Weltbeweger - 9783865918772

Page 1

Aus dem Englischen 端bersetzt von Elke Wiemer



Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 1: Der Mann, der einfach nicht von der Bildfl채che verschwinden will . . . . . . . . . . Kapitel 2: Das Ende der Menschenw체rde . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 3: Eine Menschheitsrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 4: Was Frauen wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5: Ein unangesehener Gastdozent . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6: Jesus war kein bedeutender Mensch . . . . . . . . . . . Kapitel 7: Hilf deinen Freunden, strafe deine Feinde . . . . . . Kapitel 8: Es gibt Dinge, die dem Kaiser nicht zustehen . . . Kapitel 9: Gutes Leben oder guter Mensch? . . . . . . . . . . . . . Kapitel 10: Und die Welt ist doch klein . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 11: Eine altmodische Sache namens Ehe . . . . . . . . . . Kapitel 12: Einmalig in der Kunstgeschichte . . . . . . . . . . . . . Kapitel 13: Freitag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 14: Samstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 15: Sonntag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlusswort: Ein unfassbarer Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenangaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 11 15 31 50 70 91 115 135 159 181 199 215 235 257 274 292 308 317



Vorwort Es wurde schon so viel über Jesus geschrieben, dass man sich unwillkürlich fragt, was es denn noch zu sagen gibt. Mein Vater war presbyterianischer Prediger und mein Großvater auch. Daher habe ich Jesus schon früh kennengelernt. Aber als ich als Mitglied der Presbyterianischen Kirche Menlo Park John Ortbergs Predigt mit dem Titel „Wer ist dieser Mensch?“ hörte, drehte ich mich zu meiner Cousine um (die ebenfalls Tochter eines presbyterianischen Predigers ist) und sagte zu ihr: „So habe ich das noch nie gesehen.“ Zum Glück gibt es Pastoren, denen es gelingt, die Geschichte von Jesus Christus auf immer neue Weise zu vermitteln. Denn sie erzählen sie in einer Sprache, die sie in unseren modernen, schwierigen Zeiten lebendig werden lässt. In „Weltbeweger“ belegt John Ortberg eindrücklich, welchen Einfluss Jesus auf die Geschichte und das menschliche Miteinander hat. Vor allem erinnert uns dieses Buch daran, dass Christus ein echter Revolutionär war. Die zusammenfassende Aussage des Apostels Paulus über den christlichen Glauben schlug in der damaligen Zeit ein wie ein Blitz: „Denn durch den Glauben an Jesus Christus seid ihr nun alle zu Kindern Gottes geworden. … Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Christus 7


seid ihr alle eins.“ Bis dahin bestimmte der Status bei der Geburt das Leben eines Menschen bis zu seinem Tod. Aber mit dem Kommen von Christus, der selbst auf seine göttlichen Vorrechte verzichtete, um als hilfloses Kind auf unsere Welt zu kommen und wie ein gemeiner Verbrecher zu sterben, war ein für alle Mal klar, dass jedes Leben in Gottes Augen wertvoll ist. Aus diesem Glaubenssatz leitet sich die in unserer Verfassung verankerte Gleichberechtigung aller Menschen ab. Zahlreiche biblische Berichte veranschaulichen, dass Jesus Christus diese Dinge nicht nur gesagt, sondern auch gelebt hat. Er aß mit gesellschaftlichen Außenseitern, berührte die Unreinen, nahm Frauen in den Kreis seiner Jünger auf, offenbarte sich diesen „Bürgern zweiter Klasse“ nach seiner Auferstehung und wies die Heuchler zurecht, die in ihrem religiösen Eifer den Buchstaben des Gesetzes genau befolgten, sich aber nicht um ihre Mitmenschen kümmerten. Letzten Endes weigerte er sich, sich selbst vor dem Tod zu retten, um die Prophezeiung von der Auferstehung zu erfüllen und dadurch die ganze Menschheit zu retten. Seine Nachfolger begannen in der Folgezeit, ebenso zu handeln, und das alles in der Überzeugung, dass jedes menschliche Leben kostbar ist. Die Gemeinschaft der Gläubigen, die Christen genannt wurden, kümmerte sich um Kranke und Behinderte, baute Krankenhäuser, setzte sich für die allgemeine und die universitäre Schulbildung ein und half den Armen in weit entfernten Ländern, „denn sie werden die ganze Erde besitzen“. John Ortberg zeigt, dass seit jenem s­chicksalsträchtigen Sonntag vor so langer Zeit nichts an unserem menschlichen Dasein mehr so ist wie vorher. Wir sagen mit Johann Sebastian 8


