Du bist geliebt - 978-3-86591-652-5

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Rebecca St. James

Du bist geliebt Wahre Geschichten f체r M채dchen


Einführung

Bevor du weiterliest Dieses Buch handelt von verlorenen Töchtern – von jungen Frauen, die am eigenen Leib die Geschichte vom verlorenen Sohn erlebt haben, die Jesus erzählt hat (vgl. Lukas 15). Aus vielerlei Gründen und auf vielerlei Weise haben sich diese einzelnen Menschen für eine gewisse Zeit von ihrem Glauben abgewandt, ehe sie die Liebe Jesu wiederentdeckt haben. Jede Geschichte in diesem Buch ist wahr und die Frauen gibt es wirklich, auch wenn wir ihre Namen und bestimmte verräterische Details verändert haben, um ihre Familien und Freunde zu schützen. Viele von ihnen sind denselben Versuchungen erlegen und haben die­ selben gefährlichen Wege eingeschlagen. Wir haben die Geschichten so angeordnet, dass einige dieser Ähnlichkeiten klar zutage treten. So kann man vielleicht ein bisschen deutlicher erkennen, was Menschen in eine Krise stürzen kann. Jeder Teil beginnt mit einer Geschichte aus der Bibel. Sie stellt jeweils eine Frau aus dem Alten oder Neuen Testament vor, die mit denselben Problemen zu kämpfen hatte wie Mädchen und junge Frauen heutzutage – ihre 15


Geschichten kannst du im Anschluss an die Story über die biblische Figur lesen. Da die Bibel nicht immer sehr viele Informationen zu diesen Frauen liefert, mussten wir beim Nacherzählen ein wenig unsere Fantasie spielen lassen und uns manche Details vorstellen – zum Beispiel die Mimik oder die Einzelheiten eines Gespräches. Aber so weit wie möglich haben wir uns an das gehalten, was die Bibel von diesen „verlorenen Töchtern“ berichtet – welche wunderbaren Wege Gott mit ihnen gegangen ist und wie er ihnen ihre Schuld vergeben und ihr Leben verändert hat.

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Teil eins

Identit채tskrisen


Am Anfang … Rahab

Wer die Fremden sah, die in Rahabs Haus ein- und ausgingen, hatte keinen Zweifel daran, dass dieses Mädchen auf Abwege geraten war. Und doch wird diese „verlorene Tochter“ heute wegen ihres Glaubens sehr gewürdigt. Radikale Veränderung ist möglich, wenn wir uns von Gottes Liebe leiten lassen. Rahab war eine Prostituierte. Das ist kein Fehler oder eine falsche Übersetzung. Die Bibel spricht sogar dreimal davon, dass sie eine Prostituierte (oder Hure) war. Manche Leute haben schon versucht, diese hässliche Beschreibung abzumildern, indem sie behaupteten, eigentlich sei gemeint, dass sie eine Wirtin war. Aber in ihrer Kultur war „Wirtin“ und „Hure“ oft ein und dasselbe. In der damaligen Gesellschaft war es üblich, dass Frauen von ihrer Familie beschützt wurden. Rahab jedoch verließ die Sicherheit und Geborgenheit ihrer eigenen Familie und lebte allein. Wir wissen nicht, ob sie aus freien Stücken ging oder keine andere Wahl hatte. Vielleicht waren ihre Eltern nicht mit ihrer moralischen Einstellung einverstanden und warfen sie raus. Vielleicht 18


