Das Medaillon – 9783775161541

Page 1

Das Medaillon

Medaillon

AusdemamerikanischenEnglisch vonRenateHübsch

AusdemamerikanischenEnglisch vonRenateHübsch

CATHYGOHLKE
CATHY GOHLKE
Das

SCMHänssleristeinImprintderSCMVerlagsgruppe,diezurStiftungChristliche Mediengehört,einergemeinnützigenStiftung,diesichfürdieFörderungund VerbreitungchristlicherBücher,Zeitschriften,FilmeundMusikeinsetzt.

DasvorliegendeBuchisteinhistorischerRoman,dernatürlichauchvoreiner gewissenhistorischenKulissespielt.DieauftretendenPersonenentstammenjedoch derFantasiederAutorinundjedwedeÄhnlichkeitmitlebendenoderverstorbenen Personenistreinzufälligundnichtbeabsichtigt.

©derdeutschenAusgabe2022

SCMHänsslerinderSCMVerlagsgruppeGmbH

Max-Eyth-Straße41·71088Holzgerlingen

Internet:www.scm-haenssler.de;E-Mail:info@scm-haenssler.de

OriginallypublishedinEnglishintheU.S.A.underthetitle:

TheMedallion byCathyGohlke

Copyright©2019byCathyGohlke

GermaneditionbySCMVerlagsgruppeGmbHwithpermissionofTyndaleHouse Publishers,adivisionofTyndaleHouseMinistries.Allrightsreserved.

DieBibelversesind,wennnichtandersangegeben,folgenderAusgabeentnommen: Lutherbibel,revidiert2017©2016DeutscheBibelgesellschaft,Stuttgart.

Übersetzung:RenateHübsch

Lektorat:HeideMüller

Umschlaggestaltung:SybilleKoschera,Stuttgart

Titelbild:FotoMädchen:©RebeccaNelson/ArcangelImages;FotoMedaillon:by ThomKing,©TyndaleHousePublishers,Inc.;IllustrationDavidstern:bycorpis delictifromtheNounProject;allrightsreserved.

IllustrationAbsatzzeichen:unbekannt

Autorenfoto:©SCMVerlagsgruppeGmbH/TyndaleHousePublishers,Inc.

Satz:Satz&MedienWieser,Aachen

DruckundBindung:GGPMediaGmbH,Pößneck

GedrucktinDeutschland

ISBN978-3-7751-6154-1

Bestell-Nr.396.154

Bestell-Nr.956.096.154

Kapiteleins

Warschau,Polen

September1939

DerKronleuchterderBibliothekskuppelstürztevonderDecke undzerbarstineineMillionKristallsplitter,alseraufdenBoden fiel – denBoden,derdreiTagezuvoraufHochglanzpoliertwordenwar.SophieKumiegatauchteunterdenLesetisch,alsdie Bombeeinschlug,undschützte,sogutsiekonnte,ihrenStapel ErstausgabenunddasBabyinihremBauch.EinezweiteBombe erschüttertedasMauerwerkundzertrümmertedasbodentiefe Fenster,trotzdervielenschraffiertaufgebrachtenKlebestreifen. MarmorbüstengingeninStücke.GroßePutzbrockenkrachten aufdenBoden.AusdenRegalenschlugenbeißendeFlammen.

»Raus!AllesofortdasGebäudeverlassen!«,riefStefanGadomski,derleitendeBibliothekar.

»BringenwirzuerstdieseBücherinSicherheit«,widersprach seinAssistentundschobeinenWagenmithalsbrecherischerGeschwindigkeitzumanderenEndedesRaumes.

»Wennwirsiewoanderslagern,fälltdortwahrscheinlichdie nächsteBombe!«,brüllteHerrGadomski.

»DannbringenwirsieindenKeller«,riefseinAssistent.

Sophiekonntenichtmehr.Siehattehartgearbeitet,umihre StelleinderWarschauerBibliothekzubekommen – einGlücksfallfüreineEngländerinundeinnochgrößererGlücksfallfür eineFrau.AbersiewolltefürihrBabynichtsriskieren – das Baby,fürdassieundJanekgebetet,gespartundaufdassieseit ihrerHochzeitTagfürTagzugelebthatten.Geradejetztbefand sichJanekinseinempolnischenKampfflugzeugmittenimBombenhagelineinemKatz-und-Maus-SpielmitderLuftwaffe.Das Mindeste,wassietunkonnte,war,ihrungeborenesKindzuretten.