Bach: „Gott helfe mir“ (wie er am Anfang seiner Werke schrieb). Und wir erfreuen uns an dem Glauben, dass Gott auf unsere Gebete antwortet. Aber allzu oft vergessen wir zu sagen: „Gott allein die Ehre“, wie Bach es am Ende seiner großartigen Werke tat. Die wahre Stärke dieses Buches liegt in der Erforschung des zentralen Widerspruchs unseres Glaubens: Wenn wir Jesus nachfolgen, dann bedeutet das nicht, es immer leicht zu haben. Bei Nachfolge geht es um die Einladung, auch unangenehme Dinge zu tun, wenn wir tatsächlich nach seinem Vorbild leben wollen: „Meine Feinde lieben?“ – „Meinen Besitz den Armen geben und das Kreuz auf mich nehmen?“ – „Sterben, um zu leben?“ Jesus wird uns in diesem Buch als eine komplexe Persönlichkeit mit einer aufwühlenden Lehre beschrieben. Manchmal ist er „sauer“ auf die, die ihn nicht verstehen, oft nimmt er seine Jünger hart ran, und doch ist er barmherzig mit denen, die in Not sind. Am Ende dieses Buches wollen wir ihn besser kennenlernen. Mit „Weltbeweger – Wer ist dieser Mensch?“ gibt John Ortberg denen, die bereits glauben, und denen, die sich nicht ganz sicher sind, einige triftige Gründe, nach Antworten zu suchen. Und er erinnert uns daran, dass wir uns auch wirklich auf die Suche begeben sollten, denn diese Frage ist die wichtigste Frage überhaupt. Condoleezza Rice ehem. US-Außenministerin

9


Kapitel 1

Der Mann, der einfach nicht von der Bildfläche verschwinden will Am Tag nach Jesu Tod sah es so aus, als würde jede Spur, die er vielleicht in dieser Welt hinterlassen hatte, schnell wieder verschwunden sein. Aber stattdessen ist sein Einfluss auf die Menschheitsgeschichte unvergleichlich. Und um diesen Einfluss geht es in diesem Buch. Wenn man sich ausgiebig mit den Fakten beschäftigt, stellt das auch h ­ eute noch jeden vernünftig denkenden Menschen – ganz gleich, welche Einstellung er zum Christentum hat – vor die Frage: „Wer war dieser Mensch?“ Es gibt viele Gründe, weshalb er in historischen Aufzählungen fehlt. Der offensichtlichste Grund ist vielleicht die Art und Weise, wie er gelebt hat. Jesus hat seine Botschaft nicht laut und nachweislich verbreitet, wie ein politischer oder militärischer Führer. Er argumentierte nicht, dass die Geschichte schon zeigen würde, dass sein Glaube für alle Zukunft überlegen sein würde. Er hat seinen Jüngern nicht eröffnet: „Hier sind die Beweise für meine Göttlichkeit … Wenn ihr sie annehmt, werde ich euch annehmen.“ Wenn jemand gestorben ist, lässt der Einfluss dieser P ­ erson auf die Welt normalerweise sofort nach. Während ich ­dieses Buch schreibe, gedenkt die Welt des gerade verstorbenen 15


