1 Der Fremde am Wohnzimmertisch Wenn ich daran denke, was mir neulich passiert ist, dann wird mir immer noch ganz heiß und kalt. Das war echt unglaublich – eine so spannende Angelegenheit, dass selbst mein Onkel Werner, der bei der Kripo arbeitet, große Augen gemacht, die Luft angehalten und dann lange und nachdenklich den Kopf geschüttelt hat, als er davon erfuhr. Nun, es war ja auch ein ziemlich gefährliches Abenteuer, auf das Palle und ich uns da eingelassen hatten. Wir waren in ziemliche Schwierigkeiten geraten und die ganze Sache war völlig anders verlaufen, als wir uns das eigentlich gedacht hatten. Doch alles hübsch der Reihe nach … Zunächst einmal ein paar Worte zu mir: Ich heiße Pille. Das heißt, mein eigentlicher Name ist Philipp Kieselbach. Pille ist mein Spitzname. Im Mai werde ich zehn und nach dem Sommer komme ich schon in die fünfte Klasse. Papa wird am ersten Schultag wieder sagen, dass 7
nun aber wirklich der „Ernst des Lebens“ beginnen würde, mir durch meine blonden, ohnehin schon ständig strubbeligen Haare wuscheln und mir dann aus dem Küchenfenster nachwinken, wenn ich nach dem Frühstück das Haus verlasse und mich auf den kurzen Weg zur Schule mache. Papa ist Schriftsteller. Das heißt, dass er Bücher und manchmal auch Artikel für Zeitschriften schreibt und so gut wie immer zu Hause arbeitet. Meine Mutter ist leider schon gestorben, als ich vier war. Seither leben Papa und ich allein. Abgesehen von unseren beiden Haustieren: Dr. Pringel, meinem hellbraunen Kaninchen, das in einem kleinen Verschlag hinter unserem Haus wohnt, und einem alten grauen Esel, den mein Vater Darwin genannt hat und der wegen seines fortgeschrittenen Alters keine Arbeiten mehr verrichten muss, sondern bei uns sein Gnadenbrot bekommt. Der Ort, in dem wir wohnen, heißt Heinersdorf und ist genau genommen ein Ortsteil von Berlin, der aber so weit am Rande der Großstadt liegt, dass es bei uns eher ländlich zugeht. Immerhin sind wir noch durch eine Straßenbahnlinie, die allerdings hier in Heinersdorf endet, mit Berlin verbunden. Meine Freizeit verbringe ich meistens mit meiner besten Freundin Palle, die eigentlich Paula heißt. Sie ist genauso alt wie ich und hat 8
braune Locken. Es gibt Leute, die denken, uns beide gäbe es nur im Doppelpack, deshalb machen sie sich gar nicht erst die Mühe, uns Pille und Palle zu nennen, sondern rufen uns gleich mit „Pille-Palle“. Palle kenne ich schon aus dem Kindergarten. Heute gehen wir in die gleiche Klasse. Manche hänseln mich dafür, dass ich mich mit einem Mädchen abgebe, oder machen dumme Bemerkungen von wegen „meine Verlobte“ und so, aber Palle ist voll in Ordnung und ein super Kumpel. Mit ihr kann man echt Pferde stehlen. Und Abenteuer erleben. So wie das Abenteuer, von dem ich euch hier erzählen will. Die ganze Sache begann damit, dass ich am letzten Tag vor den Osterferien aus der Schule nach Hause kam und einen Fremden im Esszimmer unseres Hauses erwischte. Ja, wirklich! Der Mann saß auf einem unserer Stühle an unserem Wohnzimmertisch, hatte vor sich eine unserer Suppenschüsseln stehen und … schlief. Nicht dass ich direkt Angst vor dem Mann gehabt hätte, und eigentlich sah er ja auch ganz friedlich aus, wie er da so saß … Aber er gehörte eben nicht hierher! Und überhaupt – wie er aussah! Der Mann trug eine großkarierte Hose und ein ebenso kariertes Jackett. Um den Hals hatte er eine Fliege gebunden und neben ihm auf dem Tisch lag eine Pfeife. Nach Rauch roch es nicht und ich konnte mir auch 9
