Karen Kingsbury
Wege des Herzens Roman
Über die Autorin Karen Kingsbury wollte schon als Kind Schriftstellerin werden. Zunächst studierte sie Journalismus und schrieb für verschiedene Zeitungen. Ihre rührenden Alltags-Kurzgeschichten für die LA Daily News waren so gefragt, dass sie ein Angebot einer New Yorker Agentur bekam. So hatte sie kurz nach der Geburt ihres ersten Kindes die Möglichkeit, einige ihrer bisherigen Artikel zu sammeln und als Buch herauszugeben. Das war der Beginn ihrer Karriere als Autorin zahlreicher Bücher, die regelmäßig zu Bestsellern wurden, darunter „Sarahs Liebeslied“. Sie lebt mit ihrem Ehemann, den sechs gemeinsamen Kindern und zwei Hunden in Houston, Texas.
Karen Kingsbury
Wege des Herzens Roman
Aus dem Englischen 端bersetzt von Elke Wiemer
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright für dieses Buch liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.
Das amerikanische Original erschien in der Hachette Book Group, Inc., 237 Park Avenue, New York, NY 10017, USA, unter dem Titel „Just beyond the clouds/02 Cody Gunner“. © 2007 by Karen Kingsbury © 2010 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen. 1. Auflage 2010 Bestell-Nr. 816 487 ISBN 978-3-86591-487-3 Umschlaggestaltung: Hanni Plato Umschlagfoto: Masterfile Lektorat: Karoline Kuhn Satz: Nicole Schol Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
EINS
Die 18 erwachsenen Schüler standen in einer fröhlich lärmenden Gruppe im vorderen Teil des Klassenzimmers zusammen. Die meisten von ihnen waren eher klein und gedrungen, hatten einen kräftigen Hals und schielten leicht. Bis auf zwei trugen alle starke Brillen. Ihre Stimmen bildeten ein lautes Durcheinander aus heiserem Lachen und übermütigem Geplapper. „Frau Lehrerin!“ Ein Schüler namens Tom trat vor, zog die Augenbrauen zusammen und zeigte auf seinen Klassenkameraden neben sich. „Er will, dass der Bus in die kanadischen Rockies fährt.“ Dabei verdrehte Tom die Augen. Wild gestikulierend zeigte er zum Fenster hinaus. „Die Busse da draußen fahren aber alle in die Colorado Rockies.“ Dabei warf er beide Hände hoch. „Sagen Sie es ihm, Frau Lehrerin.“ „Tom hat recht.“ Die 26-jährige Rebekka Dalton, die für ihre Schüler zugleich Lehrerin, Mentorin, Begleiterin und Freundin war, sah zum Fenster hinaus. „Das da sind die Colorado Rockies. Aber unser Ausflug morgen geht nicht in die Berge.“ Sie lächelte die beiden jungen Männer an. „Wir fahren zum Rocky-Mountain-Einkaufszentrum. Das heißt nur so.“ „Genau.“ Daisy stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. Sie kannte das öffentliche Nahverkehrsnetz besser 5
als alle anderen hier im Lernzentrum. Daisy fuchtelte mit dem Zeigefinger in Toms Richtung. „Ich habe es dir ja gesagt. Morgen gehen wir einkaufen, nicht wandern.“ „Richtig.“ Rebekka trat ein paar Schritte zurück und betrachtete ihre Schüler. Sie hatte das alles schon mindestens zwei Dutzend Mal mit ihnen besprochen. Aber das war ein typischer Donnerstag. „Holt alle eure Spickzettel raus.“ Wie in einer Zeitlupen-Kettenreaktion griffen die Schüler nacheinander in ihre Hosentaschen, manche auch in ihre Socken oder den Hosenbund, und holten ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. Nach etwa einer Minute hatten alle die Zettel in der Hand und fingen an, die Informationen darauf aufzusagen – alle gleichzeitig, aber unterschiedlich schnell und unterschiedlich flüssig. „Wartet!