Flughafen von Los Angeles. Hier nahm sie 12
den Vormittagsflug nach Atlanta, von dort einen weiteren nach Akron in Ohio. Im Flugzeug saß sie neben einer weißhaarigen Frau in einem hübschen schwarz-weiß gepunkteten Kleid, die sich ihr als „Doris aus Minnesota“ vorstellte und aus ihrem Portemonnaie ein Bündel Fotos hervorholte. Sie zeigte Kelly die Aufnahmen aller fünf Enkelkinder – wie es das Schicksal so wollte, alle braunhaarig. „Sie erinnern mich an meine Tochter“, sagte Doris. „Sie ist so dünn, genau wie Sie. Wirklich, viel zu dünn.“ Kelly lächelte. In den folgenden dreißig Minuten ließ sie das anhaltende, freundliche Kleinstadtgeplauder der Dame über sich ergehen, während sie an dem üblichen Bordessen herumknabberte – ein paar Brezeln, die Kelly mit etwas Orangensaft herunterspülte. „Möchten Sie meine Brezeln auch noch haben?“, fragte Doris. „Ich habe noch weitere kleine Snacks in meiner Tasche. Wenn Sie möchten …?“ Kelly bedankte sich höflich, doch sie war froh, als die gesprächige Dame schließlich einschlummerte. Als in ihrer Erinnerung Bilder von der süßen kleinen Sydney aufstiegen, schloss auch Kelly ihre Augen. Während sie immer tiefer in ihre Traumbilder versank, betete sie im Stillen, voll Dankbarkeit, dass alles so gut gelaufen war. Die Luft aus der Düse über ihrem Sitz wehte angenehm kühl über ihr Gesicht, während die Landschaft 10.000 Meter unter ihr unbemerkt vorüberzog. Könnte sie es am Ende wirklich sein?, dachte Kelly noch, bevor sie endgültig einschlief.
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Kapitel 2 Was macht sie denn nur so lang?, wunderte sich Jack Livingston. Es war schon nach 21 Uhr. Vor mehr als einer Viertelstunde hatte er Nattie nach oben geschickt, um sich bettfertig zu machen. Normalerweise wäre sie bereits nach wenigen Minuten die Treppe heruntergehüpft gekommen, nur um noch einen Moment länger der drohenden „Schlafenszeit-Falle“ zu entgehen. Jack warf seine Flugpläne auf den Wohnzimmertisch und seufzte. Er ließ sich in die Sofakissen zurücksinken und schloss die Augen, während er sich auf das Geräusch des sanft plätschernden Regens konzentrierte, der seine Arbeitssorgen wegzuwaschen schien. Draußen auf der Straße nahm er das gedämpfte Geräusch eines Autos wahr, das sich langsam entfernte, und aus der Küche war das leise Brummen des Kühlschranks zu hören. Früher hatte sich Nattie mit einem Buch beschäftigt, während Jack die Pläne studierte, mit deren Hilfe er ihr nächstes großes Abenteuer austüftelte – dieses Mal war ihr Ziel die Küste von Maine. Eines Tages würde er gerne mit ihr über die Rocky Mountains fliegen. Bei ihrem letzten gemeinsamen Flug hatte er Nattie sogar das Funkgerät bedienen lassen, was bei den anderen Piloten, die dieselbe Frequenz benutzten, ein leises Glucksen hervorgerufen hatte. „Du hältst deinen Onkel immer auf Kurs, was, Kleine?!“ „Ich versuche es!“, hatte Nattie zurückgefunkt, während sie zu Jack hinübersah und kicherte. Gerade wollte Jack nachsehen, wo Nattie blieb, als sein Handy klingelte. Er erhob sich vom Sofa und griff nach dem Gerät am anderen Ende des Tisches. Es war seine Schwester, genannt San, die eigentlich Sandra hieß – wobei sie ihrem Bruder einen bösen Blick zugeworfen hätte, wenn er sie jemals so genannt hätte. „Bruderherz, du wirst es nicht glauben.“ Von dort, wo er stand, konnte Jack Natties geschlossene Zimmertür sehen. „Eine Sekunde.“ Er legte seine Hand über das Handy. 14