kaum vorstellen, dass Papa jemandem erlauben würde, in unserem Haus zu rauchen. Aber wo steckte Papa überhaupt? Auf meinem Weg von der Haustür hierher ins Esszimmer war ich ihm nicht begegnet, und da ich seit dem Beginn dieses Schuljahres einen eigenen Schlüssel besaß, hatte ich auch nicht zu klingeln brauchen. Für Papa war es oft nicht so ganz einfach, neben seinem Beruf auch noch den ganzen Haushalt so gut wie allein zu schmeißen und sich um mich und meine schulischen Sorgen und Nöte zu kümmern. Aber irgendwie waren wir doch ein gut eingespieltes Team und kamen ohne größere Probleme zurecht. Und eigentlich sagte mir Papa immer vorher, wenn er außer Haus musste und nicht da sein würde, wenn ich nach Hause kam. Heute Morgen allerdings hatte er nichts davon gesagt. Kein Wort. Das wusste ich genau. Und auch einen Besucher hatte er nicht angekündigt. Und nun? Langsam und so leise wie möglich, um nur ja nicht den fremden Mann an unserem Esstisch zu wecken, machte ich auf dem Absatz kehrt und schlich mich in die Küche. Auch dort von Papa keine Spur. Ebenso in allen anderen Zimmern unseres Hauses. Papa steckte nirgends und so bekam ich es langsam ein wenig mit der Angst zu tun. Hatte der komische Typ in unserem Esszimmer etwas mit dem Verschwinden 10
meines Vaters zu tun? Hatte er ihn vielleicht sogar entführt? Nein, dachte ich und versuchte mich ein wenig zu beruhigen. Das konnte eigentlich nicht sein. So etwas passierte doch höchstens im Fernsehen, oder? Und wer wäre schon so dumm, am Tatort zurückzubleiben und seelenruhig am Esstisch einzuschlafen? Bevor ich mir weitere Gedanken über den Verbleib meines Vaters machen konnte, hörte ich, dass die Haustür aufgeschlossen wurde. Aha!, dachte ich. Das musste er sein. Und richtig: Bepackt mit mehreren Einkaufstüten zwängte Papa sich in den Flur und lächelte mir gezwungen zu. Offenbar waren die Beutel in seiner Hand alles andere als leicht. Gemeinsam schleppten wir die Einkäufe rasch in die Küche. Dann deutete ich mit dem Kopf in Richtung Esszimmer. „Der Mann da drinnen – wer ist das?“ Papa schmunzelte. „Hat er sich dir noch nicht vorgestellt?“ Mein Vater machte einen langen Hals, um durch die Tür zu spähen. „Er schläft“, gab ich knapp zurück und rollte dabei mit den Augen. „Nun denn“, Papa wusch sich rasch die Hände am Spülbecken und schob mich anschließend durch den Flur direkt ins Esszimmer, „wenn das so ist, wird es höchste Zeit, dass ihr zwei beiden euch kennenlernt.“ 12