13

SieließdieErstausgabenindiedafürvorgeseheneKistefallen undhatteesfastbiszurTürgeschafft,alsderBibliotheksassistent ihrhinterherdonnerte:»FrauKumiega,kommenSiezurück! WennwirunsereBibliothekverlieren,verlierenwiralles!«Aber Sophiedrehtesichnichtum,ausAngst,siekönnteihrZielaufgeben,soabsurdesauchwäre,nureinenAugenblickzuzögern. SiehattesichimmerderAutoritätgebeugt,aberdamitwarnun Schluss.ZweiKinderwareninzweiJahreninihremLeibgestorben.DiesesKindmussteleben.

EinenMomentlangverharrteSophieimSchattenderBibliothekstür,unsicher,wohinsiesichwenden,inwelcheRichtungsie fliehensollte.MitjedemTagverwandeltensichweitereTeile WarschausineinKriegsgebiet.UnerbittlichfielenBombenauf neueZieleoderzerstörtenbereitsgetroffenevollends.TieffliegendeHeinkelsbombardiertenMänner,Frauen,Kinder;ohne Gnade,ohneUnterschied.

SchließlichhasteteSophiezwischendenGebäudenhindurch, verbargsich,wannimmeresging,unterVordächernundMarkisenundverstecktesichsogutundsolangewiemöglichunter Treppenabsätzen.Obsiewohlsicherwar,wennsienichtgesehenwerdenkonnte?Waskönnteschlimmersein?Untereinem vertrautenDacherdrücktoderaufderStraßevondeutschen Fliegernabgeschossenzuwerden?HäuserblockfürHäuserblock kämpftesiesichmalschleichend,malrennenddurchdiein TrümmernliegendeStadt,betetefürdieSicherheitihresMannes, betetefürihrBabyundbetete,dassihrWohnhausnichtzerstört wordenwar.SiehattegeradeihreStraßeerreichtundihreWohnungimnächstenWohnblockschonerblickt,alseinscharfes Pfeifenvonhochobenkam.PlötzlichStille,dannzuckteeingleißendhellerBlitzausweißemLichtundFeuerundrisseinen bodenlosenAbgrundvorihrauf.

14
»Sophia!LiebesMädchen,dumusstaufwachen.Bitte,bitte,wach auf.«

Janek,liebsterJanek. DurchdendichtenNebelunddasständigeDröhneninihrenOhrenhörteSophieihnkaum.Sieversuchte,dieAugenzuöffnen,aberihreLiderwarenzuschwer.

»Siekommtzusich.«EineandereStimme – sicherFrauLisowski,ihreNachbarinvonderanderenSeitedesFlurs.

»GottseiDank!Wirdachtenschon,wirhättendichverloren. Ichdachte …«

DurchzusammengekniffeneAugenversuchteSophie,etwas zusehen,dasGesichtihresManneszuerkennen,abereswar nichtda.

»Dulebst.Dasistalles,waszählt.«EswarihrNachbarund väterlicherFreund,deralteHerrBukowski.

IhrHerzstolperte.»Janek?Bluteichetwa?Bluteich?«Vor Schreckfuhrsiehoch.

»Nein,nein,meineLiebe,legdichwiederhin – nurander StirnundandenKnien.«

»IchgeheundholeVerbände.Siedürfennichtaufstehen,noch nicht.«DaswarwiederFrauLisowski.

»DeinJanekistnochinderLuftundkämpftfüruns.«Siehörte denStolzinHerrnBukowskisStimme.

SophiestrichsichdieHaareausderStirn;alssiedieFinger zurückzog,warensieklebrigundrot.»EineExplosion.IcherinneremichaneineExplosion.«

»DieganzeStraßeliegtinTrümmern.«

»UndunsereWohnung?«

»DieFassadeisteingestürzt.Allesistoffen – wiebeieiner Puppenstube«,schilderteFrauLisowski.

Sophieversuchtesichdaranzuerinnern,obsieandiesem Morgenabgespülthatte.WasFrauLisowskiwohlvonihrdenken würde,wennalleWeltdasschmutzigeGeschirraufihremTisch sehenkönnte?