ging sie aber auch freiwillig, weil sie sich nach einem Lebensstil sehnte, der freier war als der, der ihr die Gesellschaft vorgab. Was auch immer ihre Gründe waren: Sie lebte allein in einem Haus, das in die Stadtmauer gebaut worden war – praktisch wie auf dem Präsentierteller für die örtlichen Klatschmäuler. Jeder konnte die Männer – sowohl die aus der Stadt als auch die Reisenden – sehen, die bei ihr ein- und ausgingen. Die Fremden, die bei ihr übernachteten, müssen ihr von der Welt außerhalb der Mauern Jerichos erzählt haben – einer Welt, in der die Menschen auf der Straße nicht über sie tratschten. Sie hörte Geschichten darüber, wie die Israeliten durch die Wüste gereist waren, von der wundersamen Teilung des Roten Meeres und von den jüngsten Eroberungen benachbarter Städte. Diese Fremden hatten keine Tempel, wie es sie in Jericho gab, und sie beteten auch nicht die vielen Götter an, die Rahab zu verehren gelernt hatte. Kann es sein, dass es nur einen Gott gibt? Einen allmächtigen Gott? Wir können uns gut vorstellen, dass Rahab gerne noch viel mehr darüber erfahren wollte. Und dann klopfte eines Tages jemand an ihre Tür. „Herein!“ Sie machte sich wahrscheinlich daran, das Bett für den nächsten Kunden herzurichten. Zwei Männer betraten ihr Haus. Sie sah sie sich genau an und sagte: „Okay, aber das kostet das Doppelte.“ „Psst. Deswegen sind wir nicht hier“, sagte der eine von ihnen, Salmon. Sie erzählten ihr, dass sie Israeliten waren, die einen Auftrag von Gott erhalten hatten. Also bat Rahab die Männer herein, obwohl ihr klar gewesen sein muss, dass 19


es sich bei ihnen um Spione handelte. Das israelische Heer hatte schon eine Reihe heidnischer Städte dem Erdboden gleichgemacht. Sicher war Jericho als Nächstes dran, und diese beiden Männer waren hier, um den besten Weg auszukundschaften, ihre Nachbarn zu besiegen. Trotzdem ließ Rahab sie herein. Vielleicht hatte sie einfach genug von dem Geschwätz und der Geringschätzung der Menschen um sie herum. Vielleicht spürte sie, wie der Gott der Israeliten ihr Herz berührte. Wahrscheinlich kochte sie für die beiden Männer und bereitete ihnen ein Lager für die Nacht. Aber ihre sorgfältigen Vorbereitungen wurden durch ein lautes Klopfen an der Tür gestört. Boten des Königs – Rahabs König, des obersten Götzenverehrers Jerichos – waren gekommen, um Rahabs Gäste gefangen zu nehmen. Sogar der König hatte damit begonnen, die fremden Männer, die im Haus der Dorfhure ein- und ausgingen, zu beobachten. „Wo sind sie?“, wollten die Boten von Rahab wissen. „Überlass sie uns, denn sie sind gekommen, um uns alle zu vernichten.“ Jetzt hätte Rahab die Spione ausliefern müssen. Alles andere war Verrat, und darauf stand die Todesstrafe. Aber Rahab hatte sich noch nie um das Gesetz gekümmert, und sie war nicht bereit, ihre Gäste zu opfern, nur weil ein paar Leute, die auf sie herabsahen, ihr das sagten. „Sie waren vorhin hier, aber sie haben die Stadt schon wieder verlassen“, log sie. „Wenn ihr euch beeilt, könnt ihr sie bestimmt am Fluss noch erwischen.“ Die Männer des Königs folgten ihrem Rat, ohne zu ahnen, dass Gottes Spione nur wenige Meter entfernt waren, denn sie 20