Innovators der IT-Branche, Steve Jobs. Irgendjemand witzelte, noch vor zehn Jahren hätten wir einen Bob Hope, einen Johnny Cash und einen Steve Jobs gehabt; jetzt hätten wir weder Jobs noch Cash noch Hope. Aber Jesus hat das, was üblicherweise geschieht, auf den Kopf gestellt, wie er auch vieles andere auf den Kopf gestellt hat. Der Einfluss von Jesus war hundert Jahre nach seinem Tod größer als zu seinen Lebzeiten; nach fünfhundert Jahren war er noch größer, und nach eintausend Jahren bildete sein Vermächtnis die Grundlage für weite ­Teile Europas. Nach zweitausend Jahren hat er mehr Nachfolger an mehr Orten auf dieser Welt als je zuvor. Ob das Vermächtnis einer Person über deren Lebenszeit hinaus Bestand haben wird, zeigt sich gewöhnlich bei ihrem Tod. Als Alexander der Große, Julius Cäsar, Napoleon, Sokrates oder Mohammed starben, hatten sie alle einen gewaltigen Ruf. Als Jesus starb, schien es, als sei sein Auftrag gescheitert und seine winzige Bewegung am Ende. Wenn es eine Auszeichnung für den „wahrscheinlichsten Posthum-Erfolg“ gäbe, so wäre Jesus der Allerletzte auf der Liste der möglichen Kandidaten gewesen. Sein Leben und seine Lehre brachten Menschen einfach dazu, ihm nachzufolgen. Er schrieb Geschichte, indem er ganz unten anfing, Liebe und Annahme verbreitete und jedem die Freiheit ließ, darauf zu reagieren. Er stand ganz bewusst auf Kriegsfuß mit Rom, wo man ihn einfach wie eine lästige Mücke zerquetscht hätte. Und er wurde zerquetscht. Und doch … Jesu Vorstellung von einem guten Leben verfolgt die Menschen weiter und fordert sie heraus. Sein Einfluss durchzieht die Geschichte wie ein Kometenschweif den Himmel. Er 16


inspiriert und motiviert Künstler, Wissenschaftler, Regierungen, Mediziner und Lehrende. Er hat die Menschen gelehrt, was Würde, Mitgefühl, Vergebung und Hoffnung sind. Wie der britische Autor G. K. Chesterton es einmal treffend formulierte: Seit er auf die Erde kam, „reicht es nicht mehr zu sagen, Gott ist im Himmel, und auf der Erde ist alles in Ordnung; denn es geht das Gerücht um, Gott habe seinen Himmel verlassen, um die Erde in Ordnung zu bringen“1. Jesus ist die berühmteste Persönlichkeit der Geschichte. Sein Ein­ fluss in dieser Welt ist ungeheuer groß und keineswegs zufällig.

Berühmte Persönlichkeiten haben so manches Mal versucht, sich ihre Unsterblichkeit zu sichern, indem sie Städte nach sich benannten. In der Antike wimmelte es von Städten, die zum Gedächtnis an Alexander Alexandria oder nach den römischen Kaisern Cäsarea genannt wurden. Als Jesus auf der Erde lebte, hatte er kein festes Zuhause. Und doch lebe ich heute in der Gegend von San Francisco, einer Stadt, die nach Franz von Asissi benannt ist, der wiederum ein Nachfolger von Jesus war. Die Hauptstadt unseres Bundesstaates heißt Sacramento, weil Jesus einmal mit seinen Jüngern zusammen zu Abend gegessen hat – das heilige Abendmahl –, das jetzt ein Sakrament der Kirche ist. Jede Landkarte erinnert uns an diesen Mann. Mächtige politische Regime haben oft versucht, ihren Einfluss zu festigen, indem sie die Zeitrechnung mit dem Jahr­ ihrer Machtübernahme neu begonnen haben. Die römischen Kaiser haben Ereignisse nach ihrer Regierungszeit datiert und die ­Geschichtsschreibung an der Gründung Roms ausgerichtet. Die Französische Revolution hat versucht, der Welt 17


