Liebe Wider Willen neu - 9783865917102

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Deeanne Gist

Liebe wider Willen Roman Aus dem Englischen 端bersetzt von Silvia Lutz


Verlagsgruppe Random House FSC® N001967 Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier: Enso Classic 95 liefert Stora Enso, Finnland.

Das amerikanische Original erschien im Verlag Bethany House Publishers unter dem Titel „Maid to Match“. © 2010 by Deeanne Gist © 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2013 Bestell-Nr. 816710 ISBN 978-3-86591-710-2 Umschlaggestaltung: Hanni Plato; Jennifer Parker Umschlagfotos: Mike Habermann; Alamy Bearbeitung: Nicole Schol Satz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.


Kapitel 2

I

ch werde mich nicht übergeben. Ich werde mich nicht übergeben. Tillie konnte dieses Mantra noch so oft wiederholen, die Übelkeit legte sich einfach nicht. In diesem Augenblick fuhr das Kutschenrad durch ein Schlagloch und rüttelte ihren Magen noch mehr durcheinander. Sie biss die Zähne zusammen und schaute aus dem Fenster, aber als sie sah, dass die Bäume und Blätter wie Ozeanwellen an ihr vorbeirollten, wurde es noch schlimmer. Oh, warum konnten wir nicht mit offenem Verdeck fahren? In einer offenen Kutsche hatte sie sich viel besser unter Kontrolle. Die geschlossenen Kutschen hingegen bereiteten ihr große Probleme. Denk an etwas anderes. Edith Vanderbilt saß ihr gegenüber und las „Der Prinz und der Bettelknabe“. Ihr Körper schaukelte im Rhythmus der Bewegungen der Kutsche. Sie hatte braune Haare und nussbraune Augen, war fünfundzwanzig, fast einen Meter achtzig groß und hatte eine so starke Ausstrahlung, dass Tillie sich neben ihr fast klein vorkam, obwohl sie selbst auch einen Meter siebzig groß war. Die abgestandene Luft in der Kutsche wurde von Minute zu Minute dicker. Tillies Nasenflügel zogen sich bei dem vergeblichen Versuch, frischen Sauerstoff aufzunehmen, zusammen. Denk an etwas anderes. 14


Mrs Vanderbilt hatte Mr Vanderbilt in Paris kennengelernt und geheiratet, obwohl sie ursprünglich aus New York kam. Deshalb entsprachen die Kleider, die sie mitgebracht hatte, der neuesten europäischen Mode. Tillies Übelkeit verschlimmerte sich zunehmend. Sie schob einen Finger zwischen ihren Kragen und ihren Hals und hoffte, dass sie dadurch etwas mehr Luft bekam. Du bist kein Kind mehr. Du bist eine erwachsene Frau. Denk an etwas anderes. Die blaue Serge, die Mrs Vanderbilt trug, war anders als alles, was Tillie je gesehen hatte. Der Rock lag an den Seiten eng an und war kunstvoll mit abgestuften Zöpfen in verschiedenen Farbnuancen und Stilen verziert. Die Schulterstücke, die über den leichten Puffärmeln lagen, liefen spitz zu und waren im selben Stil geschnitten. Ein Kribbeln setzte hinter Tillies Augen ein. Die Übelkeit saß jetzt in ihrer Speiseröhre. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Tu das nicht, Tillie. Tu es nicht. Sie konzentrierte sich stärker auf das Kleid. Würde dieses Kleid dann eines Tages ihr gehören, der Zofe, wenn ihre Herrin es aussortierte? Feuchtigkeit sammelte sich in ihrem Nacken, auf ihrem Rücken und unter ihren Armen. Sie öffnete den Mund und atmete leise tief ein und blies dann die Luft wieder aus. Denk an etwas anderes. Sie betrachtete ihre Herrin genauer. Diese besaß nicht die Sanduhrfigur, die gegenwärtig so beliebt war, sondern war gertenschlank. Tillies Figur lag irgendwo dazwischen. Aber wenn ihr Mieder weiter sein müsste, könnte sie ein paar Zentimeter von der Länge des Rocks nehmen. Die Kutsche fuhr in das nächste Schlagloch. Tillie schloss die Augen und presste die Finger, die in einem dünnen Damenhandschuh steckten, auf den Mund. 15