hatten sich auf Rahabs Dach unter den Flachshaufen versteckt. Als es dunkel geworden war, nahm Rahab den Flachs weg und sprach: „Der Herr, euer Gott, hat die Macht im Himmel und auf der Erde“ (Josua 2,11). Für eine Frau, die damit aufgewachsen war, viele Götter anzubeten, bedeutete dies vielleicht einen noch größeren Verrat an ihrer Gesellschaft als die Lüge dem König gegenüber. Aber Rahab glaubte nun an Gott. Sie lieferte den König von Jericho an dessen Feinde aus, denn sie selbst hatte sich dem König der Herrlichkeit ausgeliefert. Weil sie wusste, dass sie nun in Gefahr war, bat sie die Spione um Hilfe. „Passt auf, ich habe euch versteckt; jetzt brauche ich etwas von euch. Versprecht mir, dass ihr mich und meine Familie nicht tötet, wenn ihr diese Stadt erobert.“ Die Spione waren von Rahabs Glauben sehr beeindruckt. Sie versprachen ihr, dass sie sie und alle, die zu ihr gehörten, verschonen würden, solange sie die Männer nicht verriet. In dieser Nacht ließ Rahab die Spione an einem roten Seil die Stadtmauer hinab und erklärte ihnen, wie sie unentdeckt fliehen konnten. Die beiden Männer kehrten wohlbehalten in ihr Lager zurück. Sie brachten wichtige Informationen für die Eroberung Jerichos mit – und eine unglaubliche Geschichte über eine Hure, durch die Gott auf mächtige Art zu wirken begonnen hatte. Indem sie ihr Haus den Spionen öffnete, verwandelte sich Rahab auf radikale Weise – sie bewies, dass sie bereit war, ihre Identität noch einmal mit ganz neuen Augen zu sehen. Die Macht des Gottes, den die Israeliten anbeteten, veränderte ihre Einstellung – nicht nur zu ­ihrem unmoralischen Beruf, sondern auch zu ihrem 21


Glauben und zu der Gesellschaft, in der sie lebte. Die Liebe zu Gott, die sie bei den Spionen spürte, zog diese Frau, die bislang nur leblose Statuen verehrt hatte, unwiderstehlich an. Aber es ging nicht nur um sie. Rahab wollte, dass auch ihre Familie verschont blieb. Sie war schon seit einiger Zeit von ihr getrennt gewesen, ob auf eigenen oder deren Wunsch hin, und doch liebte sie sie so sehr, dass sie auch ihre Sicherheit aushandelte. Man muss sich die Szene an der Haustür ihrer Familie einmal vorstellen: „Papa, ich bin’s, Rahab. Ich weiß, wir haben uns ein paar Jahre nicht gesehen, aber du und Mama und der Rest der Familie müsst eure Sachen zusammenpacken und unauffällig zu meinem Haus rüberkommen, ohne dass euch jemand sieht.“ Trotz ihrer Auseinandersetzungen in der Vergangenheit hatte sie es irgendwie geschafft, ihre Familienmitglieder dazu zu bringen, ihre Differenzen zumindest so weit aus dem Weg zu räumen, dass sie zu ihrem Haus kamen. Dort hockte dann die ganze Familie zusammen, während die Stadt belagert und schließlich erobert wurde. Das rote Seil, das aus Rahabs Fenster hing, war das Zeichen für die Israeliten, dass sie Rahabs Haus und alle, die sich darin befanden, verschonen sollten. Und so geschah es auch. Die Frau, die so tief gefallen war, die Frau, die in ihrer Gesellschaft als Schlampe angesehen wurde, opferte sich und wurde im Gegenzug gerettet, genau wie ihre Familie. Salmon muss erstaunt zugesehen haben, wie sich das alles entwickelt hat. Er kannte ihre Vergangenheit, profitierte von ihrer Freundlichkeit und war ein Zeuge ihres Glaubens. Aus seiner Dankbarkeit wurde mehr, und am Ende heiratete er sie. 22


Rahab wurde ein Teil der Familie eines Prinzen, des Sohnes einer führenden Familie im Haus Israel. Sie verbrachte den Rest ihres Lebens unter Gottes Volk, als gehöre sie mit dazu. Denn sie gehörte dazu. Zu ihren Nachfahren gehörte Generationen später auch Jesus. Rahab ist eine von nur fünf Nichtjuden und fünf Frauen, die in Jesu Geschlechtsregister erwähnt werden. Sie wurde von der Gesellschaft gemieden – und zeitweise noch nicht einmal von ihrer Familie angenommen –, aber in Gottes Augen war sie es wert, gerettet zu werden. Trotz ihres unmoralischen Verhaltens sah er einen Wert in ihr, auch wenn diejenigen, die sie am besten kannten, ihn nicht sahen. Sie hatte hautnah erfahren: Gott liebt Mädchen, die Fehler gemacht und auf den falschen Weg geraten sind. Rahab erinnert uns daran, dass Gott ungeachtet unserer Vergangenheit in unsere Herzen schaut. Um seiner Herrlichkeit willen kann und will er durch jeden Menschen wirken.