„Nattie?“ Er wartete einen Moment und hörte dann die gedämpfte Antwort: „Alles okay, mir geht’s gut.“ In der Zwischenzeit hatte San begonnen, die Details ihres furchtbaren Tages zu schildern. Während sie redete, trat Jack an das große Fenster und betrachtete die schwere Wolkendecke, die den Himmel verdunkelte. Die Sterne und der Mond waren nicht zu sehen. Wieder eine stürmische Nacht in Wooster, Ohio. Quer über den Garten hinweg konnte er seine Nachbarin Diane Farley sehen. Diane stand in der Küche neben ihrem Mann Craig, mit dem sie erst seit Kurzem verheiratet war, und wusch Geschirr ab. An Tagen wie heute, an denen Laura einige Stunden eher aufbrechen musste, passte Diane für Jack auf Nattie auf. Jack beobachtete, wie Diane ihre kurzen rotblonden Haare schüttelte und lachend etwas zu ihrem Mann sagte. In diesem Moment entdeckten seine Nachbarn ihn und winkten ihm zu. „Na, sind wir ein bisschen abgelenkt?“, fragte Sans Stimme etwas vorwurfsvoll aus dem Hörer. „Ich habe nur meinen Nachbarn gewinkt“, erwiderte Jack. „Wo du sie schon erwähnst – wie geht es den beiden?“ „Fantastisch“, erwiderte er und ignorierte wohlweislich die in ihrem Tonfall mitschwingende Andeutung: „Du hast dich ja nicht für sie interessiert, nicht wahr?“ Um ihm weiteren Kummer zu ersparen, wandte sich San einem anderen Thema zu und fragte nach Nattie. Jack ging bereitwillig auf die Frage seiner Schwester ein, auch wenn sich seit ihrem letzten Telefonat nicht viele Neuigkeiten ergeben hatten. San schwieg einen Moment. „Morgen ist das Treffen in der Schule, oder?“ „Das letzte in diesem Jahr“, bestätigte Jack und ging in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und blickte hinein. Der Duft der Reste von Laura Masts amischem Festessen – Hühnchen mit Knoblauch – stieg ihm in die Nase. Jack lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen, aber er schloss die Tür wieder. „Was denkt Laura darüber?“ Jack war überrascht, dass seine Schwester sich für die Meinung seines Kindermädchens interessierte. „Sie denkt, Nattie wird aus der Sache rauswachsen.“ 15
„Das hat Laura gesagt?“ „Nicht mit so vielen Worten.“ San hielt einen Moment inne. „Okay, Themenwechsel, Jack. Heute hat mich jemand nach dir gefragt. Anita Goodrich. Du und Nattie, ihr habt sie im letzten Sommer bei dem Picknick von meinem Büro kennengelernt. Erinnerst du dich?“ Schwach, dachte Jack. „Sie ist hübsch. Und lustig. Und sie liebt Kinder. Nattie fand sie sehr nett und ist die ganze Zeit nicht von ihrer Seite gewichen.“ Jack nickte, als ob San ihn sehen könnte, und bemerkte im selben Moment, dass Laura vergessen hatte, den Geschirrspüler anzustellen. „Ich bin mir sicher, dass Anita sehr nett ist“, erwiderte Jack zerstreut. Mit der freien Hand öffnete er die Tür des Geschirrspülers, um festzustellen, dass der Spülmaschinentab bereits eingefüllt war und das Gerät nur darauf wartete, angeschaltet zu werden. Das ist merkwürdig. Jack schaltete den Geschirrspüler aus, wartete einen Moment und stellte das Gerät mit den entsprechenden Knöpfen wieder an. Dieses Mal schloss er energisch die Tür. Mit einem sanften Brummen begann die Maschine zu arbeiten, gefolgt von dem Geräusch leise plätschernden Wassers. Gib mir ja nicht den Geist auf, dachte Jack. Im vergangenen Herbst hatte er erst den Ofen ersetzt und vor zwei Monaten war das Getriebe seines Pick-ups kaputtgegangen. „Wieso fragst du sie nicht nach einem Date?