Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung: Furcht vor einer „gottlosen Gesellschaft“ – Zwischen Common Sense und Tabu . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Diagnose: Kirchenschwindsucht, Glaubensdepression . . . . . . . . . . 21 Anamnese: Siechen und Zusammenbruch christlicher Leitkultur . . 21 Konstitutionelle Schwäche: Geistliche Auszehrung im Stammland der Reformation (25) • Christen in der Gerontologie, Muslime auf der Geburtshilfestation (29) • Visite: Zweifelnde Heil(ung)sverkünder, Flucht in die Alternativmedizin (34) • „Zwischenhoch“ oder Klimawechsel? Trügerische Erholungs-Hoffnungen (36) • Aufflackernde Vitalität „am Tropf“ des verpönten Rom (40) • Gefährliche Tranquilizer: Sozialforschung mit überblähtem Religionsbegriff (44) • Verlangsamter Puls: Kirchgang einmal im Monat als „hohe Intensität“? (47) Multiple Symptomatik: Vom „christlichen Abendland“ zur Christophobie? . . . 51 Vitamin C ohne Effekt: Grundsätze mit verkürzter Halbwertszeit (53) • Schwester Angela und die „Spin Doctors“: Berlin maßregelt den Papst (57) • Eine Physikerin transplantiert: Toleranz ersetzt das Christentum als „Seele Europas“ (60) • Seelsorger und Psychotherapeuten unter Polizeischutz: Die Fanale von Marburg (64) • Schmerzliche soziale Blessuren: „Eine Art zivilen Todes“ (67) • Streit
um die Aidstherapie: „Technische Lösung“ oder „Humanisierung der Sexualität“? (71) • Für krank erklärt: Geschmähte Bischöfe, bespitzelte Missionare (73) • Religion als Gesundheitsrisiko? Die neue atheistische Militanz (76) • Kontra Reli: Berlin verweigert sich der Medikation (83) • Schadenfreude unter Intensivpatienten: Häme für den „angeschlagenen Boxer“ (84) • Verspätete Entgiftung: Der sexuelle Missbrauch – und sein Missbrauch (87) • Alltagsfacetten eines dramatischen Siechtums (108) • Suizidale Tendenzen: „Ein kirchliches System bezahlter Selbstzerstörung“ (111) II. Prognose: „Opportunistische Erkrankungen“ am sozialen Körper . 115 Unzulängliche Reaktionen und längst vorhandene Einsichten . . . . . . . . . . . . . 115 „Liebenswürdige Samariter“? Eine missratene Schmeicheloffensive (115) • Risiko Atheismus: Ideengeschichtliche Konstante und zeithistorische Erfahrung (119) • Aktuelle Krisensymptome und oberflächliche „Werte“-Rhetorik (125) Gemeinwohldienste der christlichen Religion . . . . . 129 Begründung derWürde und des Lebensrechts jedes Menschen (129) • Normative Erziehung zu Rechtstreue und Moralität (140) • Beiträge zur Wirtschaftskraft und zur sozialen Integration (150) • Immunisierung gegen Ideologien, Extremismus und Politikverdrossenheit (170) • Motivation zu übernationalem Gemeinwohldenken und Völkerverständigung (181) • Lebenszufriedenheit, Gesundheit, Beziehungsstabilität und Familiensinn (184) Einwände und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . 190 „Licht der Welt“? – Denken und Handeln (190) • „Aber die historischen Verbrechen ...“ (193) • Und die Missstände in „christli-
cheren“ Ländern? (197) • Aussagen über alle sind keine Aussagen über jeden (199) • Eine unchristliche utilitaristische Perspektive? (201) • Das Licht „auf den Leuchter stellen“ – in Demut (203) III. Therapie: Regeneration der zentralen Vitalfunktionen . . . . . . . . 205 Therapieversager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Irrweg Selbstsäkularisierung: Anpassung und Politisierung der Kirche (206) • Irrweg Sexualfixation: Das falsche „Thema Nr. 1“ (217) • Mehr als Sozialagentur oder Moralanstalt: Glaube, Trost und Glück (221) • Auf steinigen Boden gesät: Widrige zivilisatorische Rahmenbedingungen (228) Ein Vier-Punkte-Programm zur geistlichen Revitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . 230 Mutiger bekennen (230) • Bekenntnisscheu und Bekenntnisunwilligkeit (232) • Bekenntnisfaulheit und Bekenntnisunfähigkeit (237) • Klein, aber fein? Die öffentliche Präsenz nicht aufgeben (239) • Treuer beten (243) • Fröhlicher glauben (245) • Brennender lieben (247) • Friede und Streit: Die Liebe immer in Wahrheit, die Wahrheit nur in Freiheit (249) Voraussetzungen christlicher Meinungsführerschaft . 254 Die Glaubwürdigkeit der Kirche (254) • Christlicher Glaube im Gespräch mit Journalisten (257) • „Vor allem müssen Christen führen“ (Adenauer) (265) • Tapferkeit: Kardinaltugend christlicher Freiheit in gottvergessener Zeit (270) Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
