Deeanne Gist
Liebe wider Willen Roman Aus dem Englischen 端bersetzt von Silvia Lutz
Verlagsgruppe Random House FSC® N001967 Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier: Enso Classic 95 liefert Stora Enso, Finnland.
Das amerikanische Original erschien im Verlag Bethany House Publishers unter dem Titel „Maid to Match“. © 2010 by Deeanne Gist © 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2013 Bestell-Nr. 816710 ISBN 978-3-86591-710-2 Umschlaggestaltung: Hanni Plato; Jennifer Parker Umschlagfotos: Mike Habermann; Alamy Bearbeitung: Nicole Schol Satz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Kapitel 1 Biltmore Estate In der Nähe von Asheville, North Carolina August 1898
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ie ein Schmetterling, der sich aus dem Kokon befreit, der ihn gefangen hält, ließ Tillie Reese den kahlen, in Brauntönen gehaltenen Dienstbotenbereich hinter sich und tauchte in den Luxus von Biltmores Erdgeschoss ein. Diese Stunden vor Tagesanbruch liebte sie am meisten. Alles war noch dunkel, niemand rührte sich, und sie hatte das gesamte Stockwerk – das gut und gern zweitausend Quadratmeter einnahm – ganz für sich allein. Sie war diesen Weg schon unzählige Male gegangen und fand sich auch ohne Kerze oder Lampe gut zurecht. Einen Moment lang stellte sie sich vor, sie wäre die Herrin dieses Schlosses. Elegant gekleidet glitt sie über das Parkett und sann darüber nach, ob der Küchenchef an diesem Tag Petites Bouchées oder Puits d’amour zubereiten sollte. Ob sie an diesem Morgen Yeats, Browning oder Dickens lesen sollte. Ob sie die Kutsche kommen lassen und eine Spazierfahrt unternehmen oder auf einem der Vollblutpferde, die im Stall standen, einen Ausritt machen sollte. Die junge Frau verstärkte ihren Griff um die Dienst
botenkiste und atmete tief ein. Der Duft der Politur, die sie aus Leinöl, Essig, Terpentin und Wein zubereitet hatte, kitzelte in ihrer Nase. Sie gestattete sich einen Nieser. Das wäre streng verboten gewesen, wenn jemand in der Nähe gewesen wäre. Das Klappern ihrer Absätze hallte in dem großen, weitflächigen Raum wider, als sie das Atrium durchquerte, das mit Palmen, exotischen Pflanzen, blühenden Sträuchern und einer großen Fontäne, die erst noch eingeschaltet werden musste, ausgestattet war. Schließlich erreichte sie die Gobelin-Galerie und blieb stehen. Sie lauschte der Stille und genoss die Anonymität der Dunkelheit. Es werde Licht. Sie betätigte den weißen Schalter. Elektrische Lichter strahlten auf und beleuchteten einen Raum, der so lang war, dass zwei bescheidene Häuser darin Platz gefunden hätten. Mehrere Gruppen von salbeifarbenen Brokatsofas und -sesseln füllten den Raum. Riesige Wandteppiche säumten eine Wand. Ihnen gegenüber befanden sich große Fenster und Türen, die auf die Terrasse hinausführten. Das leise Summen der Edison-Glühbirnen wünschte ihr einen guten Morgen. Die Aufregung und das Staunen über die elektrischen Lichter erfüllte sie jedes Mal wieder aufs Neue. Aber an diesem Morgen rang noch etwas anderes um ihre Aufmerksamkeit, und plötzlich fühlte sie sich in dem hellen Licht bloßgestellt, verwundbar und nackt. Die junge Frau drückte auf den schwarzen Knopf. Sogleich umhüllte die Dunkelheit sie wieder, so als hätte sie den Deckel einer Truhe zugeschlagen. Alles war still. Nicht das leiseste Flüstern war zu hören. Sie hielt den Atem an und spürte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte. Und sie gab den Gedanken, die sie seit dem Vorabend verdrängt hatte, Raum.