„Geht es Ihnen gut, Tillie?“ Bitte, Gott, mach, dass die Übelkeit verschwindet. Ich kann mich doch nicht bei meinem ersten Einsatz übergeben! Sie schluckte die Galle mühsam wieder hinunter. „Mir geht es gut, Ma’am. Danke.“ Mrs Vanderbilt steckte eine Schleife zwischen die Seiten ihres Buches und legte es beiseite. Dann klopfte sie an das Dach der Kutsche. Diese fuhr sogleich langsamer und blieb dann ganz stehen. Das Fahrzeug schaukelte, als der Fahrer von seinem Sitz sprang. Dann wurde die Tür geöffnet. „Stimmt etwas nicht, Ma’am?“ „Ich denke, ich würde gern den Rest der Fahrt mit offenem Verdeck fahren, Earl. Würde Ihnen das etwas ausmachen?“ Er hielt ihr die Hand hin. „Natürlich nicht, Ma’am.“ Sie legte ihre Hand in die seine und ließ sich von ihm aus dem Wagen helfen. „Kommen Sie, Tillie. Wir vertreten uns ein wenig die Beine, ja?“ Der junge Kutscher hielt auch ihr eine Hand hin. Tillie presste den Mund zu. Tränen traten ihr in die Augen, und ihre Schultern zuckten bei ihrem Versuch, sich nicht übergeben zu müssen. Earl beugte sich zu ihr herein, um nachzusehen, was der Grund für die Verzögerung war, und riss die Augen auf. „Oh, zum Kuckuck.“ Er packte sie an der Taille, zog sie aus der Kutsche und trug sie buchstäblich zum nächsten Baum. Sie fühlte sich zu elend, um sich dagegen zu wehren, und wartete, bis er sie losgelassen hatte. Dann sank sie auf die Knie, da sie nicht länger gegen die Übelkeit ankommen konnte.

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„Das macht doch nichts.“ Mrs Vanderbilt lächelte sie vom gegenüberliegenden Sitz der offenen Kutsche an. Sie hatte darauf bestanden, dass Tillie vorwärts fuhr, während sie mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß. Tillie hatte sich sehr dagegen gesträubt, ihr das aber nicht ausreden können. Und als ob das noch nicht schlimm genug wäre, war ­Tillie, nachdem sie sich vor Mrs Vanderbilt und Earl gedemütigt hatte, auch noch in Tränen ausgebrochen. Stumme Tränen, aber trotzdem Tränen. Tränen, die einfach nicht versiegen wollten. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Sie hatte ihre Chancen, Zofe zu werden, verspielt. Dieser Gedanke führte zu neuen Tränen. Sie gab nicht vor, sich mit dem Taschentuch damenhaft die Augen abzutupfen, sondern wischte sie ab. Dann schnäuzte sie sich, obwohl sie ganz genau wusste, dass auch das nicht kultiviert war. Aber geschwollene Augen, ein fleckiges Gesicht und eine rote Nase waren eben auch nicht damenhaft. Sie rieb sich den Kopf. Ihrer Mutter würde das Herz brechen. Es wäre besser gewesen, wenn Tillie nie als Kandidatin ausgewählt worden wäre, um dann von der Liste gestrichen zu werden, bevor der Wettbewerb überhaupt begonnen hatte. Und das nicht nur wegen ihrer Mutter, sondern auch wegen Tillies eigenen ehrgeizigen Plänen. Zofe zu werden war ihre einzige Möglichkeit, in der Welt voranzukommen und einen Blick über die Grenzen von Asheville, North Carolina, hinaus zu werfen. Aber jetzt war diese Chance vertan. Und das alles nur, weil sie nicht in einem Fahrzeug fahren konnte, ohne dass ihr übel wurde. Mrs Vanderbilt neigte den Kopf zur Seite. „Meine Schwester litt unter dem gleichen Problem wie Sie.“ Tillie schluchzte. „Sie hat immer gelitten, wenn sie mit dem Rücken zur 17