“, fragte San. Jack hörte plötzlich das Anklopf-Geräusch eines weiteren wartenden Anrufers in der Leitung, wodurch die Worte seiner Schwester unterbrochen wurden. Jack schaute auf das Display. Es war Laura. Ist sie nicht gerade erst gegangen? Also musste es etwas Wichtiges sein, weshalb sie anrief, aber San schwärmte an seinem Ohr weiter von Anita. Bevor Jack sich entschuldigen und das Gespräch mit seiner Schwester beenden konnte, hörte er bereits das abschließende Piepen in der Leitung. Ich werde sie zurückrufen, entschied er. „Wenn du willst, kann ich dir Anitas Telefonnummer geben“, drängte ihn seine Schwester. Jack schaltete das Licht in der Küche aus, ging wieder hinüber 16
ins Wohnzimmer und schaltete auch dort das Licht aus. In der jetzt herrschenden Dunkelheit klang der beständige Regen plötzlich unheilvoll. „Glaubst du nicht, es wäre langsam an der Zeit, dass du dich wieder verabredest“, mahnte San, „bevor du ganz offiziell ein alter Mann bist?“ Er lachte in sich hinein, dann warf er einen kurzen Blick auf den Lichtstreifen, der unter Natties Tür hindurchschimmerte. „Ich schaue mal lieber nach, was Nattie macht. Hab dich lieb, Schwesterchen.“ „Pass auf dich auf, Bruderherz“, sagte San, offensichtlich etwas beleidigt wegen der unvermittelten Beendigung des Telefonats. „Und ruf mich nach dem Treffen in der Schule an, okay?“ Nachdem Jack ihr das versprochen hatte, legte er auf, aber anstatt sofort die Stufen hinaufzueilen, kehrte er zum Kühlschrank zurück und seufzte tief bei dem Gedanken an Sans Bemühungen, ihn zu verkuppeln. Während er sich ein Glas Orangensaft einschenkte, kehrten seine Gedanken zu Nattie zurück, doch Jack widerstand dem Impuls, seine Tochter noch mehr zu kontrollieren, als er es sowieso schon tat. In seinem Kopf hörte er den fortwährenden Refrain seiner Schwester: „Gib dem Mädchen doch ein bisschen Raum zum Atmen, Jack!“ An der Kühlschranktür entdeckte er Natties neuste, mit rotem Filzstift geschriebene Liste mit ihren Lieblingsgerichten: Meine TOP-FÜNF-Sommeressen 1. Pop-Tarts – (der absolute Renner ) 2. Irgendetwas Amisches, aber nur, wenn Laura es gekocht hat, sonst mag ich es nicht so sehr 3. Eiscreme, besonders Cookies & Cream 4. Spaghetti (hab ich das richtig geschrieben?) 5. Grüne Bohnen – haha (Du weißt, dass das ein Scherz war, oder?) Bei Nummer zwei musste Jack unwillkürlich lächeln. Sicher waren amische Gerichte nicht wirklich Natties zweitliebstes Essen, vor allem nicht, wenn Eiscreme nur auf Platz drei lag. Lauras Kochkünste an Platz zwei zu setzen und das Ergebnis offen an die Kühlschrank17
tür zu hängen, war Natties Weg, um Laura „Ich hab dich lieb“ zu sagen. Jack warf einen weiteren Blick auf Natties geschlossene Zimmertür. Entspann dich, ermahnte er sich selbst, während er seine Schritte in Richtung der Treppe lenkte. Ihr geht es gut. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Jack war sich darüber im Klaren, dass es Miss Natalie Livingston – besser bekannt als Nattie – schon seit sehr langer Zeit nicht wirklich gut ging.
