Jim Ware
Inspirierende Gedanken zu Tolkiens „Der Hobbit“
Aus dem Englischen von Antje Balters
Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Ein wahr gewordener Traum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Schöne, glänzende Dinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Der Untergang der Dummköpfe. . . . . . . . . . . . . . . . 41 Ganz schöner Unsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Angeborene Tugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Wenn es eng wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Eine Torheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Auf Adlers Schwingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Sahne und Honig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Unerreichbare Anblicke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Anführer wider Willen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ein glücklicher Fehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Ein Stück Seil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Noch mehr Rätsel in der Finsternis. . . . . . . . . . . . . . 129 Grimmig, aber echt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Abgeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Der wahre Feind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Wiederkehrende Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 „… und wieder zurück“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Wer wob das Netz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Gedanken zum Abschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
[Das Lied der Zwerge] in den Ohren, schlief Bilbo ein, und es bescherte ihm recht unangenehme Träume. Der kleine Hobbit, „Eine unvorhergesehene Gesellschaft“
Ein wahr gewordener Traum? Während er sich unter seine Bettdecke kuschelte und schlaflos in die Dunkelheit starrte, unternahm Bilbo einen letzten Versuch, die verrückten Ereignisse der vergangenen sechs Stunden irgendwie zu verstehen. „Zwerge!“ Er schäumte vor Wut. „Zwergisches Getöse! Zwergisches Gerede über Reisen und Drachen und Schätze und Diebstähle! Zwerge in der Eingangstür und Zwerge im Salon! Zwerge, die Kümmelkuchen und Himbeermarmelade und Apfeltörtchen zu ihrem Tee verlangen – ganz zu schweigen von meinem besten Bier!“ Er schnaubte voller Abscheu. Was wohl sein Vater, der geachtete Bungo Beutlin, dazu gesagt hätte? „Es ist wirklich ein Wunder, dass die Speisekammer nicht völlig leer ist!“ „Na ja, aber du hast doch auch vor all dem hier schon mit den Zwergen zu tun gehabt“, belehrte ihn eine Stimme aus der anderen Seite seines Gehirns – eine Stimme, die ihn verdächtig an die seines Großvaters, des berüchtigten alten Tuk, erinnerte. „Du hast ja schon einen gewissen Ruf dafür 25
erlangt, dich mit allem möglichen sonderbaren Volk abzugeben. Gerüchten zufolge bist du sogar schon mit Elben gesehen worden.“ „Das tut doch gar nichts zur Sache“, protestierte der pragmatische Beutlin-Teil in ihm. „Das mit Gandalf war einfach unüberlegt von mir. Ich will ja nicht als schlechter Gastgeber dastehen, aber eine nicht eingeladene Meute genau zur Teezeit kann einen Hobbit schon an seine Grenzen bringen!“ „Grenzen?“ Seine tuksche Seite gluckste leise. „Was weißt denn du schon von Grenzen? Wie willst du die denn jemals kennenlernen, wenn du dich nicht zur Tür hinausbegibst und mal deine Speisekammer hinter dir lässt?“ Ein Windhauch verfing sich in den Gardinen und bauschte sie. Draußen in der Hecke war das Zirpen der Grillen zu hören. War es wirklich eine Andeutung von Elbenmusik, die Bilbo in der Brise mitschwingen hörte? Der Duft nach Frühling und erwachender Erde und nahendem Sommer weckte eine namenlose Sehnsucht tief in seinem Innern; und die tuksche Seite, die jetzt ihre Chance erkannte, setzte ihm mit einem unerbittlichen Anfall von Fernweh zu. Bilbo seufzte und drehte sich zur Wand. „Du hast natürlich recht“, murmelte er kläglich. „Das ist genau das, was ich immer gewollt habe! Aber ein Hobbit mittleren Alters begreift auch langsam, dass er manche Träume einfach für sich behalten muss.“ „Ob du ihn nun für dich behältst oder nicht“, sagte die tuksche Seite, „ich habe das Gefühl, dass dein Traum demnächst wahr werden wird.“ Draußen im Salon sangen die Zwerge weiter ihr Lied:
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Weit über die kalten Nebelberge, zu den tiefen Verliesen und uralten Höhlen müssen wir fort, ehe der Tag anbricht, unser lang vergessenes Gold suchen. Bilbo stöhnte und zog sich die Decke über den Kopf. „Schlafen! Vielleicht auch träumen …“ Ja, genau da liegt der Hase im Pfeffer, denn Träume können einen ruhigen, erholsamen Schlummer empfindlich stören oder sogar völlig zunichtemachen. Und wenn ein Traum dann wahr geworden ist, sieht das nicht immer genau so aus, wie man sich das vorgestellt hat. Hoffnungen und Sehnsüchte, die im Verborgenen gehegt werden, neigen dazu, im Licht der Wirklichkeit plötzlich ganz anders auszusehen. Es war einmal ein Mann, der hatte einen Traum. Schon seit achtunddreißig Jahren lag er auf einer jämmerlichen Matte an einem wundersamen Teich. Der Mann war gelähmt, konnte also nicht aufstehen, und wartete darauf, dass ein Engel das Wasser des Teiches in Bewegung setzte. Er glaubte fest an eine Vision, die er von sich selbst hatte, eine Vision, in der er wie ein kleiner Junge herumsprang. Es war höchst unwahrscheinlich, dass diese Vorstellung jemals wahr werden würde, aber sie hielt ihn am Leben, und er klammerte sich daran wie ein Kind an sein leeres Fläschchen oder an seine alte zerschlissene Schmusedecke. Und dann eines Tages geschah es. Der Traum trat aus dem Schatten und begrüßte den Mann mit einem lauten „Hallo!“. Er nahm ihn bei der Hand, blickte mit dunklen, durchdringenden Augen forschend in sein Gesicht und 27
sagte: „Möchtest du gesund werden?“ Und so seltsam es vielleicht scheint, der Mann stellte fest, dass er darauf nicht mit einem einfachen „Ja“ antworten konnte (nachzulesen in Johannes 5,1–8). Das ist eines der großen Paradoxa des Menschen: diese lähmende Angst, die so oft ihr Haupt erhebt, wenn einem das, was man sich immer gewünscht hat, plötzlich auf dem Silbertablett serviert wird. Wenn ein möglicher künftiger Arbeitgeber anruft, um mitzuteilen: „Sie haben die Stelle.“ Oder wenn das Mädchen Ihrer Träume zu Ihrem Antrag Ja sagt. Selbst der Mutigste unter uns weiß, wie es ist, vor der Erfüllung unserer tiefsten verborgenen Wünsche zurückzuschrecken. Das ist eine merkwürdige, aber sehr normale Erfahrung. Bilbo Beutlin, der fellfüßige, gut situierte Held mittleren Alters aus J. R. R. Tolkiens Klassiker „Der Hobbit“, machte Bekanntschaft mit diesem Paradoxon, als sein Traum an einem Nachmittag Ende April an seine Tür klopfte. Es scheint so, als ob Bilbo anders war als andere Hobbits. Die meisten von ihnen waren damit zufrieden, mit einem schäumenden Bier oder einer Tasse Tee zu Hause vor dem Feuer zu sitzen. Er dagegen hatte es immer wieder mit Anfällen von Rastlosigkeit und Unzufriedenheit zu tun. Nicht, dass er sein leibliches Wohlergehen nicht zu schätzen gewusst hätte – schließlich war er der Sohn eines Beutlin. Aber in seinem Wesen lag auch etwas, das in der unberechenbaren Verschrobenheit seiner mütterlichen Linie, der Tuks, begründet sein musste und ihn sich nach Reisen, Abenteuern und Stelldicheins mit Elben im Wald sehnen ließ. Wie seltsam schien es da, dass er in dieser Nacht der Nächte beim Klang seines in Erfüllung gehenden Traumes 28
zitternd in seinem Bett lag. Seine Überraschungsgäste, die Zwerge, sangen wieder. Es war dasselbe lockende, faszinierende Lied, das ihn bereits zuvor an diesem Abend so tief aufgewühlt und in eine seltsame Erregung versetzt hatte. Das Lied über verwunschenes Gold und tiefe, alte Höhlen und die Gefahren eines langen, verschlungenen Weges. Das war genau das, worauf er sein ganzes Leben gewartet hatte. Aber wieso war er dann so unruhig und aufgewühlt? Wieso hatte er dieses Gefühl, dass er am liebsten in Ruhe gelassen werden wollte und alle weggingen? Gandalf wusste genau, was der Hobbit empfand – und auch warum: Bilbo hatte sich natürlich verändert. Zumindest wurde er ziemlich gefräßig und fett, und seine alten Sehnsüchte waren zu einer Art heimlichem Traum geschrumpft. Nichts