Bénédicte ging weg. Sie kehrte nach Frankreich zurück und ließ die neue Mrs Vanderbilt ohne Zofe zurück. Zofe. Nach der Hausdame die höchstmögliche Stellung für eine Frau. Die Zofe war die Bedienstete, die sich vom ersten Hausmädchen den Morgentee bringen ließ, während das zweite Hausmädchen ein Feuer in ihrem Zimmer anmachte. Die Zofe war die Bedienstete, die ein Bad nehmen konnte, sooft sie wollte. Die Mrs Vanderbilt auf ihren Reisen begleitete. Die Mrs Vanderbilt Bücher – Bücher! – vorlas. Von der erwartet wurde, dass sie sich genauso modern kleidete wie Mrs Vanderbilt. Doch der größte Vorteil war der, dass eine Zofe wesentlich mehr Geld verdiente und dadurch ihrer Familie und notleidenden Menschen helfen konnte. Tillie würde als erstes Dienstmädchen für diese Stelle sicher in Betracht gezogen werden. Die Hausdame hatte sie vor dem Frühstück zu einem privaten Gespräch zu sich bestellt. So Gott wollte, würde es bei diesem Gespräch um die Stelle gehen. Nachdem sie diesem Gedanken noch ein letztes Mal nachgehangen hatte, verbannte sie ihn sorgfältig wieder aus ihrem Kopf. In Fantasien zu schwelgen, während sie die Galerie in Ordnung bringen sollte, war bestimmt nicht der richtige Weg, um zur Zofe befördert zu werden. Sie betätigte erneut den weißen Knopf, und schon durchflutete helles Licht wieder den Raum. Wenn das ganze Erdgeschoss bereit sein sollte, bevor der Herr des Hauses und seine frisch angetraute Gattin den Tag begannen, musste sie sich an die Arbeit machen.
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Fröhliches Geplapper, Lachen und das Klappern von Geschirr erfüllte den Speisesaal der Dienstboten, aber Tillie war schweigsam. Sie mied den Augenkontakt mit der langen Reihe livrierter Männer, die ihr gegenübersaßen, und mit der genauso großen Zahl an Frauen, die in ihrer Dienstkleidung auf ihrer Seite des Tisches saßen. Besonders achtete sie darauf, nicht zu ihrem Bruder zu schauen. Ein Blick auf Allan genügte und er wüsste, dass etwas geschehen war. Das sechzehnjährige Mädchen, das die Dienstboten im Speisesaal bediente, füllte zum zweiten Mal Tillies Milchglas. „Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Miss Tillie? Sie haben Ihre Leber und Ihren Speck kaum angerührt.“ „Es schmeckt gut, Nell. Wirklich köstlich.“ Nell warf einen Blick auf die Uhr, sagte aber nichts, während der Minutenzeiger einen Schritt weiter auf die Halbstundenmarke zurückte. Tillie nahm einen großen Bissen Kartoffeln. Sie würde schnell essen müssen, wenn sie vor halb neun fertig sein wollte. Aber nach ihrem Gespräch mit der Hausdame weigerte sich ihr Magen, das Essen aufzunehmen. „Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“ Mrs Winter, die an der Stirnseite des Tisches saß, sprach ihre Aufforderung nur ein einziges Mal aus. Schlagartig wurde es still im Raum. Als Hausdame unterstand sie direkt den Vanderbilts und hatte damit sogar eine höhere Stellung inne als der Butler. Sie wechselte einen kurzen Blick mit diesem, der am anderen Ende des Tisches saß, dann ließ sie ihren Blick über die langen Reihen von Männern und Frauen schweifen, die zwischen ihnen saßen. „Wie Sie wissen, hat Bénédicte beschlossen, nach Frankreich zurückzukehren, sobald Ersatz für sie gefunden wurde.“ Aller Augen richteten sich auf Mrs Vanderbilts Zofe, die