“, rief Rebekka mit erhobener Hand. „Hört mal zu.“ Was jetzt kam, kannte sie in- und auswendig. Sie wartete, bis sie ihre volle Aufmerksamkeit hatte. „Sprecht mir alle nach.“ Langsam ging sie an der Reihe der Schüler entlang. „Buslinie Nr. 10 fährt vom Lernzentrum an der Kreuzung Cheyenne Boulevard und Nevada Avenue Richtung Süden über die Meadows und biegt dann nach links auf den Academy Boulevard zu den Läden ab.“ „Academy Boulevard?“ Carl Joseph trat mit besorgt gerunzelter Stirn hervor. Carl Joseph war noch neu in der Klasse. Er war erst vor drei Monaten dazugekommen. Ob er es jemals schaffen würde, selbstständig zu werden, war fraglich. „Ist das noch in Colorado Springs oder woanders?“ „Das ist hier, Carl Joseph.“ Daisy klopfte ihm auf die Schulter. „Direkt hier in Colorado Springs.“ „Genau.“ Rebekka musste grinsen. Daisy würde die Klasse genauso gut unterrichten wie sie. „Die Busfahrt dauert etwa eine Viertelstunde.“ Carl Joseph nickte, sah aber immer noch verunsichert aus. 6
„Gut. In Ordnung, Frau Lehrerin. Wenn Sie das sagen, ist es in Ordnung.“ Damit trat er wieder zurück in die Reihe. Und so ging es eine halbe Stunde lang weiter. Rebekka erklärte alles noch einmal im Einzelnen: die Farbe des Busses – Orange –, wie lange sie Zeit hatten, um einzusteigen, wie lange die Fahrt zum Academy Boulevard dauern würde und wie viele Haltestellen es vom Einsteigen bis zum Aussteigen geben würde. Für viele von ihnen war das alles Wiederholung. Sie nahmen jede Woche eine andere Buslinie durch, mussten sie auswendig lernen, aufzeichnen und im Rollenspiel nachspielen, bis sie sie schließlich bei ihrem Freitagsausflug dann abfuhren. Wenn sie die 30 wichtigsten Busverbindungen durchhatten, fingen sie wieder von vorne an. Rebekkas Schüler hatten alle Downsyndrom und litten unterschiedlich stark an Problemen mit dem Kurzzeitgedächtnis. Man konnte die Busverbindungen daher gar nicht oft genug wiederholen. Nach 30 Minuten ließ die Aufmerksamkeit in der Gruppe rapide nach. Rebekka hob die Hände. „Pause.“ Sie sah noch einmal zum Fenster hinaus. Es war ein schöner Morgen im April, und die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel herab. „Eine Viertelstunde … heute gehen wir nach draußen.“ „Jippiiih!“ Tammy, eine Schülerin mit langen braunen Zöpfen, vollführte einen Freudensprung. „Pause draußen!“ „Bäähh! Ich hasse Pause draußen!“, sagte Simon mürrisch und stieß mit der Faust in die Luft. Er war mit 30 der älteste Schüler im Lernzentrum. „Ich hasse es. Ich hasse es. Ich hasse es.“ „Nicht hassen“, erwiderte Tom mit erhobenem Zeigefinger. „Draußen kann man prima Tischtennis spielen.“ „Fangen. Du bist!“ Dabei tippte Brian Tom auf die Schulter und rannte lachend zur Tür hinaus. Brian mit den roten 7
Haaren war schon von Anfang an dabei, seit Rebekka vor zwei Jahren hier angefangen hatte. Er war bei Weitem der fröhlichste Schüler. Im Hinausrennen rief er: „Wir können Fangen spielen, und alle können mitmachen!“ „Ja!“ „Ich hasse Fangen.“ Simon verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. „Ich hasse es. Ich hasse es. Ich hasse es.“ Die anderen Schüler verließen den Raum und redeten dabei alle durcheinander. Carl Joseph und Daisy trotteten hinterher und waren dabei ganz in ihre eigene Welt versunken. Er zeigte nach draußen. „Kein Regen heute, Daisy. Nur ganz viel Sonne. Das hat Gott gemacht, stimmt’s?“ „Stimmt.