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Lori

Paradiesische Zustände Lori wuchs in einem Paradies auf, umgeben vom blauen Wasser und den weißen Stränden der Karibik. Aber nicht nur der Ort war perfekt. Auch Loris Leben schien, von außen betrachtet, perfekt zu sein. Ihre Eltern liebten sie und nahmen sie mit in die Gemeinde. Lori kann sich nicht daran erinnern, wann sie Jesus das erste Mal in ihr Herz einlud – ihre Mutter meint, dass sie vier oder fünf Jahre alt gewesen sein muss. Als sie zehn war und alt genug, um den Plan Gottes für die Menschen und die Welt wirklich zu verstehen, betete sie im Regen mit dem Leiter eines Ferienlagers. Lori hatte in der Schule viele Freunde und war eine begeisterte Babysitterin. Die ganze Familie ging gemeinsam zu den Gottesdiensten. Von außen betrachtet führte Lori ein Leben, das zu ihrem „paradiesischen“ Umfeld passte. Aber hinter den Kulissen sah es nicht ganz so rosig aus. Lori kämpfte mit Schuldgefühlen und Einsamkeit, denn sie wusste, dass ihr Herz nicht so gut war, wie alle dachten. Sie machte genau genommen nichts falsch, aber 35


sie war mit sich selbst im Unreinen. Wenn Frauen ihr erzählten, sie wünschten sich, dass ihre Tochter so werde wie sie, dann wuchs in ihr der Druck, perfekt zu sein. Sie fürchtete, dass Gott ihre Maske durchschaute und erkannte, wie fehlerhaft sie tatsächlich war, also zog sie sich von ihm zurück. Selbst wenn sie Bibelverse für die Sonntagsschule auswendig lernte und mit ihrer Familie das Tischgebet sprach, spürte sie, wie der Abstand größer wurde. Lori fand es nicht einfach, ein Teenager zu sein. Sie war zwar von Leuten in ihrem Alter umgeben, die sich selbst als Freundinnen bezeichneten, aber die Beziehungen waren sehr oberflächlich. Keiner wusste, wer sie wirklich war. Sie bezweifelte auch, dass jemand das wissen wollte – sie lachten über ihre Frisur und ihre Kleidung, und bei jedem Blick in den Spiegel musste sie sich überwinden, ihr Gewicht zu akzeptieren. Jahrelang war sie in einen Jungen verliebt, ohne es ihm zu sagen, denn sie war überzeugt, seiner nicht würdig zu sein. Ihre Noten wurden schlechter. Lori konnte mit ihrer intellektuell begabten Schwester nicht mithalten und fühlte sich auch in dieser Hinsicht wie eine Versagerin. Da sie mit dem Tempo in der Schule nicht mitkam, fing sie an, zuerst bei den Hausaufgaben und dann auch bei den Klassenarbeiten zu schummeln. Die Schuldgefühle verstärkten den Schmerz nur noch, den sie mit sich herumtrug. Also hielt sie Ausschau nach Möglichkeiten, diesen Schmerz loszuwerden. Sie griff zu dem, was sie bei anderen als Heilmittel gegen Traurigkeit gesehen hatte – Alkohol. Weil sie unbedingt ihr perfektes Image aufrechterhalten wollte, trank sie heimlich kleine Schlucke des Gins, den ihre Mutter für das Backen in der Adventszeit bereit36