Aufklärung zu bringen, und das mithilfe eines neuen Kalenders, der den Beginn der Herrschaft der Vernunft kennzeichnete. Die Zeitrechnung der früheren Sowjetunion begann mit dem Sturz des Zaren und der theoretischen Machtübernahme des Volkes. In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts wurde dort der „Verband der kämpfenden Gottlosen“ gegründet, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Glauben auszurotten. Auf dem Titelblatt einer Zeitschrift von 1929 sah man zwei Arbeiter, die Jesus mithilfe einer Schubkarre auf den Müll warfen. Doch ihr Anführer, Jemeljan Jaroslawski, ärgerte sich über die Hartnäckigkeit des christlichen Glaubens. „Das Christentum ist wie ein Nagel“, sagte er, „je mehr man darauf schlägt, desto tiefer treibt man ihn hinein.“2 Die Vorstellung, Jesus würde versuchen, den Menschen ­einen Kalender aufzuzwingen, ist lächerlich. Der Beginn seines Auftretens wurde von Lukas genauestens nach dem römi­ schen Kalender festgehalten: „Es war im 15. Regierungsjahr des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus verwaltete als Statthalter die Provinz Judäa; Herodes herrschte über Galiläa, sein Bruder Philippus über Ituräa und Trachonitis, und Lysanias regierte in Abilene.“3 Jesus trat aus dem Verborgenen für einen kurzen Augenblick an die Öffentlichkeit – vielleicht für drei, vielleicht aber auch nur für ein Jahr.4 Und doch werden wir heute jedes Mal, wenn wir auf den Kalender schauen oder etwas datieren, daran erinnert, dass dieses ungeheuer kurze Leben irgendwie zum Wendepunkt der Geschichte wurde. Berühmte Persönlichkeiten versuchen häufig, ihr Vermächtnis zu bewahren, indem sie andere Menschen nach sich benennen. In der Bibel werden mehrere Personen mit dem Namen 18


„Herodes“ oder sogar „Herodias“ erwähnt, die uns an Herodes den Großen erinnern sollen. Am Tag nach Jesu Tod hat niemand aus dem kleinen Kreis derer, die ihn kannten, ein Kind nach ihm benannt. Aber heute benennt man höchstens noch Pizzerien, Hunde oder Spielcasinos nach Cäsar und Nero, während die in der Bibel erwähnten Namen in unseren Söhnen und Töchtern weiterleben. Ob ein Mensch verrückt ist, kann man am schnellsten und einfachsten dadurch herausfinden, ob er die folgenden drei Fragen beantworten kann: wer er ist, wo er ist und welcher Tag es ist. Ich wurde nach einem Freund von Jesus benannt – John (Johannes). Ich lebe in einer Gegend, die nach einem anderen Freund von Jesus benannt wurde – Franz –, und ich wurde 1957 Jahre nach Jesus geboren. Wie kann es sein, dass die Bezugspunkte meines Lebens so stark mit einer einzigen Person zusammenhängen? Niemand weiß, wie Jesus ausgesehen hat. Es gibt aus seiner Zeit keine Gemälde oder Skulpturen von ihm. Es gibt noch nicht einmal eine Beschreibung seines Aussehens. Trotzdem sind Jesus und seine Jünger die Personen, die weltweit in künstlerischen Werken am häufigsten abgebildet werden. Das Bild von ihm, das etwa 400 n. Chr. in der byzantinischen Kunst entstand, ist das bekannteste überhaupt. Er wurde in Filmen von Frank Russell (1898), H. B. ­Warner, Jeffrey Hunter, Max von Sydow, Donald Sutherland, John Hurt, Willem Dafoe, Christian Bale, Jim Caviezel und vielen anderen dargestellt. Lieder über ihn wurden von unzähligen Künstlern gesungen, angefangen mit dem ersten bekannten Loblied, das der Apostel Paulus im Brief an die Philipper niederschrieb, bis 19