“ Sie sah mit bewunderndem Blick zu ihm auf. „Wir müssen Gott Danke sagen.“ „Dachte ich mir.“ Er lachte ein tiefes, kehliges Lachen und klatschte in die Hände. „Ich dachte mir, dass wir Gott dafür Danke sagen müssen.“ Rebekka lächelte und ging ins angrenzende Zimmer. Dort schenkte sie sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein und ging zu ihrem Schreibtisch. Dass sie hier im Lernzentrum arbeitete, hing einzig und allein mit Daisy Dalton zusammen. Sie war ihre Lieblingsschülerin und ihre kleine Schwester. Ihr bestes Projekt. Wie anders war doch das Leben für Daisy hier in Colorado Springs geworden. Noch vor zwei Jahren hatte sie den ganzen Tag zu Hause bei ihrer Mutter verbracht, in dem 120-Seelen-Dorf Lindon, zwei Stunden östlich von Denver im Staat Colorado. Rebekka, die älteste der Dalton-Töchter, war gerade 9 Jahre alt gewesen, als ihr Vater eines Morgens aus dem Haus ging, um ins Büro zu fahren, und nie wieder zurückkam. Ein Autounfall. Sie hatten das Geld aus seiner Lebensversicherung und eine Schadensersatzstrafe des betrunkenen Fah8
rers, der mit ihm zusammengeprallt war. Es war genug, dass ihre Mutter nicht arbeiten musste. Es war genug, damit das Leben so weitergehen konnte wie bisher – abgesehen von der größten und schmerzlichsten Veränderung überhaupt. Denn ihr Papa hatte seine Mädchen von ganzem Herzen geliebt. Die Zeit verging wie im Flug, und die Dalton-Mädchen gingen eine nach der anderen von zu Hause fort, um zu studieren. Auch Rebekka. Sie machte ihren Abschluss als Lehrerin. Daisy war die Jüngste, und als sie 18 wurde, stand eines fest: Wenn sie in Lindon blieb, würde sie nie eine Chance haben, sich weiterzuentwickeln. Und das war einfach undenkbar, denn ihre Mutter hatte für Daisy genauso große Träume wie für ihre anderen Töchter. Ganz gleich, was die Ärzte und Lehrbücher damals über Menschen mit Downsyndrom sagten, ihre Mutter hatte von Anfang an geglaubt, dass Daisy viel erreichen konnte. Sie war überzeugt, dass es richtig war, Daisy in ihren ganz normalen Tagesablauf einzugliedern. Wenn es also in Mathematik darum ging, Geld zu zählen, lernte Daisy Geld zu zählen. Wenn sie die Küche aufräumte, zeigte sie Daisy, wie man die Spülmaschine bediente. Wenn der kleine Bus für Behinderte kam, hielt er nicht vor dem Haus der Daltons. „Ihr zeigt Daisy, was sie tun muss und wie sie sich verhalten soll“, hatte ihre Mutter zu ihren anderen Töchtern gesagt. „Wie soll sie es sonst lernen?“ Wie sich später herausstellte, war die Einstellung ihrer Mutter wissenschaftlich betrachtet hochmodern. Als Rebekka ihren Abschluss in Sonderpädagogik machte, war die Integration Behinderter der letzte Schrei. Menschen mit Behinderung konnten mehr erreichen, als man je gedacht hatte, wenn sie nur die richtigen Vorbilder hatten. Als man ihr die Leitung des Lernzentrums anbot, erstellte 9
Rebekka einen Plan und zeigte ihn ihrer Mutter. Sie könnten ihr Haus in Lindon verkaufen und gemeinsam ein Haus in Colorado Springs kaufen. Dann würde Rebekka das Lernzentrum leiten, Daisy könnte es besuchen und ihre Mutter könnte wieder arbeiten gehen. Die Verbundenheit mit dem alten Bauernhaus ließ ihre Mutter zögern, aber nicht lange. Ihr Leben hing nicht an einem Haus, und die Familie war nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Der Umzug ging schnell vonstatten, und Daisy blühte von ihrem ersten Tag im Lernzentrum an richtig auf. Ihre