Wanda E. Brunstetter
Marthas Sehnsucht Roman
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Ăœber die Autorin Wanda E. Brunstetter ist schon seit Jahren von der Lebensweise der Amischen fasziniert. Ihr Mann stammt aus Pennsylvania, einem Bundesstaat, in den im 18. Jahrhundert sehr viele Amische einwanderten. Die Autorin lebt in Washington State und hat bereits einige Romane geschrieben, die in Amisch-Siedlungen spielen.
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Wanda E. Brunstetter
Marthas Sehnsucht Roman
Aus dem Englischen 端bersetzt von Brigitte Hahn
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SGS-COC-1940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright für dieses Buch liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Barbour Publishing, Uhrichsville, USA, unter dem Titel „A Sister’s Hope“. © 2008 by Wanda E. Brunstetter © der deutschen Ausgabe 2010 by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2010 Best.-Nr. 816 461 ISBN 978-3-86591-461-3 Bearbeitung: Inge Frantzen Umschlaggestaltung: Michael Wenserit Umschlagfoto: Steve Gardner, Pixel Works Studios Satz: Typostudio Rücker Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
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Kapitel 1 Wuhuhuuu! Wuhuhuu! Ein durchdringendes Heulen riss Martha Hostettler aus dem Schlaf. Sie drehte sich schwerfällig auf die andere Seite. Wuhuhuu! Wuhuhuu! Da war es schon wieder. Polly konnte das nicht sein. Die Beagle-Hündin hatte eine hohe Stimme, die nicht so tief und schaurig klang. Dieser schreckliche Lärm musste von Beau kommen. Er war Pollys Gefährte. Martha knipste die Taschenlampe an, die auf ihrem Nachttisch stand. Sie richtete den Lichtstrahl auf ihren batteriebetriebenen Wecker. Es war drei Uhr nachts. Keiner von Marthas Hunden bellte oder heulte mitten in der Nacht, wenn es keinen Grund dafür gab. Hatte Heidi etwa schon ihre Welpen zur Welt gebracht? Wenn ja, wäre die Sheltie-Hündin eine Woche zu früh dran. Vielleicht merkte Beau, dass da etwas nicht stimmte und der Rüde wollte Martha mit seinem Heulen alarmieren. Sie schüttelte den Kopf, weil sie noch immer ganz benommen vom Schlaf war. Das ist doch lächerlich. Beau merkt vielleicht, dass Heidi ein Problem hat, aber er ist nicht schlau genug, um mir Bescheid zu geben. Den Hund muss etwas anderes stören. Martha musste unweigerlich an den Tag denken, als sie ihren Sheltie Fritz an einem Baum festgebunden vorfand; er war an einer Pfote gefesselt gewesen. Ein Napf mit Wasser stand vor ihm, aber er konnte das Gefäß nicht erreichen. Ein anderes Mal hatte Martha einen ihrer Welpen tot im Hof gefunden. Man hatte dem kleinen Hund das Genick gebrochen. Sie fragte sich, ob der Unbekannte, der auf dem Hof ihrer Familie immer wieder sein Unwesen trieb, auch schuld am Tod des jungen Hundes war. Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter. War etwa noch jemand in der Scheune? Vielleicht wollte man ihren Hunden etwas antun! Martha schlug die Bettdecke zurück und stand hastig auf. Eilig schlüpfte sie in ihren Bademantel, zog ihre Turnschuhe an, griff 5
nach der Taschenlampe und rannte zur Tür hinaus. Als sie vors Haus trat, fuhr ein kalter Wind durch die Bäume und ließ die Blätter geheimnisvoll rascheln. Martha zitterte vor Kälte, aber dann rannte sie über den Hof. Während sie auf die Scheune zuging, hob sie lauschend den Kopf. Das Heulen war verstummt. Vielleicht hatte eines der Pferde auf der anderen Seite der Scheune den Hund erschreckt. Es gab bestimmt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Martha hielt die Taschenlampe in der einen Hand und drückte mit der anderen das Scheunentor auf. Als sie vorsichtig einen Schritt hineinging, machte es plötzlich „Platsch“ und etwas Kaltes, Feuchtes traf sie am Kopf. Eine klebrige Flüssigkeit lief ihr übers Gesicht und den Hals herunter. Martha leuchtete mit der Taschenlampe an sich herunter. Sie seufzte, als sie entdeckte, dass sie von oben bis unten mit weißer Farbe bedeckt war. Sie richtete den Lichtstrahl nach oben und riss erstaunt die Augen auf. Über dem Scheunentor hing ein Eimer an einem Seil. Jemand hatte das absichtlich gemacht! Hatten ihr ein paar Jugendliche einen dummen Streich gespielt? Oder war das schon wieder ein Angriff? Martha griff nach einem Pappkarton, der in der Nähe auf einem Brett stand und suchte darin nach einem sauberen Tuch. Notdürftig wischte sie sich ihr Gesicht ab und nahm den Geruch von Ammoniak wahr. Es handelte sich also um Dispersionsfarbe. Wenigstens waren die Flecken leicht mit Wasser und Seife zu entfernen. Martha lief eilig zu den Hundezwingern im hinteren Teil der Scheune. Sie seufzte erleichtert auf, als sie sah, dass mit Polly, Beau, Fritz und Heidi alles in Ordnung war. Heidi hatte ihre Welpen noch nicht zur Welt gebracht. Als Martha die Hand durch das Drahtgeflecht des Zwingers steckte und Beaus Kopf streichelte, sah der Hund zu ihr hoch und winselte leise. „Leg dich wieder schlafen, alter Junge. Es ist alles in Ordnung.“ Aber das stimmte nicht. Unbekannte hatten sich in die Scheune der Familie Hostettler geschlichen und einen Einer mit Farbe am 6