hätte erschreckender für ihn sein können als das Risiko, sie könnten tatsächlich wahr werden.1 Ein heimlicher Traum ist etwas Süßes und Wohlschmeckendes. Er ist wie ein Hobby, von dem niemand etwas weiß, oder ein alter Liebesfilm oder an einem verregneten Nachmittag in einer gemütlichen Ecke ein Buch zu lesen. Er ist eine Quelle des Trostes inmitten der Enttäuschungen des Lebens; ein Rückzugsort vor der tobenden Menge, an dem die Welt genau so wird, wie wir sie haben wollen. Aber ein Traum, der wirklich wahr wird, ist da schon etwas ganz anderes. Denn wenn man weiterdenkt, ist der Traum, der wahr wird, nichts anderes als eine Aufforderung, sich auf etwas einzulassen und etwas zu tun. 29
Ich kann gut nachvollziehen, was Bilbo so zu schaffen machte. Ich habe es selbst erlebt, als ich zum ersten Mal die Chance bekam, ein Buch zu schreiben, das auch wirklich veröffentlicht werden sollte. Das hatte ich mir schon als kleiner Junge gewünscht, aber irgendwie setzte diese unerwartete Chance alle Alarmglocken in meinem Kopf in Gang. Auf der Stelle standen nämlich all die furchtbaren Auswirkungen vor mir aufgereiht wie ein Trupp Zwerge auf der Jagd nach dem Schatz. Sie malten mir die Folgen vor Augen, die nicht ausbleiben würden, wenn ich tatsächlich ein Schriftsteller war: harte Arbeit, der Kampf gegen die Mutlosigkeit, die Möglichkeit, kritisiert oder gar verrissen zu werden, und die Aussicht zu versagen. Ich verspürte das irrationale Bedürfnis, laut zu schreien: „Das ist alles ein Missverständnis – ich habe doch bloß einen Scherz gemacht!“ Genau wie Bilbo wünschte ich, dass das alles weggehen und mich in Ruhe lassen möge. Wir sind uns da ganz ähnlich, auch wenn unsere heimlichen Träume so einzigartig und individuell sind wie unser Fingerabdruck. Jeder Mensch wurde mit der Sehnsucht geschaffen – mit dem Traum, wenn Sie so wollen –, Gemeinschaft mit seinem Schöpfer zu haben. Während sich der „Beutlin“ in uns vielleicht damit zufriedengibt, gemütlich vor sich hinzuleben, ohne der Herausforderung von Gottes Geheimnis, seiner Macht und seiner Liebe ins Auge zu schauen, weiß der „Tuk“ in uns ganz genau, dass er zu Größerem berufen ist. Und so tasten wir uns in verschwiegenen Augenblicken und an geheimen Orten so wie Nikodemus – der heimliche Jünger, der Jesus nur im Schutz der Dunkelheit aufsuchte (Johannes 3,2) – mit unaussprechlichem Stöhnen und unstillbaren Sehnsüchten an ihn heran. 30
So wie der Psalmist schreien wir: „Ich kann es kaum noch erwarten, ja, ich sehne mich danach, in die Vorhöfe deines Heiligtums zu kommen!“ (Psalm 84,3). Und wenn Er dann bei uns vor der Tür steht und sagt: „Komm heraus ins Licht und folge mir nach!“, dann ziehen wir uns schnell ins Schlafzimmer zurück und hoffen, dass er wieder geht, wenn wir so tun, als wäre niemand zu Hause. Und wie Mose jammern wir: „Ach, Herr, du hast den Falschen ausgesucht! Bitte schicke doch jemand anderen!“ (nachzulesen in 2. Mose 4,13). Jesus Christus ist unser wahr gewordener Traum. Er ist die Sehnsucht aller Völker – und die Sehnsucht aller Völker ist erfüllt. Das Problem dabei ist, dass das Elixier des Abenteuers, das er uns anbietet, für unser Gefühl und unseren Geschmack allzu anregend ist. Er ist nicht die Art von Erlöser, den wir erwartet hatten. Er stört unsere Ruhe mit schockierenden Aussagen über trennende Schwerter, über die Freude des Leidens und darüber, dass der Menschensohn abgelehnt werden wird. Er erschreckt uns mit ebenso seltsamen wie knallharten Forderungen: „Verlass dein Zuhause und deine Familie. Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen. Lass dich um meinetwillen verfolgen und hassen. Nimm mein Kreuz auf dich und folge mir nach.“ Was bedeutet das alles? Wenn die Reise für diejenigen, die dem Ruf des Meisters folgen, genau das bereithält, wer kann denn dann noch erwarten, gerettet zu werden? Genau wie Bilbo werden wir es nie erfahren, wenn wir nicht die Decke zurückschlagen, aus dem Bett springen und irgendwie den Mut fassen, hinaus auf die Straße zu treten. 31
Impuls zum Nachdenken Sie können sich sicher sein, dass Ihr Traum früher oder später an Ihre Tür klopft!