Freundschaft mit Carl Joseph war ein weiterer Beweis dafür. Rebekka nippte an ihrem Kaffee, stand auf und ging ans Fenster. Sie setzte sich auf die Fensterbank und beobachtete ihre Schüler. Noch vor 15 Jahren wäre eine Schule wie diese undenkbar gewesen. Zu der Zeit, als die meisten ihrer Schüler geboren waren, hatten ihre Eltern keine Wahl gehabt. Die Hälfte der Kinder kam in ein Heim, wo es wenig oder keine Hoffnung gab, dass sie je etwas erreichen würden. Die übrigen wurden auf spezielle Behindertenschulen geschickt, die sie aber nur teilweise förderten. Rebekka nahm noch einen Schluck Kaffee. Das Lernzentrum tat nicht nur ihren Schülern gut, von denen die meisten fünfmal die Woche für je sechs Stunden kamen. Es gab auch ihr einen tiefen Sinn im Leben, einen Ort, an den sie gehörte und an dem sie niemand fragte, warum sie keinen Ring mehr trug. Sie sah auf die Uhr, stand auf und ging zur Tür. An manchen Tagen war die Arbeit hier nicht nur ein Grund weiterzumachen, sondern überhaupt der Grund, aus dem sie lebte. Sie öffnete die Tür. „Die Pause ist zu Ende! In zwei Minuten sitzt ihr wieder auf euren Plätzen.“ „Frau Lehrerin, nur noch ein Punkt!“, rief Tom und we10
delte dabei mit seinem Tischtennisschläger. Mit der anderen Hand hielt er sich an der Platte fest. „Nur noch ein Punkt. Bitte!“ „Na gut.“ Rebekka unterdrückte ein Grinsen. Tom war einfach zu liebenswert. Er konnte seine Gefühle am besten von allen ausdrücken. „Spielt zu Ende, und dann kommt ihr sofort rein.“ Es dauerte fünf Minuten, bis alle wieder an ihren Plätzen saßen und sie ansahen. Das Lernzentrum war sehr geräumig und hatte verschiedene Bereich für die unterschiedlichsten Zwecke. Die Busverbindungen lernten sie in einer mit Teppich ausgelegten und von Bänken umgebenen Nische mit einer großen Wandtafel. In einem anderen Teil war die Küchenzeile mit drei Tischen und Stühlen. Dort übten sie Kochen und Tischmanieren. Dann gab es noch das Fach „Sprechen und Verständigung“ mit einem eigenen Bereich. Dieser war ebenfalls mit Teppich ausgelegt, und die Schüler saßen auf Sofas und gepolsterten Stühlen, um eine Wohnzimmer-Atmosphäre zu schaffen. Ziel war es, die Schüler mit Alltagssituationen vertraut zu machen und ihnen beizubringen, Verhaltensweisen anderer richtig zu verstehen und entsprechend darauf zu reagieren. Rebekka sah ihre Schüler an. „Wer will zuerst etwas zeigen?“ Daisy hatte schon die Hand gehoben, bevor Rebekka ihre Frage fertig gestellt hatte. „Ich, Frau Lehrerin!“ Daisy bereitete es großes Vergnügen, Rebekka mit „Frau Lehrerin“ anzusprechen. Sie legte den Kopf zurück und lachte und schaute dann, ob Carl Joseph einverstanden war. „Stimmt’s? Wir sind doch so weit, oder?“ „Äh …“ Carl Joseph schob seine Brille hoch. Er wirkte etwas verwirrt, aber seine Augen leuchteten auf, als er zu Daisy 11
sah. Seine Antwort kam langsam und viel zu laut. „Stimmt, Daisy. Du hast recht.“ „Pssst.“ Daisy legte den Zeigefinger auf die Lippen und zog die Augenbrauen hoch. „Wir hören dich ja, CJ.“ In ihrer Stimme lag keine Missbilligung. Es war nur eine Erinnerung, so wie sich Freunde gegenseitig ermahnen. Carl Joseph zog die Schultern hoch und sah schuldbewusst drein. Er hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. „Okay.“ Dann sagte er laut flüsternd: „Ich werde jetzt leise sein, Daisy.