Scheunentor befestigt. Wie lange war das her? Waren sie vielleicht immer noch in der Nähe? Martha leuchtete mit ihrer Taschenlampe noch einmal in alle Ecken der Scheune. Als sie sah, dass alles an seinem Platz war, lief sie nach draußen. Sie warf einen Blick auf den Boden und sah dort eine leere Zigarettenschachtel liegen. Plötzlich vernahm sie ein Rascheln. Martha ließ den Lichtstrahl ihrer Taschenlampe auf das vertrocknete Maisfeld hinter dem Haus gleiten und erblickte einen Mann, der den Feldweg entlangrannte. Sie holte tief Luft. Im Dunkeln und aus dieser Entfernung war er schlecht zu erkennen, aber es sah so aus, als ob er einen Strohhut tragen würde, so wie es die amischen Männer taten. Beim Anblick dieses Mannes zitterte Martha am ganzen Körper. Wenn ich Papa von diesem Mann erzähle, dann denkt er, dass es Luke gewesen ist. Seit geraumer Zeit hatte ihr Vater Luke im Verdacht, die Übergriffe auf den Hof der Hostettlers zu verüben. Aber Martha war von Lukes Unschuld überzeugt. Zumindest hoffte sie, dass er nichts mit diesen Angriffen zu tun hatte. Martha lief schnell zum Haus zurück und ging geradewegs ins Badezimmer. Sie wollte unbedingt diese klebrige Farbe loswerden, und sie brauchte Zeit zum Nachdenken. Als sie kurz danach wieder aus dem Bad kam, stand ein Mann im Flur. Ihr blieb die Luft weg. „Papa! Was machst du denn hier? Warum bist du auf?“ „Ich bin vom Wasserrauschen wach geworden.“ Mit einem Stirnrunzeln deutete er auf ihre Sachen, die vor dem Badezimmer auf dem Boden lagen. „Ich hab schon gehört, dass manche Leute nachts schlafwandeln, aber ich hab noch nie gesehen, dass jemand im Schlaf Wände gestrichen hat.“ „Das hab ich auch nicht gemacht. Ich …“ „Was ist denn hier los?“, fragte ihre Mutter, die plötzlich aus dem Elternschlafzimmer kam. Mit wenigen Worten erzählte Martha vom Vorfall in der Scheune. 7
„Ach!“, meinte ihre Mutter erschrocken. „War das schon wieder ein Angriff?“ „Ich … ich weiß nicht“, stammelte Martha. „Ich bin mir nicht sicher.“ Ihr Vater warf ihr einen Blick zu. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hast du jemanden gesehen?“ „Ich … äh … ich glaube, es ist jemand über das Feld gerannt, aber ich habe nicht gesehen, wer es war.“ Jetzt erschien auch Ruth. Sie rieb sich die Augen und gähnte laut. „Es ist mitten in der Nacht. Warum seid ihr nicht in euren Betten?“ Martha erzählte noch einmal ihre Geschichte und fügte hinzu: „Es tut mir leid, dass ich euch alle aufgeweckt habe.“ „Es ist gut, dass wir Bescheid wissen.“ Ihre Mutter nahm Martha in den Arm. „Es ist gefährlich, wenn du nachts allein in die Scheune gehst.“ „Ich hab nur nach meinen Hunden sehen wollen. Außerdem kann es doch nicht sein, dass wir uns auf unserem eigenen Grund und Boden nicht mehr sicher fühlen können.“ Martha sah ihrem Vater in die Augen. „Wirst du den Vorfall dem Sheriff melden?“ „Was soll das nützen? Sheriff Osborne hat bisher nichts bewirkt, und er wird auch jetzt nicht eingreifen.“ Ihr Vater zuckte mit den Schultern. „Was passiert ist, ist passiert. Selbst wenn wir die Sache dem Sheriff melden, ändert das nichts an den Tatsachen.“ Als Luke Friesen mit seinem offenen Einspänner die Straße entlangfuhr, drang ihm der scharfe Duft seines Pferdes in die Nase. Er hatte zwar einen Kleintransporter, den er im Wald versteckte, weil seine Eltern es ihm nicht erlaubt hätten, ein Auto zu fahren. Aber trotzdem fuhr Luke lieber mit einer Pferdekutsche durch die Gegend. Er hatte den Kleinlaster nur gekauft, weil manche seiner amischen Freunde, die auch gerade ihre Zeit des „Rumspringens“ erlebten, motorisiert waren und Luke meinte, er müsse es ihnen gleichtun. Mit einem Auto hatte er natürlich auch mehr 8
Bewegungsfreiheit. Außerdem konnte er damit seine englischen Freunde Rod und Tim beeindrucken. Lukes Eltern waren gar nicht begeistert von den rauflustigen Englischen. Sie hätten es lieber gesehen, wenn Luke endlich zur Vernunft kommen und sich ihrer Gemeinde anschließen würde. Aber zu diesem Schritt war er noch nicht bereit. Als Mitglied der Gemeinde müsste er so manches in seinem Leben ändern. Vor allem müsste er heiraten. Deshalb wollte er diese Entscheidung erst treffen, wenn er die richtige Frau gefunden hatte. Plötzlich musste er an Martha Hostettler denken. Die couragierte, risikofreudige junge Frau war so ganz anders als ihre Schwester Ruth, die Angst vor Veränderungen hatte und immer so kleinlaut wirkte, als er ihr damals den Hof gemacht hatte. Vielleicht würde Martha besser zu ihm passen. Luke biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten, als er sich daran erinnerte, wie Marthas Vater Roman ihn vor einigen Jahren gefeuert hatte, weil er zu spät zur Arbeit gekommen war. Als die Übergriffe auf die Familie begannen, hatte Roman sofort Luke verdächtigt. Obwohl der junge Mann diese Vorwürfe vehement zurückgewiesen hatte, zeigte ihm Roman seitdem die kalte Schulter. Wenn er wüsste, dass Luke Interesse an seiner jüngsten Tochter hatte, hätten er und Martha keine ruhige Minute mehr. Wenigstens habe ich bei John Peterson Arbeit gefunden. Dafür kann ich dankbar sein. Luke klatschte mit den Zügeln auf den Rücken des Pferdes, um es anzutreiben. Wenn ich nicht aufpasse, komme ich wieder zu spät zur Arbeit, nur weil ich an eine Frau denke, die ich sowieso nicht haben kann. Der Einspänner schlingerte plötzlich und das Fahrzeug neigte sich nach rechts. „Ruhig, ganz ruhig, alter Junge!“ Mit einem Ruck an den Zügeln brachte Luke das Pferd zum Stehen. Dann zog er eine Grimasse, als er sah, wie sich das linke Rad der Kutsche selbstständig machte und auf die andere Straßenseite rollte. Es war nur gut, dass gerade keine Autos vorbeifuhren. Er manövrierte sein Pferd mitsamt der Kutsche zur Straßenseite, sprang vom Kutschbock und rannte zurück zu dem fehlen9