Fahrtrichtung saß, wenn das Verdeck geschlossen war oder wenn sie beim Fahren stickte.“ Tillie nickte. „Das ist bei mir genauso. Es tut mir so leid, Ma’am.“ „Unsinn. Vergessen Sie es.“ Mrs Vanderbilt hielt ihr Buch hoch. „Diesen Band habe ich in der Bibliothek meines Mannes gefunden. Er stammt von einem gewissen Mark Twain und ist ausgesprochen gut.“ Tillie zerknüllte das feuchte Taschentuch in ihren Händen. „Ich habe noch nie etwas von ihm gelesen.“ „Sie lesen gern?“ „Ich liebe es zu lesen!“ Ihr Blick wanderte in die Ferne, und sie betrachtete die Blue Ridge Mountains, die den Horizont säumten. „Als Mädchen erstellte ich mir meine eigene Bibliothek. Ich schrieb auf die erste Seite jedes Buches ‚Privatbibliothek‘ sowie eine Nummer und meinen Namen.“ Mrs Vanderbilt lehnte sich zurück. „Und welche Bücher hatten Sie in Ihrer Bibliothek?“ „Lassen Sie mich nachdenken … ‚Die Drei Musketiere‘, ‚Ben Hur‘, ‚Macbeth‘, ‚Oliver Twist‘.“ „Eine ausgesprochen abenteuerlustige Liste.“ Die junge Frau senkte den Blick. „Ich hatte drei ältere Brüder und wollte unbedingt einer von ihnen sein.“ Sie zuckte die Achseln. „Also habe ich Bücher wie ‚Stolz und Vorurteil‘ nur heimlich nachts gelesen.“ Mrs Vanderbilt verzog belustigt den Mund. „Und haben Ihre Brüder Sie als eine von ihnen akzeptiert?“ „Nein, Ma’am. Sie sahen in mir immer zuallererst ein Mädchen und dann eine lästige Plage.“ Ihr Gegenüber nickte. „Ich habe nur Schwestern, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Sie dazugehören wollten. Manchmal ging es mir auch so.“ 18


Die Kluft zwischen Tillies und Mrs Vanderbilts Welt war unüberwindlich, aber trotzdem war ihre Herrin so umgänglich, so normal, dass Tillie ganz überrascht war. In den Herrenhäusern, in denen sie früher gearbeitet hatte, waren ihre Arbeitgeber bestenfalls hochnäsig gewesen und schlimmstenfalls tyrannisch. Es war ihr verboten gewesen, mit der Dame des Hauses zu sprechen, es sei denn, um eine Nachricht zu überbringen, und selbst dann hatte sie dies mit so wenigen Worten wie möglich tun müssen. Jetzt hingegen saß sie hier und führte richtig eine Konversation mit Mrs Vanderbilt. Und obwohl ihre Herrin von einem Kindheitswunsch erzählte, würden nicht einmal ihre eigenen Schwestern es wagen, jetzt ihre Stellung infrage zu stellen. „Wo befindet sich Ihre Bibliothek?“, fragte Mrs Vanderbilt. „Ich nehme an, sie befindet sich nicht in Ihrem Zimmer auf Biltmore.“ „Oh, nein, Ma’am. Sie befindet sich im Haus meiner Eltern. Aber sie leben auf dem Gelände. Mein Vater ist Maler. Er malt Mr Vanderbilts Insignien auf … nun ja, auf alles, worauf sie erwünscht sind.“ Die junge Frau deutete nach rechts und links. „Er hat sie zum Beispiel auf die Türen dieser Kutsche gemalt.“ Mrs Vanderbilts Augen leuchteten auf und sie zog die Brauen hoch. „Wirklich? Wenn wir stehen bleiben, muss ich sie mir unbedingt genauer ansehen.“ Dann nahm sie ihr Buch – „Der Prinz und der Bettelknabe“ – wieder zur Hand und fasste für Tillie kurz zusammen, was bisher geschehen war. „Ich würde Sie ja bitten, mir vorzulesen, aber unter den gegebenen Umständen wäre das keine so gute Idee.“ „Ich könnte es versuchen, Ma’am.“ Ihre Herrin schmunzelte. „Nein, nein. Ich bestehe darauf: Ich werde Ihnen vorlesen.“ 19