hielt. Sie mochte aber den Geschmack nicht, also suchte sie weiter nach einer anderen Möglichkeit. Sie versuchte, ihr Essverhalten zu kontrollieren, indem sie ein oder zwei Tage lang gar nichts aß oder sich übergab, nachdem sie gegessen hatte, aber die Folgen davon ließen sich unmöglich verbergen. In jenen dunklen Tagen fing Lori damit an, sich im Internet freizügige Fotos anzuschauen und pornografische Geschichten zu lesen. Sie hoffte, sich in Fantasien flüchten zu können, in denen sie dann mit ihrem Aussehen zufrieden war. Aber wie schon mit dem Schummeln und der Unsicherheit war es auch mit der Internetpornografie so, dass Lori nur noch tiefer in Schuldgefühle und Einsamkeit hinuntergezogen wurde. „Wenn das Liebe ist“, sagte sie sich, „dann kann ich da­ rauf verzichten.“ Lori fing an, sich mit einem Nagelknipser zu ritzen. In diesem körperlichen Schmerz fand sie endlich ein wenig Erleichterung und Kontrolle. Sie konnte in die Gemeinde gehen und fromme Antworten geben, wenn jemand fragte, wie es ihr ging, und dabei immer im Bewusstsein haben, dass sich unter den Jeans, die sie ständig trug – selbst im Sommer – Narben und Wunden befanden, die ihr wahres Ich verrieten. Als sie 17 Jahre alt war, trat ihre Familie aus der Gemeinde aus, der sie ihr ganzes Leben angehört hatte. Die Veränderung schmerzte sehr. Sie versuchte gar nicht erst, in der neuen Gemeinde Freunde zu finden, obwohl sie bereitwillig alles mitmachte. Sie wusste, dass die Menschen in der neuen Gemeinde es ernst meinten und Interesse an ihr hatten. Sie konnte sehen, dass ihr Sonntagsschullehrer sie wirklich gerne kennenlernen wollte. Aber sie hatte Angst und war weit davon entfernt, Gott zu verstehen, der sie liebte. 37


In dieser Sonntagsschulklasse durchbrach Gott schließlich die Mauern von Loris Gefängnis. Ihr Lehrer sprach eines Tages davon, was es heißt, mit der Liebe Jesu zu leuchten, und er las einen Vers aus dem 2. Korintherbrief vor: „Wir alle sehen in Christus mit unverhülltem Gesicht die Herrlichkeit Gottes wie in einem Spiegel. Dabei werden wir selbst in das Spiegelbild verwandelt und bekommen mehr und mehr Anteil an der göttlichen Herrlichkeit. Das bewirkt der Herr durch seinen Geist.“ 2. Korinther 3,18

Es war ein schockierender Moment für Lori, zu hören und zum ersten Mal zu verstehen, dass Gott sie sehen wollte – die ganze Lori –, und zwar ohne die Maske des vorbildlichen Verhaltens. Lori hatte seit Jahren beim Blick in den Spiegel immer nur Hässlichkeit gesehen. Doch jetzt erkannte sie, während ihr die Worte von Paulus an die Gemeinde in Korinth noch im Kopf nachhallten, dass sie Gott und den Menschen um sie herum ein klareres Bild von sich zeigen musste. An jenem Tag sagte sie zu ihren Eltern, bevor sie die Gemeinde verließen: „Ich sage es jetzt schon, damit ich es mir nicht noch anders überlegen kann – da sind ein paar Sachen, über die wir heute reden müssen.“ Als sie nach Hause kamen, gestand Lori, dass sie bei den Hausaufgaben geschummelt und mit dem Trinken angefangen hatte. Ihre Eltern waren ziemlich schockiert, aber halfen ihr. Sie sahen Lori von Anfang an so, wie Gott sie sah: als eine schöne, junge Frau. Auch wenn sie über die Dinge, die Lori ausgefressen hatte, nicht erfreut waren, 38