den Rad. „Na toll“, murmelte er. „Jetzt komme ich wirklich zu spät zur Arbeit.“ Luke rollte das Rad zurück zu seinem Einspänner. Die nächsten Minuten verbrachte er mit der Suche nach der Schraubenmutter, die sich gelöst hatte. Als er sie nicht finden konnte, griff er nach dem Werkzeugkasten im hinteren Teil seiner Kutsche und holte eine Ersatzmutter heraus. Gerade hatte er sich vor seinem Fahrzeug hingekniet, um das Rad wieder festzuschrauben, da hielt Sheriff Osbornes Auto hinter ihm an. „Sieht ganz so aus, als ob Sie ein Rad verloren hätten“, meinte der Sheriff und schlenderte gemütlich zu Luke herüber. „Ja, genau.“ Luke verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Jetzt komme ich zu spät zur Arbeit.“ „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ „Das wäre prima.“ Lukes Nasenflügel blähten sich, als Sheriff Osborne sich neben dem Rad hinkniete. Die Kleider des Sheriffs stanken nach Zigarettenrauch. Entweder war der Mann ein Kettenraucher, oder er war mit einem Raucher zusammen gewesen. „Arbeiten Sie immer noch für John Peterson?“, fragte der Sheriff. Er hob das Rad an und half Luke, es wieder an die richtige Stelle zu setzen. Luke nickte. „Na klar.“ „Gefällt es Ihnen dort besser als bei Roman?“ „John ist ein guter Boss. Er hat immer Verständnis für mich“, erwiderte Luke, ohne die Frage des Sheriffs direkt zu beantworten. „Ich weiß natürlich nicht, wie er reagiert, wenn ich heute zu spät komme.“ „Er versteht es bestimmt, wenn Sie ihm erzählen, was mit dem Rad Ihrer Kutsche passiert ist.“ „Danke für Ihre Hilfe“, sagte Luke, als das Rad wieder an seinem Platz war. Sheriff Osborne griff in seine Jackentasche, holte ein Päckchen Kaugummi heraus und steckte sich ein Stück in den Mund. „Kein Problem. Sie haben Glück gehabt, dass ich gerade vorbeigekommen bin. Seien Sie froh, dass Sie dieses Rad nicht allein fest10
machen mussten. Sonst wären Sie noch später zur Arbeit gekommen.“ Er wandte sich zu seinem Auto. „Jetzt muss ich mich wieder meinen aktuellen Fällen widmen. Ich hab gehört, dass auf dieser Strecke viele Autos viel zu schnell fahren. Das muss ich sofort unterbinden.“ Luke trat unsicher von einem Bein aufs andere. Er wollte den Sheriff gerne noch fragen, ob es Neuigkeiten im Fall Hostettler gab, aber er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. „Sie sehen nicht gerade glücklich aus“, meinte Sheriff Osborne. Er kaute kräftig auf seinem Kaugummi herum. „Bedrückt Sie etwas?“ „Ich … äh … ich frage mich, ob Sie schon einen Verdacht haben, wer hinter den Angriffen auf die Familie Hostettler steckt.“ „Nee, noch nicht. Soweit ich weiß, ist es jetzt schon einige Zeit ruhig.“ Der Sheriff steckte sich noch ein Stück Kaugummi in den Mund. „Ich hätte den Kerl schon längst geschnappt, wenn Roman mich rechtzeitig informiert hätte.“ Er kickte mit der Fußspitze nach einem kleinen Stein. „Wenn ich es richtig verstehe, kann auch ein Amisch die Polizei rufen. Deshalb ist es mir schleierhaft, warum Roman mir die meisten dieser Angriffe verschwiegen hat.“ Luke zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat er gedacht, dass es besser ist, die andere Wange hinzuhalten und Sie erst im Notfall in die Sache hineinzuziehen.“ „Vielleicht haben Sie recht.“ Der Sheriff drehte sich wieder zu seinem Auto um. „Ich mach mich jetzt besser auf den Weg, damit Sie zur Arbeit fahren können – nicht dass Sie wegen mir Ihren Job verlieren.“ Bevor er einstieg, winkte er Luke zu. Luke prüfte noch einmal das Rad. Dann gab er seinem Pferd einen Klaps auf den Hals und stieg wieder in seinen Einspänner. Als er in Johns Werkstatt ankam, sah er, wie sein Chef am Schreibtisch saß und telefonierte. Weil er ihn nicht stören wollte, ging Luke rasch in den hinteren Raum und deponierte dort seine Brotdose. Als er zurückkam, hatte John das Telefongespräch beendet. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, meinte Luke entschuldi11
gend. „Bei meinem Einspänner ist ein Rad abgefallen. Ich musste anhalten und es wieder anschrauben.“ „Kein Problem.“ John lächelte ihn an. „Es ist nicht so schlimm, dass Sie zu spät kommen. Manchmal passieren eben merkwürdige Sachen.“ Luke wischte sich den Schweiß von der Stirn und holte tief Luft. „Danke für Ihr Verständnis. Ich hab schon Angst gehabt, dass Sie mich auch feuern wie Roman damals, als ich für ihn gearbeitet habe.“ Über Johns leicht gebogener Nase bildete sich eine tiefe Falte. „Man kann einen Menschen doch nicht wegen einer Sache bestrafen, für die er nichts kann.“ Luke nickte zustimmend. John war ein viel angenehmerer Arbeitgeber als Roman. Diesem Mann konnte man es nie recht machen. Jedes Mal, wenn Luke einen Verbesserungsvorschlag geäußert hatte, hatte er lediglich ärgerlich abgewinkt. „Was soll ich heute früh machen?“, fragte Luke, als er auf Johns Schreibtisch zuging. John zeigte auf ein paar Schranktüren, die an der Wand lehnten. „Sie können die abschleifen, während ich zur Firma Keim fahre, um Holzbretter zu holen.“ Er stand auf. „Ich bin nicht lange weg. Wenn Kunden reinkommen, schreiben Sie einfach auf, was sie wollen.“ Luke nickte wieder. Es war ein gutes Gefühl, dass John ihm vertraute. Bei Roman war das nie der Fall gewesen. Er verzog das Gesicht. Warum vergleiche ich die beiden ständig? Warum denke ich immer wieder daran, wie es war, als ich für Roman gearbeitet habe? Als John die Werkstatt verließ, begann Luke mit dem Abschleifen der Schranktüren. Johns Beaglehündin Flo, die neben seinem Schreibtisch auf einem alten Teppich gelegen hatte, tappte zu ihm herüber. Sie winselte leise. Luke bückte sich zu ihr herunter, und sie leckte ihm die Hand. „Vermisst du John etwa schon, altes Mädchen? Oder willst du nur gestreichelt werden?“ 12
Die Hündin antwortete mit einem leisen „Wuff“. Dann legte sie sich etwa einen halben Meter von Luke entfernt auf den Boden. Als Luke ein Stück Schmirgelpapier in die Hand nahm, musste er plötzlich an Martha denken. Er fragte sich, wie sich wohl ihre Hundezucht entwickelte. Sie hatte Flo an John verkauft, weil die Hündin unfruchtbar war. Von dem Geld hatte sie eine andere Hündin gekauft, die sie für ihre Zucht brauchte. Luke wünschte sich, er könnte einfach bei den Hostettlers vorbeifahren und Martha besuchen, aber er wusste, dass es ihrem Vater gar nicht gefallen würde, wenn er die beiden zusammen sehen würde. Dieser Besuch würde vermutlich mit einem Wortwechsel zwischen Luke und Roman enden. Luke hielt große Stücke auf Martha. Deshalb wollte er nicht der Auslöser von Problemen zwischen Vater und Tochter sein. Es war wohl besser, wenn er sich vom Anwesen der Hostettlers fernhielt. Außerdem hatte er heute noch etwas anderes zu erledigen.
