Ein Geschenk für Katie - 9783957340559

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Shelley Shepard Gray

Ein Geschenk

f端r Katie Eine Weihnachtsgeschichte

Aus dem Englischen von Bettina Hahne-Waldscheck



Wenn euer Glaube nur so groß wäre wie ein Senfkorn, könntet ihr zu diesem Berg sagen: „Rücke von hier dorthin!“, und es würde geschehen. Nichts wäre euch unmöglich! Matthäus 17,20

Auch wenn etwas nach wenig aussieht – andere könnten das anders sehen, nicht wahr? Katie Weaver, 8 Jahre



Kapitel 1

E

s war nicht einfach, Katie Weaver zu sein. Mit acht Jahren sollte sie zum zweiten Mal Tante werden. Aber sie nahm an, dass das nichts Ungewöhnliches war, wenn ein Mädchen wie sie drei sehr viel ältere, verheiratete Brüder hatte. Ihre Brüder behandelten sie sehr gut und ihre neuen „Schwestern“ waren ebenfalls wunderbar. Auch ihre Mutter fand Katie prima – wenn sie sich nicht gerade darüber be­ schwerte, dass Katie sie verrückt machte. Doch im Moment fühlte sich die Achtjährige ziemlich allein. Es schien keinen zu kümmern, dass die Krippe zu ver­ fallen schien – und das genau vor den Augen der Menschen, die in der Kleinstadt Jacob’s Crossing wohnten. Katie starrte auf den Rasen vor der Stadtbibliothek, ihre Augen fixierten den heruntergekommenen Stall, die zerbrochene Holzkrippe und die zehn Plastikfiguren, deren Farbe bereits abzublät­ tern begonnen hatte, bevor ihr ältester Bruder Calvin auf die Welt gekommen war. Sie verschränkte die Arme unter ihrem schwarzen Mantel, den ihre Mutter für sie genäht hatte, und murmelte: „Das geht nicht, das geht überhaupt nicht!“ „Was geht nicht?“, fragte Ella Weaver, ihre Lieblings­ schwägerin. 7


Katie zuckte zusammen. Sie hatte gedacht, Ella wäre vor fünf Minuten in der Bibliothek verschwunden. „Nichts davon geht“, wiederholte Katie leise. Ella neigte ihren Kopf zur Seite, als ob sie die Worte nicht richtig verstanden hätte. Katie räusperte sich und versuchte ihrer Stimme einen nicht zu klagenden Ton zu geben: „Ich meine, die ganze Krippenszene stimmt nicht. Nichts davon.“ Ella beugte sich einfühlsam zu ihr hinunter. „Und was ist falsch an der Krippe, mein Kind?“ „Sie ist völlig runtergekommen und alt. Und die Figuren sind aus Plastik.“ Sie drehte sich herum und fügte dann hin­ zu: „Ella, wir brauchen eine echte Krippe.“ „Meinst du wirklich, ja?“ „Ja. Mit wirklichen Menschen und echten Tieren. Nicht mit kaputten Plastikfiguren.“ Ella neigte ihren Kopf zur Seite und blickte sie einen Mo­ ment lang still an. Katie war sich sicher, dass ihre Schwägerin gleich das Wort altklug in den Mund nehmen würde, ein Wort, das man ziemlich oft zu ihr sagte. Stattdessen nickte Ella mit dem Kopf. „Eine Krippe mit echten Menschen wäre in der Tat etwas sehr Besonderes“, sagte sie feierlich. „Aber es wäre ein ziemlicher Aufwand. Ich kenne nicht sehr viele Menschen, die hier stundenlang als Hirten oder Weisen aus dem Mor­ genland herumstehen würden.“ „Auch nicht als Maria und Josef ?“ „Nein, auch nicht als Maria und Josef, fürchte ich. Wir hatten bisher einen besonders kalten Dezember. Auch 8


­ aria und Josef haben Schutz in einem Stall gesucht, nicht M wahr?“ Ellas Gesicht nahm einen milden Ausdruck an und sie legte ihre behandschuhte Hand sanft in Katies Nacken, ge­ nau dort, wo ihre weiße Haube und die schwarze Überhaube endeten. „Aber ich verstehe, was du meinst, Liebes. Vielleicht können Loyal oder Graham ihr Werkzeug rausholen und al­ les etwas aufmöbeln. Die Krippe sieht wirklich aus, als würde sie beim nächsten Windstoß zusammenbrechen.“ Wenn ihre Brüder einige Reparaturen vornahmen, wür­ de das definitiv eine Verbesserung sein. Aber das entsprach nicht Katies eigentlichem Vorhaben. „Was meinst du – ob ich Miss Donovan fragen kann, ob nicht echte Menschen den Platz der Plastikfiguren einnehmen können, wenigstens für einen Abend?“ „Nur für einen Abend? Hm. Vielleicht am Heiligabend?“ Katie nickte und war froh, dass Ella ihr so weit zuzustim­ men schien. „Ja, das scheint mir die beste Nacht für die Krip­ penszene zu sein.“ Ella sah ihre Nichte intensiv an und zuck­ te dann mit den Schultern. „Weißt du, fragen kostet nichts. Lass uns reingehen und sehen, was Jayne dazu sagt.“ Katie ergriff Ellas Hand und zusammen betraten sie die Bibliothek. Ein Glücksgefühl durchströmte das Mädchen. Vor über einem Jahr hatte ihre Schwägerin eine Stelle in der Bücherei angenommen. Heute war sie die Kinderbibliothe­ karin. Katie hatte aus diesem Grund am Sommerlesepro­ gramm teilgenommen und besuchte die Bücherei sehr häufig. Sie und Ella hatten sich außerdem mit der Bibliotheksleite­ rin, Miss Donovan, angefreundet. 9