waren sie doch froh, dass sie nun wussten, was Sache war. Und beteten intensiv für sie. Die Veränderung kam nicht über Nacht. Lori hatte immer noch mit der Versuchung zu kämpfen, in alte Verhaltensweisen zurückzufallen. Wenige Monate nach dem Gespräch mit ihren Eltern fand sie sich im Badezimmer mit dem Nagelknipser wieder. Nur ein paar kleine Schnitte, dachte sie. Aber statt der geraden Linien, die sie sonst ritzte, ritzte sie sich ein Wort – Liebe – in ihr Bein. Und als sie sich die hässlichen Wunden und das schöne Wort ansah, zog Gottes Liebe schließlich in ihr Herz und ihren Kopf ein. In diesem Moment wusste sie, dass sie geliebt wurde. Nicht weil sie sich selbst geschadet hatte, sondern weil Gott seinen Sohn gesandt hatte, dem auf viel schrecklichere Art Schaden zugefügt worden war, als sie es an sich selbst je tun könnte. Heute bemüht sich Lori, den Menschen um sie herum offen und ehrlich zu begegnen. Sie hat vor, eine Bibelschule zu besuchen, und ist fest entschlossen, ihr Leben neu zu ordnen, denn sie weiß: Nur in der Liebe Jesu ist sie sicher und geborgen. Sie hat selbst erfahren, dass sie von einer Macht gerettet wurde, die ihre eigene weit übersteigt. „Ich säße immer noch in einem Loch, wenn Gott mich nicht aus allem, was ich kannte, herausgeholt hätte. Er hat dafür gesorgt, dass ich mich vollkommen auf ihn verlasse und mein Leben noch einmal ganz neu anfangen kann“, sagt sie.

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Taylor

Schönheit aus der Asche „Ich mag dich gerade nicht sehr“, sagte Taylors Mom mit leiderfüllten Augen zu ihr. „Ich mag mich selbst nicht“, antwortete die 17-jährige Taylor. Und sie meinte es ernst. Einige Monate zuvor hatte ihr Freund sie unter Druck gesetzt, mit ihm zu schlafen. Auf dem Heimweg weinte sie, weil sie glaubte, sie wäre nun „verdorben“. Sie sagte sich, da sie es jetzt nun einmal getan hatte, könnte sie eh nicht noch mal von vorne anfangen, also schlief sie weiter mit anderen Jungs. Obwohl sie mit zwölf Jahren Jesus kennengelernt hatte, waren die anklagenden Stimmen in ihrem Kopf stärker als seine Stimme, die liebevoll zu ihr vorzudringen versuchte. „An diesem Punkt meines Lebens zog ich mich innerlich in mich zurück. Ich trennte mich emotional von meinen Eltern. Ich wandte mich von allen ab. Ich behielt alles für mich und redete mit niemandem darüber.“ Auf dem College war sie mit einem Jungen zusammen, der sie offenbar anbetete. Sie waren unzertrennlich, bis er ganz unerwartet und ohne Erklärung mit ihr 45


Schluss machte. Kurz darauf ging sie unangemeldet zu seinem Appartement und erwischte ihn mit einem anderen Mädchen. Sie war am Boden zerstört und redete die ganze Nacht mit seinem besten Freund. Sie tranken zu viel. Schließlich landeten sie im Bett, und bald darauf stellte sie fest, dass sie schwanger war. „Ich beschloss sofort, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Ich kannte diesen Bibelvers nicht, in dem es heißt, dass Gott die Babys schon im Schoß der Mutter kennt, bevor sie geboren werden. Die Medien überzeugten mich davon, dass es bloß ein Fötus war, ein Zellklumpen, aber noch kein Baby. Ich habe mir nicht genug Zeit genommen, um in Ruhe über eine Entscheidung nachzudenken. Ich wurde einfach von Angst geleitet – Angst, dass ich das College nicht würde abschließen können, und Angst, dass meine Eltern auf diese Art erführen, dass ich schon Sex hatte. Für mich war Abtreibung einfach eine Art Familienplanung“, sagt Taylor. Eine von ihren Freundinnen versuchte, Taylor davon zu überzeugen, das Kind zu behalten. „Du und ich können es doch zusammen großziehen“, flehte sie. Aber in Taylors Kopf sprach eine kräftige Stimme. Und je länger sie wartete, desto lauter wurde sie. Der Vater des Babys fuhr sie zu der Abtreibungsklinik. „Ich weiß noch, dass ich absichtlich meinen echten Namen angab. Ich hatte Sorgen, dass mich unter einem ­falschen Namen niemand finden würde, falls etwas schiefging.“ Nach der Abtreibung verbrachte Taylor einige einsame Tage im Haus eines verreisten Bekannten, sodass sie sich erholen konnte, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. „Ich kam mir vor, als wäre die schwärzeste, dunkelste Wolke über mich gekommen“, erzählt sie. „Und doch 46


