Monika Dockter
Der Schatz des Schwarzen R채chers
Inhalt
Prolog
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7
Kapitel 1 Ein neues Zuhause? . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2 Moritz, der Stallknecht . . . . . . . . .
19
Kapitel 3 Einmal Räuber, immer Räuber ! . . . . .
33
Kapitel 4 Lenis Vorschlag . . . . . . . . . . . . .
45
Kapitel 5 Die französischen Händler . . . . . . .
58
Kapitel 6 Entführt ! . . . . . . . . . . . . . . . .
67
Kapitel 7 Nächtliche Floßfahrt . . . . . . . . . .
78
Kapitel 8 Maurizios Rückkehr . . . . . . . . . . .
88
Kapitel 9 Das Grab . . . . . . . . . . . . . . . .
101
Kapitel 10 Allein im Wald . . . . . . . . . . . . .
112
Kapitel 11 Das Vermächtnis . . . . . . . . . . . .
123
Kapitel 12 Begegnung in der Dunkelheit . . . . . .
133
Kapitel 13 Die Karte . . . . . . . . . . . . . . . .
144
Kapitel 14 Auf Schatzsuche . . . . . . . . . . . . .
153
Kapitel 15 Besuch im Gefängnis . . . . . . . . . .
165
Kapitel 16 Das Geheimnis des Brokattuches . . . .
178
Kapitel 17 Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . .
186
Kapitel 18 Reise in ein neues Leben . . . . . . . . .
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Herbst 1778, In einem verborgenen Schlupfwinkel eines süddeutschen Fürstentums
Das Licht der Fackel flackerte unruhig. Dunkle Schatten tanzten über die Gestalt des hochgewachsenen Mannes. Sein Gesicht unter dem wirren Gestrüpp des Bartes war gespenstisch blass. Seine dunklen Augen glänzten fiebrig. Schweißperlen liefen über seine Stirn, während er gemeinsam mit seinem Begleiter eine schwere Holzkiste ins Höhleninnere schleppte. „Hier – hier ist es genau richtig!“, keuchte er schließlich. Erleichtert ließ er den Griff der Kiste los und wischte mit der bloßen Hand einen Schweißtropfen beiseite. „Wenn du das sagst, Hauptmann!“, bemerkte sein Begleiter. Gleichzeitig polterte die Kiste lautstark zu Boden. Die Höhlenwände warfen das Gepolter als unheimliches Echo zurück. Der mit Hauptmann Angesprochene kniete neben der hölzernen Truhe nieder. Noch immer keuchte er vor Anstrengung: Es gelang ihm nur mit Müh’ und Not, den eisenbeschlagenen Truhendeckel aufzuklappen. Zweifelnd blickte er auf den Inhalt der Kiste. „Denkst du, das ist genug für ihn?“ 7
„Genug?“ Ungläubig folgte sein Kamerad dem Blick der fieberglänzenden Augen. Hohe, silberne Kerzenleuchter, Trinkbecher und Teller aus schwerem dunklen Zinn, goldene Uhren, Halsketten, Ohrgehänge und Goldtaler ohne Ende . . . sie alle spiegelten das Fackellicht wieder – hundertfach, nein tausendfach. „Von diesem Schatz kann dein Sohn ein Leben führen, dass mancher Fürst vor Neid erblassen würde!“, erklärte er. „Und dennoch erscheint es mir viel zu wenig!“ Gedankenverloren polierte der Hauptmann mit seinem Hemdsärmel das wertvollste Stück dieses Berges aus Kostbarkeiten: einen Kelch aus massivem, gehämmertem Silber, eingefasst mit einem breiten Goldrand und rundum verziert mit glitzernden Edelsteinen. „Was könntest du deinem Sohn mehr hinterlassen als diesen überaus wertvollen Schatz?!“ „Das alltägliche, gewöhnliche Leben und die Geborgenheit einer Familie – das ist es, was ich ihm eigentlich hinterlassen möchte. Aber genau dies ist mir unmöglich!“, seufzte der Hauptmann. Unvermittelt ging sein Seufzen in einen Hustenanfall über. Es war ein keuchender, bellender Husten, der aus seinem tiefsten Inneren kam. Er hielt den Hemdsärmel, mit dem er eben den Kelch poliert hatte, vors Gesicht und versuchte, den Anfall damit zu ersticken. „Das kannst du nicht mit Gewissheit sagen! Vielleicht bist du bald wieder vollkommen gesund und kannst ihn zu dir holen!“, beschwichtigte sein Begleiter. 8