Die warme Luft in der Bücherei, die ihnen beim Eintreten entgegenschlug, wirkte bei den Eisestemperaturen draußen wie ein sanftes Liebkosen auf ihren Wangen. Ella streckte ihre Arme aus und knöpfte den obersten Knopf ihres Win­ termantels auf. Mit offenem Mantel sah Ellas Bauch noch größer aus als sonst. „Hier drin fühlt es sich gleich besser an, Katie“, murmelte sie still, während sie an mehreren Aufse­ hern vorbei – es waren sowohl Amische als auch Englische1 – in Richtung Ausleihtheke gingen. In neun von zehn Fällen war Miss Donovan hier anzutref­ fen, aber jetzt war der Stuhl, auf dem sie gewöhnlich saß, leer. Katie sah sich um. „Wo kann sie nur sein, Ella?“ „Keine Ahnung, lass uns etwas warten … ah, da ist sie ja.“ Katie folgte Ellas Blick und setzte ein strahlendes Lächeln auf. Miss Donovan stand inmitten der Sachbuchabteilung. Sie hatte ihre Lesebrille auf und war in ein Buch vertieft. Sie zuckte zusammen, als Katie ihren Namen rief. „Hi, Katie! Ich wusste nicht, dass ihr beide heute vorbei­ kommt.“ „Katie braucht noch ein Buch“, sagte Ella mit einem La­ chen. „Außerdem sagte der Arzt, dass mir ein wenig frische Luft guttäte.“ „Ella bekommt ein Boppli2“, erklärte Katie. Vielleicht et­ was zu laut. 1 Die Amisch sind eine täuferisch-protestantische Gemeinschaft aus der Zeit der Refor­ mation. Sie lehnen technischen Fortschritt ab, kleiden sich einheitlich und mit Kopf­ bedeckung und führen ein im Glauben und in der Landwirtschaft verwurzeltes Leben. Wer nicht amisch ist, heißt bei ihnen „Englischer“. Statt Autos benutzen die Amisch Pferdekutschen. 2 Amisches Wort für Baby.

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Ellas Wangen wurden so rot wie die Preiselbeeren in den Marmeladengläsern ihrer Mutter. „Psst, Katie.“ „Upps. Miss Donovan, ich und Ella wollen Sie etwas fra­ gen.“ Miss Donovan legte ihr Buch und ihre Lesebrille auf ei­ nem der Metallregale ab und hob eine ihrer Augenbrauen an: „Was denn?“ „Wegen der hässlichen Krippe draußen. Ich meine, wir brauchen echte Menschen statt Plastikfiguren.“ Die Bibliothekarin sah etwas betroffen aus. „Nun …“ Ella räusperte sich und griff nach Katies Hand. „Katie wollte Sie nicht kritisieren …“ Im Bewusstsein, was dieser feste Händedruck bedeutete, schüttelte Katie ihren Kopf: „Nein, Miss Donovan.“ „Katie sagte mir draußen, wie wundervoll eine echte Krip­ pe für einen Abend aussehen würde.“ „Ja, wenigstens an Heiligabend“, bekräftigte Katie. Die hübschen Augen der Bibliothekarin wurden sanft. Sie hielt inne, blickte auf den Deckel des Buches, das sie gerade abgelegt hatte, und schüttelte dann ihren Kopf. „Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wie das hinzukriegen wäre. Noch dazu an diesem Weihnachten. Wir können es für nächstes Weihnachten im Hinterkopf behalten.“ Katie konnte es nicht ertragen, dass ihre Idee so leicht abgetan wurde. „Aber Miss Donovan, es wäre gar nicht so schwer. Ich könnte die ganzen Leute dafür zusammensu­ chen.“ „Das ist alles schön und gut, aber sie würden alle eine Ver­ kleidung brauchen“, entgegnete die Frau. 11