Als wir bei dem geheimnisvollen Mann angekommen waren, legte Papa ihm sanft eine Hand auf die Schulter und stieß ihn leicht an. Der Mann öffnete blinzelnd die Augen, schien ein wenig verwirrt und schaute zu Papa hoch. Der grinste, zog mich dicht an sich heran und wuschelte mir durchs Haar. „Das ist Pille … also, ich meine … Philipp“, sagte er, „mein Sohn.“ Nun erhob sich der Fremde und fuhr sich mit der flachen Hand über seine Augen, die er offenbar vor Müdigkeit noch immer nicht so recht offen halten konnte. Der Mann war in der Tat eine interessante Erscheinung. Ein wenig erinnerte er mich an Sherlock Holmes. Ja, wirklich! Er sah aus wie der leibhaftige Sherlock Holmes. Vor allem wenn ich mir vorstellte, wie er seine Pfeife im Mund hielt, was er jetzt allerdings nicht tat. „Das ist Mister Glenn aus London“, sagte mein Vater mit offensichtlichem Stolz in der Stimme. Der fremde Mann zwinkerte mir lächelnd zu und streckte mir seine Hand entgegen. „Mister Glenn ist ein Schriftsteller, genau wie ich“, fügte Papa schnell hinzu. „Aha“, sagte ich, während ich die mir hingehaltene Hand ergriff und schüttelte. Glenn hatte einen festen Griff. „Hi, Philipp“, sagte der Engländer, nachdem er meine Hand wieder freigegeben hatte, in ei13
ner ziemlich hohen Stimmlage, „do you speak English?“ Na ja, das war ja eine tolle Frage! Ob ich Englisch sprechen würde. Schließlich lernte ich es seit Jahren in der Schule. Aber jetzt? So ganz unvorbereitet und dann noch einem echten Engländer gegenüber? Ich brachte nicht mehr heraus als ein fürchterlich klingendes „A little bit“. Aber Glenn schien das nicht weiter zu stören. Er lächelte noch immer. Dafür schaltete mein Vater sich ein und gab ein paar Detailinformationen: Glenn hieß mit Vornamen Harold und würde noch bis Mitte nächster Woche bei uns bleiben, weil er hier in Berlin Recherchen für sein neues Buch durchführen wollte. Papa und der Engländer hätten sich vor einiger Zeit bei einem Schriftstellerkongress in Hamburg kennengelernt, und als Harold Glenn nun nach einem Quartier in Berlin gesucht habe, sei es für meinen Vater eine Selbstverständlichkeit gewesen, ihm ohne lange zu zögern unser Gästezimmer anzubieten. Überdies beherrsche der Engländer ein wenig unsere Sprache, sodass es auch in dieser Hinsicht keine großen Probleme geben würde. Nun gut, ich hörte mir das alles an und blickte dabei abwechselnd zu meinem Vater und dem Engländer. Beide schienen außerordentlich vergnügt zu sein, und als mein Vater mit seiner Rede zum Ende kam, verabschiedete ich mich 14
ebenso schnell wie höflich und verschwand auf mein Zimmer. Ich hatte keine Ahnung, ob – und wenn ja, in welcher Weise – mich das Auftauchen dieses geheimnisvollen Fremden betreffen würde. Wenn ich damals allerdings schon gewusst hätte, wie sehr mich die Sache mit Harold Glenn in den nächsten Tagen noch beschäftigen sollte, dann hätte ich gewiss nicht so gleichgültig reagiert. So aber verkroch ich mich nichts ahnend in meinem Zimmer, legte eine CD ein und hörte Musik. Die Osterferien hatten begonnen und ich freute mich auf ein paar schulfreie Tage. Mal sehen, vielleicht würden Palle und ich eine Radtour unternehmen oder die große Modellbahnanlage am Alexanderplatz besichtigen, die ich mir schon lange einmal ansehen wollte. Oder wir würden in die Schwimmhalle fahren und dort ein wenig herumtoben. Vielleicht würden wir auch einfach im Garten sitzen und quatschen und fünfe gerade sein lassen. Dass nichts von alledem passieren und wir stattdessen Dinge erleben würden, von denen wir nicht einmal zu träumen wagten, konnte ich nicht ahnen. Aber bald schon sollte sich abzeichnen, dass die nächsten Tage gewiss nicht langweilig werden würden.