Wortlos nahm der Hauptmann den Hemdsärmel vom Mund und zeigte ihn seinem Gefährten: Der Stoff war durchtränkt von dem Blut, das er gehustet hatte. Seine Augen – in dem bleichen Gesicht wirkten sie wie zwei riesige schwarze Löcher – bohrten sich regelrecht in die Augen des anderen Mannes: „Versprich mir, dich um meinen Sohn zu kümmern, wenn ich nicht mehr da bin! Versprich mir, ihn aufzuspüren und dafür zu sorgen, dass er mein Vermächtnis erhält! Und dann bringe ihn zu seiner . . .“ Seine Stimme wurde immer schwächer, bis sie schließlich erstarb. „In Ordnung, Kamerad, ich verspreche es!“, entgegnete der Freund rau. Er konnte das Leiden seines Hauptmanns keinen Moment länger ertragen. „Und nun lass uns sehen, dass wir wieder aus der Höhle kommen. Draußen im Freien wird dir gleich wohler sein!“ Stumm legte der Hauptmann den kostbaren Kelch oben auf die anderen Schätze, breitete sorgsam eine Rolle aus buntem Brokattuch darüber und verschloss die Kiste. „Für dich, kleiner Sohn!“, murmelte er dabei halblaut, „wo auch immer du momentan steckst und wann auch immer du dies, mein Vermächtnis, finden wirst!“ Dann folgte er seinem Kameraden, der mit der Fackel in der Hand voranschritt. Ehe sie um die nächste Biegung des engen Höhlenganges verschwanden, wandte er sich ein letztes Mal um. Von der Schatzkiste war nicht mehr das Geringste zu sehen. Ihre Umrisse waren vollkommen verschmolzen mit der tintenschwarzen Finsternis der Höhle. 9
Würde die Höhle ihr gut gehütetes Geheimnis und somit sein Vermächtnis jemals wieder freigeben? Würde sein Sohn jemals zum Eigentümer des Schatzes und dadurch zum reichen Mann werden? Zweifelnd, mit hängenden Schultern schlurfte der Schwarze Rächer dem Höhlenausgang entgegen . . .
10
Kapitel 1
Ein neues Zuhause?
Plopp . . . plopp . . . plopp-plopp . . . Unablässig tropfte der Regen vom Vordach einer kleinen Gastwirtschaft. Direkt unterhalb der Dachkante hatte sich bereits eine riesige, schmutzig-braune Pfütze gebildet. Jeder neue herabstürzende Wassertropfen schuf einen winzigen Springbrunnen, der die Wasserfläche vertiefte. Das elfjährige Mädchen, das in der geöffneten Tür des Gasthofs stand, schenkte diesem Geschehen keine Beachtung. Ihre gesamte Aufmerksamkeit an diesem verregneten Junitag des Jahres 1790 galt einer nahen Straßenkreuzung. Gelegentlich tat sie einen Schritt nach vorne, als wollte sie loslaufen. Doch jedes Mal hielt eine nörgelnde Stimme aus dem Gasthaus sie zurück: „Bleibt unter dem Dach, Fräulein Magdalena!“ Dann trat sie gehorsam wieder zurück und richtete erneut den Blick auf die sich kreuzenden Straßen, auf denen – kein Wunder bei dem strömenden Regen! – kein Mensch zu sehen war. Und endlich – endlich! – wurde ihr Warten belohnt: Auf einer der beiden Straßen trabte ein Pferd heran. Ein Pferd mit zwei Reitern auf seinem Rücken! 11
Nun gab es für Leni Berblinger kein Halten mehr. „Moritz!“ Leni stürmte nach vorne, unmittelbar in die Pfütze hinein. Die undurchsichtige Brühe spritzte auf, durchnässte ihre flachen Schuhe und den Saum ihres langen Kleides. Leni spürte es kaum. Ihr sommersprossiges Gesicht strahlte vor Freude. Die blauen Augen blitzten, und ihr Lächeln reichte beinahe von einem Ohr bis zum anderen. „Da bist du ja! Vater hat dich tatsächlich gefunden!“ Sie hüpfte auf und ab, während das Pferd gemächlich auf sie zu trottete. „Und, Moritz? Hast du die Räuber verlassen und kommst nun mit uns? Nach Hause, meine ich?! Wirst du für meinen Vater arbeiten?“, bestürmte sie den jüngeren der beiden Reiter, noch ehe das Tier Halt gemacht hatte. Der Junge blieb die Antwort schuldig. Stumm glitt er vom Pferderücken, schob sein regennasses, dunkles Haar aus der Stirn und richtete seinen Blick auf den Boden. „Du hast ihn doch eingeladen, Vater?“ Verunsichert sah Leni auf zu ihrem Vater. „Du hast ihm angeboten, in deinem Geschäft zu arbeiten – so wie wir es vereinbart haben?!“ „Sicher habe ich das, Kind.“ Tuchhändler Berblinger schwang sich gleichfalls vom Pferd. Er lächelte seiner Tochter beruhigend zu. „Und Moritz hat bereits zugestimmt! Allerdings will mir scheinen, dass er momentan erst ein wenig Zeit benötigt, sich an den Gedanken zu gewöhnen! Du solltest ihn nicht gleich mit sämtlichen Fragen bestürmen, die du auf Lager hast! Stimmt’s, Junge?!“ 12