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Einführung „Wenn man in dieser westlichen Welt fragt, was gut und was schlecht, was erstrebenswert und was zu verdammen ist, so findet man doch immer wieder den Wertmaßstab des Christentums auch dort, wo man mit den Bildern und Gleichnissen dieser Religion längst nichts mehr anfangen kann. Wenn einmal die magnetische Kraft ganz erloschen ist, die diesen Kompass gelenkt hat – und die Kraft kann doch nur von der zentralen Ordnung her kommen –, so fürchte ich, dass sehr schreckliche Dinge passieren können.“ Werner Heisenberg (1901–1976), Nobelpreisträger, Mitbegründer der Quantenphysik, 1973
Furcht vor einer „gottlosen Gesellschaft“ – Zwischen Common Sense und Tabu Was haben Jörg Schönbohm und Gregor Gysi gemeinsam? Auf den ersten Blick könnten die beiden kaum gegensätzlicher sein: Der eine bekennt sich als evangelischer Christ, der andere glaubt nicht an Gott; der eine diente als Bundeswehrgeneral loyal der grundgesetzlichen Demokratie und wickelte zuletzt den DDR-Militärapparat ab, der andere hatte eine privilegierte Rolle im SED-Regime und verlängerte das Leben der kommunistischen Staatspartei unter neuem Etikett in den demokratischen Rechtsstaat hinein. Der ernste, pflichtorientierte Mann der Tat steht dem fröhlich-unterhaltsamen Polit-Mundwerker gegenüber, der konservative CDU-Landesinnenminister Brandenburgs (bis 2009) dem wendigen Fraktionschef der Linkssozialisten im Bundestag. Worin sich die Antipoden aber überraschend einig sind: Beide fürchten eine gottlose Gesellschaft. Das gibt zu denken.
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Bemerkenswert ist freilich, dass nur einer der beiden diese Furcht äußern durfte, der andere nicht. Jedenfalls nicht so konkret. Was bei Schönbohm zum Skandal geriet, gilt bei Gysi als sympathisch querdenkerisch und interessant. Der Konservative brachte in Interviews „Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“ in Zusammenhang mit der „Entkirchlichung“ Ostdeutschlands. Der Sozialist bekannte laut „Rheinischer Post“ vom 14. März 2005 bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing in einer Diskussion mit Heiner Geißler: „Auch als Nichtgläubiger fürchte ich eine gottlose Gesellschaft“; nach dem Scheitern der Gesellschaftsentwürfe der politischen Linken im letzten Jahrhundert könnten nur die Kirchen verbindliche Moralregeln vermitteln. Was CDU-Politikern droht, die sich zu den Vorzügen ihres Glaubens äußern, erfuhr 2005 schon Jürgen Rüttgers bei Michel Friedman auf N24. Der penetrante Moderator hatte den CDU-Spitzenkandidaten für die nordrhein-westfälische Landtagswahl nach seinem katholischen Glauben gefragt. Nach dessen Bekenntnis zu „unserem christlichen Menschenbild“ verleitete Friedman ihn durch Nachfragen zu der Bekräftigung: „Ich glaube, dass es das richtige ist, wenn Sie wollen, auch ,überlegen‘.“ Dadurch wäre dem sofort in die Defensive geratenen Christdemokraten fast der Wahlkampf verhagelt worden. Tagelang musste er wegen sinnentstellender Medienschlagzeilen wie „Rüttgers hält Katholizismus für überlegen“ (wiwo.de) oder „,Katholizismus überlegen‘– Rüttgers’ Fehltritt“ (n-tv) zurückrudern und sich in Rechtfertigungsklimmzügen üben. Vergleichende Werbung mag bei Waren und Dienstleistungen zunehmend erlaubt sein; doch den eigenen (christlichen) Glauben oder sein Menschenbild öffentlich für wahr zu halten und anderen vorzuziehen, geschweige denn diese als irrig oder irgendwie nachteilig zu betrachten, damit stößt man auf rigideste Ablehnung.