“ Die anderen begannen, das Interesse zu verlieren. Rebekka deutete auf den freien Platz neben sich auf dem Teppich. „Daisy und Carl Joseph, kommt her und zeigt uns, was ihr habt.“ „Ja“, grunzte Simon missbilligend und stieß wieder die Faust in die Luft. Er war der launischste ihrer Schüler, und heute war er besonders schlecht drauf. „Los jetzt. Macht schon.“ Unbeeindruckt stand Daisy auf und nahm Carl Josephs Hand. Er hatte rote Wangen, aber als er sich auf Daisy konzentrierte, schien er die nötige Kraft zu finden und stellte sich neben sie vor die Klasse. Daisy ließ ihn dort stehen, ging zum CD-Player und drückte ein paar Knöpfe. Glenn Millers „In the Mood“ erfüllte den Raum. Daisy streckte ihre Hand aus, und Carl Joseph nahm sie. Nach kurzem Zögern fingen die beiden an, einen einfachen Swing zu tanzen. Dabei zählte Carl Joseph die ganze Zeit den Takt – nicht immer ganz im Einklang mit der Musik –, und Daisy drehte und bewegte sich mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Rebekka bekam feuchte Augen bei diesem Anblick. Für sie waren Freundschaft und Liebe nie so einfach gewesen. Aber das hier … so sollte Liebe eigentlich sein, wie diese ein12
fache, unbedarfte Zuneigung zwischen den beiden. Zärtlich hielt Carl Joseph Daisys Hand und führte sie sanft durch die Schritte. Natürlich war Rebekka sehr bewusst, welcher Tag heute war. Heute wäre ihr vierter Hochzeitstag gewesen. Sie rieb ihren nackten Ringfinger und biss sich auf die Lippe. Wie viele Jahre würde es wohl noch dauern, bis dieses Datum seine Bedeutung verlieren würde? Dann trat Carl Joseph Daisy mitten in einer Drehung aus Versehen auf den Fuß. Sie taumelte, aber sofort fing Carl Joseph sie auf und half ihr, das Gleichgewicht wiederzufinden. „Alles in Ordnung, Daisy? In Ordnung?“ Er strich ihr mit der Hand über die Schulter, die Haare, die Wange. „Alles in Ordnung.“ Daisy hatte jahrelange Erfahrung im Tanzen. Auf diese Art hatte ihre Mutter dafür gesorgt, dass Daisy genug Bewegung bekam. Sie hatte sich bei dem kleinen Stolperer ganz bestimmt nichts getan. Trotzdem lehnte sie sich an Carl Joseph und ließ gern zu, dass er sie berührte. Nach einigen Augenblicken tanzten sie weiter und lachten vor Freude, während sie vor der Klasse ihre Kreise drehten. Die Musik wirkte ansteckend. Tom stand auf, wedelte mit den Händen über dem Kopf und schwang die Hüften. Sogar Simon brachte ein leichtes Lächeln hervor. Als das Lied zu Ende war, waren Daisy und Carl Joseph total außer Atem. Sie hielten sich an der Hand und verbeugten sich theatralisch. Vier der Schüler standen auf und klatschten, als hätten sie soeben eine Vorführung auf einer Broadway-Bühne gesehen. Daisy winkte ihnen zu. Rebekka lächelte. Diese Situation war gut für Daisy. Sie hatte ihr ganzes Leben mit Nichtbehinderten verbracht, die gute soziale Fähigkeiten hatten. Sie war es nicht gewohnt, andere vor sich zu haben, denen sie etwas voraushatte. 13
„Danke …“ Sie winkte noch einmal mit den Armen. Die anderen Schüler tanzten fröhlich, klatschten und lachten dabei. Sogar Simon war aufgestanden. Als die beiden sich wieder setzten, sprang Tom auf und eilte nach vorne. „Tom … willst du als Nächster?“ Rebekka kam ein Stück näher. „Ja.“ Seine Antwort klang mehr nach einer Frage, und sofort setzte er sich wieder hin. „Entschuldigung, Frau Lehrerin.“ Er hob die Hand. „Tom?“ „Darf ich jetzt?“ „Ja.