direkt rechts von Mrs Winter saß und damit gegenüber von den Laufburschen, den Hilfsbutlern und den Lakaien. Der dunkelgrüne Stoff ihres Kleides, der mit rosa und gelben Blumen durchsetzt war, ließ ihre olivfarbene Haut leuchten. Tillie hatte gehört, dass Bénédicte sich aufgrund der Sprachbarriere und der Isolation auf Biltmore nicht ganz wohlfühlte. Sie wollte wieder nach Hause. Neben Bénédicte saß Tillie. Rechts von Tillie das erste Zimmermädchen, dann das erste Hausmädchen und so weiter bis zum Ende des Tisches, wo die Wäscherinnen und die Spülmädchen saßen. „Statt jemanden aus Frankreich oder England oder auch nur aus Newport zu holen“, fuhr Mrs Winter fort, „hat Mrs Vanderbilt beschlossen, eine unserer jetzigen Bediensteten mit Bénédictes Aufgaben zu betrauen.“ Die Aufmerksamkeit richtete sich schlagartig auf Tillie und die drei Mädchen rechts neben ihr, die höchsten weiblichen Dienstboten. „Nach reiflicher Überlegung hat sie die Wahl auf Tillie oder Lucy eingegrenzt.“ Dixie Brown beugte sich über ihren Teller und lenkte Tillies Aufmerksamkeit auf sich. Es war unübersehbar, dass ihre Freundin aufgeregt war und sich für sie freute. Tillie bedachte sie mit einem leichten Lächeln und warf dann einen Blick auf ihren Bruder. Allan hatte die Brauen zusammengezogen. Sie konnte an seiner Miene nicht ablesen, was er dachte. Mrs Winter trank einen Schluck Kaffee. „Bis Mrs Vanderbilt sich auf eine der beiden festlegt, werden Tillie und Lucy einige von Bénédictes Aufgaben übernehmen. Dies führt dazu, dass einige von Ihnen die Arbeiten, die die beiden nicht erledigen können, übernehmen werden.“
Gleich rechts von Tillie saß Lucy Lewers hoch aufgerichtet und selbstsicher auf ihrem Stuhl. Ihre karamellfarbenen Haare hatte sie sauber unter einer schneeweißen Haube hochgesteckt, die nicht mehr als ein Stück Rüschenstoff war. Lange Wimpern in der gleichen Karamellfarbe wie ihre Haare umrahmten ihre Augen. Ihre Haut war makellos, ihr Profil perfekt. Mit leicht erhobenem Kinn schaute sie alle anderen am Tisch an, als stünde ihre Beförderung unmittelbar bevor. „Beeilen Sie sich mit dem Essen“, tadelte Mrs Winter die Anwesenden. „Die Arbeit ruft.“
••• Allan hielt Tillie auf dem Weg zur Morgenandacht auf. „Warum hast du mir nichts verraten?“ Er ergriff sie am Arm, schob sie in die Speisekammer und schloss die Tür hinter sich. Er war fünfzehn Zentimeter größer als sie und hatte breite Schultern und genauso dichte, schwarze Haare wie sie. „Ich habe es selbst erst vor dem Frühstück erfahren.“ Sie rieb sich die Stelle, an der er sie etwas zu fest gehalten hatte. „Was willst du jetzt machen?“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was ich mache? Ich werde mir meine Hände wund arbeiten, wenn es sein muss, und Gott um Gnade bitten. Was glaubst du denn, was ich tun werde?“ Er rieb sich den Nasenrücken. „Das verändert alles. Dann bist du eine von ihnen.“ Sie wusste, dass die Hausdame, der Butler, der Chefkoch, die Zofe und der Kammerdiener eine Sonderstellung unter den Dienstboten einnahmen. „Aber ich will eine von ihnen sein. Kannst du dir vorstellen, welche Möglichkeiten 10
