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Ein Freund meint es gut, selbst wenn er dich verletzt; ein Feind aber schmeichelt dir mit übertrieben vielen Küssen. Sprüche 27,6

Ich werde dir immer verzeihen Joni Eareckson Tada

Aus: Tell Me The Promises Lisa saß auf dem Fußboden in ihrem alten Zimmer und starrte auf die Schachtel, die vor ihr stand. Es war ein alter Schuhkarton, den sie schon vor vielen Jahren mit hübschem Papier beklebt hatte, um ihn als Schachtel für Andenken zu benutzen. Der Deckel und die Seiten waren mit Stickern und gemalten Blumen beklebt. Die Kanten waren schon abgenutzt, und die Ecken des Deckels immer wieder geklebt worden, damit er überhaupt noch zusammen hielt. Es war jetzt schon drei Jahre her, dass Lisa die Schachtel zum letzten Mal geöffnet hatte. Ein plötzlicher, überstürzter Umzug nach Boston hatte sie daran gehindert, sie einzupacken. Aber jetzt, wo sie wieder zu Hause war, nahm sie sich Zeit, ihre Andenken und Erinnerungsstücke noch einmal anzuschauen. Die Ecken der Schachtel befühlend stellte sich Lisa den Inhalt des Kartons vor. Da war ein Foto von einem Familienausflug zum Grand Canyon, ein Zettel von einer Freundin, auf dem stand, dass Nick Bicotti Lisa gern hätte, sowie eine Indianerpfeilspitze, die sie auf der Abschlussfahrt in der Oberstufe gefunden hatte. Nach und nach erinnerte sie sich an jeden einzelnen Gegenstand in der Schachtel und blieb in Gedanken ein Weilchen bei den Lieblingsstücken, bis sie zu der letzten und einzigen schmerzlichen Erinnerung kam. Sie wusste, wie der Gegenstand aussah – es war ein Blatt Papier, auf dem Linien gezogen worden waren, so dass Karos entstanden – 490 solcher Karos, um genau zu sein. Jedes Karo war mit einem Kreuz versehen. „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?“, hatte der Jünger Petrus Jesus gefragt. „Sieben Mal?“ Lisas Sonntagsschulleiterin hatte die verblüffende Antwort von Jesus auf diese Frage vorgelesen: „Siebzig mal sieben Mal.“ Lisa hatte sich daraufhin zu ihrem Bruder Brent hinüber gelehnt, während die Leiterin weiter las, und ihn flüsternd gefragt: „Wie oft ist das?“ Obwohl Brent zwei Jahre jünger war als sie, wusste er viel mehr. „Vierhundertneunzig“ hatte Brent damals auf eine Seite seines Arbeitsblattes geschrieben. Lisa hatte die Zahl gesehen und genickt. Während der Unterricht weiter ging, beobachtete sie ihren Bruder. Er war ziemlich klein für sein Alter, hatte schmale Schultern und kurze Arme. Seine Brille war zu groß für sein Gesicht, und sein Haar stand wegen der vielen Wirbel strubbelig vom Kopf ab. Er war hart an der Grenze zum typischen Streber, aber durch sein unglaubliches Können in allen möglichen Bereichen, besonders auf musikalischem Gebiet, war er trotzdem beliebt bei seinen Klassenkameraden. Mit vier Jahren hatte Brent Klavierspielen gelernt, mit sieben Klarinette und seit kurzem hatte lernte er Oboe. Seine Musiklehrer sagten ihm eine große Zukunft als Musiker voraus. Es gab nur eine Sache, die Lisa besser konnte als Brent – Basketballspielen. Sie spielten fast jeden nachmittag nach der Schule. Brent hätte sich auch weigern können, aber er wusste, dass dieses Spiel Lisas einzige Freude im täglichen Kampf um Dreier und Vierer in der Schule war. Lisa merkte erst wieder, dass sie ja in der Sonntagsschule war, als die Lehrerin die Stunde mit einem Gebet abschloss. An diesem Sonntag spielten die Geschwister nachmittags auf der Hauseinfahrt Basketball. Brent versuchte, Lisa wegzudrücken, während sie auf den Korb zudribbelte. Er hatte versucht, den Ball wegzuschlagen und war dabei mit dem Gesicht in die Nähe ihres Ellenbogens geraten, so dass er einen harten Stoß ins Gesicht abbekommen hatte. „Aua!“, rief er laut und drehte sich weg. Lisa erkannte ihre Chance, rannte zum Korb und versenkte den Ball mühelos. Sie strahlte über ihren Erfolg, hielt aber inne, als sie ihren Bruder sah. „Alles in Ordnung?“, fragte sie. Aber Brent zuckte nur die Schultern.