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2 Blaulicht und Kartoffelschalen Der Rest dieses Tages verlief eher ereignislos. Mein Vater hing die ganze Zeit über mit seinem englischen Berufsgenossen zusammen, der lediglich am späten Nachmittag für eine halbe Stunde unser Haus verließ, um sich, wie er sagte, ein wenig die Beine zu vertreten. „I’ll take a walk“, hatte er in feinstem BritishEnglisch erklärt. Am Abend aßen wir dann gemeinsam. Bratwurst mit Sauerkraut und Salzkartoffeln. „Typisch deutsche Kost“, wie Papa meinte. Nachdem ich schließlich die Spülmaschine eingeräumt und in Gang gesetzt hatte, was zu meinen häuslichen Pflichten gehörte, verschwand ich in mein Zimmer und las ein wenig. Irgendwann, so gegen 22 Uhr, wurde ich allmählich müde. So langsam war es an der Zeit, ins Bett zu gehen, dachte ich und machte mich gähnend auf den Weg zum Badezimmer, um mir ordnungsgemäß die Zähne zu putzen. Als ich 16
über den Flur lief, nahm ich von draußen her blaue Lichtblitze wahr. Nun passiert es ja manchmal, dass ein Notarztwagen zu uns in die Siedlung kommt und jemandem hilft, der plötzlich schwerkrank geworden ist oder einen Unfall hatte, aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal waren es viel heftigere und auch viel hellere Lichtblitze. Und nachdem ich ans Fenster gelaufen war und hinausgesehen hatte, wusste ich auch den Grund dafür: Es war nicht ein Notarztwagen, sondern eine ganze Flotte von Polizeifahrzeugen! Ich zählte mindestens drei Streifenwagen, einen zivilen PKW mit Rundumleuchte (offenbar von der Kripo) und zwei vergitterte Mannschaftswagen. Sie alle standen hinten an der Blankenburger Straße. Es musste wohl etwas Größeres passiert sein, wenn die Polizei mit einem solchen Aufgebot angerückt war. Eben noch todmüde, war ich jetzt wieder hellwach. Das durfte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen! Ich musste mich irgendwie aus dem Haus schleichen und mir aus der Nähe ansehen, was da vor sich ging. Dass Papa mich um diese Zeit ganz gewiss nicht mehr auf die Straße lassen würde, war mir vollkommen klar. Also schnappte ich mir den Mülleimer und stolzierte damit am Wohnzimmer vorbei. Papa und unser englischer Gast saßen beide am Couchtisch und unterhielten sich angeregt. „Ich bring nur eben noch schnell 17
den Müll raus“, rief ich halblaut zu den beiden hinüber, die mich aber überhaupt nicht wahrzunehmen schienen. Und das war auch gut so. Keine drei Minuten später erreichte ich den Tatort. Den Mülleimer hatte ich hinter unserer Gartenhecke deponiert und war dann schnurstracks durch den schmalen Weg zwischen den Häusern entlang zur Blankenburger Straße gelaufen. Dort versteckte ich mich hinter einem abgestellten Bauwagen und reckte den Hals. Überall wimmelte es von Polizei und es herrschte helle Aufregung. Trotz der späten Stunde hatten sich etliche Schaulustige am Ort des Geschehens versammelt und tuschelten und mutmaßten und gaben mehr oder weniger kluge Kommentare. Nach dem, was ich heraushören konnte, hatte man in Lechners Werkstatt eingebrochen. Meister Lechner war ein altgedienter Goldschmied, der eigentlich längst in Rente gegangen war und seinen kleinen Uhren- und Schmuckladen nur noch nebenher betrieb. Von Papa wusste ich, dass die Leute gern zum alten Lechner gingen, weil er ein Genie seines Faches war. Er arbeitete nicht schnell, schnell, hatte Papa mir einmal erklärt, sondern langsam und gründlich. Das sei heutzutage schon etwas Besonderes. Danach könne man lange suchen. Vor allem, weil Meister Lechner faire Preise nahm. Mittlerweile war ein weiteres Zivilfahrzeug der Polizei eingetroffen: ein weißer VW-Bus. 18