Kapitel 2 Martha stand vor der Anrichte in Irene Schrocks Küche. Sie rollte den Teig für die Kuchen aus, die sie am folgenden Abend einer Reisegruppe servieren wollten. Gedankenverloren bewegte sie das Nudelholz hin und her. Der Vorfall in der Scheune ging ihr nicht aus dem Kopf. Obwohl der Farbeimer nur sie selbst getroffen hatte, war ihre Mutter so verstört, dass ihr beim Frühstück ständig die Hände zitterten. Auch ihrer Schwester Ruth steckte der nächtliche Schreck noch in den Gliedern. Ihr Vater schlang schweigend seinen Haferbrei herunter. Dann lief er zur Tür hinaus. Beim Weggehen sagte er noch, er müsse dringend in die Schreinerwerkstatt, weil sich dort die Arbeit angehäuft habe. Ein Schweißtropfen rollte Martha die Stirn herunter. Sie wischte ihn mit einem Zipfel ihrer Arbeitsschürze ab. Wer hatte diesen Farbeimer über der Tür befestigt, und warum? 13
Sie holte tief Luft und schloss die Augen. Herr Jesus, bitte mache doch diesem Wahnsinn ein Ende. Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Vor Schreck ließ Martha das Nudelholz fallen und drehte sich abrupt um. „Ist mit dir alles in Ordnung?“, fragte Irene. „Du fühlst dich doch nicht grank, oder?“ „Ich … äh … nein. Ich bin nicht krank, zumindest nicht körperlich.“ Irenes dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. „Wieso nicht körperlich? Was willst du damit sagen?“ „Heute früh ist bei uns zu Hause etwas passiert, das mich beunruhigt.“ „Was war denn los?“, fragte Carolyn, Irenes achtzehnjährige Tochter. „Jemand hat an einem Seil einen Eimer mit weißer Farbe über dem Scheunentor befestigt. Als ich nach meinen Hunden sehen wollte, hab ich die ganze Farbe abgekriegt.“ Irene riss erstaunt die Augen auf. „Ach! Wer macht denn so was?“ „Wir haben keine Ahnung.“ Martha wollte nicht erwähnen, dass sie vielleicht einen Amisch-Mann auf der Flucht gesehen hatte, denn Irene hätte diese Geschichte bestimmt weitererzählt. Die Leute redeten sowieso schon über mögliche Täter. „Hat dein Daed Sheriff Osborne benachrichtigt?“ Martha reagierte auf diese Frage mit einem Schulterzucken. „Ich glaube nicht. Wie die anderen Male meint Vater wohl, dass er die andere Wange hinhalten muss und den Sheriff wegen dieser Sache nicht zu informieren braucht.“ „Bist du auch dieser Meinung, Martha?“ Martha wusste nicht so recht, wie sie Carolyns Frage beantworten sollte. Obwohl sie in dieser Angelegenheit eine andere Meinung hatte, wollte sie ihren Vater nicht vor den beiden Frauen herabsetzen. „Ich glaube, der oder die Täter werden mit diesen Angriffen weitermachen, bis man ihn oder sie erwischt“, antwortete sie schließlich. 14
„Aber wie soll man den oder die Schuldigen erwischen, wenn dein Daed sich weigert, den Sheriff zu benachrichtigen?“ „Am besten, wir beten für diese Sache“, meinte Irene beschwichtigend. Sie berührte Martha sanft am Arm. „Aber inzwischen warten diese Kuchen darauf, gebacken zu werden.“ „Du hast recht. Ich sollte mich an die Arbeit machen.“ Martha griff wieder nach dem Nudelholz. Sie hatte alle Hände voll zu tun, wenn sie für Irene arbeitete oder sich um ihre Hunde kümmerte, aber in ihrer Freizeit wollte sie endlich herausfinden, wer hinter diesen Angriffen auf ihre Familie steckte. Sie wünschte, sie könnte mit jemandem darüber reden. Aber wem könnte sie sich anvertrauen? Wer würde ihrem Vater gegenüber Stillschweigen bewahren? Zuerst notiere ich mir alles, was vorgefallen ist, dachte sie entschlossen. Danach schreibe ich alle Verdächtigen auf, mit ihren Motiven und Gelegenheiten für diese Taten. „Deine Schwester wird bestimmt schon bald heiraten“, meinte Irene. Martha nickte zustimmend. „Die Hochzeit von Ruth und Abe soll zwei Monate nach der Trauung von Sadie und Toby stattfinden. Ich werde bei beiden Feiern mithelfen.“ „Was wirst du machen?“, fragte Carolyn, während sie einen Beutel Mehl aus dem Schrank holte. „Bei Ruths Trauung werde ich die Braut begleiten, und bei Sadies Hochzeit werde ich an den Tischen bedienen.“ Irene schob zwei Bleche Apfelstreusel in den Backofen und klappte die Tür zu. „Es ist schön, dass Ruth und Abe zueinander gefunden haben. Ich glaube, ihre Ehe wird glücklich, und Ruth wird für Abes Kinner eine gute Mudder sein.“ Martha konnte dem nur zustimmen. Ruth hatte schon als kleines Mädchen, als sie noch mit ihren Puppen spielte, davon geträumt, einmal selbst Kinder zu haben. Am Weihnachtsabend vor fast einem Jahr musste sie diesen Traum ein für alle Mal begraben. Die Kutsche ihres Mannes wurde von einem Auto gerammt und in den Straßengraben gestoßen. Martin starb bei dem Unfall, 15
und Ruth erlitt schwere innere Verletzungen. Sie würde niemals eigene Kinder haben können. Irene legte ihre Hand auf Marthas Schulter. „Kann deine Tante Rosemary zu Ruths Hochzeit kommen?“ „Das hoffe ich. Sie hat für ihr Haus in Boise, Idaho einen Käufer gefunden. Wenn der Verkauf bald abgewickelt wird, kann sie lange vor der Hochzeit hierher nach Ohio ziehen.“ Irene lächelte. „Es ist schön, dass Rosemary wieder zu eurer Familie gehört. Dein Daed hat sie in den letzten dreißig Jahren bestimmt sehr vermisst.“ Martha antwortete mit einem Kopfnicken. Ihrem Vater hatte seine Schwester wirklich gefehlt, aber bis vor ein paar Monaten hatte er das nie zugegeben. „Wenn Rosemary zurück nach Holmes County ziehen will, denkt sie vielleicht auch darüber nach, sich unserer Gemeinde anzuschließen.“ Martha rollte den Teig noch einmal kräftig aus. Dann drehte sie sich zu Irene um. „Wenn Tante Rosemary noch einmal dieselbe Entscheidung treffen müsste, hätte sie unserem Glauben bestimmt nicht den Rücken gekehrt und einen Englischen geheiratet. Aber sie hat den Großteil ihres Lebens als Englische verbracht. Deshalb bezweifle ich, dass sie jetzt noch bereit ist, alle Annehmlichkeiten der modernen Welt hinter sich zu lassen. Sie hat sich zu sehr daran gewöhnt.“ Sie nahm den Teig hoch und legte ihn in eine leere Kuchenform. „Außerdem sind ihr Sohn und seine Frau auch Englische. Vielleicht wollen sie nichts mehr mit ihr zu tun haben, wenn aus ihr eine Amische wird.“ Diese Worte quittierte Irene mit einem schwachen Lächeln. „Ja, das verstehe ich.“ „Kommt Rosemarys Familie auch zu Ruths Hochzeit?“, fragte Carolyn. „Das hoffe ich. Ich bin schon sehr gespannt auf meinen Cousin und seine Frau.“ Martha musste jetzt auch lächeln. „Vor dem Überraschungsbesuch von Tante Rosemary hier bei uns in Hol16
mes County vor ein paar Monaten habe ich ja noch nicht mal gewusst, dass ich einen englischen Cousin habe.“ Ein Klopfen an der Hintertür beendete ihr Gespräch. Carolyn rannte zum anderen Ende der Küche, um die Tür zu öffnen. Ein paar Sekunden später kam Marthas Schwager Cleon herein. In der Hand hatte er einen Pappkarton. „Die sind für dich“, sagte er lächelnd zu seiner Mutter. „Weil du in letzter Zeit so viele Abendessen organisierst, brauchst du bestimmt mehr Honig als sonst.“ „Danki, mein Sohn.“ Irene deutete auf die Anrichte. „Warum stellst du den Karton nicht einfach dort ab? Carolyn kann die Honiggläser in die Vorratskammer bringen, wenn wir mit dem Kuchenbacken fertig sind.“ „Na klar doch.“ Cleon stellte den Karton ab. Dann drehte er sich zu seiner Mutter um. „Wenn meine Bienen weiter so viel Honig produzieren, kann ich bei uns zu Hause vielleicht einen kleinen Laden bauen. Es wäre schön, wenn ich hier in der Nähe meinen Honig und auch die schönen Wachskerzen verkaufen könnte, die du und Carolyn machen.“ Irene lächelte ihn an. „Das ist eine gute Idee.“ Cleon ging zu Martha. „Ich habe gehört, dass du in den frühen Morgenstunden ein Farbbad genommen hast.“ Sie nickte. „Mein Vater war nicht so glücklich, als er die Schweinerei in seiner Scheune wegmachen musste, und ich war auch nicht gerade begeistert, als sich die Farbe über mich ergossen hat.“ „Ich habe Roman empfohlen, seine Scheune abzuschließen. Seitdem ich entdeckt habe, dass bei einer meiner Leitern eine Sprosse durchgebrochen ist, ist meine eigene Scheune immer zu.“ Cleon verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. „Eins ist sicher: Jemand hat die Sprosse durchgesägt.“ „Was hat mein Vater zu deinem Vorschlag gesagt?“, fragte Martha. „Er hat gemeint, er hätte nicht daran gedacht, die Scheune nachts abzuschließen.“ „Warum denn nur nachts?“, fragte Carolyn. 17