muss Gott bei mir gewesen sein, weil ich mich nicht umgebracht habe.“ Sie schlief vier Tage am Stück. Langsam kam ihr die schmerzvolle Erkenntnis, was sie getan hatte. Aber sie wusste nicht, was sie mit ihrem Kummer anfangen sollte. Sie zog sich zurück und behielt alles für sich, genau wie sie es nach der Highschool getan hatte. Sie ging zurück in die Gemeinde, aber Taylor wusste, dass sie dort nicht hingehörte. Die Schuldgefühle wegen der Abtreibung hatten sie fest im Griff, und die Scham machte sie auf die seltsamste Art fertig, am häufigsten, wenn sie in der Gemeinde war. Wenn der Sohn des Pastors predigte, blieb sie dem Gottesdienst fern, denn dieser Mann wirkte auf sie beängstigend; seine Stimme war energisch und durchdringend. Nicht lange danach hörte sie im Autoradio plötzlich die Stimme des Pastorensohnes. Sie erstarrte fast, so sehr erschreckte es sie, die Worte zu hören. Seine Stimme wurde schriller: „Hast du dich schon mal wegen einer Sache, die du getan hast, so schlecht gefühlt, dass du zu Gott gegangen bist und immer wieder gesagt hast: ‚Bitte vergib mir, bitte vergib mir, bitte vergib mir‘?“ Taylor nickte. Seine Stimme wurde noch lauter: „Wie kannst du es wagen, Gott immer wieder um Vergebung zu bitten! Wenn du dir selbst nicht vergeben kannst, erhebst du dich damit über Gott! Ist das, was Jesus am Kreuz getan hat, etwa nicht genug?!“ In diesem Moment flossen Taylor die Tränen über ihr Gesicht und sie beschloss, zu glauben, dass Gott ihr vergeben hatte. Sie traf eine Entscheidung: Sie wollte keinen Sex mehr vor der Ehe haben. „Ich wollte die Christin 47


sein, die ich meiner Meinung nach sein sollte“, erzählt sie heute. Dem nächsten Jungen, den sie kennenlernte, sagte sie gleich zu Anfang: „Ich hatte eine Abtreibung, und ich werde keinen Sex vor der Ehe haben.“ Er liebte sie so, wie sie gerade war, und bald waren sie verlobt. Und doch war der Schmerz über ihre Abtreibung immer noch da. An ihrem Hochzeitstag hörte sie, als sie am Arm ihres Vaters am Ende der Kirche stand, ein Baby weinen. Sie konnte an nichts anderes denken als an ihre eigene Entscheidung, das Leben ihres ersten Kindes beendet zu haben. Als es dann länger als erwartet dauerte, bis sie wieder schwanger wurde, hatte sie Angst, dass Gott sie auf diese Weise bestrafte. Selbst nachdem sie zwei Kinder bekommen hatte, hielt sie noch an ihren Schuldgefühlen fest. Taylor erlebte während einer Veranstaltung in ihrer Gemeinde, bei der eine Töpferin über die Herstellung von Vasen auf der Töpferscheibe sprach, eine Art AhaEffekt. Diese Handwerkerin erklärte nämlich die Geschichte aus der Bibel, die in Jeremia 18,3–4 steht: „Ich ging hin und fand den Töpfer bei seiner Arbeit an der Töpferscheibe. Wenn ihm ein Gefäß unter den Händen misslang, dann machte er aus dem Ton ein anderes, ganz wie er es für richtig hielt.“ „Wenn sich ein Riss bildet, dann kann der Töpfer den Ton nur zurück auf die Scheibe werfen und noch mal von vorne anfangen. Das ist es, was Jesus für euch will. Er hat euch neu gemacht. Ihr seid neu“, erklärte die Frau. Taylor saß da und war sprachlos. Sie hatte die Entscheidung getroffen, von vorne anzufangen, als sie im Auto die Stimme des Predigers gehört hatte. Aber nun dachte sie zum ersten Mal darüber nach, wie Gott sie in 48