Von Onkel Werner wusste ich, dass es sich dabei um einen Wagen der Spurensicherung handeln musste. Zwei Männer in blauen Overalls stiegen aus, sprachen mit einem Uniformierten und betraten dann die Goldschmiede. Von Meister Lechner war nichts zu sehen, und ich hoffte, dass dem alten Mann nichts passiert war. Dann wurde es plötzlich taghell. Ein inzwischen angerücktes Presseteam vom Regionalfernsehen hatte seine Scheinwerfer aufgerichtet und angeknipst, und wenige Meter von mir entfernt stand Lennart Lüneburg, der allseits bekannte Außenreporter der täglichen Abendnachrichten. „Heinersdorf in Blau“, begann Lüneburg seinen Bericht und grinste in die Kamera. Hinter ihm wirbelten die Rundumleuchten der Polizeiwagen. „Ein solches Aufgebot an Einsatzkräften hat man hier draußen selten gesehen!“ So ein Quatsch, dachte ich. Obwohl unser Ortsteil am Stadtrand von Berlin lag, lebten wir doch nicht hinter dem Mond! Was Lüneburg da sagte, war vollkommen übertrieben. „Neben mir steht eine Augenzeugin“, fuhr der Reporter fort und zerrte eine Frau mittleren Alters vor die Kamera. „Was genau ist passiert?“ Die Frau sah sich unsicher um und begann dann stotternd zu sprechen: „Also, ich … ich … also, so direkt habe ich ja auch nichts gesehen. Als ich kam, war die Polizei ja schon vor Ort.“ 19
„Aha!“ Der Reporter schien für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht zu sein. „Aber Sie wissen, was hier passiert ist?“ Die Frau nickte stolz. „Man sagt, es seien sehr wertvolle Schmuckstücke gestohlen worden. Aus diesem Laden dort drüben.“ Sie wies auf die Werkstatt von Meister Lechner, aus der jetzt mit eiligen Schritten ein Polizeibeamter auf das Kamerateam zulief und heftig mit den Armen wirbelte. Offenbar gefiel ihm der Eifer der Fernsehleute gar nicht. „Ein Schmuckdiebstahl also“, stellte Lüneburg fest und schob die Frau, die er eben noch interviewt hatte, von sich weg. „Und das in diesem beschaulichen und idyllischen Viertel!“ Inzwischen war der Polizist vor der Kamera erschienen. Fernsehreporter Lüneburg freute sich wie ein Schneekönig und schien den Beamten fast zu umarmen. „Neben mir steht jetzt der Chefermittler dieses spektakulären Kriminalfalles. Herr Einsatzleiter: Was genau ist gestohlen worden und hat die Polizei schon eine erste Spur?“ Der Beamte hüstelte und blickte dann in die Kamera. „Nun ja, es handelt sich in der Tat um einen besonderen Fall. Um eine ganz besondere Beute, genauer gesagt.“ Lüneburg begann vor Vergnügen leicht zu hüpfen. „Sie machen uns sehr neugierig. Was denn für eine besondere Beute?“ 20
„Es handelt sich, äh, um besondere Orden, die … äh …“ Der Einsatzleiter schien angestrengt zu überlegen, ob er wirklich die Wahrheit sagen sollte. „Also“, räusperte er sich schließlich, „es geht um mehrere goldene Verdienstorden. Mit … äh … Diamanten besetzt, wenn unsere ersten Informationen richtig sind. Sehr wertvoll. Und vor allem: sehr selten. Genau genommen gibt es derartige Stücke nur ein einziges Mal auf der ganzen Welt.“ „Wow, tatsächlich?“, staunte Lüneburg. Der Einsatzleiter nickte unsicher. „Die Orden wurden hier in der Werkstatt extra für das britische Königshaus restauriert.“ „Das britische …? Sie meinen …“ „Das englische Königshaus, ja.“ Der Beamte nickte vorsichtig. Reporter Lüneburg schien sprachlos zu sein, was bei ihm wirklich nicht oft vorkam. Um die dadurch entstandene Pause zu überbrücken, schwenkte der Kameramann das Objektiv einmal ringsherum. Dabei traf auch mich der Scheinwerferkegel, bevor ich mich davor in Sicherheit hätte bringen können. Offenbar hatte mich dennoch niemand von den Anwesenden bemerkt, denn im nächsten Moment ging das Interview auch schon weiter. „Die Orden sind mehrere Hundert Jahre alt und wurden hier aufbereitet“, erklärte der Einsatzleiter. „In wenigen Tagen gibt die englische 21