»Bleibhier,bleibruhig«,wiesHerrBukowskisiean.»IchwerdeHilfeholenundretten,wasichkann.Dannkommeichwieder.«

»Gehnichtweg.Verlassmichnicht,Janek.«InGedankengriff sienachseinemMantel,aberihreArmegehorchtenihrnicht.

15

»DeinJanekwirdzurücksein,eheduesdichversiehst.Ichbin baldwiederda.Ehrenwort.«

»BringenSiemir …«

»Ja,ichbringe,wasichkann.Wasimmernochdaist,übergebe ichdirpersönlich.«

AlsSophiedieAugenöffnete,lagsieaufeinerPritscheineinem Raum,indemesnachRauchundverbranntemMetall,verkohltemPapierundHolzundangesengtemHaarroch.Daseinzige LichtkamvoneinerabgeschirmtenLaterneaufeinemkleinen TischinderMittedesRaums.Ascheklebteihrzwischenden Zähnen,aufderZungeundverfilztedieHaare,dieihrinsGesicht fielen.DasGrollenvonExplosionenhörtesienurabgedämpft, alskommeesvonweiterweg.EinedunkleGestaltkauerteauf einemStuhlnebenihrerPritsche.Siewarzuschmächtig,zuzusammengesunken,zurund,umJanekzusein.

»HerrBukowski?«,flüstertesie.

DieGestaltregtesichundrichtetesichauf,dassSophiedie Nackenwirbelknackenhörte.»Ah,dubistwach,SophiaKumiega.«

»HerrGadomski?«MitihremChefausderBüchereihattesie nichtgerechnet,aberderMannwarjaauchderPatenonkelihres Janek.

»Ja,ichbines.Schön,dichimLandderLebendigenzusehen. DuhastdreiTagelanggeschlafen.«

»WasmachenSiehier?Wobinich?«

»DubistineinemLagerraumimKellerderBibliothek – der sichersteOrt,denichimMomentfindenkonnte.Obwohlwir hierwahrscheinlichunteralldemWissenderJahrhundertebegrabenwerden,wenndieBombardierunganhält.Aberdasist immernochbesseralsunterdenTrümmerndesFleischmarktes. Glaubeichzumindest.«

»Aber,HerrBukowski – ichkannmichnurnocherinnern, dassHerrBukowski …«

16

»ImRadiohabensiewasvoneinhundertTotengesagt.Du wirstdieStadtnichtwiedererkennen.DerZooisteinTrümmerhaufen.Zebras,Löwen,Tiger,Wallabys – allewildenTiereAfrikas,Australiens,derganzenWeltsollenentkommensein.Für FußgängereinAlbtraum,fürJägereinFest.«

»Was?SiehabendenZoobombardiert?«Dasergabkeinen Sinn.

HerrGadomskizucktemitdenSchultern,alsoberihreGedankenlesenkönnte.»Dasistsosinnlos!JanmussesdasHerz gebrochenhaben – derZooistseinLebenswerk – undwiemuss eserstAntoniagehen!«

»IchkennedenZoodirektorundseineFrau.Janekundich gehensogern …«AbersiehatteschonseitBeginnderBombardierungnichtsmehrvonJanekgehört.IhreAugenmusstenihr Flehengezeigthaben.

»Wirhabennurgehört,dasssiekämpfen,zurückgerufenwerden,sichneuformierenundtun,wassiekönnen.Janekistein guterMann,einhervorragenderPilot.Daraufmusstduvertrauen,meineLiebe.«

Sophieschluckte,ihreKehlewarwiezugeschnürt.Siewusste, dassHerrGadomskisichauchumihnsorgte.Erliebteihren JanekfastwieeinenSohn.Siewollteihmvertrauen.