„Tut mir leid. Verzeih mir“, sagte Lisa. „Das war wirklich ein leichter Schuss.“ „Ist schon in Ordnung und vergeben“, sagte er, und dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Allerdings bleiben jetzt nur noch 489 Mal übrig.“ „Was soll´n das heißen?“, fragte Lisa. „Du weißt doch noch, was wir heute in der Sonntagsschule gelernt haben, oder? Man soll 490 Mal vergeben. Ich habe dir gerade vergeben, bleiben also nur noch 489 Mal übrig,“ scherzte er. Beide lachten über den Gedanken, genau Buch zu führen über die einzelnen Male, die Lisa Brent etwas angetan hatte. Sie waren beide sicher, dass sie die 490 Mal schon lange ausgeschöpft hatte. Es fing an zu regnen, sodass sie ihr Spiel abbrechen und ins Haus gehen mussten. „Wollen wir Schiffe versenken spielen?“, fragte Lisa den Bruder. Brent erklärte sich einverstanden, und schon bald lagen sie auf dem Wohnzimmerboden, jeder das Spielblatt vor sich. Abwechselnd nannten sie eine Zahlen- und Buchstabenkombination, immer in der Hoffnung, einen Treffer zu landen. Lisa merkte im Laufe des Spieles, dass sie unter Druck geriet, denn Brent hatte erst eins von fünf Schiffen verloren, während sie nur noch zwei übrig hatte. Weil sie unbedingt gewinnen wollte, spähte sie ganz vorsichtig und unauffällig über den Sichtschutz, den Brent um sein Blatt errichtet hatte. Mit einem Blick entdeckte sie, wo Brent zwei seiner Schiffe platziert hatte, und konnte deshalb schnell den Ausgleich erzielen. Hoch zufrieden, spähte Lisa ein weiteres Mal nach der Position der letzten beiden Schiffe, aber diesmal ertappte Brent sie auf frischer Tat. „Hey, du betrügst ja!“, sagte er und starrte sie ungläubig an. Lisa wurde rot, und ihre Lippen begannen zu zittern. „Es tut mir Leid“, sagte sie betreten, den Blick auf den Teppichboden geheftet. Was sollte Brent sagen. Er wusste, dass Lisa manchmal so war. Sie tat ihm Leid, weil es nur so wenige Dinge gab, die sie wirklich gut konnte. Es war zwar nicht richtig, dass sie schummelte, aber er wusste, dass die Versuchung für sie groß war. „Also gut, ich vergebe dir“, sagte Brent, und fügte dann leise lachend noch hinzu. „Aber damit sind jetzt leider nur noch 488 Mal übrig.“ „Ja, das stimmt wohl“, entgegnete sie und fügte dann mit einem fast scheuen Lächeln noch hinzu: „Schön, dass du mein Bruder bist, Brent.“ Dass Brent bereit war, ihr immer wieder zu vergeben, rührte Lisa, und sie wollte ihm irgendwie zeigen, wie dankbar sie ihm dafür war. Deshalb hatte sie an diesem Abend die Tabelle mit den 490 Kästchen gezeichnet und sie ihm vorm Zubettgehen gezeigt. „So können wir Buch führen über jedes Mal, wenn ich Mist gebaut habe und du mir vergeben hast“, sagte sie. „Guck mal, ich streiche jedes Mal so mit einem Kreuz das Kästchen ab.“ Dabei machte sie ein Kreuzchen in die beiden ersten Kästchen ganz links oben in der ersten Reihe. „Diese beiden sind für heute.“ Brent hob protestierend die Hand. „Du brauchst doch nicht ...“ „Doch, das will ich aber!“, unterbrach Lisa ihn. „Du vergibst mir andauernd, und ich möchte dabei einfach nur auf den Laufenden bleiben. Lass mich doch!“ Sie ging wieder auf ihr Zimmer und heftete die Tabelle an ihre Pinwand. Es gab in den darauffolgenden Jahren genügend Gelegenheiten, Kästchen abzustreichen. Einmal hatte sie in der Schule herumerzählt, Brent hätte im Schlaf geredet und laut Rhonda Hills Namen gerufen, obwohl das gar nicht stimmte. Dieser üble Scherz hatte Brent tagelange Hänseleien seiner Mitschüler eingebracht, unter denen er sehr gelitten hatte. Als ihr klar wurde, wie grausam sie gewesen war, hatte Lisa sich ernsthaft bei ihrem Bruder entschuldigt. An dem Abend hatte sie Kästchen Nummer 98 abgestrichen. Vergebung Nummer 211 wurde in der zehnten Klasse gewährt, als Lisa vergessen hatte, Brents Englischbuch mit nach Hause zu bringen. Er hatte nicht zur Schule gehen können, weil er krank war, und sie deshalb gebeten, das Buch mitzubringen, damit er für einen Test lernen konnte. Sie hatte es vergessen, mit der Folge, dass er nur ein Vier bekam. Nr. 393 war für einen verlorenen Schlüssel ... 418 dafür, dass sie beim Waschen sein Lieblings T-Shirt verfärbt hatte ... 449 für die Beule, die sie in sein Auto gefahren hatte, als sie es sich einmal ausgeliehen hatte.