mir das eröffnet? Und die Bezahlung? Die Kleider? Die Privilegien? Die Reisen?“ „Die Reisen? Dir wird schon übel, wenn du eine Kutsche nur siehst. Wie willst du das schaffen?“ Sie versteifte sich. „Ich bin jetzt älter. Ich bin sicher, dass mir das Schaukeln nicht mehr so viel ausmacht wie früher, als ich klein war. Denk doch nur an die Freiheiten, die ich jeden Tag haben werde. Ich kann dann –“ „Freiheiten?“, schnaubte er. „Bei dieser Stelle gibt es so etwas wie Freiheit nicht. Du musst Tag und Nacht springen, wenn die Herrschaft dich ruft.“ „Aber das ist es doch gerade. Ich werde die Vertraute von Edith Stuyvesant Dresser Vanderbilt sein!“ „Du bist dann aber nicht mehr im dritten Stock bei Dixie und den anderen Mädchen. Du hängst im ersten Stock bei ihr und der großen, mächtigen Mrs Winter fest. Es gibt dann für dich keinen Kuchen, keinen Tee, keinen Tratsch mit uns anderen mehr. Du musst dich mit dem Butler, dem Kammerdiener und dem Chefkoch in Mrs Winters Zimmer zurückziehen.“ „Und ich darf den gleichen Kuchen essen wie die Vanderbilts!“ Tillie schüttelte ironisch den Kopf. „Das wird bestimmt eine große Belastung sein.“ Er kniff den Mund zusammen. „Du wirst nicht heiraten können.“ Sie runzelte die Stirn. „Keiner von uns kann heiraten. Es sei denn, er will seine Stelle verlieren.“ „Man könnte aber heiraten. Es würde nur bedeuten, dass man nicht mehr im Haus arbeiten kann. Man müsste auf einem von Mr Vanderbilts Höfen oder in der Molkerei oder so etwas arbeiten.“ „Warum sollte ich das wollen, wenn ich doch hier arbeiten kann? Bist du verrückt?“ Sie griff nach der Türklinke. 11
Er legte seine Hand auf die ihre. „Die Stelle als Zofe raubt dir die besten Jahre deines Lebens, Tillie. Und sobald dein erstes graues Haar zu sehen ist oder die ersten Fältchen auftauchen, ist Schluss damit. Nur die jungen und schönen Mädchen können Zofen sein.“ „Graue Haare? Du erzählst mir etwas von grauen Haaren? Ich bin erst achtzehn.“ „Ich weiß, wie alt du bist.“ „Warum machst du dir dann solche Sorgen? Ich werde einen Teil von meinem Lohn sparen. Und wenn die Zeit kommt, macht es mir nichts aus, meine Stelle aufzugeben, weil ich genug Geld habe, von dem ich für den Rest meines Lebens leben kann.“ „Allein. Ohne jemanden, der dir Gesellschaft leistet. Und ganz bestimmt kannst du dann nicht den Lebensstil beibehalten, den du dir angewöhnt hast.“ Sie verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. „Ich dachte, du würdest dich für mich freuen. Wenn ich diese Stelle bekomme, wird Mama auf Wolke sieben schweben.“ „Conrad ist in dich verliebt.“ Sie erstarrte und ließ dann langsam die Arme sinken. „Conrad? Der Lakai?“ Die junge Frau malte sich den schlaksigen, jungen Mann vor Augen, der so dürr war, dass er seine Strümpfe ausstopfte, um halbwegs ansehnliche Waden zu haben. „Kennst du einen anderen Conrad?“, gab Allan zurück. Wut erfüllte sie. „Er sollte sich das lieber schnell aus dem Kopf schlagen. Ich interessiere mich nicht für ihn und auch für keinen anderen, und falls er mir diese Chance vermasselt, will ich seinen Kopf auf einem silbernen Tablett.“ Sie pochte ihrem Bruder mit dem Finger auf die Brust. „Verstanden?“ 12