»BürgermeisterStarzyńskiappelliertandieWarschauer, Schützengräbenauszuheben – überallhängenSchilder,dieuns auffordern,unszubewaffnen,dieWeichselzuüberquerenund eineVerteidigungsliniezubilden.SchaufelnundSchützengräben gegendeutschePanzer«,schimpfteer.»Trotzdemmussichgehenundmithelfen.«

»Hier?Jetzt?«

»Nochnicht,abersiekommen,rollenlangsamquerdurch Polenan,undvorihnenströmenHunderte – Tausende – von FlüchtlingenindieStadt.Ironischerweiseglaubensie,unter deutschenBombernseiensiesichereralsaufdemLande.Obwohl esinweitenTeilenWarschausnichteinmalmehrfließendes Wassergibt,vielerortsauchkeinenStrom.«Erschüttelteden Kopf.»AllesversinktimChaos,abernochistnichtallesver-

17

loren …,nicht,solangeWładysławSzpilmannochChopinfür RadioPolenspielt.«

»UndHerrBukowski?«

HerrGadomskiwandtedenBlickab.»FrankreichundEnglandhabenDeutschlanddenKriegerklärt.ZwischenExplosionenunddenTrümmerneingestürzterGebäudejubelnunsere BürgeraufdenStraßen – siehabensogardenfranzösischenMilitärattachévorderBotschaftindieLuftgeworfenunddabeidie Marseillaise gesungen.Weißtdu,wieschlechtdiePolenauf Französischsingen?GottimHimmelseiDank,jetztsindwir wenigstensnichtmehrallein.AberwirmüssenGeduldhaben. DerSiegkommtnichtüberNacht.«

»HerrGadomski – woistHerrBukowski?«

EinlangerMomentdesSchweigens.»ErhatseinenSohngebeten,dichindieBibliothekzubringen,alsduohnmächtiggewordenwarst.Erdachtewohl,dukönntestdortzwischenden RegalenZufluchtfinden.AnscheinendgibteseuerWohnhaus nichtmehr.Estutmirleid.«

»Janek …«JedesBild,jedesBuch,jedeErinnerunganJanek undihrgemeinsamesLebenwarindieserWohnung.

»DeinFreundhatdasfürdichgeschickt.DarinisteinFotovon Janek.«HerrGadomskizeigteaufzweiTaschen.»Nachdemer dichzurückgeschickthatte,retteteeralles,waserkonnte,füralle aufeuremStockwerk,bevor …«

»Bevorwas?«

HerrGadomskibefeuchteteseineLippenundzögerteerneut.

»WoistHerrBukowski?«,beharrteSophie.DasHerzschlug ihrbiszumHals.

»Estutmirleid,dirsagenzumüssen,dassdeinFreundgetroffenwurde,voneinemFlugzeugbeschossen,alserzumletzten MaldieWohnungverließ.SeinSohnwarbeiihmundfingihn auf,alserfiel.SeinVaterhabenichtlangeleidenmüssen,sagter. ErhatdieseSachengesternfürdichmitgebracht.«

»Nein … nein!«SophiebliebbeinahedasHerzstehen.Daswar nichtmöglich!HerrBukowski,ihrFreund,ihreinzigerwirklicherFreundnebenJanek,seitsienachPolengekommenwar.

18

»Ersagt,dieletztenWorteseinesVatershättendirgegolten: ›SagSophia,siesollkämpfenunddenGlaubenbewahren.‹ Und irgendwasmit: ›DenkandasSchilfmeer.‹« DasSchilfmeer … wieAdonaieinenWegbahnenwird,wokein Wegist … Daranhatteersieimmererinnert,wennsieversucht warzuverzweifeln.

DieAnspannungunddieSorge,dieAngst,dieSophieverdrängthatte,seitJanekindenKampfgezogenwar,seitdieersten BombenaufdasfassungsloseWarschaugefallenwaren,zerrissen ihrschierdasHerz.DasSchluchzenkamerstinkeuchenden Atemzügen,danninüberwältigendenWogen,dietiefausihrem Innerenhervorbrachen,wiesieesnurvomVerlustihrerBabys kannte – einelementares,nacktesWehklagen.

HerrGadomskiverließstilldenRaum,währendderSturm tobte.

AlsSophiewiederaufwachte,branntedieLaternenochimmer undwarfbizarreSchattenandieWand.AufdemBodenneben ihrerPritschelageneinkleinerLaibBrotundetwasKäse,danebenstandeinBecherWasser.DerGeruchvonversengtenKleidernundHaarenhingimmernochinderLuft,abernunwares merkwürdigstill.SophiehörtenurihreneigenenAtem … langsam,fließend.