Im Rahmen einer kleinen Zeremonie hatte Lisa Kästchen Nr. 490 abgestrichen. Sie hatte das Kreuz mit einem Goldstift gemacht, dann die Tabelle von Brent unterzeichnen lassen und sie in ihre Andenkenschachtel gelegt. „Das wärs dann wohl“, sagte Lisa. „Jetzt kann ich mir keine Fehler und Pannen mehr erlauben!“ Brent lachte nur. „Stimmt genau!“ Nummer 491 war auch eine von Lisas Unachtsamkeiten, aber der Schmerz darüber sollte ihr ganzes Leben lang anhalten. Brent hatte die Vorhersagen seiner Musiklehrer bestätigt. Es gab nur wenige Musiker, die so gut Oboe spielen konnten wie er, und deshalb bekam er in seinem letzten Studienjahr an einer der besten Musikhochschulen des Landes die Chance seines Lebens – nämlich beim großen Orchester von New York City vorzuspielen. Das Vorspiel sollte irgendwann im Laufe der folgenden zwei Wochen stattfinden und stellte für Brent die Erfüllung aller seiner Träume dar. Doch er bekam nie die Chance. Brent war nämlich nicht zu Hause, als der Anruf wegen des Vorspieltermins kam. Lisa war allein zu Hause, allerdings in Eile und schon auf dem Weg zur Haustür, weil sie an diesem Morgen spät dran war und sich beeilen musste, um noch pünktlich zur Arbeit zu kommen. „14.30 am Zehnten“, hatte die Sekretärin am Telefon gesagt. Lisa hatte keinen Stift zur Hand, aber sie sagte sich, das würde sie sich auch so merken können. „Alles klar, vielen Dank“, sagte sie und war sich ganz sicher, es nicht zu vergessen. Sie irrte sich. Eine Woche später beim Abendessen erinnerte sie sich wieder und erkannte, was sie angerichtet hatte. „Also Brent, wann ist denn nun dein Vorspiel?“, fragte die Mutter. „Das weiß ich noch nicht. Sie haben gesagt, wie würden anrufen.“ Bei diesen Worten erstarrte Lisa förmlich. „Oh neeeiiin!“, platzte sie heraus. „Welches Datum haben wir heute? Schnell!“ „Heute ist der zwölfte“, antwortete ihr Vater. „Wieso?“ Ein furchtbarer Schmerz schoss Lisa durchs Herz. Sie senkte den Kopf und brachi n Tränen aus. „Was ist denn los, Lisa?“,fragte ihre Mutter. Schluchzend erklärte Lisa, was passiert war. „Es war vor zwei Tagen ... das Vorspielen ... 14.30 Uhr ... der Anruf .... kam letzte Woche.“ Brent lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und glaubte Lisa kein Wort. „Ist das wieder einer von deinen Scherzen, Schwesterherz?“, fragte er, obwohl er merkte, dass ihr Kummer echt war. Sie schüttelte den Kopf, immer noch unfähig, ihm ins Gesicht zu sehen. „Dann habe ich es also wirklich verpasst?“ Sie nickte. Brent stürmte wortlos aus der Küche. Er kam auch für den Rest des Abends nicht aus seinem Zimmer heraus. Lisa unternahm einen Anlauf, an seine Zimmertür zu klopfen, aber sie schaffte es einfach nicht, ihm gegenüberzutreten. So ging sie auf ihr Zimmer, wo sie nur noch weinen konnte. Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie hatte Brents Leben ruiniert, und das würde er ihr niemals vergeben können. Sie hatte ihrer Familie gegenüber versagt, und ihr blieb nichts anderes übrig, als einfach zu verschwinden. Lisa packte noch in derselben Nacht das Notwendigste in ihren Kombi und hinterließ ihrer Familie eine Nachricht, dass sie schon zurecht kommen würde. Sie fing auch noch einen Brief an Brent an, aber das, was sie schrieb, klang in ihren eigenen Ohren nur hohl. Worte konnten ohnehin nichts mehr ändern, dachte sie bei sich. Zwei Tage später hatte sie einen Job als Kellnerin in Boston und fand auch schnell eine Wohnung ganz in der Nähe des Restaurants. Ihre Eltern versuchten häufig, mit ihr Kontakt aufzunehmen, aber Lisa ignorierte ihre Briefe. „Es ist zu spät“, schrieb sie ihnen ein einziges Mal. „Ich habe Brents Leben zerstört. Ich komme nicht zurück.“ Lisa glaubte nicht, ihr Zuhause jemals wiederzusehen. Eines Tages entdeckte sie jedoch in dem Restaurant, in dem sie arbeitete, ein bekanntes Gesicht: „Lisa!“, sagte Mrs. Nelson, als sie von ihrem Teller aufblickte. „Das ist ja eine Überraschung.“