Kapitel 3

E

s war ein Tag wie aus dem Märchenbuch. Mit Ausnahme des Debakels am Straßenrand natürlich. Aber sobald Earl das Verdeck geöffnet hatte und Mrs Vanderbilt anfing, laut vorzulesen, beruhigte sich Tillies Magen, und sie erreichten Asheville, als der Prinz und der Bettelknabe gerade beschlossen, die Rollen zu tauschen. Tillie hatte jedoch keine Zeit, weiter über das Buch nachzudenken. Das berauschende Gefühl, in der Stadt zu sein, mit Mrs Vanderbilt einkaufen zu gehen und ihre Einkäufe zu tragen, erforderte Tillies ganze Aufmerksamkeit. Die Vanderbilts wurden in der Gegend wie Könige behandelt, und obwohl jeder Mr Vanderbilt mochte, wurde seine junge Frau fast abgöttisch geliebt. Das hatte Tillie schon sehr oft gehört, aber da sie den größten Teil ihrer Arbeiten im Haus verrichtete, bevor die Familie am Morgen aufstand, hatte sie bisher keine Gelegenheit gehabt, es mit eigenen Augen zu sehen. Den ganzen Tag über versuchten die Stadtbewohner, Mrs Vanderbilt jeden Wunsch zu erfüllen, und genauso bemühten sie sich auch um Tillie, und das einfach nur deshalb, weil sie die Herrin des Schlosses begleitete. Ladenbesitzer versuchten, ihre Wünsche zu erraten. Der Buchladen, den sie besuchten, füllte sich mit Kunden, die so taten, als blätterten sie in Büchern. Ein junger Mann auf 20


dem Gehweg errötete sichtlich, als sie an ihm vorübergingen. Und Kinder liefen neben ihrer Kutsche her und warfen Blumen. Diese Erfahrung faszinierte und begeisterte Tillie. Während sie ihre Röcke auf dem Sitz der Kutsche zurechtrückte, genoss sie diese Augenblicke und bewahrte diese Erinnerungen tief in ihrem Herzen. Als Earl die Kutsche in Richtung Süden lenkte und sich den Außenbezirken der Stadt näherte, flüsterte Mrs Vanderbilt: „Sobald wir die Stadt hinter uns gelassen haben, tauschen wir die Plätze.“ Tillies Wangen glühten. „Mir geht es schon viel besser, Ma’am. Das ist nicht nötig.“ „Trotzdem. Und nächstes Mal fahren wir mit dem Kabriolett, damit wir beide in Fahrtrichtung sitzen können.“ Nächstes Mal? Nächstes Mal? Wollte Mrs Vanderbilt damit andeuten, dass Tillie immer noch im Rennen war? Das war fast nicht möglich. Aber – „Earl?“ Mrs Vanderbilt richtete sich abrupt auf. „Was ist da vorne los?“ Tillie drehte sich auf ihrem Sitz herum. Am Ende der Black Bottom Street befand sich die alte baufällige Militärschule. Seit dem Bürgerkrieg hatte dieses Gebäude ein erfolgloses Unternehmen nach dem anderen beherbergt, bis es schließlich in ein Heim für mittellose Waisenkinder umgewandelt worden war. Falls sie die Stelle als Zofe bekäme, stünde dieses Waisenhaus ganz oben auf der Liste der Einrichtungen und Personen, die sie mit ihrem Geld unterstützen wollte. Natürlich würde sie zuerst ihre Familie unterstützen. Bislang war ihr beides unmöglich gewesen. Kahler Boden und alte, kaputte Ackergeräte umgaben das dreistöckige Ziegelgebäude, von dem der Putz abbröckelte, in dem Fensterscheiben fehlten und dessen Dach 21