„Vielleicht meint er, dass tagsüber niemand vorbeikommt und Schaden anrichtet, weil immer jemand von den Hostettlers zu Hause ist.“ „Das stimmt“, sagte Irene. „Die meisten Angriffe auf deine Familie sind nachts passiert.“ „Oder wenn keiner von uns zu Hause war“, fügte Martha rasch hinzu. „Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass mein Vater Cleons Vorschlag ernst nehmen wird, aber vielleicht denkt er doch noch darüber nach. Nach dem Vorfall von heute Nacht mache ich mir wirklich Sorgen um meine Hunde.“ Als Luke die Schreinerwerkstatt von John verließ und sich auf den Heimweg machte, sah er vor sich auf der Straße einen weiteren Einspänner. Es war Marthas Fahrzeug. Luke schnalzte mit den Zügeln, damit sein Pferd lostrabte und fuhr dann auf die Gegenfahrbahn, um Martha zu überholen. Als die beiden Einspänner nebeneinander herfuhren, bremste Luke ab und bat Martha mit einer Handbewegung, am Straßenrand anzuhalten. Sobald ihre Kutsche stand, brachte er sein eigenes Fahrzeug ebenfalls zum Stehen, sprang vom Kutschbock und lief zu ihr hin. „Wie geht’s, Martha?“ „Inzwischen wieder besser. In den frühen Morgenstunden ist es mir nicht so toll gegangen“, antwortete sie. Fragend hob er den Kopf. „Ein Eimer weiße Farbe ist über mir ausgekippt, als ich in die Scheune gegangen bin, um nach meinen Hunden zu sehen.“ Luke stand vor Verblüffung der Mund offen. „Wie ist denn das passiert?“ „Jemand hat einen Eimer so auf dem Scheunentor befestigt, dass er umgekippt ist, als ich das Tor geöffnet habe.“ „Hast du dich verletzt?“ Martha schüttelte den Kopf. „Ich war nur über und über mit Farbe bekleckert.“ Sie atmete geräuschvoll aus. „Nur gut, dass die Farbe wasserlöslich war, sonst würde ich jetzt noch mit einem weißen Gesicht herumlaufen.“ 18
Luke zog die Mundwinkel nach unten. „Bestimmt wird dein Daed mir die Schuld an diesem Vorfall geben.“ „Wie kommst du denn darauf?“ „Weil er mir auch andere Vergehen gegen deine Familie vorwirft“, meinte Luke mit einem Kopfschütteln. „Ich würde so etwas nie machen. Du glaubst mir doch, Martha?“ Sie starrte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte. „Jah, ich glaube dir.“ Luke spürte eine Erleichterung, die sich anfühlte wie ein warmer Frühlingsregen. Wenn Martha an seine Unschuld glaubte, könnte sie ihren Vater vielleicht davon überzeugen, dass er mit diesen Vorfällen nichts zu tun hatte. Wenn es Luke gelang, dass Roman Hostettler endlich die Wahrheit erkannte, hätte er vielleicht eine Chance, Martha für sich zu gewinnen. Seitdem er und Martha vor ein paar Monaten zusammen eine Pizza gegessen hatten, musste er ständig an die junge Frau denken. „Ich hatte heute früh auch einen kleinen Unfall“, meinte Luke. „Was ist passiert?“ „Ich war auf dem Weg zur Arbeit, und da ist das linke Vorderrad von meiner Kutsche abgefallen.“ Mit einem Stirnrunzeln fragte sie: „Hast du denn das richtige Werkzeug für eine Reparatur dabeigehabt?“ Luke nickte. „Sheriff Osborne ist zufällig vorbeigekommen, und er hat mir geholfen, das Rad wieder festzumachen. Trotzdem bin ich zu spät zur Arbeit gekommen.“ „Hattest du deswegen Ärger mit John?“ „Nee. Er hat noch nicht mal ein böses Wort darüber verloren“, brummte er. „Nicht wie dein Daed, der mich fertig gemacht hat, als ich ein paar Mal zu spät gekommen bin. Als ich für ihn gearbeitet habe, habe ich ihm nie etwas recht machen können.“ Martha presste die Lippen zusammen. „Das tut mir wirklich sehr leid, Luke.“ Luke schüttelte den Kopf. „Es ist ja nicht deine Schuld, dass dein Vater so schwierig ist.“ Sie schwieg. 19
„Hoffentlich bist du mir jetzt nicht böse“, fügte Luke rasch hinzu. „Ich will nicht herummeckern. Es ist nicht in Ordnung, wenn ich über deinen Vater schlecht rede – schon gar nicht dir gegenüber.“ „Das ist nicht so schlimm. Ich weiß, wie schwierig mein Daed manchmal sein kann.“ Luke wechselte das Thema. „Wie läuft es denn mit deinen Hunden in letzter Zeit?“ „Ganz gut. Meine Sheltie-Hündin Heidi ist kurz davor, ihre Kleinen zu bekommen, und Polly, die Beagle-Hündin, die ich auf der Hundeauktion ersteigert habe, ist auch trächtig.“ „Das klingt doch gut. Wenn du Hunde züchten willst, brauchst du auch Welpen für den Verkauf.“ Martha lächelte ihn an. „Ich arbeite zwar gern für Irene, aber ich hoffe, dass ich eines Tages mit meiner Hundezucht genügend Geld verdiene, um mich selbstständig zu machen.“ „Ach übrigens: Hast du den Artikel in der Zeitung von heute gelesen? Darin werden amische Hundezüchter angeprangert, weil sie Massenzuchtbetriebe haben.“ Martha schüttelte verneinend den Kopf. „Ich habe heute noch keine Zeit gehabt, die Zeitung zu lesen. Was steht denn in dem Artikel?“ „Amische sollen Welpen aufziehen, obwohl sie keine Zuchterlaubnis haben. Gegen ein paar von ihnen laufen Ermittlungen. Sie sollen ihre Hunde vernachlässigt und sogar misshandelt haben.“ Martha quittierte Lukes Bericht mit einem erneuten Kopfschütteln. „Ich würde niemals einen Hund vernachlässigen oder misshandeln. Und das würden die Hundezüchter, die ich kenne, auch nicht tun.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Hat Gary Walker den Artikel geschrieben? Das wäre ihm nämlich zuzutrauen.“ Luke antwortete mit einem Achselzucken. „Ich weiß nicht mehr, wer den Artikel verfasst hat. Ich war so beunruhigt, als ich den Bericht gelesen habe, dass ich mir den Namen des Reporters nicht gemerkt habe.“ 20
Martha rümpfte die Nase, als ob ein schlechter Geruch die Luft verpestet hätte. „Gary Walker ist so arrogant und aufdringlich.“ Sie beugte sich vom Kutschbock herunter und war Luke plötzlich ganz nah. „Das bleibt aber unter uns. Meine Schwester hat vielleicht recht mit ihrer Meinung, dass er hinter den Angriffen auf meine Familie steckt.“ Luke war erleichtert, als er das hörte. Wenn Martha meint, dass Gary der Täter ist, dann glaubt sie bestimmt an meine Unschuld. Vielleicht gibt es für uns doch noch Hoffnung. Soll ich sie fragen, ob sie mit mir ausgehen will? Oder hält sie mich dann für einen Draufgänger? Er starrte auf seine Stiefelspitzen, weil er sich nicht traute, ihr direkt in die Augen zu sehen. „Äh … erinnerst du dich noch, wie wir zusammen Pizza essen waren?“ „Jah.“ „Ich habe unser Zusammensein sehr genossen.“ „Ich auch.“ Sie sprach leise, fast flüsternd. Er hob den Kopf und sah sie an. „Hast du Lust, wieder mal mit mir zusammen eine Pizza essen zu gehen?“ Sie zögerte und starrte auf ihre Hände. „Ich würde sehr gern mit dir Pizza essen gehen, Luke, aber …“ „Hast du Angst, dass uns jemand sehen und es deinem Daed erzählen könnte?“ Sie nickte. „Wir könnten uns am Samstagmittag in der Pizzeria in Berlin treffen. Wenn uns dort jemand sieht, können wir sagen, dass wir uns zufällig getroffen haben und deshalb an einem Tisch sitzen.“ „Ich … ich glaube, das geht.“ „Prima. Ich freue mich schon darauf.“ Luke drehte sich um und rannte zurück zu seinem Einspänner. Es gefiel ihm, dass Martha so couragiert war. Er war gerne mit ihr zusammen. Hoffentlich gelang es ihm, ihren Vater für sich zu gewinnen.