Unddannerinnertesiesich.HerrBukowski.StummeTränen tratenihrindieAugen,rannenüberihreverrußtenWangenund tropftenihrenHalshinunter.Siewischtesiewegundsetztesich auf.DasSchluckenschmerzte.Warergetroffenworden,alser ihreSchätzerettete?KeinBesitzderWeltwardaswert.

SophiehättewederTagnochUhrzeitsagenkönnen.SiemusstesichineinemInnenraumbefinden – esgabkeineFenster.Kein Wunder,dassdasBombardementweitweggeklungenhatte.Jetzt hörtesiekeineBombenmehr.Wasimmerdasauchbedeuten mochte,eswareineErleichterung.

EinkrampfartigesZieheninihremLeibließsiewacherwer-

19

den.SiestrichüberihrengerundetenBauchundatmeteerleichtertauf.

Siemussteaufstehen,mussteaufdieToilette,mussteetwas essen.AberalssiedieDeckezurückschob,warihrePritschevollerBlut.

20

Vilnius,Litauen

»Bistduverrückt?Sagihr,dasssieverrücktist.Sagesihr,Itzhak! DeineFrauistverrückt.«

»Mama,sieistnichtverrückt,sietrauert.IhrVaterwurdegetötetundsiewillzuihrerMutter.Istdassoschwerzubegreifen? IchbineinMann,undsogarichverstehees.«Itzhakstopftesein bestesHemdindenKofferundschlugdenDeckelzu.

»EsistpurerLeichtsinn,sichinsoeinerZeitnachWarschau aufzumachen.Sieistaufgewühlt,deineRosa,labil.Sieist …«

»SieistmeineFrau,Mama,undichwäredirdankbar,wenndu nichtschlechtvonihrsprechenwürdest.«Itzhakkonnteden Krieg,derzwischendenbeidenFrauentobte,nichtverstehen. BotenHitlerundseineVerbündetenseinerMutternichtgenug GrundzurSorge?WarummussteinseinemHausZwietracht herrschen?

»Aberjetztzureisen – dasist meschugge!Esistzugefährlich. ÜberallDeutsche!Bleibthier,bleibtinVilniusbiszumFrühjahr, dannkönntihrweitersehen.Vielleichtistesbisdahinvorbei.«

»BiszumFrühjahrwirdesnichtvorbeisein,undwiekönntees inWarschauschlimmerseinalshier?ErstdieDeutschen,jetzt dieRussenwenigeralseinenTagentfernt – wirwerdenwieder besetztwerden,undwennduglaubst,dassdieRussenkommen, umunszuretten,dannbistdu me…«Erhieltinne,bevorerdas Undenkbareaussprach.»WirsindJuden,woimmerwirhingehen.«

»SchonjetztsinddieStraßenblockiert;eswimmeltnursovon Soldaten.InWarschauwirdesnochschlimmersein,ichhab’sdir gesagt!«

»Vielleicht«,seufzteItzhak.»VielleichtgehtmorgendieWelt unter,abervorhermussRosazuihrerMutter.Siehatihren Pape verloren.Ichhätteschonfrühermitihraufbrechensollen.Und

Kapitelzwei
21

mehrwillichnichthören.Siemöchtereisen,undichwerdesie hinbringen.BeiTagesanbruchmachenwirunsaufdenWeg.«

»Estutmirleid,Itzhak«,flüsterteRosa,alserindieserNachtdie Armeumsielegte.DurchdasoffeneFensterfieldasMondlicht aufihreArme,SchulternundWangen.»Estutmirleid,dassich dichdeinerFamiliewegnehmenmuss,aberichkannnichtbleiben,jetztwoMatkaganzalleinist.«

»Rosa,hörauf,dichzuentschuldigen.Esgibtnichtszubedauern,außerdasswirnichtfrüheraufgebrochensind,dassichdich nichtrechtzeitigzudeinemPapagebrachthabe,bevor … bevor dasallespassiertist.IchhättenieaufMamahörendürfen.Du bistmeineFamilie.WirsindunsereFamilie.«

»Wirkonntennichtfrüherreisen.Ichwar … wirdachten …« Abersiekonntenichtweiterreden.

ErdrücktesieanseineBrustundküssteihrHaar.