hin zu einem Album von Justin Bieber („Under the Mistletoe“), das Weihnachten 2011 erschien. Und Jesus ist wahrscheinlich auch die Person, die Menschen mit Identitätsstörungen am häufigsten zu sein glauben. (Milton Rokeachs Schrift „Die drei Christusse von Ypsilanti“5 ist hier ein Klassiker.) Bilden sich Buddhisten mit Identitätsstörun­gen eigentlich auch ein, Buddha zu sein? Verzweifelte Menschen, dankbare Menschen, wütende Menschen – sie alle benutzen seinen Namen, wenn sie beten, danken oder fluchen. Ob bei Taufen, Hochzeiten, im Krankenzimmer oder bei Beerdigungen – die Menschen werden in Jesu Namen geboren, getraut, behandelt oder beerdigt. Vom finsteren Mittelalter bis zur Postmoderne ist er der Mann, der einfach nicht von der Bildfläche verschwinden will. Aber das ist noch nicht alles … Jaroslav Pelikan, ein Historiker der Universität Yale, schrieb: „Ganz gleich, was man persönlich von Jesus von Nazareth hält oder über ihn glaubt, er ist seit fast zweitausend Jahren die beherrschende Gestalt westlicher Geschichte. Wenn man mit ­einem gigantischen Magnet auch noch das kleinste Stückchen Geschichte, das die Spur seines Namens trägt, herausziehen könnte, was wäre dann wohl noch übrig?“6 Wir leben in einer Welt, in der der Einfluss von Jesus ungeheuer groß ist, auch wenn sein Name nicht unbedingt genannt wird. Wenn wir seinen Einfluss messen wollen, so ist die ­größte ­Herausforderung dabei die Tatsache, dass wir die Art und Weise, wie er unsere Welt geprägt hat, heute für selbstverständlich halten. G. K. Chesterton sagte, wenn man den Einfluss von 20


Jesus messen wolle, dann sei „die beste Methode, außer sich gänzlich ins Christentum hineinzubegeben, die, sich gänzlich außerhalb des Christentums zu begeben“7. Durch Jesus sah man Kinder in einem anderen Licht. Der Historiker O. M. Bakke verfasste eine Studie mit dem Titel „When Children Became People: The Birth of Childhood in Early Christianity“ (Als Kinder Menschen wurden: Das Aufkommen der Kindheit im frühen Christentum), in der er festhielt, dass Kinder in der Antike gewöhnlich erst etwa am achten Tag Namen bekamen. Bis dahin bestand die Möglichkeit, dass ein Kind getötet oder zum Sterben ausgesetzt wurde – ganz besonders, wenn es deformiert oder vom weniger erwünschten Geschlecht war.8 Dieser Brauch änderte sich wegen einer Gruppe von Menschen, die sich daran erinnerten, dass sie Nachfolger desjenigen waren, der gesagt hatte: „Lasset die Kinder zu mir kommen.“ Jesus war nie verheiratet. Aber sein Umgang mit Frauen führte dazu, dass eine Gemeinschaft von Nachfolgern entstand, die für Frauen so anziehend war, dass sie sich ihr scharenweise anschlossen. Die Gemeinde wurde von ihren Gegnern sogar genau deshalb verunglimpft. Was Jesus über Sexualität lehrte, sollte zur Aufhebung einer Doppelmoral führen, die sogar im römischen Gesetz verankert war. Jesus schrieb nie ein Buch. Und doch entstand durch seinen Aufruf, Gott mit dem ganzen Verstand zu lieben, eine Gemeinschaft, die solche Ehrfurcht vor dem Lernen hatte, dass sie das bewahrte, was von den Lehren übrig war, als der Rest der Antike durch etwas zerstört wurde, das manchmal auch das finstere Mittelalter genannt wird. Mit der Zeit sollte die Bewegung, 21


die er ins Leben gerufen hatte, Bibliotheken und Gemeinschaften für Bildung gründen. Letzten Endes wurden Oxford und Cambridge und Harvard und Yale und praktisch das gesamte westliche Bildungssystem durch seine Nachfolger gegründet. Aus dem Verständnis, dass dieser Jesus, der selbst als Lehrer die Wahrheit verbreitete, seinen Nachfolgern aufgetragen hatte, allen Menschen die Möglichkeit zum Lernen zu geben, entstand der Grundsatz, dass alle Menschen lesen und schreiben können sollten. Er hatte nie eine hohe Position inne und führte auch k­ eine Armee an. Er sagte, sein Königreich sei „nicht aus dieser Welt“9. Sowohl am Anfang als auch am Ende seines Lebens stand er auf der falschen Seite, was das Gesetz betraf. Und doch führte die Bewegung, die er ins Rollen brachte, letztlich dazu, dass römi­sche Kaiser nicht länger angebetet wurden. Darüber hinaus wurden ihre Gedanken auch in Dokumenten wie der ­Magna Carta zitiert, rief sie die Tradition des Gewohnheitsrechtes im angelsächsischen Rechtswesen und die Einschränkung der Regierungsgewalt ins Leben. Sie untergrub die Macht des Staates, statt sie zu verstärken, wie es andere Religionen im britischen Empire getan hatten. Es ist dieser Bewegung zu verdanken, dass Sätze wie „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ­ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden [sind]“10 (die aus der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten stammen) in die Geschichte eingegangen sind. Das Römische Reich, in dem Jesus lebte, war nicht nur prachtvoll, sondern auch grausam, besonders wenn man krank 22