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Kapitel 3 Als Martha am Samstag in der Pizzeria zusammen mit Luke an einem Tisch saß, begann ihr Herz schneller zu klopfen. Sie konnte es kaum fassen, dass Luke sich mit ihr zum Mittagessen treffen wollte. Sollte diese Einladung mehr sein als das Zeichen eines flüchtigen Interesses? Sie hoffte es zwar, aber bei aller Freude hatte sie auch ein Problem, und das war ihr Vater. Martha war sich sicher, dass er es nie gutheißen würde, wenn der Mann um sie warb, den er für die Angriffe auf ihre Familie verantwortlich machte. „Nach unserer Begegnung neulich habe ich zu Hause diesen Zeitungsartikel über die illegalen Massenzuchtbetriebe gelesen“, sagte Martha schließlich, um sich von ihren düsteren Gedanken abzulenken. „Und was hältst du davon?“ „Der Reporter war tatsächlich Gary Walker. Ich frage mich, ob er versucht, alle Amisch-Leute in ein schlechtes Licht zu rücken.“ „Warum sollte er so etwas machen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist er immer noch wütend, weil Anna damals während ihrer Rumschpringe-Jahre mit ihm Schluss gemacht hat.“ „Meinst du wirklich, dass er so nachtragend ist?“ „Anna vermutet das. Sie ist sich sicher, dass er hinter den Angriffen auf unsere Familie steckt, obwohl sie keine Beweise dafür hat.“ Martha fuhr mit dem Finger am Rand ihres Wasserglases entlang. „Ich hoffe die ganze Zeit, dass endlich Schluss ist mit diesen Übergriffen, aber es ist offenbar noch kein Ende abzusehen – zumindest nicht, bis wir endlich wissen, wer der Täter ist und man ihn zwingt, damit aufzuhören.“ „Da hast du wohl recht“, entgegnete Luke mit einem Kopfnicken. „Aber wenn wir sowieso im Moment nichts dagegen tun können, sollten wir vielleicht unsere Pizza bestellen, findest du nicht?“ „Das klingt gut.“ 22
„Welche magst du am liebsten?“ Martha studierte die Speisekarte, die ihnen die englische Kellnerin an den Tisch gebracht hatte. „Bis auf Anchovis mag ich eigentlich jede Art von Belag.“ Sie lächelte Luke an. „Warum wählst du nicht etwas für uns aus?“ „Wie wäre es mit Salami und schwarzen Oliven? Würde dir das schmecken?“ „Das hört sich wirklich gut an.“ „Sollen wir uns eine Karaffe Kräuterlimonade dazubestellen?“ „Gerne.“ Als die Kellnerin wieder zu ihrem Tisch kam, bestellte Luke die Pizza und das Getränk. Nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte, beugte er sich über den Tisch. Er wollte gerade etwas sagen, als Toby King und Sadie Esh das Restaurant betraten und auf sie zugeschlendert kamen. „Ich hab euch zwei hier nicht erwartet – und dann sitzt ihr auch noch am selben Tisch.“ Toby versetzte Luke einen kräftigen Schlag auf die Schulter. „Na, umwirbst du Martha?“ Lukes Gesicht wurde knallrot. Martha sah bestimmt genauso aus, denn ihre Wangen glühten wie Feuer. „Luke und ich essen bloß eine Pizza“, meldete sie sich gleich zu Wort. Sie wollte Toby keine Gelegenheit geben, bei anderen über sie zu tratschen. Toby schlug Luke noch einmal laut klatschend auf die Schulter. Dann zog er den Stuhl neben ihm unter dem Tisch hervor und setzte sich. „Macht es euch etwas aus, wenn Sadie und ich euch Gesellschaft leisten?“ „Die Frage ist überflüssig“, murmelte Luke. Toby warf einen Blick auf Sadie, die neben Marthas Platz stand und ein unglückliches Gesicht machte. „Willst du dich nicht zu uns setzen?“ Sadie trat nervös von einem Fuß auf den anderen und sah zu einem freien Tisch in der anderen Ecke des Gastraums. „Ich … äh … würde lieber …“ „Ach, komm schon. Luke und Martha haben bestimmt nichts dagegen, wenn wir ihnen ein wenig Gesellschaft leisten. Außer23
dem sind wir oft genug allein, wenn wir erst mal verheiratet sind.“ Toby zwinkerte Sadie zu. „Setz dich doch.“ Sadie zögerte noch immer, aber schließlich gab sie nach. Martha berührte Sadie sanft am Arm. „In ein paar Wochen ist es November. Es dauert also nicht mehr lange bis zu eurer Trauung. Wie läuft denn die Hochzeitsplanung?“ Sadies Gesichtsausdruck wurde träumerisch. „Sehr gut. Meine Mamm und ich haben schon angefangen, das Haus für das Hochzeitsessen herzurichten, und …“ „Wenn jeder, der eine Einladung bekommen hat, auch auftaucht, haben wir über dreihundert Gäste“, unterbrach Toby seine Verlobte. „Weil mein Daed der Bischof des ganzen Bezirks ist, werden viele Leute kommen.“ Luke warf Toby einen missbilligenden Blick zu und Martha verzog das Gesicht. Sie fand es nicht gut, dass Toby mit der großen Zahl von Hochzeitsgästen prahlte. Sie verstand sowieso nicht, was Sadie an ihrem Verlobten so toll fand, aber die Liebe machte wohl blind. Ich habe gut reden, dachte sie reumütig. Schließlich bin ich so dumm, mich in Luke zu verlieben. Martha wollte einfach nicht glauben, dass ihr Vater mit seinem Verdacht recht hatte. Sie würde gerne Lukes Unschuld beweisen. Vielleicht gelingt mir das ja, wenn ich mir Notizen mache und mir die Liste der Verdächtigen noch einmal genau ansehe. Wer weiß, vielleicht erwische ich den Täter und kann Lukes guten Ruf wiederherstellen. Toby stieß Luke mit dem Ellbogen in die Seite. „Hast du immer noch diesen Kleinlaster, den du im Wald versteckt hast? Außer deinen Eltern weiß ja jeder davon.“ Luke stand vor Verblüffung der Mund offen. „Also, ich …“ „Am besten verkaufst du das Vehikel, suchst dir eine nette junge Frau zum Heiraten und schließt dich unserer Gemeinde an.“ Toby grinste Sadie an. „Ich hab eine Weile gebraucht, bis mir klar geworden ist, dass ich heiraten will, aber sobald ich mich dazu entschlossen hatte, hab ich ihr auch schon einen Heiratsantrag gemacht.“ 24