»DeineMuttergibtmirdieSchuld.SiegibtmirdieSchuld, weilichdirkeinenSohngeborenhabe.«

»SiewilleinenEnkel,derdenFamiliennamenweiterführt,der soaussiehtwieichundmitdemsieerhobenenHauptesvorPoniaDziedzicdastehenkann,diefünfEnkelhat.Siewirdallebeschuldigen,bissiebekommt,wassiewill.Esistnichtdeine Schuld.Dingepassierenoderpassierennicht.Wirwissennicht, warum.Wirmüssenesauchnichtwissen.Wirdürfenunsnur nichtunterkriegenlassen.«

»ObwirwohljemalseinerichtigeFamilieseinwerden?«Zwei TränenliefenihrüberdieWangen – Tränen,dieihrzuvertraut undzuständigenBegleiterngewordenwaren.

Itzhakwischtesieweg,strichihreineHaarsträhneausden AugenundzeichnetediefeineKettevonihremsanftgeschwungenenHalsbiszuihrerBrustnach.Behutsambetasteteerdas filigraneMedaillon,daserihranihremHochzeitstagangelegt hatte – dasSymboldesLebens,wieesinEdenseinsollte,der GanzheitundderewigenHeimat,derBeziehungzuAdonai.

22

»Wirwerdendassein,wozuAdonaiunsbestimmthat,alldas, wozuerunsbestimmthat.«SeineLippenfandenihreunder küsstesietiefundinnig.»DubistdaseinzigeZuhause,dasich jemalsbrauchenwerde,meineRosa.«

DiezerbombtenStraßenWarschauswarenmitFlüchtlingen überschwemmt – soviele,dassItzhakbefürchtete,seinezarte, zierlicheRosakönntevondenHandkarrenunddenPferdewagen,dievomLandherbeiströmten,zertrampeltwerden.Erzog sieaufdenBordstein,kurzbevorihreineZiegeindieSeitestieß, diejemandaneinemStrickführte.

»Womeintderdenn,inderStadteineZiegeunterbringenzu können?«RosaschütteltedenKopf.»DievielenMenschen – wo sollensiebleiben?Werkannsieaufnehmen?«ItzhakbeantworteteihreFragennicht.Selbstjetzt,nachTagen,andenensiesich versteckt,undNächten,indenensiesichdurchzerbombteStädte,überFelderunddurchWäldergekämpfthatten,schienseine RosadasAusmaßderdeutschenInvasionnichtzubegreifen. Werwussteschon,wasdieRussenausdemOstenmitbrachten? ÜberallranntendieMenschenumihrLebenundnahmenalles mit,wasirgendwievonWertwar – umdavonzulebenodereszu verkaufen,umalldaszuüberleben,waskommenwürde.»Esist nichtmehrweit … nurdieseStraßehinunterundandernächstenKreuzungrechts,glaubeich.«

»DuhasteingutesGedächtnis,Itzhak.Oh,ichbete,dassunser Hausnochsteht.EswäreschrecklichfürMatka,Tataundihr HausimselbenMonatzuverlieren.«

DieswarauchItzhaksGebet.Ja,eswäreschlimmfürihre Mutter,dasHauszuverlieren,abereswäreaucheinharter SchlagfürRosa.Undwowürdensiedannbleiben?Wiewürden sieihreMutterfinden?ErhattewenigHoffnung.EineStraße nachderanderenhatteunterdemBlitzkriegderDeutschengelitten.Unddoch,inderMitteeineszerstörtenHäuserblocks standenhierunddaein,zwei,manchmaldreiHäuser,diebis

23

aufeinpaarzerbrocheneFensterscheibennahezuunversehrtgebliebenwaren.

»Da!«,riefRosaunddeuteteaufeinGebäude.»Daistes!Oh, ichdankedir,Adonai,dassduunserHausverschonthast!«

ItzhakbrauchteRosanichtmehrmitzuziehen.InihremEifer, dieTürschwelleihrerMutterzuerreichen,zerrtesieihnvorwärts.Sieschiennichtzubemerken,dassderVorgartenmitUnkrautüberwuchertwar,aberItzhakentgingesnicht.