WW Kurz nach halb zehn in derselben Nacht versuchte Kelly Maines, ihren launischen, nicht ganz unkomplizierten fünfzehn Jahre alten Toyota Corolla in Gang zu bekommen, und war sehr überrascht, als er tatsächlich ansprang. Vorsichtig lenkte sie das Auto aus dem Carport, begleitet von einem Motorengeräusch, das wie eine tickende Zeitbombe klang. Sie schaltete den Scheibenwischer an und machte sich auf den Weg zu dem 24-Stunden-Supermarkt, in dem sie arbeitete. Das kleine, einfache Apartment, das sie gemietet hatte, lag ungefähr 15 km entfernt in der Stadt. Joe Callen, der Geschäftsführer des Ladens, erlaubte Kelly großzügiger Weise, ihre Stunden frei einzuteilen. Manchmal arbeitete sie weniger als zehn Stunden in der Woche – je nachdem, wie die Umstände waren, ob sie sich gerade in der Stadt befand oder unterwegs und deshalb zu beschäftigt war, um Geld zu verdienen. Es war eine Situation, die im Lauf der Jahre immer schwieriger wurde. Ohne ihre Freunde Chet und Eloise wäre sie schon vor Jahren pleite gewesen. Kelly benötigte sehr wenig für ihren alltäglichen Lebensunterhalt, nur gerade das Nötigste, um die Miete zu zahlen und den Kühlschrank mit einem Minimum an Lebensmitteln zu füllen. Doch ein Großteil ihres Einkommens wurde von vielen Rechnungen verschlungen: Flugtickets, Hotelkosten und natürlich die Kosten für Ernies Nachforschungen, die zwar hochverdient waren, aber eben doch sehr teuer. Kelly erreichte ihren Arbeitsplatz zehn Minuten zu früh. Sie trug bereits ihre Arbeitskleidung und versuchte in der verbleibenden 18
Zeit, sich auf die vor ihr liegende Schicht vorzubereiten, die ihr jetzt immer gewaltiger und einschüchternder erschien. Die Arbeit selbst war nicht schwer; es war aber fast unmöglich, danach Schlaf zu finden. Während Kelly in ihrem Auto auf dem Parkplatz an der schwach beleuchteten Seite des Gebäudes wartete, der für die Angestellten reserviert war, lauschte sie einem lokalen christlichen Radiosender. Ihr stieg der Duft des verbrannten Hickoryholzes vom Steak House gegenüber in die Nase, als sie bei dem lauten, metallischen Scheppern des Müllcontainers hinter ihrem Auto unwillkürlich zusammenzuckte. Sie fuhr herum und blickte in das Gesicht ihres Kollegen Len, der ihr mit einem breiten Grinsen zuwinkte und wieder durch die Hintertür des Hauses verschwand. In dem Versuch, ihre Nerven zu beruhigen, klopfte Kelly mit ihren Fingern auf das Lenkrad und richtete ihre Gedanken auf die noch ausstehenden Testergebnisse von ihrem Ausflug nach Kalifornien. Sie durfte nicht zu große Erwartungen haben und musste die Ruhe bewahren, aber es war fast unmöglich, nicht mit dem Gedanken Was wäre, wenn …? zu spielen. Mit zitternden Fingern schloss Kelly ihr Smartphone an den Adapter für ihr billiges Autoradio an, um ihrer eigenen Musikmischung zu lauschen. Bei den Klängen eines alten Anbetungsliedes begann sie unwillkürlich zu summen, während sie ihr Portemonnaie öffnete und auf Emilys Babyfoto starrte, das vor beinahe neun Jahren aufgenommen worden war. Die Musik führte Kelly zurück in das hübsche rosa-weiße Kinderzimmer, wo sie ihr neugeborenes Baby in den frühen Morgenstunden beruhigt hatte. Sie hatte sich langsam zum Rhythmus der Musik bewegt, während sie ihrem Kind leise, zärtliche Worte über die Liebe Jesu zuflüsterte, die er ihnen beiden schenkte. Wie sehr hatte sie liebevoll von einer wunderbaren Zukunft als Mutter und Tochter geträumt, einer Zukunft, die so strahlend und greifbar vor ihr gelegen hatte! Fünf Minuten vor Beginn ihrer Schicht schaltete Kelly die Musik aus und sprach ein leises Gebet. Es war ihr unmöglich, nicht an ihren Besuch in Malibu zu denken, an die Begegnung mit der wundervollen Sydney, ihrer neusten Kandidatin. 19
Sie beendete ihr Gebet, öffnete die Autotür und wandte sich in Richtung des Geschäfts, um ihre Nachtschicht zu beginnen. Sanft fiel feiner Regen auf ihr Gesicht, aber Kelly hielt dennoch lang genug inne, um einen Blick auf die Leuchtreklame des Ladens auf dem Dach zu werfen, die sich grellrot von dem dunklen Nachthimmel abhob wie eine deutliche Erinnerung daran, was aus ihrem Leben geworden war. Es wird nicht immer so bleiben, versprach sie sich selbst und flüsterte die Worte, die sie seit mehr als acht Jahren betete: „Bitte pass auf sie auf.“
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