Sadies Augenbrauen zogen sich zusammen. „Moment mal! Wenn ich mich richtig erinnere, hab ich dich gefragt, ob du mich heiraten willst.“ Toby reagierte auf diese Worte mit einem verlegenen Grinsen. Dann stieß er Luke wieder mit dem Ellbogen an. „Na, was sagst du? Wirst du endlich dieses Auto verkaufen und ans Heiraten denken?“ „Ich verkaufe mein Auto, wann ich es will.“ Lukes dunkle Augen blitzten zornig. „Du hast mir gar nichts zu sagen!“ Martha spürte plötzlich einen Kloß im Hals. Sie schluckte mühsam und griff nach ihrem Wasserglas. Dann trank sie rasch einen Schluck und stand auf. „Wohin gehst du denn?“, fragte Toby. „Zur Damentoilette.“ „Ich komm mit.“ Sadie erhob sich von ihrem Stuhl und sah zu Toby herüber. „Wenn die Kellnerin kommt, bestellst du mir dann bitte eine mittelgroße Pizza mit kanadischem Schinken und Pilzen?“ Er musterte sie skeptisch. „Ich denke, du magst nur Peperoni mit Käse.“ Sie schüttelte den Kopf. „Du magst Peperoni. Ich mag lieber kanadischen Schinken mit Pilzen.“ Er hob seine Schultern und ließ sie demonstrativ wieder fallen. „Jah, okay.“ Martha ging eilig zur Damentoilette. Sadie lief neben ihr her. Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, drehte sie sich zu Sadie um und sagte: „Ich weiß nicht, wo das Problem zwischen Toby und Luke liegt.“ „Ich auch nicht. Toby und Luke waren doch mal so gute Freunde. Probleme hat es erst zwischen den beiden gegeben, als Luke mit Ruth ausgegangen ist.“ Sadie seufzte laut. „Ich hab mich damals gefragt, ob Toby vielleicht eifersüchtig war.“ Martha sah sie erstaunt an. „Warum sollte Toby eifersüchtig sein, wenn Luke sich mit meiner Schwester getroffen hat?“ 25
„Eine Zeit lang hab ich geglaubt, dass Toby vielleicht an Ruth interessiert war, aber als ich ihn danach gefragt hab, hat er gemeint, er hätte keine ernsten Absichten mit Ruth. Als sie sich von Luke getrennt hat und mit Martin Gingerich ausgegangen ist, hat Toby gemeint, er würde sich darüber freuen, weil Martin für Ruth eine bessere Wahl wäre und er hoffte, sie würden sehr glücklich.“ Sadie sprach mit einem Stirnrunzeln weiter. „Ruth war ja wirklich glücklich, aber nur so kurze Zeit – bis dieser Unbekannte im letzten Winter ihre Kutsche gerammt hat und Martin gestorben ist.“ Martha nickte, als sie die Erinnerung an diese verhängnisvolle Nacht wieder einholte. Sie und ihre Familie hatten auf Ruth und Martin gewartet. Die beiden waren am Weihnachtsabend zum Essen eingeladen, aber sie kamen nicht. Ihr Vater und Cleon hatten sich schließlich auf die Suche nach Martins Einspänner gemacht und von dem schrecklichen Unfall erfahren. Im Krankenhaus sagte man ihnen, dass Martin tot war und Ruth die Gebärmutter entfernt werden musste. Ruth war verzweifelt, als sie mitbekam, dass sie nicht nur nach zwei Monaten Ehe ihren Mann verloren hatte, sondern auch niemals eigene Kinder bekommen würde. „Ich bin so froh, dass Ruth wieder einen Mann gefunden hat, der sie liebt“, meinte Sadie. „Sie hat es verdient, glücklich zu sein. Ich weiß, dass sie eine gute Fraa für Abe sein wird und eine ebenso gute Mudder für seine Kinner.“ Martha nickte zustimmend. „Alle Kinder von Abe, besonders Esta, haben Ruth lieb gewonnen.“ „Und was ist mit dir und Luke – macht ihr euch den Hof?“ „Natürlich nicht. Ich hab euch doch schon am Tisch erzählt, dass Luke und ich nur zusammen eine Pizza essen.“ Martha ging zum Spiegel, um den Sitz ihres weißen Häubchens zu überprüfen. „Ich seh doch, dass du ihn gern hast. Es steht dir im Gesicht geschrieben.“ Sadie stellte sich neben Martha. „Ich glaube, Luke hat dich auch gern.“ 26
„Wie kommst du darauf?“ „Luke hat Ruth nie so angesehen, wie er dich da draußen angeschaut hat.“ Martha spürte, wie sie rot wurde. Sie legte die Hände auf ihre glühenden Wangen. „Selbst wenn ich etwas für Luke empfinden und er meine Gefühle erwidern würde, haben wir doch keine Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.“ „Warum denn nicht?“ „Wenn niemand beweisen kann, dass Luke nicht schuld ist an den Anschlägen auf unsere Familie, wird mein Vater niemals eine Freundschaft zwischen mir und Luke erlauben.“ Sadie riss erstaunt die Augen auf. „Du glaubst doch nicht, dass Luke etwas mit diesen schlimmen Vorfällen zu tun hat, oder etwa doch?“ „Nein, ich glaube das nicht. Aber mein Daed verdächtigt Luke.“ „Hat er denn Beweise für seinen Verdacht?“ Martha schüttelte den Kopf. „Es gibt aber auch keine Beweise für Lukes Unschuld.“ „Und was wirst du jetzt unternehmen?“ Martha quittierte diese Frage mit einem Achselzucken. Sie wollte Sadie nicht erzählen, dass sie plante, der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Sadie würde mit Toby darüber reden. Sie kannte Toby nur zu gut. Der junge Mann könnte so etwas nicht für sich behalten. Er würde es seinem Vater oder jemand anderem verraten. Deshalb wollte Martha ihre Pläne vorerst für sich behalten. Luke stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und starrte Toby böse an. „Willst du mich etwa vor Martha in ein schlechtes Licht rücken?“ Tobys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Was willst du damit sagen?“ „Ich glaube, das weißt du ganz genau. Du hast meinen Kleinlaster erwähnt und hast es so hingestellt, als sei ich ein schlechter 27
Mensch, nur weil ich mich noch nicht der Gemeinde anschließe. Dann hast du mir nahegelegt, Martha zu heiraten.“ „Wie?“, fragte Toby mit hochgezogenen Augenbrauen. „Das hab ich überhaupt nicht gesagt.“ „Na ja, du hast gesagt, ich sollte mir eine gute Frau zum Heiraten suchen, und du hast dabei Martha fixiert.“ Luke verzog verächtlich den Mund. „Was willst du eigentlich damit erreichen, wenn du bei ihr Hoffnung auf etwas weckst, das niemals passieren wird?“ „Heißt das, dass du sie nicht magst?“ „Doch, ich mag sie. Martha ist sehr nett. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich sie heiraten werde.“ Toby fuhr mit dem Zeigefinger um den Rand seines Wasserglases. „Wenn du Martha den Hof machst, kannst du dich auch in sie verlieben und dich entschließen, sie zu heiraten, oder nicht?“ Luke reagierte auf diese Frage mit einem Achselzucken. „Was hält dich denn davon ab?“ „Marthas Daed hält mich davon ab!“ Toby warf ihm einen wissenden Blick zu. „Ja, das stimmt. Du gehörst nicht unbedingt zu Roman Hostettlers besten Freunden, stimmt’s?“ Luke schüttelte den Kopf. „Solange ich nicht beweisen kann, dass ich nicht hinter den Anschlägen auf seine Familie stecke, wird er mich nie akzeptieren.“ „Wie willst du denn deine Unschuld beweisen?“ „Das weiß ich noch nicht.“ „Wenn du mich fragst: Am besten, du verkaufst dieses Auto und …“ Luke hob die Hand. „Jetzt ist aber Schluss damit. Ich hab schon mal gesagt, dass ich mein Auto erst dann verkaufe, wenn ich so weit bin.“ Toby rümpfte die Nase. „Du hast schon immer gern das letzte Wort gehabt.“ Luke wollte noch etwas zu seiner Verteidigung sagen, aber dann ließ er es doch bleiben. Er war Toby schließlich keine Erklärungen 28