Die Frau war eine Freundin von Lisas Familie. „Es hat mir so Leid getan, als ich das mit deinem Bruder erfahren habe“, sagte Mrs. Nelson leise. „So ein schrecklicher Unfall. Nur tröstlich, dass er wenigstens nicht leiden musste.“ Lisa konnte die Frau nur völlig schockiert anstarren. „W-was?“, stammelte sie schließlich. Das war doch nicht möglich! Ihr Bruder? Tot? Die Frau merkte rasch, dass Lisa nichts von dem Unfall wusste. Sie erzählte der jungen Frau deshalb, wie es dazu gekommen war, dass er sofort ins Krankenhaus gekommen sei und die Ärzte dort ihr Möglichstes für Brent getan hätten. Man habe ihn aber trotzdem nicht retten können. Am Nachmittag desselben Tages kehrte Lisa nach Hause zurück. Und jetzt saß sie in ihrem Zimmer und dachte über ihren Bruder nach, während sie die Schachtel auf dem Schoß hatte. Traurig nahm sie den Deckel von der Schachtel und warf einen Blick hinein. Es war alles so, wie sie es in Erinnerung hatte, außer einem Gegenstand – Brents Tabelle. Sie war nicht mehr da. An ihrer Stelle lag ganz unten in der Schachtel ein Briefumschlag. Ihre Hände zitterten, als sie den Umschlag aufriss und einen Brief herauszog. Auf der ersten Seite stand:

Liebe Lisa, du warst es, die weiter gezählt hat, nicht ich. Aber wenn du so stur bist, weiter zu zählen, verwende bitte die neue Tabelle, die ich für dich gemacht habe. In Liebe

Brent Lisa schaute sich jetzt die zweite Seite an, auf der eine Tabelle war, die genau so aussah wie die, die sie als Kind gezeichnet hatte, nur dass jetzt die Linien fein säuberlich mit dem Lineal gezogen waren. Und im Unterschied zu der Tabelle, die sie aufbewahrt hatte, gab es nur ein einziges Kreuzchen ganz oben links in dem Kästchen. Mit rotem Filzstift waren über die gesamte Seite die Worte geschrieben:

Nummer 491. Für immer vergeben

Da fragte Petrus: „Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er Unrecht tut? Ist siebenmal denn nicht genug?“ „Nein“, antwortete Jesus. „Nicht nur siebenmal. Es gibt gar keine Grenze. Du musst bereit sein, ihm immer wieder zu vergeben.“

Matthäus 18,21-22

Weggespült Janis M. Whipple Es war an einem kalten, grauen Januarmorgen. Ich war an den Strand gegangen, um dort spazieren zu gehen. Ich musste nachdenken und wollte allein sein, wollte wieder Gottes Nähe spüren. Während ich so ging, sammelte ich einen Stock auf und schrieb in den Sand. Ich nannte vier Dinge, die mich verletzt und Gott enttäuscht hatten. Und ich schrieb das Wort „Frieden“, den ich mir wünschte, aber nicht hatte. Ich ließ den Stock fallen und ging weiter. Während ich ging, betete ich und weinte mich an Gottes Schulter aus.


Als ich merkte, dass die Flut kam, ging ich zurück. Ich suchte nach den Worten, die ich geschrieben hatte. Der Stock war zwar noch da, aber das Wasser hatte alle Wörter weggespült außer einem: Frieden. Gott hatte meinem Schmerz weggespült, und das Versprechen des Friedens war geblieben.

Das Zimmer Joshua Harris

Aus: Ungeküsst und doch kein Frosch Ich befand mich in einem Zimmer, in dem nichts war außer einem Regal voller Karteischubladen, wie man sie in Bibliotheken findet, mit Kärtchen darin, auf denen Titel, Autor oder Sachgebiet alphabetischer aufgelistet sind. Aber die Kästen hier, die vom Fußboden bis zur Decke reichten und zur rechten und linken Seite kein Ende nahmen, waren in ganz unterschiedliche Rubriken eingeteilt. Als ich mich dem Regal näherte, erregte eine Box mit der Aufschrift: „Mädchen, in die ich verliebt war“ meine Aufmerksamkeit. Ich öffnete den Kasten und begann ein bisschen herumzublättern. Schnell schlug ich ihn wieder zu. Erschrocken stellte ich fest, dass mir all die Namen bekannt vorkamen. Ohne dass es mir jemand sagen musste, wusste ich genau, wo ich war. Dieser düstere Raum mit seinen Akten beinhaltete ein Katalogsystem über mein Leben. Hier war alles dokumentiert, Wichtiges und Unwichtiges, mit allen Details, an die ich mich gar nicht mehr erinnern konnte. Verwunderung und Neugier überkamen mich gleichzeitig, als ich mit einem Schaudern anfing, planlos Schubladen zu öffnen und ihren Inhalt zu inspizieren. Einige brachten Freude und schöne Erinnerungen; bei anderen schämte ich mich so sehr, dass ich mich sogar vorsichtig umdrehte, um zu sehen, ob ich beobachtet wurde. Neben einem Kasten mit der Aufschrift „Freunde“ befand sich ein weiterer mit der Aufschrift „Freunde, die ich enttäuscht habe“. Die Aufschriften waren zum Teil ganz normal, zum Teil ziemlich absurd: „Bücher, die ich gelesen habe“, „Lügen, die ich erzählt habe“, „Ermutigung für andere“, „Witze, über die ich gelacht habe.“ Einige waren in ihrer Exaktheit fast schon witzig: „Worte, die ich meinem Bruder an den Kopf schmiss.“ Über andere konnte ich gar nicht lachen: „Dinge, die ich aus Wut getan habe“, „Beleidigungen, die ich im Stillen gegen meinen Eltern aussprach.“ Immer wieder war ich über die Inhalte überrascht. Häufig fand ich viel mehr Karten vor, als ich erwartet hatte, manchmal weniger, als ich gehofft hatte. Die unglaubliche Menge der Kästen überwältigte mich. War es möglich, dass ich mit meinen zwanzig Jahren all diese Karten, Tausende oder sogar Millionen, ausgefüllt hatte? Jede Karte bestätigte diese Annahme. Sie wiesen alle meine Handschrift und sogar meine Unterschrift auf. Der Kasten „Lieder, die ich angehört habe“ war viel größer als alle anderen, fast drei Meter breit! Die Karten waren eng gepackt, und trotzdem konnte ich nach ein, zwei Metern immer noch nicht das Ende der Schublade erkennen. Ich schloss sie beschämt, nicht so sehr wegen der Qualität der Musik, sondern weil ich mir der immensen Zeitverschwendung bewusst wurde, die diese Rubrik deutlich machte. Als ich zu einer Schublade mit der Aufschrift „Erotische Gedanken“ kam, lief mir ein Schauder über den Rücken. Ich zog die Schublade nur wenige Zentimeter heraus, denn eigentlich wollte ich gar nicht wissen, wie groß er war, und zog schnell eine Karte heraus. Mir wurde ganz komisch bei den genauen Angaben darauf. Plötzlich wurde ich unglaublich zornig. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: „Niemand darf diese Karten jemals sehen! Ja, nicht einmal dieses Zimmer darf je irgendwer zu Gesicht bekommen! Ich muss alles zerstören!“ Verzweifelt zog ich die Schublade jetzt ganz heraus. Es war mir total egal, wie groß sie war. Ich musste sie ausleeren und die Karten vernichten. Ich drehte den Kasten um und schüttelte die Karten heraus, um sie zu zertreten. Doch keine einzige ging kaputt! Außer Atem nahm ich eine Karte in die Hand und bemerkte, dass sie stahlhart war – unzerstörbar. Geschlagen und völlig hilflos schob ich die Schublade wieder an ihren Platz zurück.