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Aus Gysis Mund hingegen, als Bankrotterklärung eines gemäß marxistischer Ideologie „wissenschaftlich“ fundierten atheistischen Materialismus, erregte die Abqualifizierung einer „gottlosen Gesellschaft“ und die Monopolisierung einer verbindlichen Moral bei den Kirchen niemanden und blieb weithin unbeachtet. So unbeachtet, dass ein katholischer Journalist sein zwei Jahre später vorgestelltes Papstbuch „Maximum“ damit anpreisen zu können glaubte, dass erst „nach der Lektüre meines Buches Gysi davon überzeugt ist, dass letztlich nur die Kirchen dieser Gesellschaft noch wirkliche Orientierung geben können“ („Kirche heute“ 4/2007). Im Oktober 2007 bekräftigte der Chef der Linken-Bundestagsfraktion seine Auffassung in einem Interview der in Berlin erscheinenden Zeitschrift „Kompass“ des katholischen Militärbischofs: Ohne Religionen, Glauben und Kirchen gäbe es derzeit gesellschaftlich „keine Grundlage für allgemein verbindliche Moralnormen“. „Obwohl ich nicht religiös bin, fürchte ich also eine gottlose Gesellschaft nicht weniger als jene, die religiös gebunden sind.“ In derselben Ausgabe der Zeitschrift sekundierte ihm Schönbohm mit der Konkretisierung: Je mehr die von Religionen vermittelten verbindlichen Moralregeln und grundlegenden Werte „in den Hintergrund treten, desto eher dominieren Rücksichtslosigkeit und Unredlichkeit, desto mehr verlottert die Gesellschaft“. Von anderen prominenten christdemokratischen Politikern hat man Furcht vor einer „gottlosen Gesellschaft“ lange nicht vernommen. Sogar FDP-Chef Guido Westerwelle wagte sich weiter als viele C-Politiker vor, als er in einem Interview der „Westdeutschen Zeitung“ vom 8. April 2005 erklärte:
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Frage: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur Kirche beschreiben? Westerwelle: Ich bin Mitglied meiner Kirche, nicht aus Trägheit, sondern aus Überzeugung. Ich glaube, dass Werte in die Politik hineingehören. Frage: Christliche Werte? Westerwelle: Werte wie Nächstenliebe, Verantwortung füreinander – diese Werte nennt man zu Recht christlich. Sie prägen und führen mich in meiner politischen Arbeit. Frage: Würden Sie wirklich sagen, dass die FDP eine Partei der Nächstenliebe ist? Westerwelle: Selbstverständlich. (...) Bemerkenswert ist, wie unbefangen und rücksichtslos gegenüber laizistischen Affekten im Liberalismus hier die Kirchen zum Inbegriff der „Werte“ in Politik und Gesellschaft erklärt, Nächstenliebe und Verantwortungsbereitschaft als „christlich“ gedacht werden. Anstoß erregte das nicht, wohl weil es eine weitverbreitete Überzeugung oder zumindest Ahnung zum Ausdruck brachte. Und natürlich auch, weil die prinzipielle Aussage so schön unverbindlich und unkonkret blieb. Wehe aber dem, der den Zusammenhang von Glaube und Tugend, Religion und Gemeinwohl einmal sachlich „durchbuchstabiert“, auf gesellschaftliche Missstände anwendet oder auf Bevölkerungsgruppen bezieht. Den trifft die ganze Wucht der Skandalierung durch Massenmedien, von politischen Gegnern über „Parteifreunde“ und Kulturprominente bis hin zu fernsehtauglichen Passanten, die das Vorurteil des Reporters zu bestätigen bereit und der Absicht seines Beitrags dienlich sind. Es bedarf schon der Tapferkeit eines von menschlicher Gunst weitgehend unabhängigen „alten Haudegens“ wie Schönbohm, um die inszenierte Empörung gleich zweimal beim gleichen Thema zu riskieren. Im August 2005