stellenweise eingebrochen war. Auf dem Lehmboden vor dem Haus stand eine Schar Kinder Schulter an Schulter und feuerte zwei erwachsene Männer an, die in eine Rauferei verwickelt waren. Einer der Kämpfenden trug einen Anzug, der andere nur Hose und Hemd. „Was ist hier los, Earl?“, wiederholte Mrs Vanderbilt. Der Angesprochene verlangsamte die Kutsche. „Das weiß ich nicht genau, Ma’am. Ich sehe nur, dass mein Zwillingsbruder offenbar daran beteiligt ist.“ „Ihr Zwillingsbruder? Sie haben einen Zwillingsbruder?“ „Ja, Ma’am.“ Tillies Aufmerksamkeit wanderte wieder zu den beiden raufenden Männern. Sie brauchte nicht lang, um herauszufinden, wer von diesen Earls Zwillingsbruder war. Die wichtigsten Kriterien für Kutscher und Lakaien waren eine stattliche Körpergröße und gutes Aussehen. Earl besaß beides und dazu eine gehörige Portion Muskeln. Das Gleiche galt für seinen Zwillingsbruder. „Halten Sie die Kutsche sofort an!“, forderte Mrs Vanderbilt ihn auf. „Versuchen Sie, die beiden zu trennen, und bringen Sie ihn dann zu mir.“ „Ja, Ma’am.“ Earl hielt an, nahm seinen Hut ab und sprang dann von seinem Kutschsitz. Mehrere Kinder drehten sich um, aber die Streitenden nahmen keine Notiz von ihm. Earls Frack und seine Kniebundhose aus rostbraunem Samt bildeten einen deutlichen Gegensatz zu der einfachen, schmucklosen Kleidung der Waisenkinder. Und obwohl sein Erscheinen und das der eleganten Kutsche die Kinder ablenkten, ließen sie die Rauferei nicht aus den Augen. In diesem Moment holte Earls Bruder aus und traf ­seinen Gegner mit der Faust auf die Nase. Ein knackendes Geräusch drang bis zu ihnen herüber. 22


Der Kopf des Mannes flog regelrecht nach hinten und er verdrehte die Augen. Sekunden später knallte er auf den Boden und landete flach auf dem Rücken. Eine Staubwolke stieg um ihn herum auf. Tillie konnte ihre Verzweiflung kaum verbergen. Der Mann, der soeben zu Boden geschlagen worden war, war der neue Waisenhausdirektor. Sie rang die Hände auf ihrem Schoß. Seit er im vergangenen Jahr die Leitung des Hauses übernommen hatte, hatte Mr Sloop bei den Kindern wahre Wunder gewirkt. Die staatlichen Mündel liefen nicht mehr in verwahrloster Kleidung schmutzig durch die Stadt und hatten nur Unsinn im Kopf. Sie badeten sich, kleideten sich anständig und liefen nicht außerhalb des Geländes herum, außer um sonntags die Gottesdienste zu besuchen. Mr Sloop hatte angefangen, das alte Gebäude zu renovieren, und brauchte dringend mehr Gelder. Tillie würde gern ihren Beitrag leisten, aber das war bei ihrem jetzigen Lohn nicht möglich. Earls Zwillingsbruder beugte sich über den am Boden Liegenden, zog Mr Sloop am Kragen wieder hoch und holte mit der Faust erneut aus. Earl trat in den Kreis und ergriff das Handgelenk seines Bruders. „Er liegt schon am Boden, Mack.“ Ohne seinen Griff zu lockern, fuhr der Angesprochene herum. Schmutzige, blonde Haare fielen über seine zornig dreinblickenden Augen. Ein Blutrinnsal lief von seinem Mund in seinen ungepflegten Bart. Seine Augen wurden klar, als er seinen Bruder erkannte, und seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. „Halte lieber Abstand, Bruder. Sonst machst du deine feine Kleidung noch schmutzig.“ „Was ist hier los?“ Earl machte keine Anstalten, das Handgelenk seines Bruders loszulassen. 23


Mack sah zu einem der Kinder. Earls Augen folgten seinem Blick, bis er an einem Mädchen in einem braunen Baumwollkleid mit einem weißen Matrosenkragen hängen blieb. Der kindliche Stil ihres Kleides konnte nicht verbergen, dass sie dabei war, zu einer jungen Frau heranzuwachsen. „Celia?“ Tillie erhaschte einen Blick auf einen dunklen Bluterguss auf der Wange des Kinders, bevor das Mädchen auf dem Absatz kehrtmachte und durch die Eingangstür des Waisenhauses davonrannte. Earl richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Paar brauner Augen, die seinen eigenen ähnelten. Nur dass aus ihnen große Verachtung sprach. Ob es Verachtung für Earls Livree, für seine Stellung oder für Earl selbst war, konnte Tillie nicht genau sagen. „Du fängst eine Rauferei an, weil er Celia geschlagen hat?“ Earls Unverständnis war unüberhörbar. „Sie ist nur ein Mädchen, Mack. Was macht das schon?“ Mrs Vanderbilt versteifte sich sichtlich. Auch Tillie atmete hörbar ein. Sie war nicht sicher, was sie mehr aufregte: Earls Vorurteile oder seine Annahme, der Direktor hätte Celia geschlagen, was er bestimmt nie tun würde, dessen war sich Tillie sicher. Ein leises Knurren, das aus Macks Kehle aufstieg, jagte ihr ein Schaudern über die Arme. Seine Muskeln traten vor, weil er das regungslose Gewicht des Direktors immer noch in seiner geballten Hand hielt. Die Kinder wichen schlagartig zurück. „Nimm die Hände von mir, Earl.“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Ich habe Mrs Vanderbilt in der Kutsche und sie will dich sprechen.“ 24