Und dann sah ich es. Die Aufschrift eines Kastens lautete: „Menschen, denen ich von Gott erzählt habe“. Der Griff dieses Kästchens war sauberer als die anderen drumherum, neuer, fast unbenutzt. Ich zog und ein Kasten, nicht länger als ein paar Zentimeter, kam zum Vorschein. Ich konnte die Karten darin an einer Hand abzählen. Mir kamen die Tränen. Wildes Schluchzen schüttelte mich. Ich fiel auf die Knie und weinte laut, weil ich mich so wahnsinnig schämte. Die Reihen mit den Karteischubladen verschwammen vor meinen Augen. Nie, niemals durfte jemand etwas von diesem Raum erfahren. Ich musste ihn abschließen und den Schlüssel verstecken. Dann, als de Tränen versieht waren, sah ich ihn. Oh nein, bitte nicht er. Nicht hier. Nein, alles, aber bitte nicht Jesus! Hilflos nahm ich wahr, dass er die Kästen öffnete und die Karteikarten las. Ich konnte nicht mit ansehen, wie er reagieren würde. Als ich mich überwand und ihm ins Gesicht schaute, bemerkte ich, dass es ihn noch viel mehr schmerzte als mich. Er schien intuitiv die peinlichsten Kästen herauszunehmen. Warum musste er jede einzelne Karte lesen? Schließlich drehte er sich um und sah zu mir herüber. Mitleid spiegelte sich in seinen Augen. Ich senkte den Kopf, hielt mir die Hände vors Gesicht und fing wieder an zu weinen. Er kam zu mir und legte den Arm um mich. Er hätte er so viel sagen können, aber er schwieg. Er weinte mit mir. Dann stand er auf und ging zurück zu dem Regal. Er begann an einer Seite des Zimmers, nahm jeden Kasten raus und fing an, meinen Namen durchzustreichen und ihn mit seinem eigenen zu überschreiben – auf jeder Karteikarte. „Nein!“, schrie ich und rannte zu ihm. Das einzige, was ich sagen konnte, war „Nein, nein“, als ich ihm die Karte aus der Hand zog. Sein Name sollte nicht auf diesen Karten stehen. Aber da stand er schon, mit blutroter Farbe. Der Name von Jesus überdeckte meine Unterschrift, und er war mit seinem Blut geschrieben. Schweigend nahm er die Karte zurück. Er lächelte traurig, während er weiter die Karten unterzeichnete. Ich weiß nicht, wie er das so schnell gemacht hat, denn schon im nächsten Moment hörte ich den letzten Kasten zuklappen. Er legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: „Es ist vollbracht.“ Ich stand auf, und er führte mich aus dem Zimmer. Es war kein Schloss in der Tür. Aber es gab viele weitere leere Karten, die darauf warteten, beschrieben zu werden.