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brach ausgerechnet der Innenminister der roten „Volksrepublik Brandenburg“ ein Tabu, als er im Blick auf eine neunfache Babytötung bei Frankfurt/Oder die Vermutung aussprach, „dass die von der SED erzwungene Proletarisierung eine der wesentlichen Ursachen für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft“ sei. An anderer Stelle ergänzte der Protestant, dass es im Gebiet der früheren DDR ja auch nur noch 20 Prozent Christen gebe. Obwohl seine Formulierung weitere Ursachen nicht ausschloss und primär das alte Regime, nicht das – im politischen Betulichkeitsjargon als „die Menschen“ (statt Bürger) bezeichnete – Volk verantwortlich machte, rasteten alle Hebel der Skandalierung ein. Die Empörung war nahezu allgemein. SPD- und Grünen-Politiker forderten den Innenminister zum Rücktritt auf. Da wollten Kirchenfunktionäre auch nicht fehlen. Der Leiter des Katholischen Büros Sachsen-Anhalt, Stephan Rether, empörte sich laut KNABericht (4.8.05), die ländliche Bevölkerung in den neuen Bundesländern dürfe nicht pauschal verurteilt werden – wovon gar nicht die Rede sein konnte. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) verwahrte sich in der „Berliner Zeitung“: „Ich halte absolut nichts von einfachen Erklärungen und persönlichen Schuldzuweisungen nach dem Motto ,Die DDR ist die Wurzel allen Übels‘. Leider hat es Kindsmorde schon zu früheren Zeiten und in anderen Teilen Deutschlands gegeben.“ Das stimmt zwar, trägt aber zur sachlichen Klärung von Schönbohms Punkt nichts bei. Der Hinweis des Hannoveraner Kriminologen Professor Christian Pfeiffer, dass Babymorde im Osten insgesamt mehr als dreimal so häufig seien wie im Westen, ging im Protestgeschrei unter. Nur wenige Zeitungen wagten, den CDU-Politiker vorsichtig in Schutz zu nehmen. „Schönbohm hat recht“, lautete die Kommentarüberschrift der „Rheinischen Post“. Doch schon am nächsten Tag konnte in derselben Zeitung der mediennotorisch auf Ost-Gemüts-
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lage-Expertisen abonnierte Psychiater Hans-Joachim Maaz (Halle) dagegenhalten: „Schönbohm irrt.“ Begründung: Die Kriminalitätsrate in der DDR sei doch geringer gewesen als die in der Bundesrepublik, der Zusammenhalt der Menschen dagegen höher. Für einen Akademiker eine erstaunlich einfältige Argumentation, denn unter einer rigiden Diktatur gelangen kriminelle und gewalttätige Neigungen naturgemäß weniger zur Tat als unter den Bedingungen der Freiheit. Welches moralische und soziale Profil den Menschen im SED-System je nach Typus und Kinderstube mehr oder weniger erfolgreich aufgeprägt worden war, konnte sich folglich erst erweisen, nachdem sie den Fassreifen von Unterdrückung und Bespitzelung gesprengt hatten. Anfang August 2009 marschierte der Exgeneral, unerschrocken durch die vereinte Entrüstung anlässlich seines ersten Vorstoßes, erneut stramm in den Fettnapf. In einem dpa-Interview fokussierte er seine These diesmal allerdings stärker auf den religiösen Faktor: Man müsse „intensiv besprechen, was 40 Jahre Indoktrination in der DDR bedeuten, wie wir Verwahrlosung und Entbürgerlichung verhindern können und was wir gegen die Entkirchlichung und für die Wiederbelebung des Christentums in Ostdeutschland tun können. Wir haben hier beispielsweise etwa dreimal so viel Jugendweihen wie Konfirmationen.“ Wieder lief die Skandalierungsmaschine wie geschmiert. Der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer ließ die Öffentlichkeit via „Sächsische Zeitung“ wissen, er „halte es nicht für ein Allheilmittel, den Osten jetzt wieder zu christianisieren. Vielleicht noch mit Zwangstaufen?“ Dabei hatte der Christdemokrat weder von einem allein ausreichenden Patentrezept noch von einer staatlich vorgeschriebenen Rechristianisierung gesprochen. Schorlemmer manipulierte und deformierte die Aussage seines Glaubensbruders auf demagogische Weise – ein feiner Pastor