„Ich wette, Ella und meine anderen Schwägerinnen könn­ ten da aushelfen, oder Ella?“, sagte Katie mit bittendem Blick zu ihrer Lieblingsschwägerin. „Ich glaube schon“, sagte Ella mit einem Augenzwinkern. Miss Donovan lächelte, schüttelte aber nach einem Mo­ ment ihren Kopf. „Wie ich schon sagte, vielleicht nächstes Jahr. Ich fürchte, dass ich nicht in der Lage bin, in dieser Ad­ ventszeit auch nur eine Sache mehr in Angriff zu nehmen.“ „Aber …“ Ella drückte erneut Katies Schulter. Es war sicher schwer für Katie einzusehen, dass sie mit dem Quengeln aufhören musste. „Katie, wir haben es versucht“, sagte sie mit Nach­ druck. „Jetzt lass Miss Donovan in Ruhe, okay?“ Katie widersprach nicht mehr. Sie wusste selbst, wann es Zeit war aufzuhören. Doch trotzdem ließ sie ihren Kopf hängen, als sie das Bibliotheksgebäude verließen. Als sie nach draußen in den beißenden Wind stolperten, wartete Katies Bruder Loyal schon auf sie. Er stieg aus dem Buggy und half Ella und Katie einzusteigen. Dann straffte er die Zügel und das Pferd Rex begann loszutraben. Ella saß direkt neben Loyal, und Katie bemerkte, dass sie sich eng an ihn schmiegte, als ob sie an seiner Seite festge­ wachsen war. Nach einigen Minuten erkundigte sich Loyal nach ihrem Besuch in der Bibliothek. Katie konnte nicht an sich halten und erzählte aufgeregt von ihrem Gespräch mit Miss Donovan. Loyal nickte. „Schade. Ich frage mich, warum Jayne keine Lust auf diese Idee hat. Das sollte doch nicht so schwer sein. Und es wäre wirklich toll, wenn sich an Heiligabend mitten 12


in unserer Stadt eine Menschenmenge um eine lebendige Krippe versammeln würde.“ „Ich glaube, es geht ihr nicht gut“, murmelte Ella. „Als wir zu ihr gingen, sah ich zufällig den Titel des Buches, in dem sie gerade las. Es hieß: Den richtigen Mann fürs Leben finden.“ Loyal lachte. „Vielleicht hat sie ja einfach nur einen Lie­ besroman gelesen.“ „Nein, so ein Titel passt nur zu einem Selbsthilfebuch, ei­ nem Ratgeber für Menschen, die kein Glück mit der Liebe haben.“ „Wie wir?“, witzelte Loyal. Katie beobachtete, wie die beiden sich verliebte Blicke zuwarfen. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Vor einem Jahr hatte ihr Onkel John aufgehört, Miss Donovan zu treffen, da er sich in Mary Zehr verliebt hatte. Seitdem hatte Miss Donovan irgendwie einen betrübten Eindruck gemacht. Vielleicht war sie einsam? „Wir müssen für Miss Donovan einen Mann finden“, ent­ schied Katie – bevor ihr einfiel, dass sie laut gesprochen hatte. „Katie, wage es nicht, andere Leute miteinander zu ver­ kuppeln“, warnte Loyal. „Aber wenn sie glücklich und verliebt wäre, würde sie mir ganz sicher mit der Krippe helfen.“ Ihr Bruder stöhnte. „Katie, im Leben geht es nicht nur darum zu bekommen, was man will.“ „Mann, das weiß ich. Aber auch ihr zwei seht doch, dass ihr zusammen glücklicher seid als allein. Miss Donovan wäre ganz sicher auch mit jemand anderem glücklicher.“ 13


„Ja, aber …“ „Viele Menschen kommen in die Bücherei, Loyal“, fügte sie schnell hinzu, während Rex mit klappernden Hufen auf dem Straßenpflaster dahintrabte. „Alles, was wir tun müssen, ist, einen Mann zu finden, der sie beeindruckt.“ „Der sie beeindruckt?“, antwortete Ella und rückte ein we­ nig ihre Brille zurecht. „O Katie, sich zu verlieben ist nicht so einfach.“ „Aber Gott könnte helfen, bei ihm sind doch alle Dinge möglich. Das sagt zumindest Mama immer.“ Als Lo­yal Rex an einer roten Ampel zum Stehen brachte, hielt sie einen Moment lang inne, um ihrer Bemerkung die nötige Be­ tonung zu verleihen, denn sie wusste, dass sie recht hatte. „Nicht wahr?“ Nach einem langen Moment legte Ella ihren Arm um Katies Schultern und drückte sie sanft an sich. „Ja, Liebling, bei Gott sind alle Dinge möglich.“ Als Loyal mit den Zügeln schlug und Rex wieder lostrab­ te, lächelte Katie. Sie würde mit Gott über diese Angelegen­ heit sprechen, dann würde es sicher geschehen. Miss Dono­ van würde ihre Liebe finden und sie würden eine wunderbare Weihnachtskrippe haben. Genau rechtzeitig zu Weihnachten.

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