„Ich will sie aber nicht sprechen!“ Röte stieg an Tillies Hals hoch. Konnte er nicht sehen, dass sie in Hörweite waren? „Das ist egal“, entgegnete Earl. „Sie hat mir gesagt, dass ich dich zu ihr bringen soll, und genau das habe ich vor. Aber ich wäre dir dankbar, wenn du bereitwillig mitkämst. Ich will mir meine feine Kleidung nicht schmutzig machen.“ Mack betrachtete seinen Bruder einen Moment, dann seufzte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Direktor. Dieser war immer noch ohne Bewusstsein. Der junge Mann zog ihn näher an sich heran. „Wenn Sie meine Schwester noch einmal anrühren, war das, was Sie heute erlebt haben, noch gar nichts.“ Mit dieser Warnung an den bewusstlosen Mann schleuderte er Mr Sloop auf die Erde. Earl ließ Macks Handgelenk los und forderte ihn mit einer ausholenden Handbewegung auf, vor ihm herzugehen. „Ich hoffe, es dauert nicht lang.“ Die Kinder wichen zurück und bildeten eine Gasse. Sie waren zu schüchtern, um sich der Kutsche zu nähern. Keines von ihnen schien sich um ihren Direktor Sorgen zu machen. So gern Tillie sich auch um ihn gekümmert hätte, so zwang sie sich doch, sitzen zu bleiben. Schließlich lief ein älterer Junge ins Haus. Hoffentlich holte er Mrs Sloop. Als die Brüder näher traten, konnte Tillie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie völlig identisch aussahen. Sie hatten eindeutig den gleichen Körperbau, die gleiche Körpergröße und die gleichen Augen, aber da Mack schmutzig war und sein Bart alles andere verbarg, war sie sich nicht sicher. Sie wusste jedoch, was Mrs Vanderbilt dachte. Zwei Lakaien, die nicht nur groß gewachsen waren und gut aussahen, sondern sich wie ein Ei dem anderen glichen, würden in ihren Kreisen zum Gesprächsthema werden. 25


„Ma’am, das ist mein Bruder, Mack Danver.“ Mack schaute ihr direkt in die Augen. Die Herausforderung in seinem Blick war unübersehbar. Mrs Vanderbilt neigte den Kopf leicht. „Ich finde es ehrenwert, dass Sie Ihre Schwester verteidigen, Mr Danver, aber ich habe gewisse Zweifel an der Wahl Ihrer Mittel.“ Der Angesprochene zuckte verächtlich mit den Achseln. „Wahrscheinlich habe ich überreagiert. Sie ist schließlich nur ein Mädchen. Nicht viel mehr als ein Haustier.“ Tillie atmete erschrocken aus. Mrs Vanderbilt zog eine Braue hoch. „Sie kommen aus den Bergen, nehme ich an? Was führt Sie in die Stadt?“ Doch Mack hatte sich bereits zum Gehen gewandt. Earl ergriff ihn erneut am Arm. „Unser Vater ist schon eine Weile tot, aber unsere Mutter ist erst vor Kurzem gestorben. Deshalb mussten wir unsere Familie aufteilen: Unsere Geschwister kamen bis auf Celia in anderen Familien unter und leben auf dem Berg. Da ich auf Biltmore wohne und Mack als Hausmeister für das ‚Battery Park Hotel‘ arbeitet, mussten wir Celia hier in Sloops Waisenhaus unterbringen.“ Mrs Vanderbilt lehnte sich an die Kissen des Landauers zurück. „Wie würde es Ihnen gefallen, in Biltmore House zu arbeiten, Mr Danver?“ Tillie starrte ihre Herrin mit großen Augen an. Sie könnte verstehen, wenn er als Stallbursche oder in der Molkerei arbeiten sollte, bis er vorzeigbar wäre und einige Dinge gelernt hätte. Aber im Haus? Sofort? Ohne Referenzen? Mack drehte den Kopf zur Seite und spuckte aus. „Ich glaube nicht, dass ich dort arbeiten möchte.“ „Mein Mann zahlt seinen Bediensteten New Yorker Löhne. Sicherlich viel mehr, als Sie im ‚Battery Park‘ verdienen. Mit dem Verdienst, den Sie in Biltmore erhalten würden, 26