oder ein Sklave war oder eine Missbildung hatte. Und dieser Lehrer sagte einmal: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr für mich getan!“11 Langsam kam der Gedanke auf, dass etwas gegen das Leid jedes einzelnen Menschen unternommen werden musste und dass diejenigen, die helfen können, es auch tun sollten. Krankenhäuser und alle möglichen Hilfsaktionen gingen aus dieser Bewegung hervor; und selbst heute noch tragen sie oft Namen, die uns an ihn und seine Lehren erinnern. Demut, die in der Antike verachtet wurde, wurde in Form eines Kreuzes verehrt und schließlich als Tugend geehrt. Feinde, die eigentlich Rache verdient hatten („Hilf deinen Freunden und strafe deine Feinde“), wurden plötzlich liebenswert. Vergebung war nicht länger ein Zeichen von Schwäche, sondern ein Akt moralischer Größe. Sogar wenn es ums Sterben geht, kann man sich dem Einfluss von Jesus kaum entziehen. Der Brauch, Tote auf Fried­ höfen und in Gräbern beizusetzen, stammt von seinen Nachfolgern. Man spricht von der „letzten Ruhestätte“. Das beinhaltet die Hoffnung auf die Auferstehung. Auf den Grabsteinen steht meist der Geburts- und der Todestag mit einem Bindestrich dazwischen. Die Länge eines menschlichen Lebens wird durch den Abstand dieser Tage zur Geburt von Jesus festgelegt. Wer sich einen Grabstein nicht leisten kann, kennzeichnet ein Grab meist durch ein Kreuz, zur Erinnerung an den Tod Jesu. Wenn ein Karikaturist auf das Leben nach dem Tod verweisen will, so genügt auch heute noch ein Bild von Petrus in den Wolken neben einem großen Tor. Was auch immer der Tod mit dem Leben von Jesus gemacht hat, er hat jedenfalls seinem Einfluss 23


keinen Riegel vorgeschoben. In vielerlei Hinsicht fängt er an diesem Punkt erst an. Jesus ist der Mann, der nicht aufgab. Aber nicht nur das. Jesus ist zutiefst mysteriös, und das nicht nur, weil er vor sehr langer Zeit in einer Welt gelebt hat, die uns fremd ist. Jesus ist nicht nur aufgrund der Dinge, die wir nicht über ihn wissen, ­mysteriös. Er ist auch wegen der Dinge, die wir über ihn wissen, mysteriös. Wie der anglikanische Theologe N. T. Wright feststellte, ist das, was wir über ihn wissen, „so anders als das, was wir über jeden anderen wissen, dass wir uns gezwungen sehen, uns zu fragen – wie es die Menschen damals offensichtlich auch g­ etan haben – : Wer ist dieser Mensch? Für wen hält er sich und wer ist er wirklich?“12 Von dem Zeitpunkt an, als er auf der Schwelle zum Mannsein stand und anfing, über Gott zu diskutieren, wird uns berichtet, dass die Menschen sich über ihn wunderten und selbst seine eigenen Eltern fassungslos waren (Lukas 2,47–48). Als er anfing zu lehren, waren die Menschen manchmal begeistert und manchmal rasend vor Wut, aber sie waren immer verwundert. Pilatus verstand ihn nicht, Herodes bedrängte ihn mit Fragen, und seine eigenen Jünger waren oft g­ enauso verwirrt wie alle anderen. Wie Wright treffend­ sagte: „Die Menschen, die ihm damals zuhörten, sagten Dinge wie: ‚Noch nie haben wir jemanden so reden gehört‘, und damit meinten sie nicht nur seinen Tonfall oder seine gekonnte ­Rhetorik. ­Jesus hat die Menschen damals verwirrt und er verwirrt uns noch h ­ eute.“ 13 24