“ Die Übung dauerte noch gut eine Stunde. Jeder der Schüler entwickelte seinen bestimmten Grad an Selbstständigkeit immer weiter. Das Ziel war, dass sie eines Tages von zu Hause ausziehen und entweder in einer Wohngruppe oder mit täglicher Betreuung alleine leben würden. Sie hätten dann nur noch zweimal pro Woche abends Unterricht, damit sie tagsüber arbeiten gehen konnten. Rebekka lehnte sich an die Wand und sah Tom zu, wie er die dramatische Geschichte von einem Schachspiel gegen Brian erzählte, dem Rotschopf, der mit 16 der jüngste Schüler war. Nachdem Tom stürmischen Beifall für seine Erzählung bekommen hatte, hörten sie ein Gedicht von Tammy, dem Mädchen mit den langen Zöpfen – das Sonett 43 von Elizabeth Barrett Browning. Als Tammy einmal ins Stocken geriet, stand Carl Joseph auf und ging zu ihr. Er zeigte auf das Blatt und legte ihr den Arm um die Schulter. „Du schaffst das“, flüsterte er ihr zu. „Mach weiter.“ Daisy zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Als Tammy schließlich die Stelle fand und weitermachte, 14
zitterte sie. Die nächsten paar Sätze waren stockend und mühsam, aber sie gab nicht auf. Carl Joseph ließ das nicht zu. Als sie das Gedicht fertig vorgetragen hatte, führte Carl Joseph sie zu ihrem Platz auf dem Sofa zurück und setzte sich dann auf seinen eigenen Platz. Dann erzählte Simon noch von einem Film, den er mit seinem Vater gesehen hatte. Er handelte von dunklen Höhlen und verloren gegangenen Tieren und einem König, dessen eigenes Reich sich gegen ihn gewandt hatte. Die Handlung war zu kompliziert, um ihr folgen zu können, aber irgendwie schaffte es Simon noch, am Schluss Fragen zu beantworten. Als Nächstes waren Tischmanieren dran, und bevor Rebekka noch auf die Uhr schauen konnte, war es schon 15:00 Uhr, und die Eltern kamen, um die Schüler abzuholen. Rebekka sah, dass Daisy und Carl Joseph am Fenster auf seine Mutter warteten. Sie ging zu ihnen und klopfte ihrer Schwester auf den Rücken. „Das war ein schöner Tanz.“ „Danke“, sagte Daisy grinsend. „Carl Joseph hat gute Nachrichten.“ „Tatsächlich?“ Rebekka sah den jungen Mann an. Seine Augen waren freundlich. „Was sind das für gute Nachrichten, Carl Joseph?“ „Bruder.“ Er lächelte und zeigte dabei eine niedliche Zahnlücke. „Bruder kommt morgen nach Hause.“ „Oh.“ Rebekka legte ihm die Hand auf die Schulter. Er hatte schon von seinem Bruder erzählt. Er war älter als Carl Joseph und war Bullenreiter. Oder vielleicht hatte er früher einmal Bullen geritten. Da war sich Rebekka nicht ganz sicher. Was auch immer er tat, so, wie Carl Joseph von ihm sprach, kam er wohl direkt nach Supermann. Sie lächelte. „Das ist wunderbar.“ Carl Joseph nickte. „Ja“, erwiderte er mit dröhnender Stimme. Er schob seine Brille hoch. „Das ist wunderbar!“ 15
„CJ … pssst“, sagte Daisy und tätschelte ihm die Hand. „Wir hören dich.“ „Ach ja.“ Er hielt sich mit einer Hand den Mund zu und streckte den Zeigefinger der anderen Hand hoch. „Entschuldigung.“ Rebekka schaute auf die runde Auffahrt draußen. Sie war leer. Sie ließ sich gegenüber von Carl Joseph und Daisy auf einen Stuhl nieder. „Reitet dein Bruder immer noch Bullen?“ „Nein … jetzt nicht mehr.“ „Hat er keine Lust mehr dazu?“ Rebekka konnte sich gut vorstellen, dass man es irgendwann satthaben konnte, von zwei Tonnen schweren Bullen durchgeschüttelt zu werden. „Nein.“ Plötzlich sah Carl Joseph traurig aus. „Er wurde verletzt.“ Daisy nickte. „Ganz schlimm.“ „Oh.“ Rebekka war direkt etwas besorgt um Carl Josephs Bruder. „Geht es ihm denn jetzt wieder gut?