Der Zwölfjährige nickte dankbar. Er hatte nicht erwartet, dass der wohlhabende Tuchhändler so viel Verständnis für ihn aufbringen würde. Schließlich war er nichts als ein heimatloser Vagabund – ein Junge, der sich mit Straßenräubern und Wegelagerern verbündet hatte! Doch darüber hatte Herr Berblinger kein Wort verloren während ihres gemeinsamen Rittes. Es schien, als hätte er die Absicht zu warten, bis der Junge von sich aus zu sprechen begann. Oder vielmehr zu beichten, welche Verbrechen er in den letzten Wochen als Mitglied der Räuberbande begangen hatte . . . Und irgendwann würde er das auch tun. Dem Tuchhändler und allen übrigen Erwachsenen würde er nur grob schildern, was sich zugetragen hatte. Bei Leni lag der Fall anders. Sie hatte bislang immer zu ihm gehalten. Seit er ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihm geholfen, wo sie nur konnte – ihr würde er alles gestehen. Nur nicht heute. Nicht jetzt. Der unbestimmte Schmerz, den er nach der Trennung von seinem Kameraden Raffaele spürte, war noch zu frisch. Entschuldigend blickte er Leni an. „Keine Angst, ich werde dir alle Fragen beantworten, egal, wie viele es sind. Aber erst später, auf der Reise oder wenn wir bei euch angekommen sind. In Ordnung?“ „Klar!“ Leni strahlte schon wieder. Zwar war sie mehr als neugierig auf Moritz’ Erlebnisse bei den Räubern, aber ein paar Stunden oder schlimmstenfalls einen Tag konnte sie noch mit ihrer Neugier aushalten. „Solange du nur mit uns nach Hause kommst, bin ich mit allem einverstanden!“ 13
Mit beiden Händen griff sie nach Moritz’ Arm und umklammerte ihn. „Wenn ich mir vorstelle, dass du bei uns wohnst!“, schwärmte sie begeistert. „Dann kann ich dich jeden Tag sehen, und nach deiner Arbeit können wir beide gemeinsam . . .“ „Immer schön langsam, mein kleiner Wirbelwind!“, bremste Herr Berblinger seine ungestüme Tochter. „Dazu müssten wir zunächst einmal wieder nach Hause gelangen! Und deshalb werden wir nun unsere Kutsche besteigen und uns auf den Weg machen, statt noch länger hier herumzustehen und zu schwatzen. Meinen Geschäftstermin habe ich unterdessen verschoben. Jetzt können wir auf kürzestem Weg zurück in die Stadt fahren!“ Er wandte sich an eine ältere Dame, die in der warmen Gaststube wartete: „Seid bitte so gut, Josephine, und verständigt den Kutscher, dass wir aufbrechen wollen. Wir kehren umgehend nach Hause zurück!“ Die rundliche Dame namens Josephine, Lenis Kinderfrau, erhob sich. Ihr Gesicht legte sich in tiefste Sorgenfalten, ihre Lippen bildeten eine einzige, gerade, unwillige Linie. Josephine kümmerte sich um Leni, seit deren Mutter vor zehn Jahren verunglückt war, und war bereits allerhand gewohnt. Ihr Schützling war kein Kind, das still vergnügt im Haus saß, spielte, lernte oder handarbeitete, sodass man es wohl sehen, aber nicht hören konnte. So erwartete man es eigentlich von der wohlerzogenen Tochter eines reichen, geachteten Kaufmanns! Aber nein: Leni war sehr wohl zu 14
sehen und des Öfteren auch laut zu hören, und sie vergnügte sich am liebsten draußen im Freien! Außerdem besaß sie eine geradezu unersättliche Neugier auf alles, was sich außerhalb der Mauern ihres Elternhauses abspielte! Und seit sie diesen Jungen kennengelernt hatte, war Leni noch lebhafter und unruhiger geworden: Josephine war praktisch rund um die Uhr damit beschäftigt, Leni halbwegs im Auge zu behalten. Deshalb hatte sie bereitwillig zugestimmt, Leni und ihren Vater auf dessen Geschäftsreise zu begleiten. Auf diese Weise wusste sie Leni wenigstens für eine Weile beschäftigt und unter Aufsicht ihres Vaters. Sie hatte ja nicht ahnen können, wie sich die Dinge entwickeln würden! Dass dieser Junge – dieser Streuner! – Leni erneut über den Weg lief und nun auch noch mit nach Hause kommen sollte. Also, das war wahrhaftig zu viel verlangt! Josephine bebte vor Empörung. Sie holte tief Luft, dann platzte sie heraus: „Bei allem Respekt, verehrter Herr – ist das wirklich Euer Ernst? Ihr wollt diesen Knaben hier mitnehmen? Seht ihn Euch doch nur einmal an: Er ist vollkommen verwahrlost, schmutzig, barfüßig, zerlumpt! Und davon ganz abgesehen, er ist ein Räuber!“ „Ich verstehe Eure Bedenken, Josephine, jedoch . . .“, versuchte Herr Berblinger zu beschwichtigen. Aber Josephine war noch nicht am Ende: „Ihr könnt mir, äh, ich denke, Euch selbst und Eurer Tochter nicht zumuten, mit solch verbrecherischem Gesindel unter einem Dach zu leben! Er gehört ins Gefängnis! Bedenkt nur, welchen Einfluss er auf Eure unschuldige Tochter . . .“ 15