Königin einen besonderen Festempfang für wichtige Menschen aus Großbritannien und den Commonwealth-Ländern, bei denen die Orden neu verliehen werden sollen.“ Lüneburg nickte anerkennend. „Commonwealth-Staaten sind die Länder, die zum so genannten britischen Empire, dem britischen Reich, gehören“, erklärte er den Zuschauern und erinnerte mich dabei an Herrn Brunner, einen unserer Lehrer, der sich auch jedes Mal über die Maßen freute, wenn er uns mit seinem Wissen imponieren konnte. „Länder also, in denen die Queen, die englische Königin, das Staatsoberhaupt ist. Australien gehört zum Beispiel auch dazu.“ „Ja, ja“, entgegnete der Einsatzleiter, den die langatmige Unterbrechung offenbar nervte. „Zu diesem wichtigen Empfang benötigt die Queen jedenfalls unbedingt die Orden zurück. Wir stehen damit also vor einem echten Problem, aus dem sich möglicherweise sogar große politische Schwierigkeiten zwischen Deutschland und Großbritannien ergeben könnten …“ Reporter Lennart Lüneburg nickte heftig, schob den Einsatzleiter dann zur Seite und sich selbst direkt vor die Kamera. „Die Berliner Polizei steht also vor einem Rätsel mit unabsehbarer Tragweite. Das Verschwinden des Schmucks von unermesslichem Wert – ausgerechnet hier in Heinersdorf – könnte zu einem internationalen 22
Skandal führen, dessen Folgen man sich nicht vorzustellen wagt.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, um dann zu seinem Schlusswort anzusetzen: „Das war Lennart Lüneburg aus der Blankenburger Straße in Berlin-Heinersdorf für …“ Er nannte die drei Buchstaben des Senders und lächelte ein letztes Mal anhaltend in die Kamera, bis der darauf aufgesteckte Scheinwerfer verlosch. Dann nahm er sein Mikro herunter und schnalzte mit der Zunge. „Na, wie war ich?“, fragte er seinen Kameramann. Der hob den Daumen und im nächsten Moment waren die Fernsehleute auch schon wieder verschwunden. Ehe ich mir auch nur einen einzigen Gedanken über das eben Gehörte machen konnte, hörte ich hinter mir plötzlich eine laute und dröhnende Stimme: „Da hört sich ja wirklich alles auf!“ Erschrocken fuhr ich herum und blickte in das strenge Gesicht meines Vaters. „Was machst du um diese Zeit hier draußen?“, fauchte er mich an. „Da denke ich, du liegst friedlich in deinem Bett und schläfst – und dann sehe ich dich im Fernsehen! In den Spätnachrichten!“ Es war also offenbar eine Livesendung gewesen, die ich eben mitverfolgt hatte. Und Papa hatte sie gesehen … „Ich wollte ja nur schnell den Müll rausbringen“, antwortete ich maulend. „Die Kartoffel24
schalen vom Abendbrot mussten ja noch raus – oder willst du, dass es stinkt? Was soll denn unser Gast von uns denken? Und dann habe ich gesehen, dass hier die Polizei war und –“ „Ja, ja.“ Papas Gesicht entspannte sich und er begann zu grinsen. Offenbar hatte er mich längst durchschaut. Dann schob er mich sanft, aber bestimmt in Richtung unseres Hauses, wo ich sofort ins Bett zu gehen hatte.
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