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und Prediger des Evangeliums! Der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei zog kurzerhand Schönbohms Denkfähigkeit in Zweifel: Dessen Äußerungen hätten „mit beginnender Alterssenilität zu tun“, beleidigte Dietmar Bartsch den 71-Jährigen in der „Leipziger Volkszeitung“. Dann folgte dieselbe Unterstellung einer Zwangschristianisierung wie bei Schorlemmer: „Wir können ja nicht per Dekret Jugendlichen anordnen, ob sie Katholik oder Muslim werden sollen.“ Ministerpräsident Matthias Platzeck tadelte seinen Koalitionspartner laut „Morgenpost Online“ auf einer SPD-Veranstaltung: „Als evangelischer Christ finde ich es anmaßend, einer mehrheitlich nicht christlichen Gesellschaft zu unterstellen, sie habe keine Moral und keinen Anstand.“ Brandenburgs SPD-Generalsekretär Klaus Ness erklärte: „Ich kann die Aufregung der Kirche verstehen. Mit seiner durchschimmernden Kreuzzugs- und Christianisierungssehnsucht schadet Schönbohm dem Ansehen der Kirchen im Osten.“ Bischof Gerhard Ulrich, Vorsitzender der gemeinsamen Kirchenleitung von Nordelbischer Kirche, Evangelisch-Lutherischer Landeskirche Mecklenburgs und Pommerscher Evangelischer Kirche, kritisierte im „Deutschlandradio Kultur“, Schönbohm „schieße über das Ziel hinaus“. Er finde: „Wer christliche Werte zurückgewinnen will, sollte sich hüten, von Verwahrlosung zu reden.“ Warum eigentlich? Kathrin Göring-Eckhardt, Bundestagsvizepräsidentin und Präses der Synode der EKD, kritisierte im „Tagesspiegel“: „Dieses Pauschalurteil ärgert mich“, und betonte: „Moral gibt es auch im nicht christlichen Umfeld“ – was Schönbohm gar nicht in Abrede gestellt hatte. In ökumenischem Einklang stimmte Martina Richter, Sprecherin des Erzbistums Berlin, ein: „Wir können den Menschen den Glauben nicht verordnen.“ Auch Brandenburgs wahlkämpfende CDU-Vorsitzende und Wissenschaftsministerin Johanna Wanka fiel ihrem Parteifreund in den Rücken: „Ich bin anderer Meinung und
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habe auch eine andere Wahrnehmung.“ Vergeblich: Wenige Wochen später nahm sie ihr Ministeramt nicht mehr wahr, weil die Christdemokraten aus der Potsdamer Landesregierung entfernt und durch „Die Linke“ ersetzt worden waren. Als Schönbohms Fehler muss man konzedieren, dass der streitbare Protestant die sozialen Risiken der Entchristlichung nicht schichten- und gebietsneutral thematisierte, sondern in Verbindung mit der diffusen soziologischen Kategorie der „Entbürgerlichung“ und Proletarisierung sowie der Ost-West-Unterscheidung brachte und so zusätzliche Empfindlichkeiten weckte. Er rührte an mehrere Tabus gleichzeitig und ermöglichte es seinen Gegnern damit, der Einzelfrage auszuweichen und einen Keil zwischen ihn und die Kirchen zu treiben. Denn diese lassen das Christentum aus gutem Grund ungern mit „Bürgerlichkeit“ verschmelzen oder auf die Rolle einer „Wertelieferantin“ der Gesellschaft reduzieren. Ebenso wenig wollen sie sich in erfolglose Ost-Diasporakirchen und mächtige West-Volkskirchen auseinanderdividieren lassen. Andererseits offenbart die Reaktion vieler Schönbohm-Kritiker, die, statt mehr sachliche Präzision zu fordern, ihrerseits unsachlich aus der Sorge des Christdemokraten einen Popanz plumper Kreuzzugsmentalität konstruierten, den sie dann wütend zerreißen konnten, dass ihre Reizbarkeit nicht nur die Form, sondern wohl auch den substanziellen Kern der Aussage betraf. Der christliche Wahrheitsanspruch und der daraus folgende Missionsauftrag wird von einem säkularisierten, relativistischen Zeitgeist ebenso aggressiv abgelehnt wie der christliche Moralanspruch und der damit verbundene gesellschaftliche Gestaltungsauftrag. Manche Beobachter etwa von der Initiative „europe4christ.net“ sprechen schon von „Christianophobie“ im immer weniger christlichen Abendland und führen zahlreiche Beispiele dafür an. Im Blick auf den theologischeschatologischen Kern solcher Affekte gegen Christen, die letztlich