»Matka!Matka!Ichbines,deineRosa!IchkommenachHause!Komm,machunsauf!«Rosahämmerteandieverschlossene Tür,abereskamniemand.»SiehatnochniedieTürabgeschlossen – nochnie.«

NiemalsindeinerErinnerung,meineLiebste.»Ichseheander Hintertürnach.WartehiermitunseremKoff

vonderVortreppeundverschwandumdieEckedesmassiven Steinhauses,bevorRosaetwaseinwendenkonnte.Erhatteseine SchwiegermutternureinpaarMalgesehen,bevorerundRosa geheiratethatten.IhrenVaterkannteerbesser,dennerhattebei demälterenManneineWohnunggemietet,währenderinWarschauseineAusbildungzumElektrikerabsolvierte.MaryaChlebekwareinegroßzügigeundanspruchsvolleFrau,eineliebevolle undanhänglicheMutter,fürstarkaberhieltersienicht.SeitFrau Dobonowicz,eineNachbarin,Rosageschriebenhatte,dassihr VaterindenerstenTagenderBombardierunggetötetworden war,hatteItzhakumdieMutterseinerFraugefürchtet,seine ÄngsteRosagegenüberaberliebernichtgeäußert.

DieHintertür,diezurKücheführte,warverschlossen,innen warendieVorhängezugezogen.ObwohldieDämmerungbereits hereingebrochenwar,schienkeinLicht.Itzhakgriff unterdie staubigeMatte,dannunterdieGeranieineinemTopfmitRiss, diejetzttrockenundverdorrtnebenderTürstand.Seineeigene MutterhatteanähnlichenStellenSchlüsselversteckt.Nichts.Er fuhrmitausgestrecktenFingernüberdenTürsturzundertastete schließlicheinenverrostetenGeneralschlüssel.Wielangemochte erdortwohlschonliegen?VielleichtseitderZeit,alsRosasVater dasHausgebautundseineFrauüberdieSchwellegetragenhatte.

er.«Itzhaksprang
24

ItzhakholtetiefLuftundschlossdieTürauf.DieKüchewar dunkelundkühl,abersauber.Immer,wennerzuBesuchgekommenwar,hatteesnachHühnersuppe,warmemSchwarzbrotmit Powidła śliwkowe – polnischerPflaumenbutter – undsogarnach Zimtkugelngeduftet,sosüß,dassihmalsLitauerjedesMaldas WasserimMundzusammengelaufenwar.WasItzhaknunam meistenauffiel,wardiesesNichts,unddasbeunruhigteihnam meisten.

»Matka!Matka?Bistduda?Wirsindes,ItzhakundRosa,wir kommenzudirnachHause!«,riefer,währendervonZimmerzu Zimmereilte.ErwürdeRosanichtlangeaufderTürschwelle wartenlassen,aberersteinmalmussteerGewissheithaben.Er wollteseineRosavorbereitenundsichumsiekümmernkönnen, wasauchimmersievorfindenwürden.

DasErdgeschosswarleer.ErwaraufderTreppeindenersten Stock,alsRosaerneutandieTürklopfte.»Matka!Bitte!Mach dochauf!«,riefsie,denTränennahe.

ItzhaknahmzweiStufenaufeinmal,schlossdieHaustürauf undzogRosainseineArme.

»Woistsie?Warumhatsienichtgeantwortet?«Erhörtedie PanikinderStimmeseinerFrau.

»Vielleichtistsieeinkaufengegangen.Vielleichtbesuchtsie eineNachbarinoder …«Erhieltinne,weilernichtsagenwollte, dasGrabdeinesTata.

»Ja,duhastrecht.Daskannsein.«Mitbetontlangsamen AtemzügenversuchtesiesichoffenbarzurRuhezuzwingen.Sie wandsichausseinenArmen,tratindieStubeundsahsichmit prüfendemBlickum.»Alleswieimmer.Genausowieimmer.« DieErleichterunginRosasStimmeberuhigteItzhaksHerz.

SiefuhrmitdenFingernüberdengroßenovalenTischinder MittedesRaumes – dasFamilienerbstück.Hierhattensieihre Hochzeitstorteangeschnitten,dieihreMuttergebackenund kunstvollverzierthatte.DochRosasGesichtverzogsich,alssie ihreFingeransahundsieItzhakfastanklagendentgegenhielt. »Staub.MeineMatkawürdeniemalszulassen,dasssichStaub absetzt.«

25

Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.