Wenn wir aber unsere Sünden bereuen und sie bekennen, dann dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott seine Zusage treu und gerecht erfüllt: Er wird unsere Sünden vergeben und uns von allem Bösen reinigen. 1. Johannes 1,9 (Hoffnung für alle)

Duft Mark Twain Vergebung ist der Duft, den das Veilchen hinterlässt am Absatz dessen, der es zertreten hat.

Eine unverdiente Ehre Jamie Morrison Mein Leben veränderte sich grundlegend zwischen der sechsten und siebten Stunde meiner letzten Schulwoche. Niemand bemerkte, was da zwischen uns vorging, aber bei mir hinterließ es einen tiefen Eindruck, und zwar in dem Augenblick, als Keniche, ein japanischer Mitschüler, der zwei


Jahre zuvor in unser Land und an unsere Schule gekommen war, mir ein kleines, hübsch verpacktes Geschenk überreichte. Ich war zwischen zwei Schulstunden auf einem der Gänge unterwegs, als ich sah, wie Keniche auf mich zugeschlendert kam. Er sah zu Boden, und ich wusste, dass er mit seinen Blicken die Schüler abcheckte, die sich gerade in unmittelbarer Nähe aufhielten. Als er mich entdeckte, kam er zunehmend zielstrebig und entschlossen auf mich zu. Ich wollte gerade ein flüchtiges „Hallo“ sagen und weiter gehen wie immer, aber diesmal war es anders. Er machte eine kaum merkliche Geste mit der Hand, fast so als wolle er mich am Ellbogen zurückhalten, zog aber dann die Hand wieder zurück. Statt wie sonst einfach nur zu nicken, sprach Keniche mich an. „Schudigung. Etwas fü dich. Du bitte warte?“ „Ja, klar“, sagte ich, aber eigentlich wäre es mir lieber gewesen, weiter zu gehen, als mit Keniche gesehen zu werden. Anmutig kniete er nieder, öffnete seinen Rucksack und holte ein kleines Päckchen hervor. Dann stand er wieder auf und streckte mir die Hand mit dem Päckchen entgegen. Instinktiv griff ich danach und hielt es nun in der Hand, hatte aber immer noch keine Ahnung, dass es für mich gedacht war. Ich sah mich nervös um, warf dann einen Blick auf Keniche und erneut auf den Gang, in der Hoffnung, endlich dieser prekären Situation zu entkommen. Während ich ihn beobachtete, war sein nervöses Lächeln und sein Blick ein einziger Appell, doch bitte das Päckchen sofort zu öffnen. Als ich das Papier entfernt hatte, kam eine kleine handbemalte Keramikfigur eines SamuraiKämpfers1 zum Vorschein. Seine Hände zusammen legend und mit einer leichten Verbeugung brachte Keniche es jetzt fertig, mir in die Augen zu sehen. Er atmete tief ein und sprach dann langsam, jedes Wort betonend, damit ich verstand, wie bedeutungsvoll dieser Augenblick war. „Du beste Feun. Du seh nett zu mir. Du seh feunlich. Du mir dein Schule gelehrt.“ Keniche erklärte, dass der Samurai aus Japan kam und für Ehre, Mitgefühl, Mut, Stärke und Weisheit stand. Meine nervösen Blicke kamen einen Augenblick zur Ruhe. Ich stand schweigend da und schaute mich noch einmal auf dem Gang um, bevor ich ihn wieder ansah. Er schaute mich immer noch lächelnd an. Was sollte ich sagen? „Danke?“ Das schien das Richtige zu sein, aber ich war beschämt. In Wirklichkeit war ich ihm nämlich absolut kein Freund gewesen. Seine Worte hallten in meinem Inneren wider, denn es war in Wirklichkeit nur wenig Wärme oder Fürsorge vorhanden, die dieser Ehrung würdig gewesen wäre. Ich war freundlich gewesen, aber nie sein Freund. Meine Freunde und ich unternahmen regelmäßig etwas miteinander. Wir gingen zusammen ins Kino oder spielten Minigolf. Wir saßen zusammen am Strand oder in Restaurants. Manchmal veranstalteten wir Spiele-Abende, hörten Musik, fuhren mit dem Auto in der Gegend herum, bummelten in Einkaufszentren ... alles eben, was Teenager so machen. Es kam mir nie in den Sinn, Keniche dazu einzuladen. Ich hatte nie etwas mit Keniche zusammen unternommen. Meine Freunde und ich trafen uns, um bei Sportveranstaltungen in der Schule zuzuschauen. Wir sahen uns Basketballspiele an oder harrten sogar an kühlen Herbstabenden bis zum Abpfiff aus, um unsere Footballmannschaft anzufeuern. Ich bin nie mit Keniche zusammen zu solchen Spielen gegangen, obwohl ich ihn oft dort gesehen habe. Normalerweise trug er „Fankleidung“ in unseren Schulfarben und feuerte unsere Mannschaft an, obwohl er weder Basketball noch Football richtig verstand. Er schien sogar Spaß zu haben, aber er war immer allein. Ich habe nie mit Keniche zusammen unser Team angefeuert. Ich habe mittags immer zusammen mit meinen Freunden gegessen. Oft war es schwierig zu entscheiden, neben wem ich sitzen sollte. Sollte ich bei meinen Klassenkameraden bleiben, mich zu den Typen von der Jugendgruppe setzen oder zu den Teamgefährten aus der Tennis- oder Fußballmannschaft? Die Entscheidung war nie leicht. Keniche aß immer in einer Ecke der Cafeteria. Er war immer allein, normalerweise hatte er die Nase in ein Buch gesteckt oder er 1