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in nichts anderem wurzeln als in der Ablehnung Christi selbst, könnte man auch gleich von „Christophobie“ sprechen (vgl. S. 67). Aus diesem Problemaufriss ergeben sich drei Dimensionen unseres Ausblicks auf eine „Gesellschaft ohne Gott“: Zunächst gilt es in einer Art „Diagnose“, den Krankheitszeichen des Christentums in unserer säkularisierten Gesellschaft nachzuspüren. Dafür sind religionssoziologische Daten und ihre widerstreitenden Interpretationen auszuwerten. Frei nach Stalins Perspektive formuliert: „Wie viele Divisionen hat der Papst“ heute noch in dem Land, dem Bonifatius vor 1300 Jahren den Glauben brachte? Protestantisch gewendet: Was ist noch lebendig vom „Heiligen Evangelischen Reich Deutscher Nation“, das der spätere Hof- und Domprediger Adolf Stoecker im Januar 1871 nach der Proklamation Wilhelms I. zum deutschen Kaiser vollendet sah? Stimmt unsere Titel-Prämisse von einer Entchristlichung Deutschlands überhaupt? Und wie äußert sich diese in der öffentlichen Meinung, in der Politik, im Alltag? Im zweiten Teil, der „Prognose“, wird gezeigt, worin die sozialethischen Gemeinwohldienste der Christen bestehen und – um im medizinischen Bild zu bleiben – welche „opportunistischen Erkrankungen“ einer Gesellschaft drohen, wenn ihre religiöse Grundkonstitution sich weiter abschwächt. Dabei kann es unmöglich darum gehen, eine Untersuchung aller kirchlichen Leistungen für Staat, Wirtschaft und Kultur anzustellen; diese enzyklopädische Aufgabe ist arbeitsteilig von Einzelwissenschaften wie der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft oder auch der Kultursoziologie wahrzunehmen. Der amerikanische Soziologe Alvin Schmidt unternimmt den Versuch einer Überblicksdarstellung aus evangelischer Sicht in seinem Buch: „Wie das Christentum die Welt veränderte. Menschen. Gesellschaft. Politik. Kunst“ (2009). Meistens übersehen wird bei der Würdigung kirchlicher Beiträge zu Erziehung und Bildung, Sozialfürsorge und Krankenpflege,
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europäischer Integration, Völkerverständigung oder Entwicklungshilfe – also der institutionell organisierten Weltverantwortung – die zigmillionenfache Wirkung christlicher Ethik auf individuelle Lebenssituationen, auf Herzen und Gewissen von Menschen, auf soziale Entscheidungen in Familie, Beruf und Gesellschaft, die in kein historisches Dokument, kein Gesetzesblatt, keine statistische Messung eingeht. Dabei prägt sie das Gemeinwohl, den Zustand der „res publica“ wahrscheinlich mehr als die großen „Haupt- und Staatsaktionen“. Material für diese Art Wirkungsforschung aus der „Graswurzelperspektive“ findet sich in repräsentativen Umfragen, die Aufschluss über Denken, Fühlen und teilweise auch Handeln christlicher Staats- und Wirtschaftsbürger, Familien- und Vereinsmitglieder, Freunde und Nachbarn geben. Sie sollen deshalb hier im Vordergrund stehen. Im dritten Teil sind abschließend einige Bestandteile einer „Therapie“ zu erörtern, die eine Regeneration wesentlicher „Vitalfunktionen“ der christlichen Religion fördern könnten. Welche Konsequenzen sollten die Kirchen aus dem Schwund des christlichen Glaubens in unserer Gesellschaft ziehen? Welche Hindernisse legen sie sich bei der notwendigen Mission und der Verteidigung ihres öffentlichen Wirkungsanspruchs selbst in den Weg? Wie können sie auch mit weniger „Masse“ noch ein gewichtiges Wort in der Gesellschaft mitreden und ihrer Weltverantwortung auch in Zukunft gerecht werden?