könnten Sie Ihre Schwester in kürzester Zeit aus dem Waisenhaus holen.“ „Sie kommt schon zurecht.“ „Meines Wissens, Sir, behalten Waisenhäuser ein Kind selten, bis es erwachsen ist.“ Seine Augen blickten die reiche Frau kalt an. „Dann kann sie sich als Junge verkleiden und sich mit einer Pistole verteidigen. Ich arbeite nicht für einen Haufen feiner Leute, die am Ende der Welt wohnen.“ Mrs Vanderbilt schaute ihn einen langen Moment durchdringend an. „Dann haben Sie also Angst?“ Mack schüttelte Earls Hand ab und trat einen Schritt vor. „Ich fürchte mich vor nichts.“ „Wirklich nicht?“ Er gab ihr keine Antwort. Das war auch nicht nötig. Er sah aus, als wäre er bereit, seine Aussage mit den gleichen Mitteln zu unterstreichen, die er auch bei dem armen Mr Sloop angewandt hatte. Schließlich nickte Mrs Vanderbilt. „Falls Sie Ihre Meinung ändern, kommen Sie zum Haus, und sagen Sie, dass ich Sie hinbestellt habe.“

••• Tillie stand vor Mrs Winters Schreibtisch. „Es genügt nicht, nur leicht über die Oberfläche zu wischen“, sagte die Hausdame. Ihre blonden Haare wurden langsam silbern und neue Falten bildeten sich in ihren Augen- und Mundwinkeln. „Die Ränder und Beine der Tische und auch die Rückseiten und Beine der Stühle und Sofas müssen ebenfalls kräftig eingerieben werden.“ „Ja, Ma’am.“ Sie hatte angenommen, sie wäre wegen des kleinen Zwischenfalls auf dem Weg in die Stadt zu Mrs 27


Winter bestellt worden. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass Alice in der Gobelin-Galerie schlampige Arbeit geleistet haben könnte. „Das ist sonst überhaupt nicht Ihre Art, Tillie.“ „Ja, Ma’am. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Sie wollte die Schuld nicht auf Alice schieben. Bestandteil ihrer Probezeit war es, ihre Aufgaben an andere zu delegieren, wenn das nötig war. Aufgrund der Fahrt nach Asheville war eine solche Situation eingetreten. Trotzdem fielen diese Zimmer im Erdgeschoss in ihren Aufgabenbereich, da sie das erste Dienstmädchen war. Sie würde dafür sorgen müssen, dass Alice beim nächsten Mal keinen Zentimeter ausließ. Mrs Winter nahm die Brille ab. Ihre blauen Augen blickten sie nun milder an. „Wie ich gehört habe, haben Sie sich heute in der Stadt sehr gut gehalten.“ „Danke, Ma’am.“ Jetzt kommt es. „Mrs Vanderbilt war ausgesprochen beeindruckt.“ Aber … „Morgen oder übermorgen wird sie mit Lucy über die Besitztümer der Familie fahren. Mrs Vanderbilt hat vor, eine Aufstellung aller Angestellten und ihrer Familien zu erstellen.“ „Ja, Ma’am.“ „In dieser Zeit wird Bénédicte Ihnen Mrs Vanderbilts Schlafzimmer, ihre Schränke und Schubladen zeigen. Es ist wichtig, dass Sie sich den exakten Platz von allen Sachen und Mrs Vanderbilts Vorlieben merken.“ Sie war immer noch im Rennen. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken. „Ja, Ma’am.“ Die Hausdame setzte ihre Brille wieder auf und machte eine Notiz auf dem Blatt Papier, das vor ihr lag. „Das wäre dann alles.“ 28


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