Samurai bedeutet „einer, der dient“. Samurai-Krieger waren bekannt für ihre Loyalität und ihren Dienst.


befasste sich mit seinem Essen. Ich habe mich nie zu ihm gesetzt oder mit ihm zusammen gegessen. Meine Freunde und ich hingen in Freistunden zusammen herum. Wir trafen uns, um Witze zu reißen und zu tratschen. So kurz solche Unterbrechungen auch sein mochten, wir freuten und immer darauf. Ich habe nie angehalten, um kurz mit Keniche zu reden, aber ich erinnere mich, dass ich mit Freunden zusammengestanden habe, die kicherten, wenn er vorbeiging, weil seine Klamotten nicht cool waren. Ich habe ihn dann nicht verteidigt, sondern einfach nur den Mund gehalten. Ich habe nie mit Keniche zusammen herum gehangen oder ihn ermutigt, sich einer Gruppe oder Clique anzuschließen. Ich hatte keine Ahnung, wo er wohnte. Ich wusste nicht, wie er mit Nachnamen hieß. Ich wusste nicht, was er gerne aß oder ob er noch Geschwister hatte. Ich wusste gar nichts über ihn. Aber er schenkte mir einen Samurai dafür, dass ich sein „bester Freund“ war. Ich habe nichts getan außer immer mal zu lächeln und „Hey, Keniche“ zu sagen, wenn ich ihm begegnete. Mehr habe ich kaum jemals mit ihm gesprochen. Der Gedanke, dass das die beste Freundschaft sein sollte, die er in unserer Schule erlebt hatte, machte mich traurig. Ich verdiente die Samuraifigur nicht und dennoch zeichnete er mich damit aus als denjenigen, der sie am meisten verdient hatte. Für ihn stand mein Handeln für Ehre, Mitgefühl, Mut, Stärke und Weisheit. Ich habe viele sauer verdiente Trophäen, Medaillen und Urkunden, die jetzt irgendwo in meiner Abstellkammer auf dem Dachboden oder im Keller verstauben, aber meine Samurai-Figur steht immer auf meinem Schreibtisch. Sie erinnert mich daran, dass Freundschaft und Fürsorge echte und dauerhafte Auszeichnungen im Leben sind. Keniche dankte mir für eine Freundschaft, von der ich nicht einmal wusste, dass sie bestand. Ich sollte Keniche für eine Lektion danken, von der er gar nicht weiß, dass er sie erteilt hat.


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