diesem Moment ganz und gar neu gemacht hatte. Er sah nicht mehr die alte Taylor. Sie war brandneu. Trotzdem blieb das Schuldgefühl und verdrängte Taylors zarte Gedanken an Gottes Vergebung. Als ihr Arzt einige möglicherweise bösartige Geschwüre in ihrer Gebärmutter untersuchen lassen wollte, zog sie daraus den Schluss, dass Gott ihr das Leben nehmen würde und dass sie es nicht anders verdient hätte. Sie stand in der Küche, Tränen liefen über ihr Gesicht und sie flehte Gott an: „Bitte lass mich nicht sterben. Bitte, Gott. Bitte lass mich die Kinder meiner Kinder sehen.“ Es klingelte an der Tür. Ein Bote überreichte Taylor ein Päckchen. Sie packte es aus. Es enthielt ein Geschenk von ihrer Schwägerin – ein schöner Servierteller in ihren Lieblingsfarben, eine echte Handarbeit. Sie rief ihre Schwägerin an. „Warum schickst du mir den?“, fragte sie. „Er ist ein Geschenk, das ich für dich gekauft habe, aber eigentlich ist es von Gott.“ Ihre Schwägerin erklärte, dass sie auf einer Freizeit gewesen war, auf der eine Töpferin das Herstellen von Vasen vorgeführt und einen Bibelvers erklärt hätte. Nach der Vorführung konnte man ihre Töpferwaren kaufen, allerdings war der Servierteller, vom dem sie wusste, dass er Taylor gefallen würde, sehr teuer. „Ich konnte nicht einschlafen. Ich stritt mit Gott darüber. Er sagte: ‚Ich sorge für dich. Kauf diesen Teller für Taylor.‘“ Taylor hörte mit Tränen in den Augen zu. „Weißt du, warum Gott dir gesagt hat, dass du den Teller kaufen sollst?“, fragte sie. „Nein.“ Taylor, die bislang nur ihrem Ehemann von der Abtreibung erzählt hatte, erklärte ihr die ganze Geschichte. 49


„Gott wusste, dass er mich heute daran erinnern musste, dass er mir nicht das Leben nimmt. Ich bin sein neues Geschöpf. Er verurteilt seine neuen Geschöpfe nicht.“ Der Teller ist ein Symbol auf mehreren Ebenen. Vor schwarzem Hintergrund erscheinen zwei Traubenmuster. „Aus der Dunkelheit heraus hat Gott mir zwei Kinder geschenkt“, erklärt Taylor. Gott hatte noch weitere heilsame Überraschungen parat. Bei einer Freizeit gewann Taylor ein richtiges Prunkstück aus Keramik – in denselben Farben wie der Servierteller. Die Rednerin auf dieser Freizeit sprach davon, wie wichtig es sei, seine Geschichte anderen mitzuteilen. Taylor weinte während der ganzen Veranstaltung; sie wusste, dass sie eine unglaubliche Geschichte zu erzählen hatte, aber konnte sich einfach nicht überwinden. Sie sprach mit der Veranstalterin, die sie ermutigte, an einem Bibelkurs für Mädchen und Frauen, die abgetrieben hatten, teilzunehmen. Der schwierigste Schritt auf Taylors Weg der Heilung bestand darin, ihre Geschichte ihren Eltern zu erzählen. Wochenlang rang sie mit Gott. Er sagte ihr: „Wenn du mir dein Herz anvertraut hast, warum kannst du mir dann nicht auch die Herzen deiner Eltern anvertrauen?“ Das Treffen war schmerzhaft – es flossen jede Menge Tränen. Aber Gott hielt ihre Eltern zärtlich in seinem Arm, während sie ihre Geschichte erzählte. Am nächsten Tag lud ihre Mutter sie zum Essen ein. „Auf Händen und Knien habe ich Gott angefleht, er möge mir zeigen, warum du diese Mauer zwischen uns errichtet hast, warum die Verbindung zwischen uns gestört war.“ Sie sah Taylor in die Augen und sagte nur: „Willkommen zu Hause.“

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