“ Carl Joseph blinzelte und schien sich seine Antwort gründlich zu überlegen. „Nachdem er verletzt wurde, ist er noch eine Saison geritten. Aber dann wollte er nicht mehr.“ Er zog eine Schulter hoch und legte den Kopf schräg. „Ich glaube, es tut ihm immer noch weh.“ „Wie heißt er denn?“ Rebekka sah das Auto von Carl Josephs Mutter in die Auffahrt fahren. „Luke Gunner.“ Carl Josephs Stolz auf seinen Bruder war nicht zu übersehen. „Der weltbekannte Rodeoreiter Luke Gunner. Mein Bruder.“ Rebekka lächelte. Die Fantasie ihrer Schüler überraschte sie immer wieder. Wahrscheinlich war Carl Josephs Bruder Buchhalter oder Vertreter bei irgendeiner Firma in Denver. Vielleicht hatte er ja wirklich schon einmal auf einem Bullen gesessen. Aber deshalb war er noch kein Rodeoreiter. Aber 16
darauf kam es natürlich nicht an. Das Einzige, was zählte, war, wie Carl Joseph ihn sah. „Deine Mutter ist da, CJ.“ Daisy zeigte auf das Auto. Sie stand auf und nahm Carl Josephs Hand. „Das ist ein großer Tag morgen. Dein Bruder kommt nach Hause.“ Carl Joseph bekam rote Wangen und lachte Daisy an. „Danke, Daisy, dass du mich daran erinnerst.“ Sie gingen zusammen hinaus, und an der Tür umarmte Daisy ihn. Weiter ging ihre Beziehung noch nicht, und darüber war Rebekka ganz froh. Sie brauchten Zeit, um ihre Beziehung zu entwickeln. Was sie heute gesehen hatte, war genug für den Augenblick. Als die letzten Schüler gegangen waren, rückten Daisy und sie die Stühle und Tische zurecht und schlossen ab. Auf dem Heimweg war Daisy ungewöhnlich still. Schließlich holte sie tief Luft. „Wir sollten für Carl Josephs Bruder beten. Für den weltberühmten Rodeoreiter.“ Rebekka fuhr die zweispurige Schnellstraße zu ihrem neuen Haus entlang. „Ist er immer noch nicht wieder in Ordnung?“ „Ja, genau.“ Sie runzelte die Stirn. „Es ist hart, wenn man verletzt wird.“ „Ja, allerdings.“ Rebekka sah auf ihre Hand und den Finger, an dem vor vier Jahren ein Ring gesteckt hatte. „Sehr schwer.“ Daisy zeigte auf sie. „Du betest, Rebekka, okay?“ „Okay.“ Rebekka hielt den Blick auf die Straße gerichtet. „Lieber Gott, bitte sei bei Carl Josephs Bruder.“ „Luke Gunner“, warf Daisy ein und öffnete kurz die Augen, um ihre Schwester anzusehen. „Genau, Luke Gunner.“ „Der weltberühmte Rodeoreiter.“ Daisy schloss die Augen wieder und tätschelte Rebekkas Hand. „Sag alles.“ 17
„Luke Gunner, der weltberühmte Rodeoreiter.“ Rebekka erlaubte sich ein leichtes Lächeln dabei. „Bitte bewirke du, dass es ihm wieder besser geht und er nicht mehr verletzt ist.“ „In Jesu Namen.“ „Amen.“ Den Rest der Fahrt dachte Rebekka an den Jahrestag des Ereignisses, das nie stattgefunden hatte, und an den Anblick von Daisy, wie sie in Carl Josephs Armen tanzte. Wenn andere sie und Daisy sahen, dachten sie, dass Rebekka die Begabte sei. Rebekka, die alles im Griff hatte, die hübsch und intelligent war und der im Leben alles zufiel. Daisy war in den Augen der anderen die Bemitleidenswerte. Sie war klein und gedrungen, hatte ein schwaches Herz und schwache Augen. In einer Welt, in der nur Leistungssportler und Schönheitsköniginnen geschätzt wurden, war sie die Außenseiterin. Daisy war nach Ansicht anderer von Anfang an zur Bedeutungslosigkeit verdammt gewesen. Jeder dachte, dass Rebekka die besseren Karten hatte. Ironischerweise war genau das Gegenteil der Fall.
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