Der Einfluss von Jesus auf die Geschichte bleibt ein Puzzle von Fragen. Wenn wir uns sein kurzes Leben anschauen, ist es genauso verwirrend. Niemand wusste so recht, was man von ihm halten sollte. Aber es ist kein willkürliches, absurdes, sinnloses Puzzle. Wenn man versucht, sein Leben zu verstehen, ist das, als ­erwache man aus einem Traum. Es ist, als warte man auf eine Antwort, und wenn man sie schließlich erhält, merkt man, dass man sie irgendwie schon immer kannte. Es ist wie ein Licht auf einem unbekannten Weg, das einen, wenn man ihm folgt, nach Hause führt. Jesus ist genauso schwer festzunageln wie Wackelpudding. Könige glauben, wenn sie sich auf seinen Namen berufen, könnten sie sich seine Autorität zu eigen machen. Aber ­Jesus, der Befreier, bricht immer wieder aus. Wo die Menschen ­seine Autorität benutzt haben, um die Sklaverei zu begründen, ­sahen ein William Wilberforce oder ein Jonathan Blanchard darin einen Aufruf zur Freiheit. Er inspirierte Leo Tolstoi, der wie­ derum Mahatma Gandhi inspirierte, der wiederum Martin ­Luther King inspirierte. Er inspiriert Desmond Tutu, von einer Kommission für Wahrheit und Versöhnung zu träumen und dafür zu beten. Die Zahl von Gruppierungen, die für sich beanspruchen, „für“ Jesus zu sein, ist unerschöpflich14: Juden für Jesus, Moslems für Jesus, Exfreimaurer für Jesus, Motorradfahrer für Jesus, Cowboys für Jesus, Ringer für Jesus, Clowns für Jesus, Handpuppen für Jesus und sogar Atheisten für Jesus, um nur einige zu nennen. Der Gewerkschaftsführer Eugene Debs nannte ihn einen 25


Freund des Sozialismus: „Jesus Christus gehört zur Arbeiterklasse. Ich hatte schon immer das Gefühl, dass er mein Freund und Kumpel ist.“ 15 Dagegen sagte Henry Ford, sein Kapitalismus sei in Wahrheit christlicher Idealismus. Die Quäker verstanden seine Botschaft als den Befehl zum Pazifismus („als Christus Petrus entwaffnete, entwaffnete er uns alle“), während Kaiser Konstantin wegen der Verheißung des Sieges durch das Kreuz zum Glauben kam („in diesem Zeichen wirst du siegen“). Denken Sie nur einmal darüber nach, welche Menschen Jesus verbindet: den Bürgerrechtler und Baptistenpastor Jesse Jackson und den Baptisten-Fernsehprediger Jerry Falwell; den Bush-Kritiker Jim Wallis und den Bush-Befürworter Jim Dobson; die Realistin Anne Lamott (Autorin) und Thomas Kinkaide, den Maler idyllischer Szenerien; den Evangelisten Billy Graham und den Sportler und Prediger Billy Sunday; Bill Clinton und „Bill“ Shakespeare; Bono, Bach und den Gospelsänger Bev Shea; Galileo, Isaac Newton und Johannes Kepler; Thomas von Aquin und Thomas von Kempen; T. S. Elliot und C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien; den Politiker George Washington, den Schauspieler Denzel Washington und den Botaniker George Washington Carver; die farbige Frauenrechtlerin Sojourner Truth und den Südstaatengeneral Robert E. Lee; Kaiser Konstantin und Karl den Großen; die Republikanerin Sarah Palin und den Demokraten Barack Obama; den englischen Dichter John Milton, die amerikanische Folkloregestalt Paul Bunyan, die Roman- und Filmgestalt Mr Rogers und Jimmy Carter und Peter den Großen: Jesus hat etwas an sich, das die Mensch anstachelt, Dinge zu tun, die sie eigentlich lieber nicht tun würden: Franz von 26


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.