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Während sie so sangen, verspürte der Hobbit in sich die Liebe zu den wunderbaren Schätzen, die mit so viel Mühe und Geschick geschaffen worden waren, … ein wütender, gieriger Wunsch, der auch die Herzen der Zwerge erfüllte. Der kleine Hobbit, „Eine unvorhergesehene Gesellschaft“
Schöne, glänzende Dinge Erst am nächsten Morgen, als er die Straße nach Wassernach hinunterrannte, ohne Hut, ohne Geld und sogar ohne Taschentuch, hatte er einen Augenblick Zeit, um sich zu fragen, was es war, das seine tuksche Seite so tief berührt hatte. Wieso hatte er die tollkühne Entscheidung getroffen, das Angebot der Zwerge anzunehmen und am Gasthaus „Zum Grünen Drachen“ zu ihnen zu stoßen? Es war ganz bestimmt nicht die Art und Weise, wie sie gefragt hatten, überlegte er. Gute Manieren sind nicht gerade ihre Stärke. Wenn man mich fragt, dann finde ich Thorin ein bisschen herrisch. Und was den Rest von ihnen angeht, bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie meine Dienste überhaupt wollen. Eigentlich wollen sie eher einen Krämer als einen Dieb!
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Aber jetzt war er trotzdem da, hetzte schnaufend und keuchend die Straße entlang, um seine Verabredung mit den Schatzsuchern – und mit seinem eigenen Schicksal – einzuhalten. Erst als er um die Ecke bog und das Wirtshaus sehen konnte, dämmerte ihm plötzlich der Grund für sein unerklärliches Verhalten. Dort über der Tür schwang das Firmenschild des Eigentümers in der Morgenbrise sachte hin und her: ein quadratisches Schild mit einem hineingeschnitzten wilden Drachen, der leuchtend grün bemalt worden war und vergoldete Schuppen hatte. So kunstfertig war dieses Schild gemacht, dass der geschmeidige Körper des Lindwurms sich aus dem Holz in den sanften Lufthauch hinaus zu winden schien. Seine großen fledermausartigen Flügel glänzten rötlich im Sonnenlicht. In dem Moment war alles wieder da. Bilbo hörte wieder das Lied der Zwerge über den Schatz des Drachens. Und wieder sah er das Glänzen in ihren Augen, als sie über ihr wertvolles Familienerbe sprachen und über das Herstellen schöner, handgemachter Dinge. All das berührte ihn zutiefst, denn die Liebe zu schönen Dingen war Bilbo nicht fremd. Er hatte sein Zuhause Beutelsend sogar mit allen möglichen hübschen Dingen vollgestellt, an denen er endlos Freude hatte: Nippes aus Porzellan, seltene Gemälde, Silbergegenstände, Porzellanteetassen. Er war zwar kein Zwerg, aber er konnte die Liebe der Zwerge zu kunstvoll Gefertigtem und Schönem gut nachempfinden. So seltsam es ihm jetzt auch vorkam, Bilbo wurde klar, dass diese zwergische Liebe zu solchen Dingen auf die eine oder andere Weise dazu beigetragen hatte, seine Sehnsucht nach Abenteuern wieder neu zu wecken. Irgendwie hatte 34