schuldig. Außerdem sah es so aus, als ob Toby ihn bewusst in ein Streitgespräch verwickeln wollte. Schon seit geraumer Zeit schien er es darauf abgesehen zu haben, Luke in einem schlechten Licht dastehen zu lassen. Seitdem sie zwölf Jahre alt waren und Luke beim Hufeisen-Werfen zum Sieger erklärt wurde, obwohl Toby den Sieg für sich beanspruchte, herrschte ein Konkurrenzkampf zwischen den beiden jungen Männern. Nahm Toby es Luke immer noch übel, dass er stets der Bessere gewesen war? Luke zerknüllte die Serviette mit beiden Händen. Was kann ich denn dafür, dass ich beim Ballspielen, beim Wettrennen mit den Kutschen und beim Angeln besser bin als Toby? Er sollte endlich erwachsen werden. In diesem Augenblick kamen Martha und Sadie zum Tisch zurück. Luke verdrängte seine Gedanken. Er wollte nicht, dass ihnen bei ihrem gemeinsamen Essen die gute Laune verdorben wurde. Deshalb würde er alles tun, um mit Toby keinen Streit anzufangen. Trotzdem war Luke froh, als endlich die Pizzas kamen. Jetzt konnte er sich wenigstens auf das Essen konzentrieren. Als sie ihre Pizza gegessen und die beiden anderen endlich das Restaurant verlassen hatten, lagen bei Martha die Nerven blank. Sie und Luke konnten während des Essens nicht richtig miteinander reden und zudem spürte sie eine große Spannung zwischen Luke und Toby. Deswegen fiel es ihr schwer, normale Konversation zu machen. Die Pizza hatte ihr auch nicht so richtig geschmeckt. „Wo liegt denn das Problem zwischen dir und Toby?“, fragte Martha, als sie und Luke draußen waren und auf ihren Einspänner zugingen. Luke lehnte sich an die Fahrerseite der Kutsche und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, Toby ist falsch.“ „Warum sollte er nachtragend sein?“ „Seit unserer Kindheit mache ich vieles besser als er.“ Martha spitzte die Lippen. „Viele Leute können vieles besser als ich, und trotzdem nehme ich ihnen das nicht übel.“ 29
„Jah, aber Toby ist der Sohn des Bischofs. Vielleicht meint er, dass sein Vater von ihm erwartet, auf allen Gebieten perfekt zu sein.“ „Das ist doch narrisch. Ich glaube nicht, dass die Leute von Toby so was erwarten, bloß weil sein Daed in unserer Gemeinde der wichtigste Mann ist.“ „Es mag ja verrückt klingen, aber wenn Toby meint, er muss perfekt sein, dann aber immer wieder merkt, dass er es nicht ist …“ Luke fuhr mit einer Hand unter seinen Strohhut und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Und wenn er mit Leuten wie mir Probleme hat …“ „Dann muss er darüber hinwegkommen“, unterbrach Martha ihn. „Er braucht doch nur sein Bestes zu geben, ohne sich mit dir oder anderen Leuten zu vergleichen.“ „Das ist auch meine Meinung.“ Luke ging ein Stück zurück und streckte die Hand aus, um Marthas Pferd hinter dem Ohr zu kraulen. „Ich muss andauernd an die Anschläge auf eurem Grundstück denken. Langsam frage ich mich, ob jemand versucht, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben, um sich an mir zu rächen.“ „Wer könnte so was machen?“ Luke hob resigniert beide Hände. „Ich weiß es nicht, aber ich will es unbedingt herausfinden.“ „Wie willst du das anstellen?“ Luke zuckte mit den Schultern. „Das hab ich mir noch nicht überlegt.“ Martha holte tief Luft. Sie entschloss sich, endlich das auszusprechen, was sie die ganze Zeit beschäftigte. „Darf ich dir eine persönliche Frage stellen, Luke?“ „Klar doch.“ „Wo warst du am Donnerstag gegen drei Uhr morgens?“ „Im Bett natürlich. Wo sonst sollte ich mitten in der Nacht sein?“ Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe, während sie nach den richtigen Worten suchte. Sollte sie Luke erzäh30
len, dass sie gesehen hatte, wie ein als Amisch gekleideter Mann über das Feld gerannt war? Luke machte einen Schritt auf Martha zu. „Warum willst du wissen, wo ich am Donnerstagmorgen war? Du denkst doch nicht etwa, dass ich diesen Farbeimer auf dem Scheunentor platziert habe?“ Martha musste schlucken. „Als ich aus der Scheune gekommen bin, habe ich mit der Taschenlampe über das Feld hinter unserem Haus geleuchtet. Da habe ich einen Mann gesehen, der aussah wie ein Amisch. Er ist über das Feld gerannt.“ Luke klatschte so plötzlich in die Hände, dass Martha erschrocken zusammenfuhr und ihr Pferd wieherte. „Ich hab dir doch gesagt, dass jemand versucht, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben!“ Er schüttelte heftig den Kopf. „Ich war es nicht, Martha. Du musst mir das einfach glauben.“ „Ich möchte dir gerne glauben. Deshalb werde ich selbst ein paar Nachforschungen anstellen. Ich will herausfinden, wer der Schuldige ist.“ Luke wurde blass. „Du machst jetzt aber einen Scherz, oder?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn du herumschnüffelst, kann dein Daed dir Schwierigkeiten machen. Außerdem lebst du gefährlich, wenn der Täter herausfindet, dass du ihm auf den Fersen bist.“ „Oder die Täterin. Es könnte ja auch eine Frau sein.“ Luke packte Marthas Arm. „Versprich mir, dass du nichts auf eigene Faust unternimmst?“ „Ich kann dir das nicht versprechen. Ich …“ „Was hältst du davon, wenn wir bei der Suche nach dem Täter zusammenarbeiten?“, schlug er vor. „Schließlich sehen vier Augen mehr als zwei.“ Sie nickte erleichtert. Wenn Luke ihr dabei helfen wollte, den wahren Schuldigen zu finden, dann konnte er nicht der Täter sein.
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